Bis zu dieser Arbeit habe ich mich kaum mit den Themen Sterben und Tod auseinandergesetzt, geschweige denn mit Menschen Gespräche darüber geführt. Zwar befand ich mich in Situationen, in denen eine ältere Person das Sterben ansprach, jedoch hatte ich keine Vorstellung davon, was man dazu sagen und wie man reagieren könnte. Ich hatte Befürchtungen, demjenigen möglicherweise zu nahe zu treten. Diese Unbeholfenheit bewegte mich größtenteils dazu, mich mit Gesprächen über Sterben und Tod im Rahmen der Diplomarbeit näher zu beschäftigen. Meine Motivation lag darin, solche Gespräche mit Menschen führen zu können. Ralf Dziewas ist davon überzeugt, dass grundsätzlich jedermann dazu in der Lage ist ältere und kranke Menschen zu begleiten oder mit ihnen über Sterben und Tod zu sprechen, da es vorrangig beinhaltet, sich einem anderen Menschen zu widmen, Zeit mit ihm zu verbringen und miteinander ins Gespräch zu kommen. Ich vertrete diese Auffassung. Doch stellten solche Gespräche für mich eine Herausforderung dar, da mir Bedenken aufkamen, bei mir und dem Gegenüber starke Gefühle aufzuwühlen, mit denen beide möglicherweise nicht umzugehen wissen. Sterben und Tod sind sehr intime und persönliche Themen. Die eigene Unsicherheit bestand auch darin, dass mir durch die intensive Beschäftigung mit Sterben und Tod die eigene Endlichkeit bewusster werden könnte und dies eventuell Angst auslöst. Es ist jedoch möglich diese Herausforderung zu bewältigen, denn das Thema ist nicht nur angstbesetzt und voller Unsicherheit. Wie in jedem Gespräch, kann man auch bei solchen über Sterben und Tod profitieren, worauf im Schlussteil dieser Arbeit eingegangen wird. Die eigene Haltung gegenüber einem Menschen ist ausschlaggebend. Während dieser Diplomarbeit beziehe ich mich auf die Rolle von Sozialpädagogen und anderen sozialberuflich Tätigen gegenüber Klienten, die dem Sterben nah sind. Das sind in der Regel ältere Menschen, aber auch schwerkranke Menschen jeden Alters. Nach Reinhard Schmitz-Scherzer setzen sich ältere und schwerkranke Menschen öfter mit dem eigenen Sterben auseinander, als Jüngere, da sie der Endlichkeit der eigenen Existenz näher stehen. Auf die Situation Angehöriger wird zudem, wenn auch nur verkürzt, eingegangen, da sie meist eine zentrale Bedeutung für den alten oder kranken Menschen haben.
Inhaltsverzeichnis
1 Vorwort
2 Die Interviews und die Mitarbeit im Hospiz
2.1 Die Interviews
2.1.1 Die Vorbereitung
2.1.2 Der Ablauf
2.1.3 Die Auswertungsmethode
2.2 Die Mitarbeit im Hospiz
3 Einführende Gedanken zu Sterben und Tod
3.1 Heranführung an die Themen Sterben und Tod
3.2 Sind Sterben und Tod tabuisiert?
3.3 Der Umgang mit Sterben und Tod
4 Handlungsoptionen für Gespräche über Sterben und Tod
4.1 Der Klient und seine Bedürfnisse
4.1.1 Das Bild vom Gegenüber
4.1.2 Die Bedürfnisse des Gegenübers in Bezug auf ein Gespräch
4.2 Die bedingungsfreie Akzeptanz und Wertschätzung
4.2.1 Das aktive Zuhören
4.2.2 Verbaler und nonverbaler Ausdruck von Wertschätzung
4.3 Das einfühlende Verstehen
4.3.1 Schweigen und Betrübnis
4.3.2 Das Nachfragen
4.3.3 Die Rückmeldung des Wahrgenommenen
5 Die Selbstwahrnehmung des sozialberuflich Tätigen
5.1 Die Selbstkongruenz
5.2 Die Auseinandersetzung mit dem eigenen Sterben
5.3 Die Beziehung zum Klient
5.4 Das Spannungsverhältnis von Nähe und Distanz
5.5 Die Selbstreflexion
6 Der persönliche Gewinn
7 Schlusswort
Quellenverzeichnis
Anhang A – Die Interviewleitfäden
Anhang B - Interviewtranskript von Frau A
Anhang C - Interviewtranskript von Frau B
Anhang D - Interviewtranskript von Herrn C
Anhang E - Interviewtranskript von Herrn O
Anhang F - Interviewtranskript von Herrn D
Anhang G - Interviewtranskript von Frau E
Anhang H - Interviewtranskript von Frau S
Anhang I - Interviewtranskript von Frau T
Anhang J - Interviewtranskript von Frau U
1 Vorwort
„Ich fand es schwierig, wenn mir alte Menschen gesagt haben: ‘Ich will sterben. Ich kann nicht mehr.’ Ich konnte für mich nur schwer akzeptieren, dass sie das geäußert haben und war in Versuchung so etwas zu sagen, wie: ‘Ach, das ist doch noch nicht so weit.’ Irgendwann habe ich gemerkt, dass das nicht der richtige Weg ist.“ (Frau A., Z. 19-23).
Bis zu dieser Arbeit habe ich mich kaum mit den Themen Sterben und Tod auseinandergesetzt, geschweige denn mit Menschen Gespräche darüber geführt. Zwar befand ich mich in Situationen, in denen eine ältere Person das Sterben ansprach, jedoch hatte ich keine Vorstellung davon, was man dazu sagen und wie man reagieren könnte. Ich hatte Befürchtungen, demjenigen möglicherweise zu nahe zu treten. Diese Unbeholfenheit bewegte mich größtenteils dazu, mich mit Gesprächen über Sterben und Tod im Rahmen der Diplomarbeit näher zu beschäftigen. Meine Motivation lag darin, solche Gespräche mit Menschen führen zu können. Ralf Dziewas (2002, S. 21) ist davon überzeugt, dass grundsätzlich jedermann dazu in der Lage ist ältere und kranke Menschen zu begleiten oder mit ihnen über Sterben und Tod zu sprechen, da es vorrangig beinhaltet, sich einem anderen Menschen zu widmen, Zeit mit ihm zu verbringen und miteinander ins Gespräch zu kommen. Ich vertrete diese Auffassung. Doch stellten solche Gespräche für mich eine Herausforderung dar, da mir Bedenken aufkamen, bei mir und dem Gegenüber starke Gefühle aufzuwühlen, mit denen beide möglicherweise nicht umzugehen wissen. Sterben und Tod sind sehr intime und persönliche Themen. Die eigene Unsicherheit bestand auch darin, dass mir durch die intensive Beschäftigung mit Sterben und Tod die eigene Endlichkeit bewusster werden könnte und dies eventuell Angst auslöst. Es ist jedoch möglich diese Herausforderung zu bewältigen, denn das Thema ist nicht nur angstbesetzt und voller Unsicherheit. Wie in jedem Gespräch, kann man auch bei solchen über Sterben und Tod profitieren, worauf im Schlussteil dieser Arbeit eingegangen wird. Die eigene Haltung gegenüber einem Menschen ist ausschlaggebend. Während dieser Diplomarbeit beziehe ich mich auf die Rolle von Sozialpädagogen und anderen sozialberuflich Tätigen gegenüber Klienten, die dem Sterben nah sind. Das sind in der Regel ältere Menschen, aber auch schwerkranke Menschen jeden Alters. Nach Reinhard Schmitz-Scherzer (1992, S. 10) setzen sich ältere und schwerkranke Menschen öfter mit dem eigenen Sterben auseinander, als Jüngere, da sie der Endlichkeit der eigenen Existenz näher stehen. Auf die Situation Angehöriger wird zudem, wenn auch nur verkürzt, eingegangen, da sie meist eine zentrale Bedeutung für den alten oder kranken Menschen haben.
Die erarbeiteten Möglichkeiten, um mit alten oder kranken Menschen über Sterben und Tod zu sprechen, stellen den Schwerpunkt dieser Arbeit dar und können dem Leser als Wegweiser dienen, sollen jedoch nicht als Ratgeber oder Verhaltenskatalog betrachtet werden. Die vorliegende Arbeit beinhaltet meine persönlichen Erfahrungen und entwickelten Einschätzungen, die ich mir in der Phase der Bearbeitung - durch Literaturrecherche, Interviews, einer einwöchigen Hospitation im Hospiz und dem intensiven Beschäftigen mit Sterben und Tod - erarbeitet habe. Die dargestellten Handlungsmöglichkeiten können bei dem Leser Interesse anregen. Es entspricht nicht meinem persönlichen Ehrgeiz, Chancen aufzuzeigen, welche von jedem angewandt und gelernt werden können, denn Menschen können auf verschiedene Art und Weise gute Gespräche führen. „Für den einen ist ein ungeduldiges Vorgehen, das keinen Unsinn duldet und die Karten gleich offen auf den Tisch haben will, am wirksamsten, weil er hierbei am offensten er selbst ist. Ein anderer wird mit einer sanften, offensichtlich wärmeren Zuwendung Erfolg haben, weil dies seinem Wesen entspricht.“ (Rogers 1993, S. 199). Alle »beraterischen Regeln« stellen lediglich Möglichkeiten dar, um auf Klienten zuzugehen, und diese Ansicht lässt die Chance einer Veränderung oder Erweiterung der eigenen Handlungskompetenz zu. Bevor ich mich dem jedoch zuwende, wird auf die Frage eingegangen, ob Sterben und Tod tabuisiert werden und welche Bedeutung Sterben für Menschen haben kann. Die Interviews und die Mitarbeit im Hospiz werden im folgenden Kapitel näher betrachtet.
2 Die Interviews und die Mitarbeit im Hospiz
Im Rahmen dieser Diplomarbeit habe ich neun qualitative Interviews und eine einwöchige Hospitation in einem Hospiz in Mitteldeutschland durchgeführt. Beides ermöglichte mir einerseits persönliche Erfahrungen von Menschen zu Gesprächen über Sterben und Tod kennen zu lernen und andererseits neue Denkanstöße zu erhalten. Da die Auswertung der Interviews in die gesamte Diplomarbeit eingeflochten wurde, ist es nun erforderlich die Interviews – von der Vorbereitung über den Ablauf bis zur Auswertungsmethode – und die einwöchige Einarbeitung in das Hospiz vorzustellen.
