Einleitung
Durch die neuen Ideen und Anschauungen, die die Autoren des Modernen Durchbruchs vertraten, veränderte sich innerhalb eines knappen Jahrzehnts „die Physiognomie der nordischen Literaturen ganz wesentlich“.1
Die vorliegende Arbeit möchte aufzeigen, welche Themen und Fragestellungen ab 1871, dem Jahr, in dem Georg Brandes mit seinen Empörung und Begeisterung gleichermaßen auslösenden Vorlesungen begann, den Literaturbetrieb bestimmten und wie sie zu jener wesentlichen Veränderung der literarischen Landschaft beitrugen.
Um dies nachvollziehbar darzustellen, wird zunächst auf die Grundaussagen von Georg Brandes und die historische Entwicklung, die das Entstehen neuer Sichtweisen bewirkte, eingegangen. Es soll herausgestellt werden, in welchen Punkten sich die neue Strömung von der vorhergehenden unterschied und wie ihr Selbstverständnis als „Moderne Literatur“ aussah.
Da die Freiheit des Individuums und insbesondere die Befreiung der Frau aus bestehenden Machtverhältnissen zentrale Motive des Modernen Durchbruchs waren, ist Henrik Ibsens Drama Et Dukkehjem als ausgesprochen sozialkritisches Stück, welches die Stellung der Frau, sowie das Geschlechterverhältnis thematisiert, gut als Untersuchungsgrundlage geeignet. Es soll an der Figur der Nora und deren Entwicklung innerhalb des Dreiakters herausgearbeitet werden, ob Et Dukkehjem als Werk des Modernen Durchbruchs gelesen werden kann und woran sich dieses zeigt. Abschließend soll auf die Form des zugrunde liegenden Textes eingegangen und versucht werden, einen Zusammenhang zwischen literarischer Form und vermitteltem Inhalt zu verdeutlichen. Aus den beiden Primärtexten Et Dukkehjem und Georg Brandes′ Hovedstrømninger i det 19 aarhundredes litteratur wird häufiger zitiert, so dass es sinnvoll erschien, direkt hinter den Zitaten im laufenden Text jeweils in Klammern den Kurztitel und die Seitenzahl aufzuführen (Et Dukkehjem, S. / Hovedstrømninger, S. ). Die vollständigen Literaturangaben zu allen Primär -und Sekundärtexten finden sich am Ende der Arbeit im Literaturverzeichnis, sowie in den Fußnoten.
Inhalt
Einleitung
1) Georg Brandes und die Voraussetzungen für das Entstehen einer neuen
2) Die Frauenbewegung als zentrales Motiv im Modernen Durchbruch
3) Et Dukkehjem – ein Zeichen der Zeit ?
Schluss
Literaturverzeichnis
Primärliteratur
Sekundärliteratur
Nachschlagewerke
Einleitung
Durch die neuen Ideen und Anschauungen, die die Autoren des Modernen Durchbruchs vertraten, veränderte sich innerhalb eines knappen Jahrzehnts „die Physiognomie der nordischen Literaturen ganz wesentlich“.[1]
Die vorliegende Arbeit möchte aufzeigen, welche Themen und Fragestellungen ab 1871, dem Jahr, in dem Georg Brandes mit seinen Empörung und Begeisterung gleichermaßen auslösenden Vorlesungen begann, den Literaturbetrieb bestimmten und wie sie zu jener wesentlichen Veränderung der literarischen Landschaft beitrugen.
Um dies nachvollziehbar darzustellen, wird zunächst auf die Grundaussagen von Georg Brandes und die historische Entwicklung, die das Entstehen neuer Sichtweisen bewirkte, eingegangen. Es soll herausgestellt werden, in welchen Punkten sich die neue Strömung von der vorhergehenden unterschied und wie ihr Selbstverständnis als „Moderne Literatur“ aussah.
