Sterben, Tod und Trauer in einer fortschrittlichen und modernen Gesellschaft!
Wie modern und fortschrittlich sind wir im Umgang mit Sterben, Tod und Trauer tatsächlich? Diese Frage bildet die Grundlage sich aus verschiedenen Blickwinkeln und Sichtweisen der Thematik zu stellen. Den Blick möchte ich schärfen, Fragen und Impulse geben für die Auseinandersetzung mit dem Thema.
Wissenschaftliche Erkenntnisse aus den Bereichen der Thanatologie, soziale anthropologische Theorien, psychologische Betrachtungen werden genauso hinzugezogen wie theologische Sichten und juristischen Vorgaben.
Eine große Anzahl der genutzten Literatur ist aus praktischer Erfahrung von Menschen des Gesundheitswesens geschrieben, die aufgrund ihrer Erfahrungen in der Lage sind auf Kritisches wie Hilfreiches hinzuweisen, persönlich geführte Interviews ergänzen dieses Bild.
Beginnend mit unserer sozialen Entwicklungsgeschichte, die den Einzelnen wie die gesellschaftlichen Vorgaben prägen, hinterfrage ich den Fortschrittsgedanken der modernen Medizin und unsere eigene Haltung dazu. Inwieweit wirken sich gesellschaftliche, medizinische und institutionelle Vorgaben auf die Menschen aus, die die Sterbenden pflegen und begleiten?
Der Umgang mit Trauer, die Funktion von Riten, neue Tendenzen im Bestattungswesen, spiegeln zusätzlich die Vielfalt unserer individuellen wie gesellschaftlichen Prägung wider.
Der Mensch ist nicht nur ein Körper der funktionieren muss, zum Menschsein gehört vieles mehr! Gerade wenn wir uns als fortschrittlich bezeichnen wollen. Die Einheit von Körper, Geist und Seele zu verleugnen kann nicht ohne Folgen bleiben.
Am Ende meiner Ausführungen gehe ich näher auf die Hospizarbeit ein und finde über die Phänomenologie von Nahtoderfahrungen noch einmal die Brücke zwischen einer mögliche Bedeutung des Todes im Zusammenhang mit unserer eigenen und gesellschaftlichen Lebensgestaltung.
Die Frage bleibt; wie fortschrittlich und modern wir nun tatsächlich sein wollen?! Durch das Sterben und den Tod werden wir zurückverwiesen auf die Gestaltung unseres Lebens! Der Mensch hat ein Recht in Würde zu leben und zu sterben! Dies fordert Verantwortlichkeit ein. Und vielleicht weichen wir gerade aus diesem Grund den existenziellen Frage aus, die der Tod für uns aufwirft.
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
Einführung
Das Märchen vom Tod
1. Sterben, Tod und Trauer in einer fortschrittlichen und modernen Gesellschaft
1.1 Ist der Tod in der modernen Gesellschaft ein Tabu?
1.1.1 Verdrängungsthese; Für und Wider
1.2 Todesbilder im Wandel der Zeit
1.2.1 Der ins Gegenteil verkehrte Tod – der Tod verbirgt sich
1.2.2 Vom „gezähmten“ zum „wilden“ Tod
1.3 Unsere moderne Gesellschaft und einige Eigenheiten
1.3.1 In Abgrenzung zu „traditionellen Gesellschaften“
1.3.2 Individualisierung
1.3.3 Der Aspekt der Zeit
1.4 Frau Kübler-Ross
1.4.1 Die Phasen nach Kübler-Ross (1971)
1.5 Erste Gedanken
2. Institutionen und humane Bedürfnisse
2.1 Die Medizin des Abendlandes
2.1.1 Medizinisches Monopol
2.1.2 Den Tod überwinden
2.2. Rollenspiel Patient
2.3 Die Rolle des Arztes
2.3.1 Berufsspezifische Belastungen
2.3.2 Begegnung Arzt – Patient
2.4. Krankenhaus und sterbender Patient
2.4.1 Der Finalpatient
2.4.2 Die Überführung in Institutionen
2.5 Wie könnte es weitergehen?
3. Verrechtlichung der Sterbephase
3.1 Patientenverfügung
3.1.1 Gesetzliche Grundlagen der Patientenverfügung
3.1.2 Erstellung einer Patientenverfügung
3.2 Vorsorgevollmacht
3.3 Begriffserläuterungen
3.3.1 Passive/Aktive Sterbehilfe
3.3.2 Behandlungsverzicht/Behandlungsabbruch
3.4 Mutmaßlicher Wille im ethischen Grenzbereich
3.4.1 Ermittlung des mutmaßlichen Willens
3.4.2 Verbindlichkeit von Patientenverfügungen
3.5 Organspende
3.5.1 Transplantationsgesetz
3.5.2 „Entnahmekriterium Hirntot“
3.5.3 Organentnahme und Sterbeprozess
3.6 Moralischer Zwiespalt für Angehörige und Pflegende
4. Glaube und Sterben
4.1 Das Christentum und das Sterben
4.1.1 Glaube und Trauer
4.1.2 Christentum und das Jenseits
4.2 Umgang mit Sterben und Tod in der jüdischen Tradition
4.2.1 Wichtige Elemente am Totenbett
4.2.2 Bestattung und Trauer im Judentum
4.3 Todesbild im Islam
4.3.1 Begleitung des Sterbenden und Verstorbenen
4.4 Hinduismus
4.4.1 Tod und Wiedergeburt im Hinduismus
4.5 Buddhismus
4.5.1 Tod und Wiedergeburt in der buddhistischen Lehre
4.5.2 Der Moment des Übergangs
4.6 Die christliche Kirche und ihre Rituale
4.7 Resümee
5. Riten und Rituale bei Tod und Trauer
5.1 Tod und Sterben aus soziologischer Sicht
5.1.1 Die rituelle Ordnung
5.1.2 Rituale geben Raum
5.2 Trauerformen
5.2.1 Zeichen der Trauer
5.3 Funktion der Trauerrituale
5.3.1 Trauerriten führen den Fluss der Trauer
5.3.2 Begleitende christliche Trauerwege
5.4 Modernisierungstendenz der Todes- und Trauerrituale
5.4.1 „...die nicht mehr gültige Ordnung“
5.5 Auf der Suche nach einer neuen Ordnung
6. Friedhofs- und Bestattungskultur
6.1 Funktion der Totenrituale
6.1.1 Zeichen eines Übergangs
6.2 Aufbahrung und Abschied
6.2.1 Den Tod be-greifen
6.3 Bestattung
6.3.1 Bestattungsformen
6.3.2 Exkurs; Bestattungswesen und Marktgeschehen
6.4 Rechtliche Vorgaben
6.4.1 Bestattungsrecht/pflicht
6.4.2 Weitere rechtliche Aspekte und Wünsche
7. Trauer
7.1 Trauer als Krisensituation
7.1.1 Trauer und Bindung
7.1.2 Trauer und Selbst
7.2 Phasen und Prozessmodelle des Trauerns
7.2.1 Phasen der Trauer nach Bowlby (1983)
7.2.2 Phasen der Trauer nach Kast
7.2.3 Prozesse der Trauer nach Rando
7.3 Probleme mit dem Trauern
7.3.1 Komplizierte Trauer
7.3.2 Soziale und psychologische Umstände
7.3.3 „Steckenbleiben“
7.4 Hilfen und Hilfreiches zur Unterstützung
7.4.1 Angebote der Trauerbegleitung
7.5 Trauer als Chance
7.5.1 Trauern lernen
7.4.2 Trauer und Wandlung
8. Berufserfahrung; Sterben und Tod
8.1 Sterbeprozesse
8.1.1 Soziales Sterben
8.1.2 Lebens- und Sterbequalität
8.1.3 Suizid/Freitod
8.2 Aspekte der Sterbebegleitung und Pflegealltag
8.2.1 Sterben ist auf jeder Station anders
8.2.2 Akkumulation von Trauer
8.2.3 Belastung, Aggression und Angst
8.3. Palliativstation
8.3.1 Palliativmedizin
8.3.2 Kritischer Blick
8.4 Hilfreiches
8.4.1 Soziale Arbeit
8.4.2 Burnout und Selbstfürsorge
9. Hospizarbeit
9.1 „Herberge für Reisende und Pilger“
9.2 Hospizgedanken
9.3 Die Rolle der Sozialen Arbeit
9.3.1 Kooperationen
9.3.2 Ethische Kompetenz
9.4 Organisationsformen
9.4.1 Hospizdienst Ettlingen
9.5 Qualitätsmerkmale
9.5.1 Freiwillige und ehrenamtliche Helfer
9.5.2 Herausforderungen
9.6 Exkurs – Schmerz und Schmerztherapie
9.7 Hospizliche Sterbebegeleitung und Transplantationsmedizin
10. Blick in das Jenseits?
10.1 Immanenz und Transzendenz
10.1.1 Jenseitsbeschreibungen
10.1.2 Transzendente Erfahrungen und Mystik
10.1.3 Die Wissenschaft und ihre Scheu
10.1.3.1 ...und unsere Scheu
10.2 Erfahrungen in der Nähe des Todes
10.2.1 Der Tod/ Trennung von Leib und Seele?
10.2.2 Nahtoderfahrungen
10.2.2.1 NDE-Phänomenologie
10.2.2.2 Inhaltliche Merkmale
10.2.2.3 Wie nah am Tod?
10.3 Weg in eine andere Bewusstseinsebene?
10.3.1 Das Tibetisches Totenbuch
10.3.2 Anthroposophische Begleitung eines Übergangs
10.4 Unterschiedliche Auswirkungen von NDE-Erfahrungen
10.4.1 Veränderte Persönlichkeitsorientierung
10.5 Erscheinungen im Grenzbereich
10.5.1 Volkskundliche Motive
10.5.2 Verlust der Realitätskontrolle?
10.5.3 Halluzination oder Begegnung?
10.6 Wenn ein Leben nach dem Tod, dann
10.6.1 Todesnäheerfahrung und wissenschaftlicher Kontext
10.6.2 Was hat Todesnäheerfahrung mit Ethik zu tun?
11. Abschließende Gedanken
Quellenverzeichnis
Sammelwerkbeiträge
Buch
Internetquellen
Zeitungsartikel
Broschüren und Artikel in Zeitschriften
Vorträge/Tagungen
Interviews
Unveröffentlichtes und Sonstiges
Interview mit Bruder Klaus
Interview mit der Krankenschwester Frau R
Interview mit Frau T
Interview mit Frau X.
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildungsverzeichnis
Abb. 1 Traditioneller und moderner Lebenslauf.