2.1 Die Interviews
2.1.1 Die Vorbereitung
Um die Interviews bestmöglich durchführen zu können, habe ich Interviewleitfäden für die Einzelbefragungen erstellt, welche im Anhang A (S. 86) einzusehen sind. Die Hauptforschungsaufgaben der Interviews bestanden darin, herauszufinden, wie die sozialberuflich Tätigen und Angehörige von alten Menschen Gespräche über Sterben und Tod mit den Betroffenen führen und was sie dabei für wichtig und geeignet halten bzw. was nicht. Ich wollte außerdem erfahren, ob die Interviewpartner die Gespräche über Sterben und Tod als tabuisiert oder offen einschätzen, welche konkreten Inhalte die Gespräche, welche Erwartungen und Bedürfnisse alte Menschen dem Gesprächspartner gegenüber haben können und welchen persönlichen Gewinn man aus den Gesprächen ziehen kann. Die Interviewten sind in drei verschiedene Zielgruppen unterteilt. Die sozialberuflich Tätigen (Frau A., Frau B., Herr C., Herr D. und Frau E.) werden oder wurden in ihrem beruflichen Kontext mit den Themen Sterben und Tod konfrontiert und haben meist Methoden entwickelt, wie man mit alten oder kranken Menschen darüber sprechen kann; sie sammelten zumindest eigene persönliche Erfahrungen in diesem Bereich. Sie konnten mir unterschiedliche Hinweise geben, welche ich in die folgenden Kapitel eingebunden habe, und halfen mir, mich in die Thematik differenzierter einzuarbeiten. Zusätzlich habe ich erfahren, welche Bedeutung sie der Selbst-reflexion beimessen. Die älteren Menschen (Frau S., Frau T. und Frau U.) stellen den Kern der Arbeit dar, denn sie wissen meist am Besten, wie sie sich ein Gespräch wünschen bzw. wie nicht. Mir war wichtig, ihre Bedürfnisse und Erwartungen an ein Gespräch über Sterben und Tod und an den Gesprächspartner zu erfahren. Die dritte Zielgruppe, die lediglich aus einem Gesprächspartner (Herr O.) besteht, sind die Angehörigen. Sie sind unmittelbar mit den Themen Sterben und Tod konfrontiert und können die Gespräche darüber im familiären Kontext führen. Das Gespräch mit Herrn O. hatte auch zum Ziel, die Vor- und Nachteile eines verwandten Gesprächspartners zu erarbeiten.
Die drei sich ähnelnden Interviewleitfäden sind teilweise standardisiert, um mögliche Übereinstimmungen und Unterschiede der verschiedenen Interviews zu ergründen. Die Befragten wurden durch den Interviewleitfaden zwar auf gegebene Fragestellungen gelenkt, sollten aber möglichst frei antworten und reagieren können. Die Gespräche waren also auf die von mir eingebrachte Problemstellung zentriert, auf die wir immer wieder zurückkamen. (Vgl. Mayring 2002, S. 67.) Die gestellten Fragen sollten meinen Gesprächspartner öffnen und zum Reden animieren. Um Missverständnisse in der Auslegung des Sinns dieser Fragen zu minimieren, wurden die Fragen in erster Linie einfach, deutlich, neutral und nicht suggestiv formuliert. Ich habe versucht, mich vorrangig auf eine offene Fragestellung, z.B. „Was meinen Sie, kann dazu beitragen damit ein solches Gespräch gelingt?“, festzulegen, habe aber auch geschlossene Alternativfragen, wie „Wird das Thema Ihrer Meinung nach eher verschwiegen, verdrängt bzw. weg geschoben oder ist es ein offenes Thema?“ eingebaut. Der Vorteil von offenen Fragen ist die Vermeidung von Antwort-verzerrungen durch eine vorgefasste Meinung. Es war mir bei manchen Fragen nicht möglich sie offen zu formulieren, hatte allerdings nicht den Eindruck, dass die Alternativfragen die Antworten meines Gegenübers verfälschten. (Vgl. Reinecke 1991, S. 14.)
Während ich mich auf die Suche nach geeigneten Interviewpartnern begab, organisierte ich mir zeitgleich ein Diktiergerät aus meinem privaten Umfeld. Da die Gesprächssituation möglichst natürlich sein sollte, überließ ich meinem Interviewpartner die Wahl des Ortes und platzierte das Diktiergerät unaufdringlich neben uns. Vor den Interviews ließ ich mir bestätigen, es aufnehmen zu dürfen, um es anschließend zu transkribieren und für diese Diplomarbeit zu verwenden. Der Tonbandmitschnitt ermöglichte, mich ganzheitlich auf den Gesprächspartner zu konzentrieren, da das Gespräch nicht für schriftliche Notizen unterbrochen werden musste. (Vgl. Stangl 2001.) Um eine Vertrauenssituation herzustellen, versuchte ich gemeinsame Bekannte als Vermittler einzusetzen. Eine Kommilitonin z.B., welche bei einer Sozialstation arbeitet, half mir Interviewpartner zu vermitteln. Zur Kontaktaufnahme erklärte ich verschiedenen Studenten, den Mitarbeitern von einer Sozialstation und von dem Hospiz, in dem ich kurzzeitig beschäftigt war, den Inhalt und die Ziele der Interviews. (Vgl. Stangl 2001.) Wie ich zu den Interviewpartnern kam, ist zu Beginn der Transkripte beschrieben. Nachdem sich die Interviewpartner für ein Gespräch bereit erklärten, wurden gemeinsam Treffen vereinbart, welche an einem ruhigen Ort stattfanden. Ich wollte mit mehr Kenntnis und Sicherheit an die Interviews herantreten, weshalb ich zuvor einige Bücher las. Mir war wichtig, dass genug Zeit für das Interview eingeplant wurde, wiederum wollte ich es nicht sehr ausweiten, da das Erzählen und das Zuhören sehr anstrengen und die Konzentration einbüßen kann. Die Gespräche dauerten etwa zwischen 50 und 80 Minuten.
2.1.2 Der Ablauf
Die Interviews fanden zwischen dem 12.06. und 30.08. 2006 und nicht in Anwesenheit einer dritten Person statt. Um dem Gegenüber die Möglichkeit zu geben sich auf die Interviewsituation und auf mich einzulassen, habe ich mich und das Anliegen, welches ich mit den Interviews verband, zunächst vorgestellt, auch wenn die Interviewpartner nicht nachfragten. Ich wollte ihnen keine bestimmte Antwort herauslocken, sondern war offen und versuchte mich individuell auf jedes Gespräch einzulassen. Das gelang mir jedoch nicht im Gespräch mit Frau S., da sie meist von den Fragen abwich und etwas völlig anderes berichtete. Es fiel mir schwer ihr zuzuhören. Ich bohrte daher nach, indem ich gelegentlich anstatt einer, mehrere Fragen formulierte. Dadurch hatte sie die Möglichkeit sich die angenehmste Frage auszusuchen und die anderen Fragen waren somit überflüssig. Das Variieren der Fragestellung innerhalb eines Gesprächs nutzte ich zudem, um Gesprächspausen zu überbrücken. Der Interviewleitfaden diente mir bei den Gesprächen vorrangig als Unterstützung und Sicherheit, da ich zuvor noch kein Interview geführt hatte. Er sollte einen Gesprächsabbruch vermeiden. Die Fragen wurden nicht immer wortwörtlich übernommen, was mir mehr Gestaltungsspielraum und die Möglichkeit, an interessanten und bedeutenden Stellen nachzufragen, gestattete. (Vgl. Stangl 2001.) Ich erwartete kein »Geheimrezept« dafür, wie man die Gespräche führen kann. Ich ließ mich in jedem Gespräch überraschen, und lernte immer andere Perspektiven kennen, auch wenn sich diese nicht stark voneinander unterschieden. Die Interviewten sollten sich von mir ernst genommen und nicht ausgehorcht fühlen. Da mich die Erfahrungen meiner Interviewpartner wirklich interessierten, war es für mich keine Schwierigkeit dieses Interesse zu vermitteln. Dazu habe ich den Blickkontakt gehalten, genau zugehört und innerhalb interessanter Passagen nachgefragt, ohne jedoch meine Gesprächspartner zu unterbrechen. Ich wollte eine gleichberechtigte Beziehungsebene schaffen. Der Vorteil an einem Interview ist, dass Interviewpartner in der Regel ehrlicher, genauer und offener sind als bei einem Fragebogen oder einer geschlossenen Umfragetechnik. Das zeigen verschiedene Erfahrungen mit dieser Methode. (Vgl. Mayring 2002, S. 69.) Meine Interviewpartner stellten den Mittelpunkt des Gespräches dar. Ich hielt mich daher mit meiner eigenen Meinungen zurück und bewertete ihre Ansichten nicht. Ich akzeptierte ihre Anschauung. Mein Gegenüber sollte zu Wort kommen, aber sich nicht als reinen Datenlieferant verstehen. Das bedeutet, dass nicht nur ich, sondern auch er das Interview gestaltete. (Vgl. Stangl 2001.)
2.1.3 Die Auswertungsmethode
Um die gewonnenen Informationen und das Detailwissen der Gesprächspartner möglichst gut wiederzugeben, wurden die Interviews transkribiert. Das gesprochene Wort wurde also in eine schriftliche Fassung gebracht. Nicht die Analyse der Reaktionen meiner Interviewpartner, sondern der Gesprächsinhalt stand im Vordergrund. Um einen flüssig lesbaren Text zu erhalten, habe ich die Transkripte aller Interviews vervollständigt, Satzbaufehler weitestgehend behoben und den Dialekt bereinigt. Die Inhalte wurden dadurch nicht verändert. Nach der Transkription habe ich die Aufzeichnungen an die jeweiligen Interviewpartner mit der Bitte um Durchsicht und Zustimmung zur Weiterverwendung mitgegeben, was von allen bestätigt wurde. (Vgl. Mayring 2002, S. 89, 91.) Ich weise darauf hin, dass die Personennamen der Interviewpartner, sowie die von ihnen erwähnten Personennamen und Städte als Pseudonym, d.h. anonymisiert, erscheinen. Eventuelle Ähnlichkeiten mit realen Personen sind daher rein zufällig. In den Transkripten wurde das Gesprochene durch Abkürzungen des anonymisierten Namens gekennzeichnet und voneinander abgegrenzt. Frau U. wurde bspw. mit »U« gekennzeichnet und »I« steht für Interviewerin. Die Transkripte sind in den Anhängen B bis J (S. 89-151) einzusehen.
Nach der Transkription aller Interviews wurde eine qualitative Inhaltsanalyse durchgeführt. „Ziel der Analyse ist es, bestimmte Aspekte aus dem Material herauszufiltern, unter vorher festgelegten Ordnungskriterien einen Querschnitt durch das Material zu legen oder das Material auf Grund bestimmter Kriterien einzuschätzen.“ (Mayring 2002, S. 115). Durch Unterstreichungen und Randnotizen, also einer Notierungen der Kategoriebezeichnung am Rande des Textes im Transkript, habe ich die für diese Diplomarbeit bedeutsamen Textstellen markiert und jeweils einer bestimmten Kategorie zugeordnet. Die Kategoriebezeichnung ergab sich aus den transkribierten Inhalten, welche Parallelen zur Gliederung der gesamten Arbeit aufwiesen. Wenn ich im weiteren Verlauf erneut eine dazu passende Textstelle gefunden habe, wurde sie dieser Kategorie ebenfalls zugeordnet. Dieser Vorgang wird als Subsumption bezeichnet. Abschließend wurde das gekennzeichnete Material herausgearbeitet, zusammengefasst und in die Gliederung eingearbeitet. (Vgl. Mayring 2002, S. 89, 116f, 120.) Im weiteren Verlauf beziehe ich mich durch das Zitieren auf die verschiedenen Textstellen.