Da die Freiheit des Individuums und insbesondere die Befreiung der Frau aus bestehenden Machtverhältnissen zentrale Motive des Modernen Durchbruchs waren, ist Henrik Ibsens Drama Et Dukkehjem als ausgesprochen sozialkritisches Stück, welches die Stellung der Frau, sowie das Geschlechterverhältnis thematisiert, gut als Untersuchungsgrundlage geeignet. Es soll an der Figur der Nora und deren Entwicklung innerhalb des Dreiakters herausgearbeitet werden, ob Et Dukkehjem als Werk des Modernen Durchbruchs gelesen werden kann und woran sich dieses zeigt. Abschließend soll auf die Form des zugrunde liegenden Textes eingegangen und versucht werden, einen Zusammenhang zwischen literarischer Form und vermitteltem Inhalt zu verdeutlichen.
Aus den beiden Primärtexten Et Dukkehjem und Georg Brandes' Hovedstrømninger i det 19 aarhundredes litteratur wird häufiger zitiert, so dass es sinnvoll erschien, direkt hinter den Zitaten im laufenden Text jeweils in Klammern den Kurztitel und die Seitenzahl aufzuführen (Et Dukkehjem, S. / Hovedstrømninger, S.). Die vollständigen Literaturangaben zu allen Primär -und Sekundärtexten finden sich am Ende der Arbeit im Literaturverzeichnis, sowie in den Fußnoten.
1) Georg Brandes und die Voraussetzungen für das Entstehen einer neuen
Epoche
Als der junge Literaturkritiker Georg Brandes 1871 an der Kopenhagener Universität seine Vorlesung Hovedstrømninger i det 19de Aarhundredes Litteratur[2] hielt, sprach man vom Beginn einer neuen literarischen Epoche, die sich radikal von bisherigen Ideen und Anschauungen unterschied. Damit diese neue Epoche überhaupt entstehen konnte, war es laut Brandes erforderlich, dass die gesamte Gesellschaftsbetrachtung grundlegend umgeformt werden müsse, „som det er den hele Samfundsbetragtning, som den yngre Slægt fra Grunden af maa omforme og oppl ø je, for en ny Literatur kan skyde op.“ (Hovedstrømninger, 13.) Brandes erreichte mit seiner Forderung viele junge, engagierte Autoren und so
vollzieht sich innerhalb der einzelnen Literaturen des Nordens eine radikale Abwehr von jener Dichtung, die in den Jahrzehnten um die Jahrhundertmitte die literarische Landschaft ausmacht. Das Biedermeier und der Poetische Realimus in Dänemark, die Nationalromantik in Norwegen und Island und die Spätromantik in Schweden werden im achten Jahrzehnt des Jahrhunderts durch etwas Neues abgelöst: >Det moderne genembrud< wird diese gründliche Umgestaltung in den siebziger und achtziger Jahren von der skandinavischen Literaturwissenschaft genannt. Nicht länger mehr zeigt die Literatur idealistische oder idyllische Züge, [...]. Die Schriftsteller entdecken neue Themen und Stoffe: die Welt und die Probleme der Gegenwart.[3]
Die von Brandes verlangte Beschäftigung mit aktuellen Problemen und deren Darstellung findet seinen Ausdruck in der noch heute für skandinavische Autoren gültigen Formulierung „Dat, at en Litteratur i vore Dage lever, viser sig i, at den sætter Problemer under Debat.“ (Hovedstrømninger, 89) und kann als Maxime des Modernen Durchbruchs bezeichnet werden.