Abb. 2 Prägende Faktoren im Umgang mit Sterben..
Abb. 3 Ausbildungsweg eines Hospizdienstes...
Tabellenverzeichnis
Tab. 1 OASIS-Konzeption..
Tab. 2 Lebensphasen in der Palliativmedizin
Tab. 2.1 Organisationsformen in der Palliativmedizin..
Tab.3 Wirkungsspektrum der Sozialen Arbeit
Tab.4 Sterbeorte
Einführung
In meiner Diplomarbeit beschäftige ich mich mit dem Thema, Sterben, Tod und Trauer in unserer fortschrittlichen und „modernen“ Gesellschaft. Ich möchte den Blick auf unterschiedliche Sichtweisen und Herangehensweisen, individueller wie auch gesellschaftlicher Natur lenken. Dabei beziehe ich mich auf wissenschaftliche Erkenntnisse aus den Bereichen der Thanatologie, soziale anthropologische Theorien, psychologische Betrachtungen, weiter in der Bandbreite von Theologie bis hin zu juristischen Vorgaben. Eine große Anzahl der genutzten Literatur ist aus praktischer Erfahrung von Menschen des Gesundheitswesens geschrieben. Aufgrund ihrer persönlichen Erfahrungen und aus der vielfältigen Begleitung von Menschen auf diesem Weg sind sie in der Lage auf Kritisches wie Hilfreiches hinzuweisen. Berücksichtigt habe ich bei dem Verfassen meiner Arbeit auch persönlich geführte Interviews mit Menschen die beruflich oder privat mit Sterben und Tod konfrontiert waren und sind.
Die unterschiedlichen von mir angesprochenen Themen sollen auch als Anregung dienen für eine weitere tiefergehende Beschäftigung und Ausarbeitung.
Sterben, Tod und Trauer sind jedes für sich genommen schon eigenständige Themen, da jedoch eines in das andere greift und eines nicht ohne das andere sein kann, war es mir wichtig alle drei zu thematisieren. Ausgehend von dem generellen Blick unserer Gesellschaft auf die Thematik, gehe ich dazu über die Bereiche und Berufsgruppen näher anzuschauen, die direkt damit zu tun haben. Das betrifft die Mitarbeiter des Gesundheitswesens, Ärzte, Pflegepersonal genauso wie ihre institutionellen und rechtlichen Vorgaben, unter denen sie ihre Arbeit zu leisten haben. Der Umgang mit Trauer, die Funktion von Riten, die Vielfalt unseres Bestattungswesens, all das spiegelt beständig individuelle wie soziale Prägungen wieder.
Am Ende meiner Ausführungen werde ich näher auf das Hospizwesen eingehen, das eng damit verknüpft ist, den Tod wieder näher an unser Leben zu bringen. Damit zeigt sich auch eine andere Umgehensweise im zwischenmenschlichen Bereich und wirft damit einen kritischen Blick auf so manches „Fortschrittliche“ und „Moderne“ in unserer Gesellschaft.
In meinem letzten Kapitel gehe ich auf Erlebnisse im Nahtodbereich ein, dazu sind zwar eine Vielzahl von Literaturtiteln erschienen, diese scheinen jedoch, durch ihre jeweilige Pro oder Contrasicht, die „Geister“ eher zu scheiden als zu vereinen.
Geht man jedoch davon aus, dass das Sein nicht unbedingt mit dem Stillstand aller nachweisbaren körperlichen Funktionen beendet ist, stellt sich die nicht uninteressante Frage nach dem „Danach“.
In diesem Zusammenhang möchte ich vor allem der Frage nachgehen wie nah- und nachtodliche Erfahrungsberichte gedeutet werden können. Wie werden sie erlebt und welche Auswirkungen lassen sich danach erkennen, haben diese Erlebnisse Einfluss auf die Lebenseinstellung, verändert sich dadurch möglicherweise die Persönlichkeit eines Menschen? Was könnten solche Berichte den (noch) „Nicht-Betroffenen“ sagen und wie ist der gesellschaftliche und wissenschaftliche Umgang damit?
Bevor ich jedoch einen kurzen Blick auf den Wandel von Todesbildern und den Umgang mit Sterbenden werfe, möchte ich einige Worte von Frau Kübler-Ross voranstellen:
„Es genügt nicht, einfach mit dem Intellekt diesen Gegenstand des Todes und des Sterbens zu behandeln. Du musst über die Worte hinausgehen und dich auf die Gefühle einlassen, die jene Worte bei dir hervorrufen.“
(Vgl. 1988: 12)
Deshalb möchte ich, bevor ich mit den einzelnen Kapiteln beginne, ein Märchen aus unbekannter Quelle sprechen lassen. Ein Märchen, das nicht unsere Sicht bezüglich des Todes deutet sondern „seine“ auf uns.
Das Märchen vom Tod
Der Tod saß missmutig am Straßenrand. „Was fehlt dir“, fragte einer, der vorbeikam, „warum siehst du so verärgert aus?“
„Ich bin am Ende“, sagte der Tod, „ich habe meinen geschichtlichen Auftrag verfehlt. Es wäre meine Bestimmung gewesen, den Menschen, die nur immer das Leben wollen, entgegenzutreten, sie in die Schranken zu weisen. Ich habe mich redlich bemüht. Wilde Tiere, Naturkatastrophen, Epidemien, sie mussten mich wohl oder übel zur Kenntnis nehmen. Ich durfte ihnen Feindschaft in die Herzen säen, damit sie sich gegenseitig umbrächten, und die, die das alles überlebten, konnte ich alt werden lassen, damit sie schließlich an Schwäche starben. Es hat mir alles nichts genützt am Ende“, sagte der Tod, „die Menschen nehmen mich nicht mehr ernst. Sie sind für mich blind geworden, verschweigen mich. Sie haben, was schlimmer ist, mein tödliches Handwerkszeug mit ihren eigenen Erfindungen so weit in den Schatten gestellt, dass ich ihnen keinen Eindruck mehr mache. Kurzum, ich bin, gemessen an dem, was ich hätte in der Schöpfung sein sollen, zur Unperson geworden, ein Versager.“
„Was wirst du tun?“, fragte ihn der andere.
„Ich werde mich rächen“, antwortete der Tod, ich habe damit schon angefangen, ein billiger Verkleidungstrick. Da sie mich als Tod nicht mehr zur Kenntnis nehmen wollen, will ich sie in der Maske des Lebens beschleichen; meine tödlichen Keime setze ich gerade dorthin, wo sie eigentlich Wachstum, Fortschritt vermuten. Viel spricht dafür, dass sie das nicht durchschauen werden. Aber Spaß“, schloss der Tod und schaute noch trübsinniger drein, „Spaß macht mir das auch keinen mehr.“
(Quelle unbekannt)
1. Sterben, Tod und Trauer in einer fortschrittlichen und modernen Gesellschaft
Der Mensch weiß um seinen Tod und trägt doch den Drang zu leben in sich. Dieser Zustand des Widerspruchs, zwischen Bewusstsein der Sterblichkeit und Drang nach Unsterblichkeit bildet nach Assmann einen „Faktor der Unruhe“ in der menschlichen Welt, der immer neue Lösungen erfordert. Eine Unmenge von Kulturen und Epochen haben so eine Vielfalt an Todesvorstellungen, Riten und Jenseitsvorstellungen hervorgebracht. Die Vielfalt dieser Vorstellungen steht ständig unter der Beeinflussung und Abhängigkeit verschiedener Menschenbilder, unterschiedlicher Individualisierungsgrade, Gruppengrößen, Zeitbegriffe, Lebensvorstellungen von dauerhafter Wandlung bis hin zu Wunsch nach Kontinuität, verändern und prägen die Vorstellungen
über Tod und Sterben. (Assmann 2002:12)
1.1 Ist der Tod in der modernen Gesellschaft ein Tabu?
Stimmt es noch immer, was Frau Kübler-Ross vor 30 Jahren schon bemängelte? Dass der Tod kein Thema ist, dass die Gesellschaft mit „ihrer Verehrung der Jugend und Orientiertheit am Fortschritt“ ihn übergeht? (Vgl. 1988:9)[1]
Über ein Tabu wird nicht gesprochen, weder kontrovers noch überhaupt.
Ein Tabu soll verschwiegen und verheimlicht werden, zum vermeintlichen Schutze (von wem?).
Ein Tabu soll auch nicht gesehen werden. Schwerlich lässt sich nun der Tod übersehen, wird er nun allenfalls verdrängt? Verdrängt wird was befürchtet wird, was mit Furcht belegt ist, was Angst auslöst weil es unbekannt oder unerwünscht ist. Verdrängtes kann aber wieder zurückgeholt werden, kann betrachtet werden, kann neu gefunden aber auch erneut ignoriert werden .
1.1.1 Verdrängungsthese; Für und Wider
Wird der Tod nun verdrängt oder nicht? In Anbetracht der vielfältigen Veröffentlichungen, der soziologischen wie psychologischen und medizinischen Interessen an und um den Tod herum lässt sich primär eine reine Verdrängungsthese nicht halten, wichtiger wäre den Fragen auf die Spur zu kommen, durch welche Gruppen oder Individuen bestimmte Todesbereiche tabuisiert, verdrängt, privatisiert oder bagatellisiert werden.
Worauf im Folgenden und allen nachfolgenden Kapiteln immer wieder und explizit eingegangen werden wird sind die nachfolgenden Argumentationsstränge, die Feldmann aus seiner soziologischen Sicht zusammengetragen hat.
- Privatisierung
Sterben ist keine öffentliche Angelegenheit mehr, die moderne Privatsphäre umfasst nur noch wenige Menschen.
- Bürokratisierung und Segregation
In der letzten Lebensphase findet man sich eher in Krankenhäusern und Pflegeheimen wieder als zu Hause.
- Exklusion der Sterbenden und Toten
Die Gesellschaft, vor allem in größeren Ballungszentren, legt keine Pause nach einem Sterbefall mehr ein, der Ablauf geht nahezu reibungslos weiter.
- Emotionale Ablehnung und Professionalisierung
Sterbende und Tote werden eher abgesondert und professionellen Kräften überlassen
- Verlust an Primärerfahrung
Durch die Verlängerung der Lebensdauer sterben Bezugspersonen oft erst im Erwachsenenalter, so entsteht ein Erfahrungsdefizit für den „Ernstfall“. Zudem werden Kinder oft von solchen Erfahrungen ferngehalten.
- Kommunikationsdefizit
Schwerkranken und Sterbenden wird oft nur unter Zuhilfenahme der Sprache der kurativen Medizin begegnet oder ihnen ganz ausgewichen.