2.2 Die Mitarbeit im Hospiz
Meine Tätigkeit im Hospiz fand vom 07.08. bis 11.08.2006 täglich von 7.30 Uhr bis 14.30 Uhr statt. Das Hospiz liegt in Mitteldeutschland; genauere Angaben können die Anonymität zweier Interviewpartner nicht gewährleisten. Die Mitarbeit ergab sich spontan, da ich erst eine Woche vor Beginn in telefonischen Kontakt mit der Geschäftsleitung der Einrichtung trat. Dadurch wurde mir ermöglicht, eine für das Thema »Gespräche mit alten Menschen über Sterben und Tod« essentielle Einrichtung kennen zu lernen. Im Hospiz bekam ich die Möglichkeit mit schwerkranken Menschen in Kontakt zu treten und den dortigen Arbeitsinhalt zu ergründen. Durch den Leiter dieser Einrichtung wurde ich vom ersten Tag an in den Arbeitprozess eingebunden, was mir einen raschen Aufbau von Kontakten zu den schwerkranken Menschen ermöglichte. Welche Erfahrungen ich dort gesammelt habe, ist in die folgenden Kapitel eingebunden. Diese Einrichtung und die Mitarbeiter kennen zu lernen, bereicherte die Interviews mit Frau E. und Herrn D. zusätzlich. Ich konnte ihre Erfahrungen besser in mich aufnehmen, da mir der Arbeitsablauf bereits bekannt war. Durch die gemeinsame Arbeit waren wir uns nicht mehr vollkommen fremd. Dadurch war ich in den folgenden Interviews nicht mehr übermäßig aufgeregt und konnte mich besser auf die Gespräche mit ihnen einlassen.
3 Einführende Gedanken zu Sterben und Tod
3.1 Heranführung an die Themen Sterben und Tod
Der Begriff »Tod« wird in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen, wie Philosophie und Medizin, unterschiedlich definiert. Die Feststellung des Todes aus Sicht der Medizin ist vom medizinischen Fortschritt und deren neuen Erkenntnissen abhängig. Für den Umgang mit Sterben und Tod und die Gespräche darüber spielt es jedoch eine größere Rolle, welche Bedeutung ein Individuum dem Sterben und Tod beimisst. Daher wird hier nicht auf Definitionen von Sterben und Tod eingegangen. Von der individuellen Bedeutung des Sterbens ist auch abhängig, ob diese Themen tabuisiert werden oder bei Menschen Angst auslösen können. Ich widme mich auch nicht den von mehreren Autoren beschriebenen Sterbephasen, da es ohnehin kein Schema des Sterbens gibt. Die Einteilung des Sterbens in unterschiedliche Phasen kann die Individualität dieser Lebenssituation nicht relativieren. (Vgl. Heller 2000, S. 15.)
Mechthild Voss-Eiser (1991, S. 77) weist auf eine strikte Trennung der Bedeutung für die Begriffe »Sterben« und »Tod« hin. Oft wird vom Tod gesprochen, jedoch meist der Sterbevorgang gemeint. Sterben meint den Vorgang, bei dem es innerhalb einer kürzeren oder längeren Zeitspanne zu einem Übergang aus dem Zustand des Lebens in den Zustand des Todes gelangt. Genauer betrachtet ist die Bezeichnung von Leben als Zustand unzutreffend, worauf hier jedoch nicht näher eingegangen werden kann. (Vgl. Dölle 1976, S. 45.) Nach Klaus Feldmann (1997, S. 12) werden drei verschiedene Formen des Sterbens unterschieden: das »physische Sterben«, das »psychische Sterben« und das »soziale Sterben«. Die größte psychische Gefahr des Alters scheint die Vereinsamung zu sein und wird in der von mir bearbeiteten Literatur als »soziales Sterben« bezeichnet. Kindheit und Jugend sind die Zeit, in der man Freunde gewinnt. Im frühen Erwachsenenalter führen Beruf und Hobby zu vielen sozialen Kontakten. Wer eine feste Bindung herstellen kann, kann mit dem Partner Verwandte hinzugewinnen. Stellt sich Nachwuchs ein, so können sich im Kindergarten und in der Schule Beziehungen zu anderen Eltern ergeben. Die Beziehungsfähigkeit im Alter hängt davon ab, wie konstruktiv die bisherigen Erfahrungen waren, wie viel Zuversicht sie aufgebaut und wie viel Angst und Zweifel sie geweckt haben. (Vgl. Schmidbauer 2003, S. 153, 157.) Das »soziale Sterben« bezieht sich auf die soziale Identität, auf soziale Rollen und die Teilnahme an gesellschaftlichen Aktivitäten. (Vgl. Feldmann 1997, S. 85.) Die Verringerung der Privatsphäre, die Abnahme sozialer Kontakte und die Reduzierung eigener Aktivitäten können nach Reinhard Schmitz-Scherzer (1992, S. 16) zum »sozialen Sterben« führen. Nach den Erfahrungen von Katharina Heimerl, Andreas Heller, Georg Zepke und Hildegrund Zimmermann-Seitz (2000, S. 61) wünschen sich die meisten Menschen als räumliche Umgebung für ihren physischen Sterbeprozess ihre gewohnte Umgebung. Für Menschen, die zu Hause wohnen, ist dies ihr dortiges Zimmer. Für sie kann eine Umsiedlung in ein Pflegeheim eine große Belastung und ein erstes Anzeichen für »soziales Sterben« sein, das sich im Aufgeben der eigenen Selbständigkeit, des gewählten Kontaktes mit Bekannten und Verwandten, sowie vieler persönlicher Gegenstände äußern kann. Das Altern und das »soziale Sterben« werden nach Klaus Feldmann (1997, S. 85) häufig parallelisiert, sollten jedoch nicht gleichgesetzt werden, denn das »soziale Leben und Sterben« ist nicht unbedingt vom Alter abhängig. Ein alter Mensch, der sich in Projekten engagiert, könnte möglicherweise eine höhere soziale Anerkennung genießen als ein junger Mensch, der aus dem Gesichtspunkt seiner Umgebung Probleme bereitet. Die soziale Anerkennung kann ein Mensch jedoch, wie im eben genannten Beispiel, durch das Altern einbüßen. Möglicherweise hat er dann keinen Gesprächspartner, mit dem er über die Endlichkeit seines Daseins sprechen kann.
Das Sterben wird auch als eine Passivsituation beschrieben. Ob ein Mensch stirbt oder nicht, kann ab einem gewissen Zeitpunkt nicht mehr kontrolliert werden. Die sterbende Person ist diesem Sterbevorgang ausgeliefert und kann ihn nicht mehr beherrschen, was zu Angst führen kann. (Vgl. Jüngel 1976, S. 118.) Man verliert durch das Sterben Menschen, die man nicht mehr zurückgewinnt. Nicht nur der Angehörige des Sterbenden muss sich verabschieden, der Sterbende selbst muss sich von geliebten Menschen und Dingen und letztendlich von der ganzen Welt lösen. (Vgl. Schmidbauer 2003, S.107.) Das Sterben selbst ist nach Herrn D. (Z. 154-160) für alle Menschen angstbesetzt, da niemand weiß, ob es schmerzt, was dabei passiert und was man erlebt. Nach seiner Erfahrung haben Menschen keine Angst vor dem Nichtmehrsein, sondern für viele sei der Übergang das Problem. Frau U. (Z. 82-87) beschreibt ferner die Angst vor dem Moment, nicht sterben zu können: „Mein Leben, das was noch kommt, ist nur Abstieg. Es ist ein hartes Bewusstsein, wenn man merkt, es wird immer weniger und wo führt das hin. ‘Lieber Gott, lass es doch endlich mal Schluss sein, damit es nicht noch weiter nach unten geht.’ Das ist das Schlimme am Alter, dass man sieht, es kann nicht mehr Positives kommen. Man hat Angst davor, dass man nicht mehr weiß, wer man ist und nicht sterben kann.“ Der Psychiater Fritz Meerwein bemerkte aufgrund seiner Beobachtungen an krebskranken Menschen, dass es die Einsamkeit und nicht das Sterben selbst ist, was seine Klienten in der Regel am meisten fürchten. (Vgl. Meerwein zit. nach Leuenberger 1985, S. 23.) Frau B. beschrieb, dass Frau Z. keine Angst vor dem Nichtmehrsein hat: „Ich habe mein Leben gelebt.“, sondern davor dann alleine in der Wohnung zu sein und dass niemand bei ihr ist. (Vgl. Frau B., Z. 30-31.) Die unterschiedlichen Ängste können jedoch keinem Menschen genommen werden. Wenn der alte, kranke oder sterbende Mensch seine Ängste äußert, kann man ihm zumindest zu verstehen geben, dass man versucht bei ihm zu sein: „Wenn etwas ist, du kannst mich jederzeit anrufen.“ (Vgl. Frau B., Z. 76-77.) Eine Möglichkeit mit dieser Angst umzugehen besteht darin, sich diese einzugestehen, sie zu formulieren und anderen mitzuteilen. Das gilt für alle wichtigen Gefühle und die Angst vor dem Sterben kann ein wichtiges und tiefes Gefühl sein. Die Angst kann nicht genommen aber erträglicher werden, wenn man sie mit anderen teilt, wenn man sie jemandem mitteilt. Jede Form von Angst kann Energie lähmen und blockieren. (Vgl. Hoffmann 1991, S. 48.)
„Man kann uns alles nehmen, man kann uns sogar das Leben nehmen – den Tod kann uns niemand nehmen. (...) Daran wird auch aller Wissensgewinn nichts ändern – so notwendig und hilfreich genaueres Wissen über Sterben und Tod für die Lebenden ist.“ (Jüngel 1976, S.111).
Dieses Zitat soll hervorheben, dass es für einen Menschen nichts Schlimmes wäre, wenn er auf der Stelle tot ist. Er wäre nicht mehr da und für Tote gibt es keine Empfindungen, weder Furcht noch Freude. Die Vorstellung vom Tod im Bewusstsein der Lebenden kann Angst erregen, der Tod selbst jedoch nicht. Der Mensch teilt die Geburt, Jugend, Krankheit, Alter und Tod mit den Tieren. Aber er allein unter den Lebewesen ist sich dessen bewusst, dass er jederzeit sterben kann und irgendwann einmal sterben wird. Das Tier stirbt jedoch, ohne von seinem Tod zu wissen. (Vgl. Elias 1991, S. 10ff, 70.) Wissen und Erleben gehen getrennte Wege. Man weiß um den eigenen Tod, doch erlebt man ihn nicht. (Vgl. Schmidbauer 2003, S. 81.) „Es gibt niemanden, der Erfahrungen mit Tod gemacht hat. Jeder macht sie, aber er kann sie nicht weitergeben. Es ist sehr wichtig, ob man vor dem Tod Angst haben muss oder ob man getrost auf ihn zugehen kann.“ (Frau U., Z. 22-25). Das Wissen vom Tod prägt die Bedeutung, die man dem Sterben gibt und den Umgang damit. Je älter und gebrechlicher ein Mensch wird, desto eher können die Themen rund um Sterben und Tod in den Vordergrund rücken. Junge Menschen beschäftigen sich seltener mit diesen Themen. (Vgl. Frau A., Z. 46-49/ Frau B., Z. 34-35/ Herr D., Z. 9-11.)
3.2 Sind Sterben und Tod tabuisiert?
„Laut Definition verhindert ein Tabu, daß ein bestimmter Bereich ichnah erlebt, rational erhellt und aufgearbeitet wird, wo man nicht mehr weiterfragt und auch nicht daran denkt, dies zu tun.“ (Hoffmann 1991, S. 41).
