Diese Arbeit zielt darauf ab, theoretische Kopnzepte der Kognitionspsychologischen Forschung für die Rhetoriktheorie nutzbar zu machen und Anschlussstellen aufzuzeigen. Nach einer kurzen Betrachtung der kognitionspsychologischen Hauptkonzepte zum Thema Aufmerksamkeit und deren Bewertung, wenden sie sich dem Problem zu, oratorische Techniken zu deren Herstellung zu finden. Aufmerksamkeit wird dazu analytisch in zwei Qualitäten aufgespalten: eine unwillkürliche, automatisch und tendenziell gleichförmig nach dem Stimulus- Response-Prinzip beeinflussbare "Aufmerksamkeit I", die hauptsächlich mit Performanzphänomenen in Verbindung gebracht werden kann, und eine willentlich und kognitiv steuerbare verbaltextuell orientierte "Aufmerksamkeit II". Die Unterscheidung wird getroffen analog zur Unterscheidung der auslösenden Reize und nach dem Kriterium ihrer semiotischen Komplexität. Der zweite Teil zerfällt in zwei Abschnitte, deren erster sich mit der Möglichkeit und Nützlichkeit einer allgemeinen Topik zur Erzeugung von Aufmerksamkeit I beschäftigen wird. Im zweiten Abschnitt wird versucht, auf Basis konstruktivistischer Vorstellungen und einer pragmatischen Theorie einen kognitiv fudierten Zugang zu Aufmerksamkeit II zu finden.
Inhalt
1. Einleitung und Begriffsbestimmung
2. Analyse
2.1 Aufmerksamkeit in der Kognitionspsychologie
2.1.1 Das Filtermodell
2.1.2 Das Kapazitätsmodell
2.2 Stellenwert der kognitiven Aufmerksamkeitsforschung für die Rhetorik, Anschlussstellen
2.3 Aufmerksamkeit als Präsenz des Orators im Adressatenbewusstsein
2.3.1 Aufmerksamkeit I: Aufmerksamkeitsheuristik?
2.3.2 Aufmerksamkeit II: Logosinduzierte Aufmerksamkeit, Relevanztheorie, tua res agitur bei Sperber/Wilson
3. Zusammenfassung
4. Literaturverzeichnis
1. Einleitung und Begriffsbestimmung
Um einen rhetoriktheoretisch verwertbaren Aufmerksamkeitsbegriff zu gewinnen müssen wir zunächst semantisch entschlacken. Wir bedienen uns dazu des „Aufmerksamkeitsbaumes“[1] von Assmann/Assmann (2001), die einen Überblick über das gesamte semantische Potential des umgangssprachlichen Begriffes bieten. Sie unterscheiden zwei Hauptstränge von Aufmerksamkeiten, einen „strategischen“ und einen „transzendentalen“. Die strategische Aufmerksamkeit „[...] wird aktiviert, wo immer es um Gefahr und Gewinn, um Macht und Erfolg geht [...]“[2]. Sie spaltet sich weiter auf in „Vigilanz“ und „Inszenierung“: „Im einen Falle geht es darum, selbst möglichst viel zu übersehen, im anderen darum, von möglichst vielen gesehen zu werden.