- Entfremdung und Depersonalisation
Die Medikalisierung, Technisierung und Bürokratisierung im Umgang mit Sterbenden führt zur Reduktion persönlicher Zuwendung und Selbstgestaltungsmöglichkeiten des Sterbenden.
- Partikularisierung des Todes
Die Illusion nur „andere Menschen sterben“ wie Schwerkranke und alte Menschen
- Unsterblichkeitsillusionen
Der medizinische und technische Fortschritt nährt beständig die Hoffnung auf Heilung und ständige Lebensverlängerung
- Marginalisierung der Rituale
Begräbnisse und Totenkulte sind in einer „modernen Gesellschaft“ eher peripher verankert.
- Affektkontrolle
Trauer ist privatisiert und wird bei einer gewissen Überschreitung des „Standards“ als krankhaft bezeichnet
- Strukturelle Verdrängung
Eine „öffentliche Sinngebung“ findet nicht statt
(Feldmann 2004:67-68)
Zu beobachten ist im Gegenzug dafür, der Versuch sich eine gewisse Kontrolle und Selbstgestaltung wieder anzueignen. „Nichtprofessionelle“ nehmen das medizinische System nicht mehr fraglos an, über die öffentliche Auseinandersetzung in Bezug auf Patientenverfügung, Entscheidung zum Suizid oder kontroverse Debatten über verschiedene Formen der Sterbehilfe bleibt das Thema (für den der möchte) nicht ungehört. Die Sinnfrage wird per Erziehung nicht mehr mitgeliefert, zur Eigengestaltung von Leben und Sterben ist individuelles Engagement erforderlich. Andere Kulturen und Religionsformen und ihre Lebens- und Todesvorstellungen können in das eigene Lebenskonzept miteinbezogen werden. Obwohl oder gerade weil die Sterbensrate in unserem persönlichen Umfeld geringer sein dürfte als in anderen Länder mit hoher Armut und Kriegswirren, wäre für uns (theoretisch) die Möglichkeit zu einer bewussten Trauerverarbeitung gegeben.
Trotzdem scheint es uns an Umgangsmöglichkeiten zu fehlen. Der Tod zeigt auf, dass Kontrolle, Sicherheit und Planbarkeit letztlich keinen Bestand haben. Der Tod erinnert nach (Kübler-Ross 1975:32) an die Verletzlichkeit des menschlichen Lebens, jedes individuellen Lebens. Er kümmert sich weder um Status noch um Besitz.
Bevor ich betrachten möchte was in unserer Gesellschaft an Umgangsweisen bezüglich des Sterbens vorliegt, möchte ich zunächst in diesem Kapitel einen Rückblick machen, wie Generationen vor uns nach Ansicht Ariés, einem französischen Historiker, mit Tod und Sterben umgingen. Welche Möglichkeiten standen ihnen offen, die sich im Laufe der Zeit, in der Hinentwicklung zu unserer aktuellen Gesellschaftsform doch sehr verändert haben.
1.2 Todesbilder im Wandel der Zeit
Todesbilder sind unterschiedlich, wandeln sich, verändern sich begleiten und prägen eine Gesellschaft.
Ariés geht in seinem Buch dem Versuch nach, den historischen Wurzeln des unterschiedlichen Umgangs mit dem Tod nachzuspüren.
1.2.1 Der ins Gegenteil verkehrte Tod – der Tod verbirgt sich
Ariés beschreibt diesen ins Gegenteil verkehrten Tod als einen sich verbergenden Tod. Er w eist eindrücklich darauf hin, dass im Laufe des 20. Jhd. in einigen der am stärksten industrialisierten, am weitesten urbanisierten und technisierten Bereichen der westliche Welt eine völlig neue Art und Weise des Sterbens hervorgetreten ist – und was zu sehen ist, sind seiner Meinung nach fraglos erst deren Anfänge. „In modernen Großstädten findet der Tod nicht mehr statt; und selbst die schwarz silbernen Leichenwägen wandeln sich zu unscheinbaren grauen Limousinen. Die Gesellschaft legt keine Pause mehr ein. Das Verschwinden eines Einzelnen unterbricht nicht mehr ihren kontinuierlichen Gang. Das Leben der Großstadt wirkt so, als ob niemand mehr stürbe.“ (Vgl. Ariés 1980:716)
Dabei sind es kleine Modifikationen, die sich über mehrere Generationen hingezogen haben. Eng verbunden mit der beginnenden Medikalisierung, der Hoffnung auf neue Heilverfahren, in der eher die Hoffnung propagiert wird als die Mitteilung des zu Ende gehenden Lebens. Ariés bezeichnet dies als den „Beginn der Lüge“ (1980:717). Der Versterbende wird in Unkenntnis über seinen bevorstehenden Tod gelassen. Der Wunsch den Tod nicht zu spüren, nimmt gegen das Gefühl, sein Ende nahe zu fühlen, zu . Aus „Liebe“ wird geschwiegen, aus Angst, vielleicht eigener Angst, wird Hoffnung aufrechterhalten. In vielen Fällen auch von Frau Kübler-Ross beschrieben, wussten die Sterbenden wie es um sie stand, hielten sich aber an das allgemeine Schweigegebot oder sprachen es nur bei den Menschen aus, bei denen sie davon ausgingen auch darüber sprechen zu können. Die Medikalisierung aber auch die Verlagerung Sterbender von den Familien in Krankenhäuser, gebilligt und durch ihre Mittäterschaft erleichtert, lässt das Krankenhaus zum Ort des einsamen Todes werden. (Ariés1980:730)
1.2.2 Vom „gezähmten“ zum „wilden“ Tod
Der gezähmte Tod hingegen tritt nach Ariés besonders in den Epochen auf, in denen die Menschen keinen besonderen Schrecken vor ihm empfinden, in dem der Einzelne nicht von der Gruppe allein gelassen wird. (Hahn 2002:71)
Auffallend vor allem, dass hier, im Gegensatz zu der weitläufig oft verbreiteten Meinung, der plötzliche Tod, der nicht gewünschte ist. Ein Tod ohne Vorbereitung und rituelle Handlungsmöglichkeiten, ganz im Gegensatz zum heutigen Sterbeideal sollte vermieden werden. (Hahn 2002:72) So die Ergebnisse einer Trierer Forschungsgruppe bei einer repräsentativen Untersuchung, (W. Eirmbter, A. Hahn et al.: Krankheit und Gesellschaft. Forschungsbericht für die DFG, Trier 1997, S.A.11.: 78 % wollten lieber plötzlich und unerwartet sterben, während nur 22 % sich lieber auf den Tod vorbereiten würden. (Hahn 2002:72)
Der gezähmte Tod stirbt sich nicht beliebig: „Der Tod wird von einem durch Brauch und Herkommen geregelten, verbindlich beschriebenen Ritual bestimmt. Der gewöhnliche, normale Tod fällt den Einzelnen nicht aus dem Hinterhalt an. (Ariés 1980:14) Vielleicht eine etwas idealtypische Anschauung. Trotz allem ist der „hässliche und gemeine Tod“ im Mittelalter nicht nur der plötzliche und absurde Tod, sondern auch der heimliche Tod ohne Zeugen oder Zeremonien. (Ariés 1980:20)
Im Gegenzug dazu sieht Ariés, den heutigen Tod als den wilden Tod an. (1980:42)
Hat das etwas mit dem Niedergang der religiösen Glaubensinhalte, der idealistischen und normativen Moralvorstellungen des Alltagslebens zu tun? Jedenfalls glaubte der Mensch des Mittelalters nach Ariés an die Materie und an Gott zugleich, wie er ans Leben und an den Tod zugleich glaubte, an den Genus der Dinge und an die Entsagungen. Er wirft der Industriezivilisation vor, den Dingen keine Seele mehr zuzugestehen, keine Liebesfülle mehr auszulösen. „Die Dinge sind zu Reproduktionsmitteln geworden, zu Objekten des Konsums oder Verzehrs.“ (Vgl. Ariés 1980:177) Er spricht von der fehlenden sinnlichen Beziehung zwischen dem Menschen und seinen Reichtümern. Das Abstrakt werden und ich nehme an, dass dies auf eine Dienstleistungsgesellschaft noch mehr zutrifft als auf eine reine Industrienation, das Entfremden vom direkten sinnlichen Tun entfremdet den Menschen auch von natürlichen Gefühlen und Rhythmen. (Ariés 1980:177) Das Licht macht die Nacht zum Tage, die Zeit beschleunigt sich, die Werbung begleitet in den Schlaf, eine immense oft undurchschaubare (und sich nun ständig wandelnde) Bürokratie macht einen Kranken zum Kunden des Gesundheits- und Versicherungssektors in dem er gut daran tut, sich Rechtsberatung oder einen Sozialarbeiter zur Seite zu stellen.
Etwas anderes entwickelte sich noch im Zuge der Individualisierung. Ariés sieht bei den Reichen des Mittelalters, den Gebildeten und Mächtigen einen Vorstellungswandel. Er weist nun auf das Gedankengut einer persönlichen Biografie hin. Zunächst bestehend aus guten und schlechten Taten, die vor das Weltgericht kämen und eher dem Sein entsprächen, danach die Wandlung sich an Dinge, Menschen und Ansehen zu halten. Der Tod ist damit nicht mehr nur Abschluss des Seins, sondern auch Trennung von Hab und Gut! (Ariés 1980:179)
Abgesehen von den klerikalen und religiösen Hintergründen lassen sich über dem, was Ariés als die Verwilderung des Todes beschreibt, die im 19. Jhd. begann, fortschreitend folgende Zeichen unserer Zeit erkennen und bekräftigen damit die von Feldmann gesammelte Argumentationen, die f ü r die Verdrängungsthese sprechen. Denn selbst ein noch so gut akademischer interdisziplinärer Diskurs über Sterben und Tod führt noch nicht zu einem „gezähmten Tod“, solange folgende Abläufe noch immer überwiegend und im schlimmsten Falle als ansteigend zu sehen sind:
1. Die Verheimlichung und Isolierung des Todes. Das Sterben wird zunehmend dem Blick der Öffentlichkeit entzogen (außer in der virtuellen Welt der Medien...) Zu Beginn des 20. Jhd. starben noch weit über die Hälfte der Menschen zu Hause, inzwischen sterben heute über 80% in „der Fremde“, (58% in Krankenhäusern und 30% in den Pflegeheimen), das hat zur Folge das viele Menschen bei uns kaum mehr tatsächliche Erfahrung mit einem Sterbenden bzw. Leichnam haben.