Ein wichtiger Aspekt, der die Gespräche über Sterben und Tod beeinflussen kann, ist, ob die Themen tabuisiert werden oder nicht. In der Literatur sind mehrere Auffassungen vertreten, jedoch kann hier nur oberflächlich darauf eingegangen werden. Da jeder Mensch individuell ist, ist es nicht wichtig, wie viele Menschen die Themen Sterben und Tod möglicherweise tabuisieren. Interessanter ist die Fragestellung, was das Sterben für jemanden bedeutet und wie vorhandene Tabus gebrochen werden können. Zunächst möchte ich einen Einblick in die unterschiedlichen Betrachtungsweisen gewähren.
In meiner Literaturstudie begegnete ich sehr häufig der Ansicht, dass Sterben und Tod als Tabuthemen bezeichnet werden können, auch die Interviewpartner, die in ihrer beruflichen Tätigkeit mit diesen Themen konfrontiert werden oder wurden, bestätigten mir diese Anschauung. (Vgl. Frau A., Z. 49-50/ Frau B., Z. 22/ Herr D., Z. 108-112/ Frau E., Z. 41-43.) Die Ursachen für eine mögliche Tabuisierung der Themen und Gespräche können sehr unterschiedlich sein. Frau B. (Z. 91-92) begründete eine Tabuisierung in der Familie bspw. damit, dass vorhandene Verlustängste der Familienmitglieder, also auch des sterbenden Menschen, die Gespräche erschweren.
Vor etwa 300 Jahren beschrieb der christliche Denker Pascal, dass die Menschen darauf bedacht sind nicht an den Tod zu denken, da sie den Tod und das damit verbundene Leid nicht heilen konnten. (Vgl. Pascal zit. nach Hoffmann 1991, S. 42.) Ein weit verbreitetes Argument lautet, dass Sterben und Tod durch den Wandel der Familienstruktur und durch die erhöhte Lebenserwartung in der »modernen Gesellschaft« tabuisiert sind. In einer Gesellschaft mit einer durchschnittlichen Lebenserwartung von 75 Jahren liegt der Tod nach Norbert Elias (1991, S. 17, 71f) für einen 25-jährigen Menschen erheblich ferner als für eine gleichaltrige Person in einer Gesellschaft mit einer durchschnittlichen Lebenserwartung von 40 Jahren. Da das Leben dort kürzer und die Unsicherheit größer ist, scheint der Gedanke an den Tod allgegenwärtiger. In der »modernen Gesellschaft« ist der Anblick von Sterbenden und Toten nichts Alltägliches mehr, da das Sterben von Bezugspersonen selten und oft erst im Erwachsenenalter erlebt wird. Es entsteht ein Erfahrungsdefizit, was für Angehörige zu einer Hilflosigkeit im Umgang mit sterbenden Menschen führen kann. (Vgl. Feldmann 1997, S. 34.) Der Umgang mit Sterben und Tod unterliegt nach Paul B. Becker (1992, S. 27) einem ständigen Wandel, da sich Geburt und Sterben vor 40 Jahren noch in den Bereichen des täglichen Lebens, in der Regel zu Hause mit allen damit verbundenen Belastungen und Risiken, vollzogen. Die Mehrheit lebte ständig bei- und miteinander, auch die Räumlichkeiten ließen ihnen kaum eine andere Wahl. Herr D. (Z. 146-149) betonte in unserem Gespräch, dass die klassische Großfamilie nicht mehr existiert, in welcher das Sterben oft, auch im Beisein von Kindern, stattgefunden hat. Dadurch scheint das Thema auch nicht mehr so präsent zu sein. Sterbebegleitung wird nach Andreas Heller (1994, S. 28f) nicht mehr als eine selbstverständliche, in der Familie und Nachbarschaft eingebundene soziale Kompetenz betrachtet, da sich wegen der erhöhten Lebenserwartung und dem Wandel der familiären Strukturen die Primärerfahrungen mit dem Sterben in der »modernen Gesellschaft« eher zufällig ergeben. Er folgert daraus, dass die Sicherheit und Selbstverständlichkeit im Umgang mit Sterbenden verloren gegangen ist. Angehörige wissen oft nicht recht, etwas zu sagen und Peinlichkeitsgefühle halten nach Norbert Elias (1991, S. 39) die Worte zurück. Eine Tabuisierung kann nach Herr D. (Z. 143) durch die mit Sterben und Tod verbundene Trauer begründet sein: „Trauer macht einen ratlos und wer möchte schon gerne hilflos und ratlos sein.“ Angehörige können es demnach schwer finden, sterbenden Menschen die Hand zu drücken oder sie zu streicheln, um ihnen das Gefühl der unverminderten Zugehörigkeit und Geborgenheit zu geben. (Vgl. Elias 1991, S. 39.) Diese Tatsache trifft jedoch nicht in jedem Fall zu, denn es gibt auch Angehörige, die mit einem sterbenden Familienmitglied umgehen können.
Da in früheren Zeiten viele Menschen Primärerfahrungen mit Sterben und Tod sammelten, sprach man wohl etwas unbefangener davon. (Vgl. Elias 1991, S. 38.) Die Tabuisierung von Sterben und Tod durch die fehlenden Primärerfahrungen in der Kindheit, wird von Frau U. (Z. 12-18) folgend beschrieben: „Als wir Kinder waren, war das noch anders. Für uns waren Sterben und Tod selbstverständlich und es wurde auch angesprochen. Heute dürfen die Kinder von Tod nichts erfahren, es wird von ihnen weggehalten. (...) Bei uns waren die Toten im Haus und wurden nicht bei Nacht und Nebel weggeschafft. Wir haben als Kinder schon Tote, Begräbnisse und den Leichenzug durch das Dorf gesehen. Wir sind viel auf dem Friedhof gewesen. Das erfahren ja die Kinder heute nicht, dabei ist der Tod das Allerselbst-verständlichste.“ Die Bedeutungen von und der Umgang mit Sterben und Tod ist im großen Maße von der Lebensgeschichte und den Erfahrungen abhängig, die mit dem Sterben, etwa in der Familie, gemacht wurden. (Vgl. Heimerl/ Heller/ Zepke/ Zimmermann-Seitz 2000, S. 67.) Möglicherweise können die Ursachen für eine Tabuisierung in der erhöhten Lebenserwartung des Menschen und dem Wandel der Familienstruktur gefunden werden, doch diese Perspektive verdeckt die Individualität der Menschen und Familien. Frau T. (Z. 12) lebte als Kind mit den Eltern und Großeltern in einer Wohnung, doch Sterben und Tod wurden trotzdem nicht offen besprochen. Herr O. (Z. 108-110) bestätigt, dass der Umgang individuell ist: „Ich kenne durch meine Mutter auch andere ältere Leute und mit denen scheint es, auf Aussagen meiner Mutter, kein Problem zu sein. Das ist eher ein spezifisches Problem meiner Großeltern.“ Ob die Themen tabuisiert sind, hängt von der Beziehung innerhalb einer Familie ab und inwieweit man mit den Bezugspersonen über die eigenen Gefühle und Ängste offen sprechen kann. Wenn dies möglich ist, ist es unwesentlich, wie viele Generationen in einem Haushalt leben und lebten. Die Einstellung zu Sterben und Tod wird nach Josef Hoffmann (1991, S. 47) in der Erziehung, der Religion, der Gesellschaft und den eigenen Lebenserfahrungen begründet, was in der Kindheit zugrunde gelegt wird. Durch die Verhaltensweisen ihrer Umgebung entwickeln Kinder eine Einstellung zu diesem Thema, selbst wenn nicht offen darüber gesprochen wird. Diese Einstellung ist jedoch im Laufe der weiteren Entwicklung sehr wandlungsfähig. Bei der Bewältigung des eigenen Sterbens, können frühkindliche Erfahrungen und Phantasien einen Anteil haben. (Vgl. Elias 1991, S. 18f.) Wenn Kinder bspw. mit der Vorstellung erzogen wurden, dass man sein Schuldenkonto in das Leben nach dem Tod mitnimmt, kann diese Vorstellung Angst auslösen. (Vgl. Frau E., Z. 61-63.) Reinhard Schmitz-Scherzer (1992, S. 16) beschreibt, dass eine Akzeptanz des geführten Lebens, sowie dessen eher positive Bewertung, die Einstellung zum Sterben und zum Tod in dem Sinne beeinflussen kann, dass der Gedanke an die Endlichkeit der eigenen Existenz bewusster ertragen und reflektiert wird.
Durch das vermehrte Sterben in Institutionen kann manchen Menschen die Primärerfahrung fehlen. Dies hat jedoch auch zur Ursache, dass Sterben und Tod in beruflichen Lernfeldern zu Themen geworden sind. (Vgl. Heller 1994, S. 21.) Nach Ralph Grossmann (1994, S. 84) ist das gehäufte Sterben in Institutionen als „institutionelle Antwort unserer Gesellschaft auf den Widerspruch von Leben und Tod zu begreifen und basiert auf einer weitgehenden Verleugnung und Tabuisierung des Todes“. Diese Auffassung impliziert, dass Angehörige sich wegen der persönlichen Verdrängung von Sterben und Tod entscheiden, ihre Familienältesten zur Pflege in Pflegeheime zu geben. Meines Erachtens ist es keine Schande, wenn ältere Menschen in Pflegeheimen leben, wenn ihnen dort bspw. besser geholfen werden kann. Ältere Menschen zu Hause zu pflegen ist meist eine sehr starke Belastung für die gesamte Familie. Es ist auch nicht ungewöhnlich, dass die erwachsenen Kinder eine Familie an einem Ort gründen, der vom Elternhaus entfernt ist und daher die Unterbringung der alten Menschen in Pflegeheimen erfolgt.
Da in Institutionen, wie Krankenhäusern, Altenpflegeheimen und Hospizen, der gehäufte Umgang mit alten, kranken und sterbenden Menschen stattfindet, sind dort die Themen Sterben und Tod präsent. Häufig wird der Umgang zwischen beruflich Tätigen und den alten, kranken und sterbenden Menschen kritisiert. Herr C. (Z. 87‑88) beschrieb, dass ein Altenpfleger im Krankenhaus wenig Zeit für Gespräche hat, da er zwischen 10 und 15 Patienten zu versorgen hat. Von anderen Autoren wird behauptet, das Personal sei für eine soziale Betreuung nicht angemessen ausgebildet, wodurch es zu Uminterpretationen (z.B. »schwerkranker Patient«) kommt, sie versuchen den Kontakt zu meiden oder sie gänzlich ignorieren. Die sterbenden Menschen werden offenbar als hilflose, abhängige Wesen betrachtet und behandelt und nehmen meist auch ihr Stigma an. (Vgl. Feldmann 1997, S. 67.) Wissenschaftliche Untersuchungen in den Vereinigten Staaten von Amerika sollen belegen, dass Krankenschwestern sterbende eindeutig länger als nichtsterbende Menschen warten ließen. Direkte Befragungen ergaben, dass die überwiegende Mehrzahl eher zum Vermeiden der Sterbenden neigte, indem sie den ernsten Zustand leugneten, das Gesprächsthema wechselten oder sich in Ausreden flüchteten. (Vgl. Ochsmann zit. nach Feldmann 1997, S. 68.) Heinrich Pera (1995, S. 78) beschreibt, dass ein kranker Mensch oft erlebt, wie über ihn hinweg, ohne ihn einzubeziehen, gesprochen wird. Für dieses Vermeidungsverhalten der Helfer wird als Ursache das Gesundheitssystems gesehen, wonach Krankheit zu bekämpfen und Gesundheit herzustellen ist, was bei einem sterbenden Menschen nicht möglich ist. (Vgl. Feldmann 1997, S. 68.) Das Gesundheitssystem hat jedoch auch den Auftrag Schmerzen zu lindern und für das körperliche Wohlbefinden der Menschen zu sorgen. Dadurch kann dem sterbenden Menschen gezeigt werden, dass man nicht aufgehört hat, ihn als Mensch Beachtung zu schenken, was nicht immer ganz leicht ist. (Vgl. Elias 1991, S. 96.)