“[3] Diese beiden Aspekte strategischer Aufmerksamkeit – und nur diese – sind für unsere Untersuchung unter verschiedenen Gesichtspunkten interessant: die Vigilanz des Adressaten, sollte sie sich anthropologisch, kulturell oder sonst irgend theoretisch festmachen lassen, muss der Orator per Inszenierung instrumentalisieren, um die Aufmerksamkeit des Adressaten – also Präsenz in dessen Bewusstsein – zu erlangen. Den selektiven Mechanismus, der über Zuwendung oder Nicht-Zuwendung entscheidet, nennen wir also Aufmerksamkeit[4]. Die Zuwendung kann von unterschiedlicher Qualität sein, sich etwa in objektgerichtete Kopf- oder Augenbewegung oder in der Aufwendung kognitiver Ressourcen. Vom Oratorstandpunkt ist Aufmerksamkeit beim Adressaten unabdingbar, um eine notwendige Bedingung für das Gelingen des Persuasionsaktes zu sichern. Sie lässt sich an die allgemeinen Bedingungen menschlicher Kommunikation direkt anschließen:
damit Kommunikation stattfinden kann, muss der Adressat (1.) imstande sein, uns wahrzunehmen; der Adressat muss außerdem (2.) imstande sein, uns (sprachlich) zu verstehen; der Adressat muss (3.) unsere Botschaften[5] entweder dekodieren wollen oder durch einen Stimulus-Response-Zusammenhang dazu gezwungen sein. Erst dann kann (4.) Persuasion (metabolie oder systase) entweder stattfinden oder misslingen. Abhängig von den konkreten Medialisierungszusammenhängen und dem sich daraus ergebenden Widerstandsprofil wird der Fokus im Einzelfall entweder auf dem rhetorischen Hauptwerkzeug „Text“ – und damit der so genannten central route der Persuasion – liegen (mutmaßlich etwa in tertiären Settings), oder es werden vermehrt peripheral route -Phänomene Beachtung finden. Wir werden dieser Zweiteilung der oratorischen Werkzeuge eine weitere Aufspaltung des Aufmerksamkeitsbegriffes gegenüberstellen, die sich schon in der obigen Unterscheidung von „wollen“ und „gezwungen sein“ andeutet[6] ; wir werden eine unwillkürliche, automatisch und tendenziell gleichförmig nach dem Stimulus-Response-Prinzip beeinflussbare Aufmerksamkeit („Aufmerksamkeit I“), die wir hauptsächlich mit Performanzphänomenen in Verbindung setzen, unterscheiden von einer willentlich und kognitiv steuerbaren (also selbst dem Bewusstsein zugänglichen) verbal-textuell orientierten („Aufmerksamkeit II“). Die Unterscheidung treffen wir, wie gesagt, analog zur Unterscheidung der auslösenden Reize und nach dem Kriterium ihrer semiotischen Komplexität[7]. Nach einer kurzen Betrachtung der kognitionspsychologischen Hauptkonzepte zum Thema Aufmerksamkeit und deren Bewertung, wenden wir uns dem Problem zu, oratorische Techniken zu deren Herstellung zu finden. Der zweite Teil zerfällt in zwei Abschnitte, deren erster sich mit der Möglichkeit und Nützlichkeit einer allgemeinen Topik zur Erzeugung von Aufmerksamkeit I beschäftigen wird. Im zweiten Abschnitt werden wir versuchen, auf Basis konstruktivistischer Vorstellungen und einer pragmatischen Theorie einen kognitiv fundierten Zugang zu Aufmerksamkeit II zu finden.
2. Analyse
2.1 Aufmerksamkeit in der Kognitionspsychologie
Eine allgemeine Definition gibt Kellog (1997) folgendermaßen: “Attention refers to the process of selecting only certain stimuli and concentrating cognitive processes on them” (Kellogg 1997: 69). Aufmerksamkeit wird verstanden als Prozess, der Reize selektiert und ihnen kognitive Ressourcen zuweist.