2. Das Belügen und Entmündigen des Sterbenden. Der Anblick eines Sterbenden soll nicht zugemutet werden und dem Sterbenden selbst wird versucht sein eigenes Sterben zu verheimlichen. Das impliziert, dass der Mensch als nicht reif genug gesehen wird, mit seinem Sterben umzugehen. Eine Infantilisierung findet statt und nimmt so die Würde des Sterbenden
3. Wo Sterben und Sterbende weniger Raum haben schwindet zusätzlich der Raum für Trauer. Nach den Autoren wurde die Trauer im 20. Jhd. „konsequent abgeschafft“, nur noch geringfügige Reste der Trauer sind im Alltag sichtbar. Und der gesellschaftliche Umgang mit Trauernden zeigt auf, dass ihre baldige „Rückkehr zur Normalität“ erwartet wird! Damit wird aber das „Unnormalste abverlangt, was von einem Trauernden überhaupt erwartet werden kann.“ (Vgl. Student/Mühlum 2004:135)
1.3 Unsere moderne Gesellschaft und einige Eigenheiten
1.3.1 In Abgrenzung zu „traditionellen Gesellschaften“
Der Begriff „moderne Gesellschaft“ taucht meist im Zusammenhang zur Abgrenzung traditioneller Gesellschaften auf. Welche Kennzeichen verbinden sich nun bei uns mit diesem Begriff? Zumindest wird oft eng damit verbunden die Durchsetzung eines vernunftbestimmten, rationalen Handelns, Prozesse der Individualisierung, Urbanisierung und Demokratisierung. Damit lässt es sich zwar nicht unbedingt erklären aber zumindest beobachten, dass dies auch einhergeht mit der Zurückdrängung eines ehemals magischen Weltverständnisses. (Schäfer 2002:13)
Ob und in welcher Form unsere Art zu leben, unsere wissenschaftlichen „Errungenschaften“ und wie wir sie nutzen auch in hundert oder mehr Jahren als tatsächlich fortschrittlich angesehen werden, wird sich noch zeigen müssen.
Auffallend ist die Kontrastierungsstrategie der Ethnologen; verschiedenartige Ethnien fallen unter die Sammelbezeichnung: Naturvölker, schriftlose Kulturen oder Stammesgesellschaften. Die moderne Zivilisation wird dabei die Kategorie der Normalität zugeordnet und als Gipfel der bisherigen Entwicklungen gesehen.
1.3.2 Individualisierung
Was sich jedoch tatsächlich an unserer Form der Gesellschaft erkennen lässt, sind die veränderten Individualisierungsmechanismen in Folge der kapitalistischen Modernisierung aber auch aufgrund der wohlfahrtstaatlichen Entwicklungen. Das Individuum sieht sich zwar institutionellen Kontrollen und Vorgaben der Bürokratie gegenüber, die es in die Biografie seines Lebenslaufes integrieren muss, trotz allem ist auch ein vergrößerter eigener Handlungsspielraum, verbunden mit größerer sozialer Mobilität zu registrieren aber auch soziale Isolation und höheren Anforderungen an die bewusste Gestaltung des eigenen Lebens. Der „Lebenssinn“ wird per Geburt und per Stand nicht mehr automatisch mitgeliefert. (Schäfer 2002:14-15)
Demnach sind es unterschiedliche Aspekte, die den Umgang mit Trauer und Tod beeinflussen. Zum einen die gesellschaftlichen, zum anderen aber auch immer das enge soziale Umfeld, in dem ein Individuum sich entwickelt, die Erfahrungen, die sein Leben mit sich bringt und in welcher Form er/sie damit umgeht. Das eine bedingt das andere, das eine erwächst aus dem anderen.
1.3.3 Der Aspekt der Zeit
Ein Aspekt des Kapitalismus ist die Verlagerung von Profiten in die Zukunft indem sie sich dort akkumulieren. Erworbener Reichtum wird dann zur Quelle neuer Investitionen. (Ariés 1980:426)
Für einen kleinen Zeitraum ruhte sich unsere Gesellschaft darin aus, dass das Leben planbar und absicherbar wäre. Es gibt Lebensversicherungen und andere Versicherungen die die Risiken unserer Gesellschaftsmitglieder abfedern sollen. Wir sorgen für den Pflegefall vor, suchen uns zum Schutz vor Krankheit die beste Krankenversicherung aus, legen unser Geld (falls vorhanden) an, um später einmal von der Rendite zu profitieren. Nichts gegen den Gedanken zur Solidarität (wenn er den umgesetzt wäre), aber die Versuchung ist groß zu glauben so „vorgesorgt“[2] zu haben.
„Wenn das Haus einmal steht dann, wenn die Kinder einmal groß sind..., nächstes Jahr im Urlaub dann..“- Der Sterbende hat kein Später mehr, sein Leben ist im Jetzt, falls er nicht in der ungewissen Zukunft oder in der bereits vergangenen Vergangenheit hängen geblieben ist. Niemand weiß die Stunde, ein plötzlicher Unfalltod, Herzversagen, der Fall von der Leiter oder „nur“ der Biss einer Zecke.dagegen gibt es keine Versicherung, keine Garantie und keine verbindlichen Aussagen. Wie viel Zeit wir füllen dürfen und können wissen wir nicht, wie wir sie füllen liegt schon eher in unserer Hand.
1.4 Frau Kübler-Ross
Die Schweizer Ärztin Elisabeth Kübler-Ross saß viele Stunden an den Betten von Sterbenden und bereitete so die weiteren Wege in der Sterbe- und Todesforschung. Durch ihre Interviews mit Sterbenden brachte sie der Öffentlichkeit viele Einblicke und Denkanstöße in der Beschäftigung mit diesem Thema. Folgende Phasen zeichneten sich dabei für sie bei ihren Gesprächen mit Schwerstkranken, auf den Tod zugehenden Menschen ab.
1.4.1 Die Phasen nach Kübler-Ross (1971)
- 1. Phase: Nichtwahrhabenwollen und Isolierung
Damit reagierten nach Frau Kübler-Ross vor allem Patienten so darauf, wenn sie unvermittelt und zu früh durch jemanden informiert werden. Patienten versuchen die Krankheit vor sich selbst abzuleugnen, und dies nicht nur im ersten Augenblick, sondern auch später immer wieder einmal (Kübler-Ross 1971:41). Dieses Nichtwahrhabenwollen kann sich als Puffer zwischen den Kranken und sein Entsetzen über die Diagnose schieben.[3] (Kübler-Ross 1971:42)
Nach Frau Kübler-Ross ist dies oft nur eine vorübergehende Phase, die bald durch eine wenigstens teilweise Akzeptierung abgelöst wird.
Zuvor jedoch beobachtete sie einen weiteren Gefühlszustand
- 2. Phase: Zorn
Diese Phase die mit Groll, Wut und Neid verbunden sein kann, ist nicht nur für den Patienten schwierig sondern auch für die betreuenden Angehörigen oder das Krankenhauspersonal. (Weswegen die erste Phase vielleicht die beliebtere ist)
- 3. Phase: Verhandeln
Wenn in der ersten Phase der Mensch nicht imstande war die Tatsache anzuerkennen, er in der zweiten gehadert hat, so beschreibt sie die dritte Phase als eine Art Handel. Der Patient „feilscht um einen Aufschub, verspricht Wohlverhalten und setzt selbst eine Frist, nach der er - wie er verspricht – nichts mehr erbitten will.“ (Vgl. Kübler-Ross 1971:78)
- 4. Phase: Depression
Wenn der Todkranke seine Krankheit nicht länger verleugnen kann, wenn neue Eingriffe und Krankenhausaufenthalte anstehen und trotzdem vermehrt Symptome auftreten, werden die Gefühle einen schrecklichen Verlust zu erleiden und schon bereits Verluste erlitten zu haben, (Gesundheit, Schmerzfreiheit, Beweglichkeit, Autonomie, Aussehen, Beziehungen.) zu Gefühlen, die generell der Depression zugeordnet werden können. Dabei unterscheidet sie, die sich tatsächlich jetzt ereignenden Verluste, wie auch die noch zu erwartenden (drohenden - je nach Sicht) des Lebens. Die Reaktion auf den bevorstehenden Verlust kann auch der Beginn der Vorbereitung auf das Sterben sein, der Rückzug aus dem Leben und der beginnende Abschied. Diese unterschiedlichen Ursachen zu erkennen ist wichtig für das seelsorgerische Gespräch. (Kübler-Ross 1971 : 80-81) Dabei weist sie auf die Notwendigkeit hin trauern zu dürfen! Und sie beschreibt die zweite Form der Depression als stiller verlaufend als die erste, als den „vorbereiteten Schmerz, der kaum Worte braucht“. (Vgl. Kübler-Ross 1971:82)
Wichtiger Teil ihrer Arbeit und das was sie vermitteln mochte ist der Bestandteil der fünften Phase.
- 5. Phase: Zustimmung
Hier weist sie noch mal auf die Wichtigkeit der vorangegangenen Phasen hin, und auch auf die Notwendigkeit dem Sterbenden Raum für die einzelnen Phasen zu lassen, ihn darin zu begleiten und zu stützen. Indem er seine Emotionen aussprechen kann, seinen Neid auf die Lebenden, seinen Groll und seinen Zorn ausdrücken kann, indem er den Verlust von Menschen, Orten und Lebensstationen betrauern darf, kann er nun nach Frau Kübler-Ross „dem Ende mit mehr oder weniger ruhiger Erwartung entgegen“ sehen. (Vgl. Kübler-Ross 1971:99)
Eindringlich erwähnt sie immer wieder wie notwendig und heilsam die Phase der Depression ist, wenn der Patient eines Tages in Frieden und innerer Bereitschaft sterben soll. Nun, nachdem der Kranke durch alle Ängste und Verzweiflungen hindurchgegangen ist, erreicht er das Stadium der letzten Zustimmung.
Immer wieder wichtig ist ihr dabei auf die verständnisvolle Begleitung hinzuweisen um so viel „unnötigen Kummer“ zu vermeiden wie möglich. (Kübler-Ross 1971:85-83)
1.5 Erste Gedanken
Die Rückblicke in unserer Geschichte, die Argumente die für oder wider einer Verdrängung des Themas Sterben und Tod sprachen, wie auch die Phasen nach Kübler-Ross sollten auf das nun Folgende einstimmen. Der Tod und das Sterben berühren viele komplexe Zusammenhänge wie Religion und Wissenschaft und auch die Lebenseinstellung eines jeden Einzelnen. Die Meinungen können dabei unterschiedlicher Natur sein, Forschungsergebnisse können hilfreich sein, spiegeln aber nicht immer so objektiv wider wie man meinen könnte. (Die Wahrheit von heute)
Die Beiträge von Frau Kübler-Ross stoßen in der Literatur im allgemeinen zwar auf Respekt und Würdigung für ihre Pionierarbeit aber immer wieder auch auf Kritik und den Vorwurf einer Mythologisierung des Sterbens.