Brandes stellte der dänischen Literatur ein Armutszeugnis aus, indem er ihr vorwarf, in geistiger Stagnation zu verharren. Im Gegensatz zu anderen europäischen Literaturen wie der französischen, englischen oder deutschen, beinhaltete sie keine revolutionären Gedanken, die den Ideen der Romantik, also der metaphysischen Weltdeutung, dem konservativen Katholizismus und dem wirklichkeitsfernen Idealismus, widersprachen. Sie würde immer noch in romantischen Idealvorstellungen schwelgen und keine neuen „Anschauungen über die Religion, Geschichte, Moral, Kunst und Literatur“[4] beinhalteten[5]: „Vi er nemlig denne Gang som sædvanlig en 40 Aar tilbage for Europa.“(Hovedstr ø mninger, 5.) Er betont: „Ingensteds Europa over saa højtspændte Idealer og ikke mange Steder et plattere aandeligt Liv.“ (Hovedstr ø mninger, 12.) Dänemark versumpfe seit jeher in seiner Naivität, „men Naivetet er ikke nogen revolutionær Tilbøjelighed.“ (Hovedstr ø mninger, 7.) Außerdem hebt er den „Literaturs virkelighedsfjerne Idealisme“ hervor, der nicht vom wahren Leben, sondern lediglich von Träumen handele. (Hovedstr ø mninger, 7.) Entgegen dieser in der Tradition der Romantik stehenden Sichtweise auf die Welt fordert er die unbegrenzte Entfaltung der Geistesfreiheit[6] und daraus folgend die unbeschönigte Darstellung der Wahrheit, der Realität in der Literatur. „Diese Tendenz zielt gegen Konservatismus, der den Zustand der Dinge als das Werk einer höheren Vorsehung ausgab und Reformen und Veränderungen als der natürlichen, gottgewollten Ordnung zuwiderlaufend ablehnte.“[7] Mit der Formulierung dieses Anspruchs setzte Georg Brandes den Samen für eine öffentlich geäußerte, radikale Literatur- und Gesellschaftskritik, Wolfgang Butt spricht gar von einer „formellen Kampfansage“[8] an die Gesellschaft. Brandes beeinflusst bis heute die Sicht der Skandinavier auf die Romantik und gilt „bis in unsere Tage hinein als der Macher des Modernen Durchbruchs.“[9]
Die neuen, 'modernen' Inhalte ergaben sich aus den umwälzenden technischen, ökonomischen und sozialen Veränderungen, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Skandinavien zu einem „Modernisierungsschub“[10] führten. Durch die Industrialisierung und dem daraus resultierenden wirtschaftlichen Aufschwung kam es zu einer radikalen Veränderung der Infrastruktur und der gesellschaftlichen Verhältnisse. Es bildete sich ein selbstbewusstes Bürgertum heraus, Proletarisierung, Urbanisierung und neue Kommunikationsformen, sowie eine mehr und mehr kapitalistisch geprägte Gesellschaft waren nur einige der Folgen.[11]
Seit dem Beginn des Ackerbaus in der Steinzeit vollzieht sich in diesem Zeitraum die bedeutendste, gewiß aber folgenreichste Umstrukturierung in den Ländern Nordeuropas. [...] Die technisch-industrielle Revolution rüttelt an der Ordnung der traditionellen Standesgesellschaft: an der Beamtenhierarchie und an den patriarchalischen Formen der Landwirtschaft.[12]
Parallel entwickelten sich auch neue geistes -und naturwissenschaftliche Strömungen. Die Romantik, die in Skandinavien ab ca. 1830 in den Poetischen Realismus übergegangen war, schien mit ihrer „Sehnsucht nach Poesie“[13], ihrer Suche nach einer idyllischen Welt, der Ablehnung gegen alle aufklärerischen Tendenzen und gegen jeglichen Rationalismus, nicht mehr geeignet zu sein für die Bewältigung und Beschreibung der umfassenden Veränderungsprozesse. Der Eintritt in die literarische Moderne ist gekennzeichnet durch einen neuen Realismus. Dieser war geprägt von darwinistischen, religionskritischen und positivistischen Theorien.
Grundlagen des Naturalismus sind die Erkenntnisse der Naturwissenschaft, die darauf fußende Philosophie des Positivismus [...], die Evolutionstheorie Ch. Darwins, insbes. aber die Milieutheorie H.Taines, d. h. die Auffasung des Menschen als eines von Milieu und [...] Erbanlagen oder sozialen Verhältnissen [...] determinierten Wesens.[14]
Der diesen Theorien [...] gemeinsame Nenner bestand in ihrem naturwissenschaftlichen [...] empirischen Wahrheitsbegriff, dessen Unvereinbarkeit mit einer metaphysisch begründeten Welterklärung in den staatskirchlichen Ländern des Nordens die Hüter der Orthodxie [...] zur Gegenwehr herausforderte.[15]
Da Literatur immer auch Spiegel der Gesellschaft ist, verwundert es nicht, dass nun viele Autoren den Veränderungen der sie umgebenden Welt in ihrem Schreiben Ausdruck verliehen. Wilhelm Friese spricht davon, dass die Schriftsteller den Umschichtungsprozess innerhalb der bestehenden Gesellschaftsordnung nicht nur wie Seismographen registrierten, sondern auch „aktiv und sehr häufig mit größter Leidenschaft“ an ihm teilnahmen. Die Autoren waren „sich des Heraufkommens einer neuen Zeit bewusst.“[16]
[...]