2.1.1 Das Filtermodell
Das gängigste Theoriemodell ist das „Filtermodell“: es wird postuliert, dass an einer bestimmten Stelle im Wahrnehmungsapparat ein Filter zum Einsatz kommt, der manche Stimuli für weitere Verarbeitung durchlässt, andere nicht; die ersten Filtermodelle (Broadbent 1957) postulierten einen solchen Filter direkt am „sensorischen Gedächtnis“, d. h. noch vor jeglicher semantischen Analyse der Stimuli; eine klassische Versuchsanordnung[8] dazu sah folgendermaßen aus („dichotic listening“): eine Person trägt einen Stereokopfhörer und soll nachsprechen („shadowing“), was sie über den linken Kanal hört, während gleichzeitig Material über den rechten Kanal wiedergegeben wird. Die Versuchsperson war anschließend nicht in der Lage, semantische Informationen über den unattendierten Kanal zu geben; lediglich physikalische Eigenschaften (männl./weibl. Stimme, Muttersprache ja/nein) wurden erinnert. Die Filter-Hypothese wird in Frage gestellt von dem „Cocktail-Party-Problem“[9]: als Gast auf einer Cocktail-Party ist es uns möglich, aus einer Vielzahl von Stimmen jederzeit den eigenen Namen auch aus einer entfernten, unattendierten Unterhaltung aufzunehmen – ohne, dass eine gerichtete Aufmerksamkeit vorausgegangen wäre: man muss also davon ausgehen, dass auch unattendiertes Material weiter prozessiert wird. Denn: „Wie können wir unsere Aufmerksamkeit zwischen Inputs umschalten, wenn wir den Inhalt der nicht ausgewählten Inputs gar nicht kennen?“[10].
Experimentell wurde gezeigt, dass auch unattendierte Signale bereits semantische Analyse durchlaufen können[11]: eine Versuchsperson hört über einen Stereokopfhörer im linken Ohr den Satz „they were standing near a bank“ mit der Anweisung, den Text auf dem linken Ohr wiederzugeben. Über das rechte (unattendierte) Ohr werden zeitgleich Texte mit den Worten „river“ oder „money“ eingespielt. Anschließend kann die Versuchspersonen wieder keine Auskunft über den Inhalt auf dem unattendierten Ohr machen. Auf die (eigentlich nicht beantwortbare) Frage, um was für eine Art von Bank es sich (auf dem attendierten Kanal) wohl handle, antworteten sie aber gemäß dem Stimulus auf dem unattendierten Ohr entweder mit „river bank“ oder „financial bank“ (cp. Kellogg 1997: 76). Diese Ungereimtheiten führten zu verschiedenen Modifikationen der Filtertheorie. Das attenuation-model (Treisman 1970) postulierte, dass statt einer Filterung eine selektive Abschwächung von Signalen stattfindet, unselegierte Signale also subjektiv gedämpft werden und damit leichter an der Bewußtseinsschwelle scheitern[12]. Jedoch kann selbst ein abgeschwächter Reiz (etwa ein Wort) die Bewusstseinsschwelle noch überschreiten,
„[…] depending on how important the word was or how expected it was in a particular context. Thus even the attenuated signal of one’s name on the unattended channel should exceed the low threshold. Similarly, because top-down pattern recognition processes build an expectation” [im gegebenen Fall etwa für “river” oder “money”], “[…] it too could exceed its temporarily low threshold.” (Kellogg 1997: 73)
Eine andere Modifikation („Late Selection“, Deutsch/Deutsch 1963, Norman 1968) behielt den Filter bei, platzierte ihn jedoch nach den Mustererkennungsprozessen[13]: “Perhaps the words on both channels receive full semantic analysis. Then, […] the words [for reporting] are selected on the basis of their importance or pertinence”[14]. Das Material wird also auf Wichtigkeit und Relevanz geprüft; damit ergibt sich eine direkte Verbindung zur klassisch rhetorisch Aufmerksamkeits-Technik, dem „tua res agitur“.
2.1.2 Das Kapazitätsmodell
Das Kapazitätsmodell (Kahnemann 1973) geht davon aus, dass der Vorrat an Aufmerksamkeit begrenzt ist und versteht Aufmerksamkeit als mentale Anstrengung. Die Bereitschaft, das vorhandene Aufmerksamkeitsreservoir zu verteilen („allocation policy“) ist bedingt durch Neigungen, Absichten und die Einschätzung des momentanen Kapazitätsbedarfs.