Der Hauptkritikpunkt dürfte die Anzweiflung der Wissenschaftlichkeit ihrer Forschungen sein. Nicht zu unrecht, ist doch jede Sterbeerfahrung individuell und vor allem nicht wiederholbar! Es wird zum Beispiel davor gewarnt ihr Phasenmodell als zu universell anzusehen oder sie gar in dieser linearen Betrachtung anzuerkennen. (Samarel 2003:138-139)
Meines Erachtens nach waren diese für Frau Kübler-Ross an ihren interviewten Patienten beobachteten Wegestationen hin zum Sterben auch nicht als generell und absolut angesehen. Sie selbst weist immer wieder darauf hin, dass nicht jeder/jede die einzelnen Stufen linear durchläuft und schon gar nicht die Phase der Akzeptanz unbedingt erreicht wird. Der Autor hebt aber auch hervor, wie faszinierend es sei „dass das Konzept Hoffnung, das essentiell für die Theorie von Kübler-Ross ist, durchgängig ausgelassen wurde, wenn sie zitiert wurde.“[4] (Vgl. 2003:139)
Das Leben selbst hat jedoch noch viele Geheimnisse und spätestens bei der Auseinandersetzung mit dem Thema Tod und Sterben zeigen sich die Grenzen der Wissenschaft und ihren Methoden.
Die Phasenerläuterungen von Frau Kübler-Ross wollte ich hier voran stellen, um begleitet von ihnen, in den nachfolgenden Kapiteln, verschiedene Aspekte des heutigen Sterbens und Trauerns in unserer Gesellschaft zu beleuchten und ihnen so auf die eine oder andere Weise näher zu kommen. In allem, was im Folgenden beschrieben wird, werden sich die einzelnen Phasen wiederfinden, in der einen oder anderen Form. Nicht nur den Sterbenden betreffend, auch den Trauernden, den Begleitenden, den Pflegenden und den Behandelnden. Die eine oder andere Gruppe scheint dabei hin und wieder tendenziell in einer Phase länger zu verweilen um dann in ihr zu verharren oder auch weiterzugehen. Diese unterschiedlichen Wege möchte ich anschauen, durch unterschiedliche Phasen gehen und trotzdem hoffen, die letzte von Frau Kübler-Ross bezeichnete Phase der Zustimmung und Akzeptanz dabei nicht auszulassen und sie immer wieder in das Bewusstsein zurückzuholen.
2. Institutionen und humane Bedürfnisse
2.1 Die Medizin des Abendlandes
Bei der internationalen Fachkonferenz der Ethnomedizin in Heidelberg 1984 bemängelten die Teilnehmer bereits die mangelnde Thematik des Todes und Sterbens in der Medizin, etwas, was sich über 10 Jahre später nach Wandschura (1997) immer noch nicht weitgreifend geändert hat. Die Teilnehmenden der Fachkonferenz 1984 gingen der Frage nach, aus welchem Verständnis die abendländische Medizin sich entwickelt hat. Wichtiger Ausgangspunkt dafür auch die Feststellung, dass (1985) ca. 2/3 der Todesfälle im Krankenhaus stattfanden. Nach einer Veröffentlichung der Arbeiterwohlfahrt 1999 sind es ca. 52 % im Krankenhaus und 14 % in Pflegeheimen. In ihrer Veröffentlichung (presse awo.org 2003) gehen sie darüber hinaus auf ein Anwachsen der Todesfälle von 600.000 (2010) bis auf 900.000 (2050) aus. Daraus lässt sich ersehen was bestehende Institutionen noch vor sich haben. Eine angemessenere Sterbekultur käme den Mitarbeitern (siehe Kapitel 8.2) wie den Sterbenden und ihren Angehörigen zugute, auch im Rahmen der vielzitierten Qualitätssicherung.
Weiterhin wurde sich auf dem Kongress mit der Frage auseinandergesetzt, warum es der Medizin nicht gelingt, den Tod, den thanatos, ebenso in ihr Konzept hineinzunehmen wie seinen Bruder hypnos, den Schlaf... (Seidler 1986:17)
Die Traditionslinie der abendländischen Medizin wurde betrachtet, in der die gängige Vorstellung vom „Tod als natürlicher Gegner des Arztes“ wiederzufinden ist, genauso wie die Grenzen seiner Handlungsfähigkeit; „hier ist nichts mehr zu machen“.
Dabei sind immer noch die vorherrschenden Fragen die gleichen, die sich die Mediziner seit Hippokrates in Griechenland stellten:
- die Vorraussetzung des Todes
- die Fixierung des Todesmomentes
- die sichere Bestimmung des eingetreten Todes
(Vgl. Seidler 1986:18)
Alle anderen Fragen beließen die Mediziner den Theologen und Philosophen. Der Tod war Angelpunkt des Interesses, der Sieg über den Tod oder wenigstens dessen Prognostik, weniger die sterbende Person oder ihr Befinden.
In diesen Erkenntnissen war nur Platz für alles materiell Sichtbare, eine Seele konnten die Pathologen nicht finden und schon gar nicht, ob diese Seele, wenn es sie denn gäbe, den Körper verlassen kann oder nicht. Ärzte stehen nicht außerhalb einer Gesellschaft, auch sie sind eingebunden in eine lange Einstellungstradition und nicht nur sie überlassen gerne gewisse Themen bei Theologen und Philosophen.
Es wurde vom Arzt verlangt (immer noch), dass der Arzt den Zustand des Kranken erkennt, „um die kritischen Tage weiß, den nahen Tod an den Vorzeichen abliest und das natürliche Ende erleichtert“, (vgl. Seidler 1986:18), darin sah Seidler auch den Sinn von Eu-thanasie „lange vor dem Begriff der Kriminalisierung in unserer Zeit.“ (Vgl. Seidler 1986:18)
Euthanasie, (griechisch; schöner Tod), primär ohne das Eingreifen von Menschen gedacht und erstmals 1605 als euthanasie medica; Schmerzlinderung beim Sterbevorgang durch den Arzt, bezeichnet. (Brockhaus 2006) Das Wort „guter Tod“ ist in diesem Zusammenhang zu finden. „Guter Tod“ – leicht, schnell und schmerzlos? Dies kollidiert mit der Darstellung von Ariés, in dem ein vorbereiteter Tod, als der „bessere“ bezeichnet wurde. In wesentlich älteren Lexika bedarf das Wort Euthanasie nicht so vieler Erklärungen wie seit dem Missbrauch und der Tötung „lebensunwerten Lebens“ in unserer Geschichte. So Brockhaus (2006): „International gebräuchlicher Begriff für Sterbehilfe, wird in Deutschland mit Rücksicht auf den Missbrauch der nationalsozialistischen Zeit weitgehenst vermieden“.6
2.1.1 Medizinisches Monopol
Scharf ist die Kritik in der Nemesis der Medizin von Ivan Illich (1995) der all jene Gesundheitsschäden, die gerade durch die sozio-ökonomischen Veränderungen bedingt sind, welche aufgrund der institutionalisierten Form der Gesundheit attraktiv, möglich oder notwendig geworden sind, zur Sprache bringt. (Illich 1995:32)
Der Autor greift in seinem Buch die etablierte Medizin als „ernste Gefahr für die Gesundheit“ an. (Illich 1995:9) So tragen die Mediziner das „Monopol“ zu bestimmen, was krank ist und was für den Patienten getan werden soll. (Illich 1995:12) Er desillusioniert im Weiteren den Erfolg der Ärzte, indem die Menschen generell gesehen trotz ständig neuer Behandlungsmethoden nicht wirklich gesünder werden; er weist auf die Nebenwirkungen hin; auf krankmachende Behandlungen, auf unnötige Behandlungen, auf Krankheiten die auch ohne Eingriffe geheilt wären oder auch nicht und auf das ständige Entstehen neuer Krankheiten, da die einseitige Reduktion auf ein Symptom oft nicht unbedingt den Menschen heilt oder die Umstände ändert! Dieses Machtmonopol zusammen mit der Pharmazie und auch die damit verbundene Politik scheint mehr an gesunden Arbeitskräften interessiert zu sein als an heilen Menschen! (Illich 1995:18)
2.1.2 Den Tod überwinden
Mag auch die Maxime „der Ehrfurcht vor dem Leben“ der Medizin zugrunde liegen, „Leben erhalten“ und „nicht schaden“ als Kernsätze ärztlicher Selbstverpflichtung, so hat sich doch auch durch die Technisierung im Heilwesen vom „Bewahren des Lebens“ mit eher behutsamen als eingreifenden Verfahren, „der Wahrung vor Schädlichem“, die Schulmedizin und Forschung sich rasant auf die aktive Verlängerung des Lebens hinentwickelt. Das heißt im Grunde aktiv den Tod überwinden.[5]
Mit wachsenden medizinischen Erkenntnissen wird die Suche nach den Geheimnissen des Lebens weiterbetrieben. Und damit wird auch der tote Körper zur Quelle der Erkenntnisse: Anatomie, Physiologie, Pathologie bauen mit an der „Grammatik ärztlichen Denkens“. ( Vgl. Seidler 1986:19)
Die Obduktion bei nichtgeklärten Todesursachen möchte primär die grundlegenden Fragen beantworten die die Menschen zu wissen wünschen: Warum und an was ist dieser Mensch gestorben. (Wer oder was hatte Schuld)
Für den Tod muss es im menschlichen Denken einen Grund einen Auslöser geben! Die Pathologie beschäftigt sich mit der Lehre und Erforschung von Krankheiten. Oftmals werden klinische Diagnosen nach der Obduktion korrigiert! In Universitätskliniken ist es üblich, im Falle des Sterbens in der Klinik einer Sektion zuzustimmen. Bei der Sektion wird dann der Bauch des Leichnams und die Brust geöffnet. Früher wurden dabei einzelne Organe im Körper untersucht. Inzwischen werden sie aus dem Körper herausgenommen und entweder wieder zurück „gepackt“ oder aber der Körper mit Zellstoff gefüllt. Das Gehirn wird untersucht, indem der Schädel aufgeschnitten wird. Im Allgemeinen werden die Leichname ihrem Äußeren nach wieder hergestellt. Hirnhaut wird in diesem Zusammenhang abgezogen und wenn sie nicht im Sondermüll landet, kann sie auch an die Pharmaindustrie (auch andere Gewebeteile sind von Interesse) weiterverkauft werden zur Herstellung von Arzneimitteln, die bei Hauttransplantationen eingesetzt werden. Im Prinzip ist dazu die Zustimmung der Angehörigen nötig. Vielleicht mag es zu ideell klingen auf Bräuche der Todesruhe hinzuweisen, wenn aber von wissenschaftlichen Versuchen gesprochen wird und damit konkret „Crash Tests“ gemeint sind, entsteht doch ein seltsames Gefühl, was die Wahrung der Würde von Verstorbenen betrifft.