[1] Friese, Wilhelm: Nordische Literaturen im 20. Jahrhundert. Stuttgart: Kröner, 1971. S.2.
[2] Brandes, Georg: Hovedstrømninger i det 19 aarhundredes litteratur. Forelæsninger holdte ved Københavns Universitet I Efteraarshalvaaret 1871 af Georg Brandes. Emigrantlitteraturen. København, Gyldendalske Boghandel (F.Hegel). 1872.
[3] Friese, Wilhelm: Nordische Literaturen im 20. Jahrhundert. Stuttgart: Kröner, 1971. S.1.
[4] Friese, Wilhelm: Nordische Literaturen im 20. Jahrhundert. Stuttgart: Kröner, 1971. S.6.
[5] In der Einleitung zu seinen Vorlesungen wird die Basis von Brandes' Kritik ersichtlich: Er vergleicht die dänische mit anderen europäischen Literaturen („Det er derfor en saadan jeg vil forsøge, idet jeg bestræber mig for paa en Gang at forfølge visse Hovedbevægelser i den tyske, franske og engelske Literatur, som i dette Tidsrum er de vigtigste.“ In: Hovedstr ø mninger, 1.) Auch Wolfgang Butt hebt hervor: „Dagegen verwies Brandes auf die Verhältnisse in den großen Ländern Europas, wo die Literatur das revolutionäre Gedankengut aufgesogen und weitergetragen habe.“ (Aus: Butt, Wolfgang: Der Moderne Durchbruch und die Zeit bis zur Jahrhundertwende. In: Grundzüge der neueren skandinavischen Literaturen. Hrsg. von Paul, Fritz. Darmstadt, 1991 (2.Aufl.). S.147.)
[6] „[...] den sande Frihed er Viljens egen indre Frihed;“ (Hovedstr ø mninger, 13.)
[7] Butt, Wolfgang: Der Moderne Durchbruch und die Zeit bis zur Jahrhundertwende. In: Grundzüge der neueren skandinavischen Literaturen. Hrsg. von Paul, Fritz. Darmstadt, 1991 (2.Aufl.). S. 153.
[8] Ebd, S. 151.
[9] Englert, Uwe: Der >Moderne Durchbruch<. In: Henningsen, Bernd: Wahlverwandtschaft. Skandinavien und
Deutschland 1800 bis 1914 / Historisches Museum [Berlin]. Hrsg. von Bernd Henningsen. Berlin: Jovis, 1997.
S. 209-212. Hier: S. 209.
[10] Heitmann, Annegret: Die Moderne im Durchbruch (1870-1910). In: Skandinavische Literaturgeschichte, hrsg. von Jürg Glauser, Stuttgart/Weimar: Metzler 2006, S.183 – 229. Hier S. 184. .
[11] Aufgrund des begrenzten Rahmens dieser Arbeit wird an dieser Stelle nicht genauer auf die zahlreichen Veränderungen eingegangen, die sich durch die Industrialisierung ergaben. Ersichtlich soll aber werden, dass alle Lebensbereiche einer tiefgreifenden Veränderung unterlagen.
[12] Friese, Wilhelm: Nordische Literaturen im 20. Jahrhundert. Stuttgart: Kröner, 1971. S. 2 f.
[13] Metzler Literatur Lexikon. Begriffe und Definitionen. Hrsg. von Günther und Irmgard Schweikle, Stuttgart: Metzler 1990. (2. überarb. Auflage), S. 398.
[14] Ebd., S. 320.
[15] Butt, Wolfgang: Der Moderne Durchbruch und die Zeit bis zur Jahrhundertwende. In: Grundzüge der neueren skandinavischen Literaturen. Hrsg. von Paul, Fritz. Darmstadt, 1991 (2.Aufl.). S.147 – 214. Hier S. 151.
[16] Friese, Wilhelm: Nordische Literaturen im 20. Jahrhundert. Stuttgart: Kröner, 1971. S. 3.
- Citar trabajo
- Julia Lubierski (Autor), 2007, Der Moderne Durchbruch in Skandinavien - Durchbruch in die literarische Moderne?, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/72540
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