[...] Attention is limited in overall capacity [...]. The more a task requires of a limited pool of available capacity, the more mental effort the person exerts. […] Enduring dispositions, momentary intentions, and evaluation of current demands on capacity shape the allocation policy.[15]
Aber nicht nur die Gesamtkapazität ist begrenzt, Prozesse können auch strukturell interferieren („Multiple Resources“, Navon & Gopher 1979, Wickens 1980):
Wickens proposed three dimensions of resources. First, he distinguished auditory versus visual perceptual modalities […]. Second, he distinguished perceptual-cognitive resources, consumed by demands such as reading or mentally calculating, and response resources, consumed by speaking or moving the hand. Third, he distinguished verbal versus spatial processing codes. Speech or text illustrate verbal codes whereas pictures or diagrams illustrate spatial codes.[16]
Die Multiple-Resource-Modelle zielen darauf, den Ressourcenbedarf einzelner Tätigkeiten zu spezifizieren und zu bestimmen, welche Art von Ressourcen jeweils benötigt wird. „For instance, attending simultaneously to speech and pictures should be more manageable than processing two channels of speech […].”[17]
Der hier verwandte Aufmerksamkeitsbegriff deckt sich nicht vollständig mit dem unseren: „attention“ ließe sich hier jeweils auch gleichsetzen mit „cognitive resources“, spielt also nicht nur die Rolle eines selektiven Mechanismus, sondern verbraucht ihrerseits selbst kognitive Ressourcen, die wiederum selektiv eingesetzt werden müssen.
[...]
[1] vgl. Assmann/Assmann 2001, S. 21ff.
[2] Assmann/Assmann 2001, S. 21
[3] Assmann/Assmann 2001, S. 21
[4] Umgangssprachlich bezeichnen wir mit „Aufmerksamkeit“ auch noch die Fähigkeit, einen längerdauernden Reiz, wie etwa ein Text ihn darstellt, für eine bestimmte Dauer im Bewusstsein zu halten. Den kognitiven Status der Person, die einen Text im Bewusstsein hält, bezeichnen wir als „aufmerksam“. In diesen Zusammenhängen steht der Begriff also nicht nur für den Selektionsmechanismus, der über Zuwendung oder Nicht-Zuwendung entscheidet, sondern auch für den kognitiven Status „Zuwendung von Bewusstsein“ und auch noch für die Fähigkeit, für eine bestimmte Zeitspanne willentlich diesen Mechanismus zu steuern. Wir werden jedoch versuchen, konsequent mit der Definition „Selektionsmechanismus“ zu arbeiten und die beiden anderen Bedeutungszusammenhänge darauf zurückzuführen;
[5] „Botschaft“ ist hier zu verstehen als „Gedankensubstrat“ eines Textes: „Die Botschaft ist [...] eine Resultante aus diversen textuellen Komponenten, die sich analytisch unter Einbeziehung weiterer, kontextueller Komponenten ermitteln und darstellen lässt.“ (Knape 2000, S. 130)
[6] im Deutschen etwa auch in der Unterscheidung von hören/lauschen, sehen/(zu)schauen, im Englischen seeing/watching und hearing/listening; also eine Unterscheidung von Perzeption/Apperzeption;
[7] wir nehmen an, dass Texte der mimischen/gestischen/stimmlichen Zeichensysteme verbalen Texten an Komplexität und Semiotizität immer unterlegen sind – periphere Zeichen verweisen oft auf nichts anderes als sich selbst;
[8] Kellog 1997, S. 70f
[9] vgl. Norman 1969, S. 27
[10] Norman 1969, S. 42
[11] vgl. MacKay 1973, zit. in Kellog 1997, S. 76
[12] vgl. Kellog 1997, S. 72f
[13] vgl. Kellog 1997, S. 73-76
[14] Kellogg 1997, S. 74
[15] Kellog 1997, S. 77f.
[16] Kellog 1997, S. 81
[17] Kellog 1997, S. 81
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