Da ich keine Erfahrungen in anderen Institutionen außer dem Hospiz gesammelt habe, fällt es mir schwer mich dazu zu positionieren. Schuldzuweisungen wie: „Das liegt an der schlechten Ausbildung des Personals.“ ändern jedoch nicht viel. Ich finde es wichtig, einen ausgeglichenen Schwerpunkt auf den Körper und die Psyche zu legen und diese Erfahrung habe ich im Hospiz sammeln können. Möglicherweise nimmt die Versorgung von Sterbenden in Krankenhäusern derzeit einen dominanten Stellenwert im Gesundheitssystem ein, doch hat bereits eine Trendwende eingesetzt. Die ambulante und häusliche Versorgung und die Pflege von Sterbenden gewinnen an Bedeutung. (Vgl. Heimerl/ Seidl 2000, S. 111.) Mittlerweile haben sich vielerorts Hospize angesiedelt, welche sich um die Pflege und die Begleitung sterbender Menschen bemühen, das Sterben als einen Teil des Lebens und als einen Vorgang betrachtet, der weder verdrängt noch künstlich verlängert werden muss. Liebevolle Zuwendung kann diese Lebensphase neu mit Sinn füllen. (Vgl. Pera 1995, S. 21.) Der sterbende Mensch sollte nicht isoliert oder auf ein Körperteil reduziert gesehen werden, bspw., wenn der Arzt sagt: „Der Niere geht es wieder gut.“ Vielmehr sollte er als Mensch und im Zusammenhang mit den Angehörigen und Bezugspersonen wahrgenommen werden: „Herrn X. geht es heute besser.“ Das ist eines von 10 Grundprinzipien des Hospizes, die Student (zit. nach Feldmann 1997, S. 71) benannt hat. Die Betreuung im Hospiz endet nicht mit dem Tod des Menschen, sondern bezieht sich auch auf die Trauernden. Die Unterstützung eines Hospizes geschieht subsidiär, d.h. es wird dort geholfen, wo Angehörige nicht zu helfen wissen und sich überfordert fühlen. Diese Hilfe kann eine große Entlastung für die gesamte Familie sein. Die Hospizbewegung hat zum Ziel, dass Menschen dort sterben können, wo sie sterben möchten, meist bei ihrer Familie zu Hause, und soll keine weitere Form der Institutionalisierung darstellen. Tageshospize und ambulante Betreuungen sollen die Möglichkeit schaffen, dass sterbende Menschen ihr Leben in ihrer gewohnten Umgebung zu Ende bringen können. (Vgl. Pera 1995, S. 74.) Die noch recht neue Hospizbewegung zeigt mir, dass die Themen Sterben und Tod nicht ausschließlich tabuisiert sind, sondern dass es Menschen gibt, die den Umgang mit sterbenden Menschen wichtig finden und diese unterstützen. Für die Helfer in diesem Bereich kann und sollte es kein Tabuthema sein.
Ein wichtiges Buch, welches 1969 von Elisabeth Kübler-Ross zum Thema Sterben und Tod erschienen ist, heißt „Interviews mit Sterbenden“. Nach der Erscheinung dieses Buches folgten von anderen Autoren viele weitere Bücher zu dieser Thematik. Daran wird deutlich, dass Sterben und Tod aktuelle Themen sind. (Vgl. Hoffmann 1991, S. 46.) Sterben und Tod sind sogar zu »Hauptthemen« für viele Menschen geworden, besonders für sozialberuflich Tätige. (Vgl. Voss-Eiser 1991, S. 71.) Der medizinische Fortschritt und die damit verbundene höhere Kontrolle über Leben und Sterben können zudem als ein realitätsgerechtes Todesbewusstsein gedeutet werden. Menschen in der »modernen Gesellschaft« üben vermehrt Selbstkontrolle aus: Sie haben ein höheres Gesundheitsbewusstsein und schätzen Gefahren bewusster ab, um ihr Todesrisiko zu verringern. Man könnte meinen, dass sie an den Tod denken und deshalb bspw. durch Lebens- und Unfallversicherungen vorsorgen. (Vgl. Feldmann 1997, S. 39.) Es hat eine Normalisierung der Todesvorstellungen stattgefunden. Der »normale« Tod im hohen Alter wird von den meisten Menschen als natürliches, nicht-tragisches Ereignis angesehen. (Vgl. Riley zit. nach Feldmann 1997, S. 39.) Diese Ansicht vertritt auch Frau T. (Z. 81-84): „Wenn jemand jung stirbt, zweifelt man auch: ‘Musste er denn so jung sterben?’ Auch wenn eine Mutter jung stirbt und noch Kinder hat, sieht man die Sache noch anders. Das ist dann nicht der natürliche Ablauf.“ Das Interesse an pompösen Begräbnissen hat abgenommen, und kann als Argument dafür verstanden werden, dass der Tod als natürliches Lebensende angesehen wird. Entscheidungen, in denen es um Leben oder Tod geht, wie die Organtransplantation und die Abtreibung, werden offener und mit mehr Berücksichtigung der Menschenrechte diskutiert, als es in früheren Zeiten der Fall war. Die Konflikte, die sich in Bereichen zeigen, wie z.B. das Sterben in Institutionen, der Selbstmord und der Krieg, können ebenfalls als Argument für eine Beschäftigung mit dem Thema gedeutet werden. (Vgl. Feldmann 1997, S. 39f.)
Wenn man darüber nachdenkt, ob Sterben und Tod tabuisiert sind oder nicht, wird dabei die Verdrängung dessen vorausgesetzt. Norbert Elias (1991, S. 7) weist darauf hin, dass es eine starke Tendenz gibt, dem Gedanken an den Tod aus dem Wege zu gehen und zu verdrängen oder durch den festen Glauben an die eigene persönliche Unsterblichkeit von sich zu weisen: „Andere sterben, aber ich nicht.“ Der Begriff »Unsterblichkeitsglaube« wurde von Sigmund Freud geprägt. Sigmund Freud meinte damit, dass im Unbewussten jeder von der eigenen Unsterblichkeit überzeugt sei. Der Tod sei für den einzelnen der Tod des anderen. Das Unbewusste, die tiefsten, aus Triebregungen bestehenden Schichten der Psyche, kennt nach Sigmund Freud überhaupt nichts Negatives und keine Verneinung. Gegensätze fallen in ihm zusammen. Darum kennt das Unbewusste auch nicht den eigenen Tod, „dem wir nur einen negativen Inhalt geben können.“ (Vgl. Freud zit. nach Heimann 1976, S. 36.) Es handele sich hierbei also nicht um die Verdrängung des eigenen Sterbens, sondern um den Glauben an die eigene Unsterblichkeit.
3.3 Der Umgang mit Sterben und Tod
Dass sich Menschen mit dem Sterben gar nicht oder kaum beschäftigen, kann viele Ursachen haben. Eine gute körperliche Verfassung kann zu der Annahme führen, vom Sterben noch so weit entfernt zu sein, dass genug Zeit bleibt, sich später damit zu beschäftigen. Lebensaktivitäten können im Vordergrund stehen: „Ich habe so viel zu tun, da habe ich keine Zeit über das Sterben nachzudenken.“ Andererseits kann auch eine Verdrängung dahinter stehen, welche aber ebenso als legitime Umgangsform mit dem Sterben verstanden werden sollte. (Vgl. Heimerl/ Heller/ Zepke/ Zimmermann-Seitz 2000, S. 58.) Verdrängung und Verneinung werden oft als negativ eingeordnet, doch die Verdrängung kann auch positive Aufgaben erfüllen. Verdrängung stellt einen Schutzmantel dar, um nicht emotional zu zerbrechen. (Vgl. Feldmann 1997, S. 38.) Manchmal sprechen Angehörige und sterbende Menschen nicht miteinander über das Sterben, um sich gegenseitig zu schützen. Vielleicht will der sterbende Mensch den Angehörigen schützen und thematisiert das Sterben nicht. Vielleicht ist es umgekehrt und der Angehörige will den Sterbenden schützen. Es kann auch vorkommen, dass von beiden Seiten diese Vorsicht ausgeht. In solchen Situationen könnte man als außenstehender Helfer koppeln: „Sie sollten miteinander darüber reden. Sie wollen sich gegenseitig schützen.“ Dann kann es gut sein diese Wahrnehmung einzubringen. (Vgl. Herr D., Z. 112-118.) Es gibt auch Menschen, die stärker auf den Tod als auf den vor ihnen liegenden Lebensabschnitt orientiert sind. Vom Leben wird bspw. nicht mehr allzu viel erwartet: „In unserem Alter steht man doch schon mit einem Bein im Grab.“ (Vgl. Heimerl/ Heller/ Zepke/ Zimmermann-Seitz 2000, S. 58.) Die Umgangsformen mit dem eigenen Sterben sind sehr individuell.
Welche Bedeutung ein Mensch dem Sterben gibt, beeinflusst nachhaltig, wie derjenige mit dem Sterben umgeht. Man kann es als einen natürlichen Prozess ansehen. Der Zyklus der Natur zeigt ständig und überall, wie der Tod im Leben enthalten ist. Im Universum gibt es kein Gebilde »auf ewig«. Auch Sterne werden »geboren« und »sterben«. Dieses Gesetz gilt für den Makro- und den Mikrokosmos, ob ein Bestehen von bis zu Jahrmillionen oder von Lebewesen, deren Lebenszeit nur Tage zählt. Immer und überall gilt das Gesetz vom Werden und Vergehen. (Vgl. Hoffmann 1991, S. 43.) Diese Sichtweise kann manchen Menschen helfen mit dem fertig zu werden, was man nicht ändern kann. Zwar weiß man, dass der Tod kommen wird, aber das Wissen, dass es sich um das Ende eines Naturablaufs handelt, kann dazu beitragen, die Beunruhigung zu dämpfen. (Vgl. Elias 1991, S. 73.) Man findet in allem das Muster von Abtrennung und Abgrenzung, immer den Vorgang von Loslassen und Abschied, was immer auch zu einem Neubeginn führt. Solange man lebt, macht man Erfahrungen mit Trennung, Verlust und Abschied. Man verabschiedet sich von Entwicklungsstadien, dem Elternhaus, Beziehungen und Freundschaften. Man trennt sich von Gewohnheiten, Idealen und von geliebten Menschen. Das Bewusstsein der eigenen Endlichkeit kann mit den »kleinen Toden« des Alltags gelernt werden, wie man diese vielfachen Formen des Abschieds bezeichnet. So kann jedes Abschiednehmen eine Einübung für den letzten großen Abschied gesehen werden. (Vgl. Hoffmann 1991, S. 38f.) Das Leben ist missverstanden, wenn man meint, es vor Leid, Versagen oder Zusammenbrüchen bewahren zu können. Wer lernt zu seinem Leben „Ja“ zu sagen, kann möglicherweise lernen zu seinem Tod „Ja“ zu sagen. Es gilt als psychologisch erwiesen, dass jemand, der die Überzeugung vertritt ein sinnerfülltes Leben geführt zu haben, in der Regel leichter Abschied nehmen kann als jemand, der unbefriedigt und unversöhnt aus dem Leben schreiten muss. (Vgl. Leuenberger 1985, S. 22.)