(Tausch-Flammer/Bickel:1997:116-119)
Nicht nur was den Verstorbenen oder seine Angehörigen angeht, im Rahmen der Wissenschaft und des Fortschrittes wird weiter mit allen Mitteln mit dem Tod gerungen, medizinische Grenzen überschritten und jedes abgetrotzte Leben gilt als Erfolg!
In einem Spiegel-Artikel wird dieser Grenzbereich in folgender Überschrift ausgedrückt: „Wie unsterblich werden und müssen wir sein?“ (Vgl. 2005 Nr. 38: 136-139)
„Forscher lassen Schweine und Hunde ausbluten, füllen sie mit kalter Kochsalzlösung und bringen den Körper so in eine Art Stillzustand – Stunden später wird das Blut wieder zugeführt und die Tiere mit Elektroschocks
reanimiert. Die Technik, Leben aus- und anzuschalten, könnte die Medizin (wieder einmal) revolutionieren. Schon bald sollen erste Menschen in den Todesschlaf versetzt werden.“ (Vgl. 2005:136)
Als Zielgruppe wird an Menschen mit schwersten Schussverwundungen oder schlimmen Unfallverletzungen gedacht. So könnte der sterbende Körper, dessen Blut entnommen und simultan mit sehr kalter Kochsalzlösung gefüllt wird, operiert werden und erst nach dem Verschließen der Wunde wird das Blut wieder zugeführt und wiederbelebt. (!) Eine Gruppe in Boston will schon in den nächsten 12 bis 18 Monaten dieses Verfahren an Menschen ausprobieren. Die Idee geht dem Spiegel nach auf einen Arzt zurück, der sich Gedanken über eine neuartige Notfallversorgung von Soldaten im Krieg machte! Durch den „Kälteschock“ zeigte sich gegen bisherige biologische Erkenntnisse, dass das Absterben des Gehirns ohne Sauerstoff hinausgezögert werden kann.
Die Natur fand bisher noch immer Wege und Mittel uns dem Tod zuzuführen, bedenklich bleibt auch was mit der Persönlichkeit eines Mensche in dieser Zeit geschieht. Tituliert war der Artikel mit der Überschrift: „ Ausflug ins Jenseits“.
Ein „traditionelles“ Krankenhaus ist geprägt von den Werten und Denkmodellen der abendländischen Medizin. Zudem findet es sich in einer Hierarchie und in eine durch die Institution vorgegebene Rollenverteilung wieder. Im Folgenden möchte ich näher auf diese „Rollenvorgaben“ und ihre Auswirkungen eingehen.
2.2. Rollenspiel Patient
Der Patient kommt in die Klinik und wird dort zunächst entkleidet, dies kann soziologisch durchaus als Ritual gesehen werden, die Autonomie des Patienten, seine Identität , seinen Status abzulegen. Dieser Akt des Entkleidens findet sich auch im Militär, im Kloster oder im Gefängnis wieder. (Mauksch 1975:45) Wobei der Status eines Patienten ihm vielleicht schon im Vorfeld dazu verhelfen kann als Privatpatient oder in einer Privat-Klinik sich noch etwas individueller behandeln lassen zu können. Aber generell ist die Macht des Klienten in einer Institution reduziert und er muss (wenn er dazu noch in der Lage ist) durch informelle Kommunikation mit anderen Patienten versuchen herauszufinden welche Verhaltensformen angemessen sind. Der Patient, ist er erst einmal
eingewiesen, beginnt zu warten, er wartet und beobachtet. Er befindet sich nun mehr in einer neuen, ihm im Erstfall noch fremden Umgebung und Situation. (Mauksch 19785:46) Krankheit an sich bedingt ja den Zustand die Hilfe andere zu benötigen und geht aus psychologischer Sicht auch einher mit regressivem Verhalten. Nach der Einweisung gibt der Patienten alles ab, seine bisherigen Untersuchungsberichte, seine bisherigen Medikamente, die er bis dahin selbstständig eingenommen hatte, werden von nun an verwahrt. Der Kontakt zum Hausarzt, dem er sich bisher anvertraut hat, bricht ab. Der Patient kommt mit dem Ziel gesund zu werden. (Mauksch1975:48) Durch die neue Rollenverteilung kann er bestrebt sein die Spielregeln zu lernen die hierzu erforderlich sind. Je größer dabei die Institution, je kleiner die Rolle des Patienten. Wie Mauksch das schildert kann das sogar soweit gehen: „Ein Herzpatient, wiegt die Signalschnur hin und her. „Ich gehe mit dem Knopf sparsam um. Das mögen die da draußen gern. Sie wissen, dass wenn ich den Knopf drück, ich wirklich schnell Hilfe brauche. Sie mögen das, dass ich den Knopf nicht zu oft benutze“. (Vgl. 1975:49)
Mauksch betont in seinen Ausführungen nicht zu unrecht, dass eine effiziente Spezifizierung auf einen Krankheitsprozess nicht mit der Patientenpflege eines (sterbenden) Patienten konform geht. (1975:55) So wirft er der medizinischen Bürokratie vor Krankheiten zu produzieren, indem der Stress verschärft oder lähmende Abhängigkeiten vermehrt werden, auch indem sie neue quälende Bedürfnisse erzeugen oder Toleranzschwellen für Unbehagen und Schmerz senken. Der Spielraum für Leiden nimmt ab und die Selbstheilungskräfte werden abgeschafft. (Illich 1995:32)
2.3 Die Rolle des Arztes
Der Medizinkritiker Illich sieht dabei die Beziehung nicht einseitig. Er weist auch auf die Begeisterung der Öffentlichkeit für hochtechnisierte Krankenpflege hin und deutet auf die Rolle des Arztes in religiöser und magischer Ausübung hin, wobei für ihn klar der Arzt eher als Pathogen (Krankheitserreger) denn als Heiler oder Schmerzstiller auftritt. Er spricht von der Magie, die wirkt, wenn die Intention von Patient und Magier übereinstimmen, dies findet sich wieder im Arzt des Vertrauens und verliert sich auf den Krankhausfluren. (Illich 1995:76)
In wissenschaftlichen Beschreibungen tauchen immer wieder Phasenmodelle auf, die anschaulich und verdichtet auf Kernproblematiken von Entwicklungsschritten hinweisen. Ein solches Phasenmodell lässt sich auch
Für den professionellen Entwicklungsverlauf von Ärzten finden.
- Erste Phase
Die Rolle des Arztes wird idealisiert. „Heldenhaft kämpfen sie im Interesse des Klienten gegen den Tod“.
- Zweite Phase
Erste Anatomieerfahrungen desensibilisieren. Es entsteht eine distanzierte wissenschaftliche Einstellung gegenüber dem Sterben und eine unpersönliche und emotionenblockende Haltung kann entstehen.
- Dritte Phase
Tatsächliche Erfahrungen mit dem Tod von Patienten und Einordnung als persönliches und professionelles Versagen. Um dies zu bewältigen wird eine Umdefinierung der Leiche vorgenommen durch die Konzentration auf Einzelteile des Organismus.
- Vierte Phase
(die dem Autor nach keineswegs alle Ärzte durchlaufen) Das medizinische Modell wird in Frage gestellt, Empathie gegenüber Patienten und Angehörigen rücken in den Vordergrund.
- Fünfte Phase
(Wunschvorstellung des Autors wie er es selber nennt) Der Arzt setzt sich mit eigenen Vorstellungen über Tod und Sterben auseinander um angemessen auf die Gefühle von Sterbenden und Angehörigen eingehen zu können.
(Feldmann 2004:100-101)
2.3.1 Berufsspezifische Belastungen
Abgesehen von den längeren oft unkalkulierbaren Arbeitszeiten, Überstunden, Nacht- und Wochenenddiensten, ständiger fachlicher Weiter- und Fortbildung, was inzwischen über das Medizinische hinaus auch einen großer Teil administrativer Tätigkeit vorsieht, findet der Arzt sich primär folgenden Anforderungen gegenüber:
- Er darf keine Fehler machen
- Eigene gefühlsmäßige Reaktionen sind zu verbergen
- Die Pflicht, in allen Situationen den Überblick zu bewahren
- Lösungen zu wissen
(Husebo Klaschik 2000:362)
Ärzte haben schon in ihrer Ausbildung gelernt, ihre Handlungsfähigkeit in gefühlsmäßig belastenden Situationen aufrechtzuerhalten. Diese emotionale Selbstdisziplinierung gewährt eine medizinische Leistungsfähigkeit auf hohem Niveau. Doch mit dem Sterben und Tod wird auch der Arzt mit seinen eigenen Ängsten konfrontiert. (Heller 2000:49) Zusätzlich muss er viele Entscheidungen treffen, die sich auf Dauer schwer belastend auswirken können.
Eine daraus folgende emotionale Erschöpfung kann sich in verschiedenen Begleiterscheinungen äußern bis hin zu Suizid. Heller weist darauf hin, dass Ärzte zum Teil an Depersonalisierungsymptomen leiden können. Darunter versteht er eine negative, zynische Einstellung gegenüber dem Patienten sowie Schülern und Studenten aber auch Schuldgefühle und Einschränkung sozialer Kontakte kann er feststellen. Eine belastende Arbeitssituation wird aufrecherhalten mit der Konzentration auf die Rationalität des medizinisch Notwendigen. (Heller 2000:50)
Ein typisches Bild dieses Selbstschutzes: Der Arzt sitzt hinter seinem großen Schreibtisch umgeben von Dokumenten und Röntgenbildern oder steht am Kopfende des Bettes umringt von Assistenten und Pflegepersonal. Somit setzt er eine emotionale Barriere zwischen sich und dem Patienten. (Husebo Klaschik 2000:365)
Der sterbende Mensch kann als existenzielle Bedrohung empfunden werden, als Zeichen des persönlichen Versagens, als „schwieriger Patient“, der andere Wege gehen will als institutionell vorgesehen.
2.3.2 Begegnung Arzt – Patient
Zu hoffen ist, dass nicht nur der Wettbewerb auf dem Gesundheitssektor sondern auch aus einer ethischen Sichtweise heraus, das Potenzial einer Arzt/Patientenbeziehung in Hinsicht auf die Heilung oder zumindest auf das Wohlbefinden eines Patienten zukünftig verstärkt im Berufsbild wie in der Ausbildung zu finden sind.
Der Markt ist in Bewegung geraten. Zunehmend sind Wettbewerb und Konkurrenz zu beobachten zwischen privaten Krankenhäusern und den bisher staatlich geführten.[6] So zum Beispiel der Helios-Geschäftsführer: „Nichts ist schlechter fürs Business als unzufriedene Patienten und ein mieser Ruf“.
(Vgl. Spiegel 2005: Nr. 38, S.78)
Reine Marktüberlegungen als Hintergrund wären zwar ethisch nicht wünschenswert, da aber davon auszugehen ist, dass bei Service-Leistungen die „Kundschaft“ auch respektvoll behandelt werden will und andere Kommunikationstechniken sich als nützlich erweisen können, bleibt zu hoffen, dass diese Strategien auch auf die übrigen Arbeitsfelder und Institutionen in diesem Bereich übergreifen. Spätestens wenn es evaluativ belegt werden könnte, dass ein respektvoller und achtsamer Umgang mit den Patienten gesundheitsfördernd und damit positiv auf die Krankheitsstatistiken sich auswirkt, sollte diese Haltung endlich vermehrt in diesen wie auch in anderen Sektoren unserer „Dienstleistungsgesellschaft“ gängig werden.
Der Arzt hat in seiner Arbeit mit Menschen zu tun, oft mit Menschen die sich in einer Krisensituation befinden, eine Krankheit wird diagnostiziert, zum Teil bevor der Mensch selbst sich als krank erlebt. Der Patient erlebt durch die Frühdiagnostik eine wesentlich längere psychosoziale Bedrohung. Auch während seiner Erkrankung und Behandlung befindet er sich in der Auseinandersetzung mit seiner Lebenssituation. Wichtiger Bezugspunkt ist hier der Arzt, der „Magier“ und ganz unmagisch könnte er hier einfache kommunikative Fertigkeiten einsetzen.
- Grüßt er den Patienten herzlich?
- Wie ist der Händedruck?
- Zeigt der Arzt Interesse?
- Setzt er sich hin?
- Sieht er dem Patienten in die Augen?
- Lässt er Fragen zu?
(Husebo Klaschik 2000:36)
So beschreibt Mauksch zum Beispiel einen Versuch. Die Ärzte gingen zur Visite in das Krankenzimmer exakt drei Minuten. Der eine Teil der Ärzte setzte sich an das Bett der Patienten, der andere Teil blieb am oberen Ende stehen. Im Nachhinein wurden die Patienten befragt, wie lange die Ärzte denn bei ihnen waren. Durchweg hatte die erste Gruppe das Gefühl im wesentlichen über drei Minuten, gefühlsmäßig bis zu 10 Minuten (!) im Gegensatz zur zweiten Gruppe, die ein viel geringeres Zeitempfinden hatten. (Mauksch 1975:50)
Das Beispiel spricht für sich. Eine weitere große Herausforderung an die heilenden und helfenden Berufe überhaupt, an Ärzte die einer Vielzahl an Menschen begegnen die zwischen Leben und Sterben sind im speziellen, ist die berufsbegleitende und unaufhörliche Reflexion der eigenen Stärken, Schwächen und Möglichkeiten sich Raum zu schaffen um Ängste und Trauer auszudrücken.
Zu einer therapeutischen Arzt-Patienten-Begegnung gehört ein emotionales Wohlbefinden des Patienten –„Ich bin gehört und verstanden worden“ - und auch kognitives Wohlbefinden – „Ich habe die Informationen erhalten die ich brauche“. (Vgl. Kappauf 2004: 48-49)
Wichtig scheint mir dabei: „Medizinethik ist keine selbständig funktionierende Theorie, sie ist Ausdruck der allgemeinen (gesellschaftlichen) Haltung“! (Vgl. Wandschura 1997:63)
2.4. Krankenhaus und sterbender Patient
Das Krankenhaus ist aus soziologischer Sicht als entpersonalisierte Institution, per Definition nicht in der Lage „den humanen Bedürfnissen der Menschen zu entsprechen, dessen physiologischer Zustand die Möglichkeit des Krankenhauses einzuschreiten, erfolgreich überschritten hat“. (Vgl. Kübler-Ross 1975:33)
Mauksch bezeichnet auch die Krankenhäuser als „funktionelle unpersönliche Institutionen, „ schwierig ist es für den Menschen dort in Würde zu leben - und in Würde zu sterben.“ (Vgl. Mauksch 1975:35).
2.4.1 Der Finalpatient
Der Patient findet sich im Krankenhaus unter unterschiedlichen Berufsgruppen wieder, die mit mehr oder minder guter Kommunikation ein Netzwerk um den Patienten herum bilden. In dieser Mitte befindet sich der sterbende Patient, an dem nicht mehr „effektiv gearbeitet“ werden kann, der den routinenmäßigen Ablauf stört.
Der Patient, der nicht immer in „Frieden dahinscheidet“, bleibt im Krankenhaus möglicherweise schon in der ersten Phase (siehe dazu Kapitel 1.4.1) der Verweigerungshaltung stecken und wird hierbei vom Personal belohnt. Damit wird das Personal davor geschützt sich in die Fragestellungen und Krisen des Patienten mit hineinziehen zu lassen. (Mauksch 1975:39)
Das ist auch verständlich; es muss die Routine den anderen Patienten gegenüber erhalten bleiben und das Personal sich in gewisser Weise schützen.
Damit hat das Krankenhaus an sich nicht die Kapazitäten frei, sich auf die weiteren Phasen des sterbenden Patienten einzulassen. Vor allem wenn Ärger und Zorn über das eigene Schicksal zu Tage treten und das Personal, das eigentlich helfen will, damit konfrontiert wird. Für den Patienten selbst ist es auch schwierig im Krankenhaus diese Phase zu durchlaufen. Befindet er sich doch in einer Umgebung von Personen die ihm helfen wollen und er ihnen eigentlich Dankbarkeit für diese Fürsorglichkeit schuldet. Trotz aller Verständlichkeit für die vorgegebenen Spielregeln spricht sich Mauksch ausdrücklich dafür aus, das Personal so zu schulen, dass diese „signifikanten Symptome“ einzigartiger humaner Bedürfnisse als Bestandteil in die professionellen Fähigkeit und Verantwortung übernommen werden. (Mauksch 1975:39) Diesem hohen Anspruch steht schlicht der geringe Personalschlüssel und die bereits bestehende Überforderung von Pflegepersonal gegenüber. In welcher Form eine derartige qualitative Pflege in unserer Gesellschaft noch honoriert werden kann und will wird viel mit den zukünftigen Wertevorstellungen zu tun haben.
Nach Wandschura (1997) zeigen Krankenhausstrukturen bisher jedenfalls folgende Merkmale auf, die den Bedürfnissen Sterbender entgegenstehen:
- Sie haben kaum ausgereifte Strukturen für den Umgang mit dem Tod.
- Es gibt selten eigene Räume, in denen Menschen abgeschieden von Mitpatienten allein mit ihren Angehörigen sein können.
- Diensteinteilungen von Pflegepersonal und Medizinern lassen kaum Zeit.
- Mangelhafte Aus/Fort/Weiterbildung im Umgang mit dem Tod.
- Der Drang der Mediziner etwas zu tun!
- Das Problem des Nicht-Aufhören-Könnens
- Die quälende Frage des Arztes (und auch rechtliche Absicherung), wann ist es genug?
Das Ergebnis des Autors: „Einer Kulturnation unwürdig“! (Vgl. Wandschura 1997:58)
Dieser nicht nur auf ein Krankheitsbild zu reduzierende Patient zeigt sich deutlich am sterbenden Patienten, bei dem nun offensichtlich zu Tage tritt, dass zum Zeitpunkt des Sterben eben nicht das von Krankheit befallene Organ in den Mittelpunkt tritt sondern die Bedürfnisse des Patienten, und dies eben auf ganz individuelle Art die sich aus seiner Lebensgeschichte entwickelt hat.
(Mauksch 1975:36) Das erfordert zum einen das Einlassen auf den ganzen Menschen, das erfordert Beziehung, das erfordert die deutliche Konfrontation mit dem was geschieht.
2.4.2 Die Überführung in Institutionen
Die Lebensformen haben sich im Zuge der Pluralisierung tiefgreifend verändert. Familien bilden zwar immer noch die „größten Pflegeinseln“ aber die „pflegerische Hintergrundsarbeit von Frauen“ dürfte für die Zukunft nicht mehr als selbstverständlich vorausgesetzt werden.[7] Eher könnte es sogar sein, dass Angehörige selbst zur Zielgruppe von Unterstützungsformen werden. Chronische psychosoziale Überforderungen bei Langzeitpflege können selbst wieder Krankheitsbilder hervorrufen. (Vgl. Heller 2000:135)
Durch die Steigerung der Morbiditätsgrade, das hohe Lebensalter und die technikintensive Maßnahmen der Lebenserhaltung auch bei Schwerstkranken, ist ein Einzelner zunehmend überfordert, umsomehr, wenn er für seine eigene Lebenserhaltung aufkommen muss, selbst in hohem Alter ist oder kaum anderweitige familiäre Unterstützung erfährt.
Eine durchgängige Pflege bis zum „Ende“ erfährt durch zuvor Genanntes seine Grenzen und so ist es gängig, dass selbst wenn die Pflege eines älteren Menschen zuvor noch zu Hause stattgefunden hat, die Menschen kurz vor ihrem Sterben doch noch in eine Institution überführt werden.
Welche Ängste könnten Angehörige zu dieser letzten Überführung in eine Institution veranlassen?
Student (1999:171) sieht dabei vier wichtige Ängste der Angehörigen:
1. die Angst vor der Ungewissheit
2. die Angst vor dem Leiden
3. die Angst vor Verlusten
4. die Angst vor dem Versagen
Da Sterben, wie bei Ariés geschildert, aus unserer alltäglichen Erfahrung zumeist verbannt ist fehlen uns Kenntnisse über den Ablauf des Sterbeprozesses. Damit kann es zu einem „Abtreten“ des Patient an eine Institution kommen. (Student 1999:171).