Ein selbstverständlicher Umgang mit den Themen Sterben und Tod kann dazu dienen, vorhandene Tabus zu durchbrechen. „Es war schön für mich zu merken, dass man dann dem anderen sehr helfen kann, wenn man es zulässt und wenn der andere spürt, dass es kein Tabuthema ist, sondern dass eben darüber gesprochen wird und es ein Teil des Lebens ist. Wenn man selbstverständlich damit umgeht, kann es dem anderen sehr helfen.“ (Frau A., Z. 294-297).
Frau U. berichtete, wie man als Kind erfahren kann mit dem Sterben und Tod umzugehen: „Ich hatte eine sehr fromme Mutter und sie hat schon mit uns als Kinder um einen guten Tod gebetet. Als Kind konnte ich nicht verstehen, wenn meine Mutter für eine gute Sterbestunde betete. Das war für uns Kinder unmöglich. Heute weiß ich, wie wichtig ihr das war, auch uns als Kindern zu sagen: ‘Du wirst einmal sterben.’ Für mich war Tod nie ein Tabu. Bei uns sind auch Mitschüler gestorben und ich kann mich erinnern, dass viele Kinder an Scharlach und Diphtherie starben. Da hat Mutter auch mit uns darüber gesprochen. Wir wussten auch, dass Tod traurig macht und haben gesehen, dass man weint. Das gehört eben mit dazu. Damit muss man fertig werden. Das haben wir als Kinder schon vermittelt bekommen. Es lief alles selbstverständlich ab. Wir waren nicht überrascht vom Tod, in keiner Situation. Wir haben immer gewusst, dass das mit dazu gehört. (...) Mit meinen Enkelkindern, vor allem mit K., habe ich schon darüber gesprochen, dass ich sterben werde und dass das kein Unglück ist. ...dass ich auch keine Angst vor dem Sterben habe und dass ich darauf warte. Das ist das, was noch auf mich wartet, was ich noch zu bewältigen habe und ich es mir sehr schön vorstelle, wenn es dann geschafft ist. (...) Es ist sehr wichtig, dass es ein Thema ist und man sich auch auf anderen Ebenen damit auseinandersetzt. Es soll ein wichtiges Thema sein und nicht erst, wenn der Tod dann vor der Tür steht. Schon in der Bewusstseinsbildung junger Menschen sollten Leben und Tod eine größere Rolle spielen. Es ist wichtig, dass schon jungen Menschen anerzogen wird: ‘Da gibt es noch etwas, dem du nicht ausweichen kannst. Jeder Tag führt dich da hin. Egal wie lang der Weg mal sein wird, er muss überschaubar bleiben. Für jeden Tag bist du neu verantwortlich.’ “ (Frau U., Z. 31‑45, 252-258).
Als mir Frau U. von sich erzählte, konnte ich nachvollziehen, dass man im Erwachsenenalter möglicherweise besser mit dem Bewusstsein von Leben und Tod umgehen kann, wenn auch in der Kindheit diese Themen besprochen wurden. Das Abschiednehmen von einem Menschen oder der ganzen Welt kann heißen, Dinge, die man noch klären möchte nicht auf später zu verschieben und sich dessen bewusst zu sein, dass der Abschied an der Tür auch der letzte Moment der gemeinsamen Zeit gewesen sein kann. (Vgl. Dziewas 2002, S. 96.)
4 Handlungsoptionen für Gespräche über Sterben und Tod
In diesem Kapitel wird auf die Individualität des Gegenübers, auf dessen Bedürfnisse in einem Gespräch und seine möglichen Erwartungen an den eingegangen. In der Einleitung habe ich bereits erwähnt, dass jedes Gespräch so individuell ist, wie der Mensch selbst. Nach Andreas Kruse (zit. nach Heller 2000, S. 16) ist somit auch das Sterben als ein individueller und persönlicher Prozess zu begreifen, der in hohem Maße vom eigenen Lebenslauf beeinflusst ist. Es gibt demnach keinen allgemeingültigen Kodex von Formen des Sterbebeistandes oder Gesprächstechniken über Sterben und Tod. Maßstab ist dabei immer der Mensch in seiner Individualität. Das Führen eines Gespräches ist jedoch nicht nur vom Individuum selbst, sondern auch von der Stimmung und Vorgeschichte der Beteiligten, dem Verhältnis zueinander, den Krankheitsbedingungen, der Art des Gesprächs und nicht zuletzt von der Übereinstimmung von Wort und Ton abhängig. Ein paar Faktoren können jedoch als Richtlinien angesehen werden. (Vgl. Mark Zengaffinen 1997, S. 9.) Der Schwerpunkt dieser Diplomarbeit ist es, solche Möglichkeiten zu ergründen und darzustellen. Helfende Gespräche zu führen ist nicht durch das Aneignen starrer Regeln möglich, sondern ein Prozess und ein Weg der Entwicklung und Reifung der eigenen Persönlichkeit, da man stets etwas von sich selbst in die Beziehung einbringt. (Vgl. Gärtner 2004, S. 7.) Diese Gegebenheit konnte ich im Verlauf der Bearbeitung dieses Themas erfahren und wird im Schlusswort näher betrachtet. In erster Linie bestimmt das Gelingen eines Gespräches die Beschaffenheit der zwischenmenschlichen Beziehung zum Klienten. Das ist das wichtigste Element in Berufen, bei denen es um die Beziehung zu Menschen geht, wie bspw. Psychotherapeuten, Psychologen, Lehrern, Seelsorgern und Sozialpädagogen. (Vgl. Rogers 1993, S. 211.) Der professionelle Umgang mit Klienten kann eine gewisse Asymmetrie der Beziehung implizieren, denn alte Menschen sind oft auf die Unterstützung anderer angewiesen. Diese Asymmetrie sollte für ein Gespräch aufgehoben sein, indem man respektvoll mit ihnen umgeht. (Vgl. Heimerl 2000, S. 91.) Schon in den eigenen Gedanken ist es ratsam sich nicht über den anderen, sondern neben ihn zu stellen. (Vgl. Gärtner 2004, S. 27.) Frau E. (Z. 340-349) hatte die Erfahrung, dass man sich schnell aufopfern könnte, wenn man den Klienten nur als hilfebedürftig und bemitleidenswert ansieht. Er hat zu Recht Methoden entwickelt, um das Beste für sich herauszuholen. Ein Gleichgewicht von Nähe und Distanz zum Klienten gehört zum beruflichen Alltag und wird im Kapitel »Die Selbstwahrnehmung des sozialberuflich Tätigen« etwas näher beleuchtet. Als sozialberuflich Tätiger führt man kein Gespräch im Sinne einer Diskussion, sondern das Gespräch ist eine Hilfestellung, wodurch der Gegenüber von dem reden kann, was ihn beschäftigt. Man ist kein üblicher Gesprächspartner, wie es Verwandte oder Freunde sind. (Vgl. Herr D., Z. 262-265.) Die gewählte Gesprächstechnik, die man in der Beziehung zum Klienten anwendet, ist Ausdruck einer grundlegenden Einstellung ihm gegenüber. (Vgl. Gärtner 2004, S. 49.) Carl Ransom Rogers hat drei Einstellungen bzw. Bedingungen genannt, die für den Erfolg einer Therapie ausschlaggebend zu sein scheinen. Er hat sich auf eine therapeutische Beziehung, welche nicht identisch mit einer sozialpädagogischen Beziehung ist, bezogen. Jedoch ähneln sie sich in ihren Grundzügen, wie der Einstellung zum Klient und daher stellen die formulierten Haltungen keinen ausschließlich therapeutischen Ansatz dar. Gemeint sind die Echtheit oder Kongruenz des sozialberuflich Tätigen, das vollständige und bedingungsfreie Akzeptieren des Klienten und ein sensibles und einfühlendes Verstehen des Klienten von Seiten des sozialberuflich Tätigen. Obwohl alle drei Bedingungen im hohen Maße erfüllt sein sollten, ist nach Carl Ransom Rogers die Echtheit oder Kongruenz des beruflich Tätigen die grundlegendste Bedingung. (Vgl. Rogers 1993, S. 23.) Die drei Bedingungen müssen jedoch nicht von vornherein absolut vorhanden sein, denn das würde die Möglichkeit einer Entwicklung der eigenen Kompetenz in diese Richtung ausschließen. Man kann lernen sich auf Situationen einstellen, spontan mit Situationen umgehen und helfende Gespräche führen zu können. (Vgl. Frau A., Z. 219-221.) Das ist bspw. durch die Anwendung verschiedener Methoden oder die Erschließung neuer Perspektiven möglich. „Sterbebegleitung ist eine Frage der mitmenschlichen Grundkompetenz und differenzierter Fachkompetenz.“ (Heller 1994, S. 134).
4.1 Der Klient und seine Bedürfnisse
4.1.1 Das Bild vom Gegenüber
Den Mensch als Individuum wahrzunehmen, beinhaltet die eigene beständige Überzeugung, dass es nur dem Klient möglich ist, die vollkommene Dynamik seines Verhaltens und seiner Realitätswahrnehmung zu erkennen und folglich geeignete Verhaltensweisen und Umgangsformen zu finden. (Vgl. Rogers 1993, S. 134.) Dieser Grundsatz ist davon geleitet, dass der Klient selbst weiß, was gut für ihn ist. Seine Ansichten sollten daher in den Gesprächsprozess integriert werden und eine zentrale Bedeutung bekommen. (Vgl. Heller 1994, S. 67f.)
„Wenn ein Patient beispielsweise sagt: ‘Sie können das doch genau erklären. Durch ihre Tätigkeit als Klinikseelsorger haben Sie eine Menge Erfahrungen. Ich verlasse mich da ganz auf Ihr Wort.’ Wie nahe liegt es da, mich bei einem solchen Wort nehmen zu lassen, d.h. meine Ansichten auszubreiten, meine Gedanken und Ideen vorzulegen – und zugleich dem viel heilsameren gemeinsamen Suchen auszuweichen, letztlich mir selbst und dem Ratsuchenden im Wege zu stehen.“ (Pera 1995, S. 166). Wenn vom Gegenüber eine »Problemlage« mitgeteilt wird, mit der man möglicherweise auch konfrontiert ist oder war, kann es schwierig sein, dem Gegenüber nicht die eigenen Lösungsstrategien anzuraten. (Vgl. Gärtner 2004, S. 46.) Doch ist es vorteilhaft sie nur schemenhaft einzubringen, wenn der Klient bspw. fragt: „Wie würden Sie es machen?“ (Vgl. Herr O., Z. 373-377.) Man könnte die eigenen Strategien formulieren, doch möglicherweise wird dem Klienten selbst auffallen, dass für den Einen eine Lösung sein kann, was für den Anderen keine Lösung sein muss. Falls er jedoch mit dieser Erwartungshaltung an ein Gespräch herantritt, könnte er enttäuscht werden, dass man ihm auf diese Weise nicht helfen kann. (Vgl. Frau E., Z. 89-92.) Der Gedanke, dass Situationen immer anders sind, selbst wenn sie sich noch so ähneln, kann hierbei helfen, die eigenen Ideen aus dem Mittelpunkt zu rücken. Derjenige, der eine schwierige Angelegenheit hat, muss seine eigene Lösung finden. Ein Gesprächspartner kann lediglich bei der Suche nach eigenen Problemlösungsstrategien unterstützen und diese gemeinsam im Gespräch erarbeiten. Auch die Verantwortung dafür, dass »richtig« gesucht wird, liegt beim Suchenden selbst. (Vgl. Gärtner 2004, S. 57.) Nach der Überzeugung von Frau E. (Z. 70-71) wollen die meisten Menschen keine Weisheiten, Belehrungen oder Ratschläge hören. Es ist ratsam, ihnen nicht aufzudrängen, wie sie ihren Abschluss gestalten sollten und mit der Vorstellung an sie heranzutreten, man müsse sie in eine bestimmte Richtung lenken. Jeder muss sein Leben selbst abschließen und nicht jeder macht aus seinem Lebensende eine Inszenierung. (Vgl. Frau E., Z. 169-171.) Dass der Gegenüber selbst am Besten weiß, was für ihn gut ist, zeigt zudem, warum das Führen eines Gespräches nicht durch das Aneignen starrer Regeln möglich ist und es kein Schema dafür geben kann, wie man mit jemanden reden muss, damit »die Lösung« erreicht wird. Frau B. (Z. 104-106) und Frau E. (Z. 189-190) entgegneten mir zuallererst, als ich sie fragte, wie sie mit alten Menschen über Sterben und Tod reden, dass sie keine Strategie verwenden, sondern eher »aus dem Bauch heraus«, je nach Gegebenheit reagieren. Frau T. (Z. 203-204) befürwortete, dass man nicht mit einem bestimmten Vorsatz auf den Mensch zugehen sollte, um verschiedene Punkte abzuarbeiten, sondern situationsbezogen zu handeln und »ein Gespür für den Anderen zu entwickeln«: „Der eine möchte laut angesprochen werden und der andere möchte, dass man sich leise nähert. Man muss dann auf das Echo hören.“ (Frau U., Z. 183-186). Der Mensch ist individuell und auch von seinem Wesen her eine Ganzheit. Ein Teil, ein Aspekt seiner Ganzheitlichkeit kann möglicherweise psychisch, physisch oder geistig eingeschränkt sein und doch habe ich auch dann einen ganzen Menschen - mit all seinem Erleben, all seinen Fragen und Ängsten, Unsicherheiten und Aggressionen, aber auch mit seinen Hoffnungen, Sehnsüchten, Erwartungen und Fähigkeiten - vor mir. (Vgl. Pera 1995, S. 42, 47.) Diese Wahrnehmung ist nicht auf eine Zentrierung auf die körperliche Dimension des Krankseins und Sterbens beschränkt, sondern rückt die Vielseitigkeit des Menschen in das Blickfeld und wird respektiert. (Vgl. Heller 1994, S. 26.) Jeder Mensch möchte ganzheitlich gesehen werden und nicht nur als »Sterbender aus Zimmer 2«. Wenn man sich nur auf die »Defizite« konzentriert, kann ein klagendes Verhaltensmuster des Klienten auch verstärkt werden, was die Erarbeitung von Lösungen hindern kann. (Vgl. Bamberger 2001, S. 16.) Frau E. (Z. 224-230) möchte dem Gegenüber bspw. vermitteln, dass er durchaus in seiner Persönlichkeit der selbe ist und sagt auch, dass sie ihn so, wie sie ihn kennen gelernt hat, nett findet. Durch Bagatelle: „Wir müssen alle mal sterben. Hab dich nicht so.“ oder durch das Generalisieren: „Solche Fragen stellen sich heutzutage sehr viele Menschen. Letzten Endes schaffen es dann aber doch die meisten.“ wird das ganz persönliche Hier und Jetzt des Klienten distanziert vernachlässigt. Stattdessen wird beschwichtigt, verallgemeinert und verharmlost. (Vgl. Pera 1995, S. 55.) Feingefühl und die Wahrnehmung des Gegenüber als Individuum können fördern, ihn nicht nur als einen Teil der Menschheit zu sehen, in der alle einmal sterben müssen. (Vgl. Frau A., Z. 264-266.) „Wenn jemand sterben muss und darüber traurig ist, ist es sicher kein Trost zu sagen: ‘Es müssen alle mal sterben.’ Die Person stirbt und ich lebe in dem Moment weiter.“ (Herr D., Z. 204-206). Der Mensch ist nicht nur ein Objekt, sondern: Er ist und bleibt immer Subjekt. Das hat viel mit der Würdigung des Gegenübers zu tun. (Vgl. Pera 1995, S. 43.) Ein sozialberuflich Tätiger kann nie wissen, wie der Klient »wirklich« ist bzw. was für ihn »objektiv« gut ist. Das Wissen darum entlastet den Helfer von der Bürde, das »einzig Richtige« zu tun und gibt den kreativen Spielraum, mit dem Klienten zusammen nach Alternativen zum gegenwärtigen Zustand Ausschau zu halten. (Vgl. Bamberger 2001, S. 10.) Durch eine diagnostizierende oder interpretierende Weise, wie: „Sie können sich offenbar mit Ihrem Schicksal nur schwer abfinden. Wahrscheinlich sind Sie zu dieser Auffassung gekommen, weil Sie seit längerer Zeit keine rechte Freude mehr erlebt haben.“, geht man ebenfalls nicht auf die Gefühle des Gegenübers ein, sondern beurteilt und analysiert ihn. Dadurch versucht man aus dem Subjekt ein Objekt zu machen, was dem Ratsuchenden erschweren kann, zu sich selbst zu finden. (Vgl. Pera 1995, S. 54.) Klienten reagieren auf solche Aussagen häufig mit Gefühlen wie Minderwertigkeit und Schuld, was sie in ihren Bewältigungskompetenzen geradezu lähmen kann. (Vgl. Bamberger 2001, S. 20.) Auf die Bedürfnisse des Gegenübers einzugehen, sehe ich als essentiellen Bestandteil der Beziehung zueinander.
4.1.2 Die Bedürfnisse des Gegenübers in Bezug auf ein Gespräch
So verschieden die Menschen sind, können auch die Bedürfnisse und Wünsche von sterbenden, alten oder kranken Menschen auseinander gehen. Das Wissen um sie, kann den Bezugspersonen, Angehörigen und sozialberuflich Tätigen als Orientierung dienen. Mir scheint von Bedeutung, dass die Ziele des sozialberuflich Tätigen in Einklang mit den Bedürfnissen des Klienten stehen, damit eine gute Beziehung und ein Vertrauensverhältnis zueinander aufgebaut werden kann. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich der Klient missverstanden fühlt, kann somit eingeschränkt werden. Reinhard Schmitz-Scherzer (1992, S. 23) kategorisiert die Bedürfnisse, die Menschen in der letzten Lebensphase mehr oder minder ausgeprägt erleben, in körperliche, psychische und soziale. Körperliche Bedürfnisse können das Freisein von starken Schmerzen, das Wohlfühlen im körperlichen Sinne und die Entlastung von unangenehmen körperlichen Empfindungen sein. Frau T. (Z. 118-119) äußerte mir dahingehend ebenfalls: „Ein Bedürfnis ist, dass man kein langes Krankenlager und wenige, erträgliche Schmerzen hat.“ Wenn ein Mensch starke Schmerzen hat, kann er sich auch denkbar schwierig auf ein Gespräch einlassen und konzentrieren. (Vgl. Herr C., Z. 285-287.) Als psychische und soziale Bedürfnisse werden von Reinhard Schmitz-Scherzer (1992, S. 23) die Sicherheit und das Vertrauen auf das Personal bezüglich der Information über den eigenen Zustand, soweit diese erfragt und erhofft sind, gesehen. Nach Klaus Jonasch (zit. nach Feldmann 1997, S. 70) ergaben empirische Studien, dass kranke Menschen nicht nur ein korrektes Wissen über ihren Zustand wünschen, sondern dadurch auch profitieren können. Gespräche über das Sterben können, wenn auch unter seelischen Schmerzen, da damit meist alle möglichen Resthoffnungen erstickt werden, trotz allem Sicherheit bieten. Den kranken Menschen hoffen zu lassen, kann ihm die Möglichkeit verbauen, Abschied zu nehmen. Abschiednehmen stellt keinen einmaligen Vorgang dar, sondern einen Prozess mit unbekanntem Inhalt und unbekannter Dauer und das Klammern an Resthoffnungen kann diesen Prozess verhindern bzw. erschweren. Ein Mensch sollte bewusst und mit dem Wissen von ehrlichen Informationen entscheiden dürfen, welchen letzten Lebensweg er geht und welche Form des Abschieds er wählt. (Vgl. Fässler-Weibel 2000, S. 138.) Für mich ist es verständlich, wenn sich die Umgebung möglicherweise davor scheut, den tatsächlichen Krankheitszustand zu berichten, da man zum »Botschafter über Leben und Tod« wird. Wie ein Mensch diese Information aufnimmt, hängt u.a. vom Einklang aus Wort und Ton ab. Man kann sie einem Menschen »an den Kopf knallen« oder man kann einem Menschen helfen, sich an diese Situation heranzutasten, ohne daran zu zerbrechen. Letzteres kann nach Heinrich Pera (1995, S. 39) nur gelingen, wenn die Wahrheit immer auch mit emotionaler Zuwendung verbunden ist, woraus die Hoffnung wachsen kann: „Ich bin nicht allein. Ich werde auf dem Weg an die Grenze meines Lebens begleitet. Mir steht jemand zur Seite, auch wenn ich allein sein möchte.“ Es kann bedeuten, einen Menschen und seine Angehörigen nicht mit dieser Botschaft zu bedrängen, damit sie endlich den bevorstehenden Tod begreifen. (Vgl. Husebö/ Sandgathe-Husebö 2000, S. 173.) Nach den Erfahrungen von Elisabeth Kübler-Ross (1992, S. 16) können Menschen mit einem gequälten Nichtwahrhabenwollen reagieren, wenn sie unvermittelt und zu früh durch jemanden informiert werden, der die Aufnahmebereitschaft nicht wirklich bemerkt oder »es schnell hinter sich haben« will. Taktgefühl spielt hierbei eine große Rolle und bedeutet eben nicht drauflos zu reden, sondern wahrzunehmen, wo der andere steht. (Vgl. Gärtner 2004, S. 50.) Die Kommunikation erfordert ein vorsichtiges Herantasten, um das richtige Verhältnis von Distanz und Nähe zu finden. (Vgl. Kojer 2000, S. 146.) Nicht alleine zu sein, nicht verlassen zu werden, zu etwas zu gehören, akzeptiert und respektiert zu werden, können weitere psychische und soziale Anliegen sein, die alte, kranke und sterbende Menschen nach Reinhard Schmitz-Scherzer (1992, S. 23) mehr oder minder ausgeprägt erleben. Frau E. bezeichnet diese Bedürfnisse als Solidarität. Sie möchte bspw. den Klienten im Hospiz vermitteln, dass sie nicht verlassen werden und mit ihr rechnen können: „Wir sind da. Wir bleiben hier und laufen also nicht weg.“ Solidarität verbindet Menschen und meint, dass ein sterbender Mensch in der Gesellschaft mitgetragen wird. (Vgl. Frau E., Z. 217-221.) Die meisten Menschen möchten, dass das geführte Leben von anderen als sinnvoll bewertet wird und haben einen Anspruch auf den Erhalt und die weitere Entwicklung der eigenen Persönlichkeit und des Selbstwertgefühls. Sie wünschen sich Zuwendung und Respekt seitens der Umwelt und die Beachtung der eigenen mitmenschlichen Würde. Diese Bedürfnisse sind an die Voraussetzung geknüpft, sich auf Menschen verlassen zu können und sind davon abhängig, wie dieser Mensch von seiner Umwelt betrachtet wird. (Vgl. Schmitz-Scherzer 1992, S. 23.) Nach den Erfahrungen des Seelsorgers und Pfarrers Heinrich Pera (1995, S. 43f) sucht der sterbende Mensch als Subjekt vor allem im Leid den Kontakt und die Beziehung zu einem anderen Subjekt. Die ersten Schritte menschlicher Begegnung mit einem leidenden Menschen können heißen: Zuzuhören, Raum zu geben, das Zulassen seiner leibhaften Schmerzen und der Versuchung zu Vertröstung, Verharmlosung und Nichternst-nehmen zu widerstehen. Das Wahrnehmen der somatischen Dimension sollte die Wahrnehmung aller Schmerzdimensionen, also auch der seelischen, mit einbeziehen. Den Ausdruck von Klage und Leid eines sterbenden Menschen als sozialberuflich Tätiger und mehr noch als Angehöriger auszuhalten, kann eine schwere Last sein. Bei wachsendem Vertrauen zueinander, kann auch die Chance steigen, diese schwere Situation miteinander durchzustehen.
Die Thematisierung des Sterbens scheint für viele alte Menschen weniger schwierig und belastend zu sein, als möglicherweise vermutet wird. (Vgl. Heimerl/ Heller/ Zepke/ Zimmermann-Seitz 2000, S. 76.) Nach den Erfahrungen von Katharina Heimerl und Elisabeth Seidl (2000, S.118) berichteten Pflegepersonen, dass es oft das größte Anliegen der sterbenden Menschen war, Gespräche mit den Angehörigen über den eigenen nahenden Tod zu führen. Elisabeth Kübler-Ross (1992, S. 97f) schildert in: „Interviews mit Sterbenden“, dass sich die Stimmung von Klienten hob, sie wieder aßen und einige zur Verwunderung ihrer Umgebung wieder nach Hause zurückkehren konnten, wenn sie über das Endstadium ihrer Krankheit sprachen. Sie ist davon überzeugt, dass es eher schadet, wenn man die Gesprächsthemen Sterben und Tod ausspart, denn es kann den Klienten von einer unerträglichen Last befreien. Für sie kann es wichtig sein, zu merken, dass man zur Verfügung steht, wenn sie über diese Themen, wenn auch nur gelegentlich, sprechen möchten. Frau A. (Z. 81‑84) vermutete, dass die älteren Menschen, die sie im Krankenhaus kennen lernte, den Anspruch hatten, sich aussprechen zu können, ohne Entgegnungen zu hören, wie: „Ach, du hast doch noch Zeit.“ und „Das wird schon wieder. Du wirst schon wieder gesund.“ Sie berichtete, dass es ihnen und auch ihr selbst wichtig war, diesen Gesprächen Raum zu geben. Das einzige Ziel, welches Herr D. (Z. 267-269) bei seiner seelsorgerischen Tätigkeit verfolgt, besteht darin, den Klienten die Möglichkeit zu geben, über etwas zu reden, was für sie ein innerer Konflikt oder Bedürfnis ist. Herr C. (Z. 102-106, 178-182) erläuterte mir, dass manche Menschen ihre Anliegen dann konkret äußern: „Ich möchte gern mit Ihnen sprechen.“ Es ist auch möglich, dass derjenige Ruhe haben, in sich gehen und nachdenken oder Abstand von diesem Thema möchte. Während eines Gesprächs kann das Ausstrahlen von Ruhe und Abstand genauso wichtig sein, indem man ruhig spricht und Gesprächspausen zulässt. Das kann für den Gegenüber und den sozialberuflich Tätigen hilfreich sein, um über das Gesagte nachdenken und es setzen lassen zu können. Für ein Gespräch sollte genug Zeit eingeplant sein. Doch ist es ratsam, Gespräche zu diesen Themen nicht überzustrapazieren, denn sie können, wie die Beziehung zueinander, wachsen. (Vgl. Frau B., Z. 273-277.) Alle Interviewpartner halten es für eine wichtige Voraussetzung, um ein Gespräch über Sterben und Tod führen zu können, dass der Gegenüber Vertrauen fasst. Vertrauen aufzubauen ist an Zeit gebunden und durch Kontakt zueinander möglich. Manchmal ist es vielleicht schwer auszuhalten, wenn der Gegenüber schweigt, was jedoch die notwendige, vorangehende Zeit sein kann, damit derjenige sich öffnet und Vertrauen gewinnt. (Vgl. Frau E., Z. 172-185.) „Eine solche Beziehung lebt wesentlich von Zeit. Stehe ich unter Druck, oder will ich in einem Treffen möglichst alles ansprechen, kann diese Belastung die Begegnung gefährden und blockieren.“ (Pera 1995, S. 209). Stress kann den Gesprächspartner hindern sich zu öffnen, da er bspw. das Gefühl bekommt sich aufzudrängen. Es ist wichtig ihm zu signalisieren, dass man Zeit für den anderen hat. (Vgl. Frau E., Z. 248-250.) Petra Mark Zengaffinen stellt in: „Abschied von Oma. Geschichten und Gesprächsimpulse zum Thema Tod“ (1997, S. 9) Möglichkeiten vor, mit Kindern über die Themen Sterben und Tod zu sprechen. Sie beschreibt, dass man einem Gespräch über Sterben und Tod mit der Hoffnung, dass das Kind dieses wieder vergisst, nicht ausweichen oder sie auf später vertrösten sollte. Wenn man jedoch gerade keine Zeit für ein Gespräch findet oder die Umstände gerade nicht passen, kann man einen Zeitpunkt für eine ruhige Unterhaltung ausmachen, um dem Kind zu zeigen, dass man keine Angst vor Fragen hat und das Kind ernst nimmt. Das ist auch auf andere Altersgruppen zu übertragen. Da Gespräche über die Themen Sterben und Tod sehr intim und persönlich sind, ist eine ruhige und vorsichtige Atmosphäre ohne Druck von außen unabdingbar. Um sich möglichst ganzheitlich mit dem Gegenüber zu befassen, ist die Ablenkung von äußeren Begebenheiten ungünstig. Solch ein Gespräch braucht ruhige Bedingungen, damit derjenige auch die Möglichkeit hat, über schwierige Themen zu sprechen. (Vgl. Frau E., Z. 208-211.) Sich dem anderen nicht aufzudrängen und Ruhe zu vermitteln, haben auch die beiden älteren Menschen Frau T. und Frau S. für wichtig erachtet. Frau T. erklärte mir: „Aufdringlich darf man nicht sein. Im Heim hat man dann einen Raum und es ist auch nicht gut, wenn man dicht am Bett sitzt und auf sie einredet: ‘Möchtest du ... oder möchtest du ...? Soll ich dir ... holen?’ Man sollte sich nicht aufdrängeln oder nur vom Sterben sprechen und sagen: ‘Du hast es ja so schlecht. Wenn du doch einschlafen könntest.’ Das kann man nicht machen. (...) Wenn man schon normal krank ist und man hat beispielsweise Fieber, denke ich dann: ‘Lasst mir doch meine Ruhe.’ So wird es einem, der so kraftlos ist, sicher auch gehen. Dann sollte man nicht immer so viel die ganze Zeit auf den anderen einreden. Man sollte warten, ob er etwas zu sagen hat und sollte auch Pausen dazwischen machen.“ (Frau T., Z. 141‑145, 175-178). Zu einer ruhigen Atmosphäre versteht sich auch, das Gespräch im Vertrauen, möglichst ohne die Anwesenheit einer dritten Person zu führen. (Vgl. Frau T., Z. 162-164.) Daher können Mehrbettzimmer in Institutionen, wie dem Krankenhaus, ein Hindernis darstellen, weil unter Umständen andere Personen zuhören könnten. Der vertraute Rahmen, den der Mensch in der geschützten Wohnung erleben kann, ist dann nicht immer gegeben. Jederzeit können die Besucher oder das Personal erscheinen. (Vgl. Dziewas 2002, S. 81.) Im Hospiz, in dem ich kurzzeitig arbeitete, sind zwar nur Einzelbettzimmer vorhanden, doch die Möglichkeit, dass andere Besucher erscheinen, ist dennoch gegeben. Der Seelsorger Herr D. (Z. 321-324) sagt den anderen Mitarbeitern in solchen Momenten Bescheid, dass sie nicht gestört werden möchten und sucht sich eine Tageszeit aus, in der in der Regel selten Besucher kommen. Vertrauen birgt die Möglichkeit Offenheit zu wagen. (Vgl. Dziewas 2002, S. 50.) Herr D. (Z. 165-168) hat bei seiner Tätigkeit die Erfahrung gemacht, dass er eine Art »Vorschussvertrauen« genießt. Er wurde bspw. mit Themen vertraut gemacht, die selbst die eigenen Kinder nicht erfuhren. Dazu muss der alte Mensch jedoch die Gewissheit aufgebaut haben, dass er sich anvertrauen kann, ohne sich bspw. für seine Ängste schämen zu müssen. (Vgl. Frau B., Z. 279‑280.) Die Akzeptanz dem Klienten gegenüber hat eine zentrale Bedeutung, die im Kapitel »Die bedingungsfreie Akzeptanz und Wertschätzung« näher betrachtet wird. Durch Vertrauen kann in einem Gespräch auch deutlich werden, dass gegensätzliche Überzeugungen keine grundsätzliche Ablehnung des Gegenübers bedeuten. (Vgl. Dziewas 2002, S. 42.) Die Überzeugungen eines alten Menschen sind über das ganze Leben hinweg gewachsen und man sollte nicht versuchen sie zu ändern. Frau U. möchte sich in ihrer Meinung bestätigt sehen, was in einer vertrauten Beziehung auch möglich ist, selbst wenn der andere nicht die selben Ansichten vertritt. Zu Recht erwartet sie Toleranz vom Gegenüber. (Vgl. Frau U., Z. 132-135, 202-206, 281-286.)
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- Quote paper
- Nicole Jeske (Author), 2006, "Du wirst schon nicht so bald sterben" - Wie man mit alten Menschen über Sterben und Tod sprechen kann, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/72411
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