Aus gesellschaftlicher Sicht erleichtert diese Delegation auch die kollektive Verdrängung des Todes. Damit übernimmt das Krankenhaus eine ihm widerstrebende Aufgabe. Anstelle der Wiederherstellung der Gesundheit sterben die Menschen. (Grossmann 2000:82-83)
2.5 Wie könnte es weitergehen?
Institutionen an sich sind träge, der Wandel gesellschaftlicher Normen und Werte vollzieht sich nicht zeitgleich mit dem Wandel Einzelner oder auch größerer Gruppen. Institutionen halten eher fest, von sich aus wird der Wandel nicht stattfinden. Der Einzelne von außen und innerhalb dieser Institution muss immer wieder in Ansätzen Wandel hineinbringen, sein Umdenken artikulieren, begründen und einfordern. Das Zusammenschließen Gleichgesinnter, das Aktivsein wird erste Änderungen bringen können.
Bettina Dolezalek-Pohl, deren Mann die letzten 6 Wochen seines Lebens in der Klinik verbrachte, berichtet in ihren Ausführungen von diesem, wie sie es nennt, „letzten Tanz“. Ganz deutlich und spürbar wird die enorme Eigenleistung auch innerhalb einer Institution (ihr Mann wollte nicht nach Hause, er war selbst Arzt gewesen), sich Freiräume zu schaffen. Hartnäckig blieb sie im Krankenhaus (besorgte sich selbst ein Liege), hinterfragte die Schmerzmittelgabe und „hatte so gar kein Verständnis dafür, dass ein Mensch unbedingt mit 37° Celsius Körpertemperatur sterben musste.“ (Temperaturkontrolle wie auch Medikamentengabe können zusätzlich als belastend empfunden werden) In einem normale Klinikablauf wird ein schwerkranker Mensch „so präpariert, dass ihm so wenig wie möglich geschehen kann“, sie versuchte ihm eine schöne Atmosphäre zu schaffen (dazu ist allerdings ein Einzelzimmer nötig), brachte ihm Essen selbst mit, versuchte die Unruhe (pünktliche Essensgabe, Waschen, Fiebermessen, Medikamentengabe, Untersuchungen...) von ihm fernzuhalten. Alles nicht selbstverständlich, doch sein würdiger Tod mit 38 Jahren und die letzte so verbrachte Zeit miteinander war es ihr wert[8]. (Vgl. Dolezalek-Pohl 1997:18-20)
Um noch einmal auf Illich (1995:159) zu verweisen; der Autor spricht sich nicht generell gegen jegliche medizinische Erkenntnisse aus. So könnten sanitäre Einrichtungen, Impfungen, Bakterienkontrolle, allgemeine Gesundheiterziehung, gesunde Architektur und sichere Maschinen, allgemeine Kenntnisse der ersten Hilfe und gerecht verteilte Angebote im zahnärztlichen wie allgemeiner medizinischer Versorgung den Menschen dienlich sein. Was er kritisiert ist die medizinische Überexpansion der Gesundheitsindustrie, die dem Menschen die Kraft raubt, auf Herausforderungen richtig zu reagieren und mit Veränderungen in ihrem Körper oder Umwelt fertig zu werden, Veränderungen an denen auch Belastungen einer „hochintensiven Industrie“ mitgewirkt haben und weiterhin mitwirken. Und manche Erkrankung sieht er wohl nicht zu unrecht als „klinische Prothese“ für zerstörte menschliche Beziehungen. (Vgl. Illich 1995:121)
Mit seiner vehemten Kritik fordert er zur Gesunderhaltung der Bevölkerung die Schaffung eines Milieus, in dem diese wichtigen Punkte zur Lebensbewältigung möglich gemacht werden. (Illich 1995:13)
Das greift auch Student (1999) auf und verweist auf die provozierenden Aussagen von Illich hin, dass „die Problembereiche, die eigentlich im sozialen, im psychischen oder auch im religiösen (spirituellen) Bereich angesiedelt sind, zunehmend dem Aufgabengebiet von Ärzten und anderen im Gesundheitswesen Tätigen zugewiesen werden.“ (Vgl. S. 32)
In dem Maße wie die Medizin in unserer Gesellschaft einen derart hohen Stellenwert erhalten hat, stieg auch die Heilserwartung der Menschen an dieses System. Diesem System liegt jedoch die rein naturwissenschaftliche Prägung zugrunde und gibt damit auch die Einstellung zum Menschen, zum Patienten und damit auch dem Sterbenden vor. So weist auch Student auf die Ausbildungspraxis der Ärzte hin, die den Umgang mit Krankheiten erlernen, nicht aber mit kranken Menschen. Der Autor spricht klare Worte wenn er sagt, dass „dadurch sie den Betroffenen in den vergangenen Jahrzehnten viel Leid gebracht haben“. (Vgl. Student 1999:33)
Mauksch weist dabei auf einen interessanten, nicht wirklich neuen aber immer noch traurigen Aspekt hin. Nur vermittelte Theorie von Inhalten in der Ausbildung, die in einem Umfeld vermittelt werden, das selbst möglicherweise nicht immer von der Wertschätzung der Lehrenden zu den Lernenden geprägt ist bildet zwar „kompetente Praktiker“ heraus aber nicht unbedingt Persönlichkeiten, die die Fähigkeit haben mit Gefühlen adäquat umzugehen, sich ihrer und des anderen bewusst sind um so in der Lage zu sein einem sterbenden Patienten zu begegnen. (Mauksch 1975:44)
Genau aus diesem Grund möchte Eva Sabine Saalfrank, Kulturwissenschaftlerin und die Biologin Elke Fortkamp an der Universität Heidelberg, ausgehend vom Institut für Medizinische Psychologie, beide tätig im Netzwerk „Achtsame Sterbekultur“ des Universitätsklinikum Heidelberg, gleichsam als Vermächtnis (ihre Stelle war zum Zeitpunkt des Gespräches noch befristet), das OASIS-Zentrum begründen und ins Leben rufen. Es soll ein Ort geschaffen werden, der Raum gibt für:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Tabelle 1: OASIS-Konzeption
Es soll für Schwerkranke, ihre Angehörigen aber auch für professionelle und ehrenamtliche Begleiter offen sein und damit ein wesentlicher Beitrag zum Qualitätsmanagement in Einrichtungen des Gesundheitswesens leisten.
(OASIS-Konzeption 2005)
Während ihrer Anstellung versuchte sie durch unterschiedliche Projekte Aspekte einer „achtsamen Sterbekultur“ in das medizinische Umfeld zu integrieren. So zum Beispiel brachte sie ein Trainingsprogramm für in der Sterbebegleitung engagierte Menschen, „Spiritual Care[9] “ genannt, an die Universität Heidelberg mit nachfolgender qualitativen Evaluierung, ein. (Palliativmedizin 2004:5)
Mit einer 2005 gestarteten Vorlesungsreihe versuchte sie ihrem „Vermächtnis“, wie sie es selbst nannte, das OASIS-Zentrum den Weg zu bereiten. Die Themen waren diesbezüglich breitgefächert, von der Palliativmedizin über „heilsame Rituale“ und High-Tech-Medizin, bis hin zu neuesten Forschungsergebnissen der Nahtodforschung und vielem anderem.
Ihre Erfahrungen bisher betitelte sie selbst als die eines „Don Quichotte gegen Windmühlen“ und meinte damit weniger das (zumeist weibliche) Pflegepersonal als (Telefonat 2005)
Nachhaltige Integrationen nach solchen Projekten waren leider nicht in dem Maße erfolgt wie sie es sich gewünscht hätte. Zumindest aber erhielt ihre initiierte Vorlesungsreihe, ein halbes Jahr nach unserem Gespräch die von ihr beantragten Fortbildungspunkte der Landesärztekammer; ein kleines Zeichen, dem hoffentlich noch andere folgen werden.
3. Verrechtlichung der Sterbephase
Wir leben in einer Kultur des Rechts und in allen Lebenslagen und Lebensabschnitten sind wir rechtlichen Vorgaben untergeordnet, da wundert es nicht, dass dies auch den sehr persönlichen Teil im Leben eines Menschen betrifft und zwar das ganz persönliche Sterben. Im Folgenden möchte ich kurz ansprechen, welche Möglichkeiten der Einzelne hat sich rechtlich auf eine Zeit vorzubereiten, eine Zeit in der man/frau dem persönlichen Ende entgegensieht. Was in früheren Zeiten in die Hände Gottes gelegt und kulturell ritualisiert wurde, findet sich heute in öffentlich-rechtlichen, privatrechtlichen, strafrechtlichen und sozialrechtlichen Dimensionen wider. Je nach Stand der Wissenschaft ändern sich die (Über)Lebensmöglichkeiten vom Beginn des Lebens bis an das Lebensende. (Klie/Student 2003:127)
Damit wird der Prozess des Abschiedsnehmens eingebettet in „neue“ Rituale. Rituale, wie in Kapitel 5 beschrieben, sind auch dazu da Sicherheit zu bieten, bzw. zumindest zu suggerieren. Vorgegebenes Recht soll zugegebenerweise nicht nur einengen sondern einen gewissen Rahmen und Orientierung bieten.
Doch wo beginnt Fremdbestimmung und endet die Selbstbestimmung? Wie viel Selbstbestimmung ist nötig und möglich um in einem so komplexen Gesundheitswesen wie dem unserem noch eine selbstbestimmte Entscheidung treffen zu können?
Im Nachfolgenden möchte ich dabei vor allem die Möglichkeit der rechtlichen Vorsorge in Form der Patientenverfügung näher darstellen. In diesem Zusammenhang wird sich auch aufzeigen, welche Gratwanderung die Rechtssprechung hier zu bewältigen hat und wie genau jeweils zu hinterfragen ist, welches gesellschaftliche Wertemodell oder gar Interesse hinter wissenschaftlichen Errungenschaften wie zum Beispiel der Organtransplantation stehen können.
3.1 Patientenverfügung
Eine Patientenverfügung ist eine vorsorgliche schriftliche Erklärung, durch die ein Mensch zum Ausdruck bringt, was er in Zeiten in denen er einwilligungsunfähig ist, in bestimmten Krankheitssituationen an Behandlung bzw. Nichtbehandlung wünscht. Die Patientenverfügung[10] tritt dann in Kraft, wenn ein ohnehin bald zu Ende gehendes Leben künstlich verlängert wird. In einer PV können aber auch andere Wünsche im Zusammenhang mit der ärztlichen Behandlung oder pflegerischen Begleitung nieder gelegt werden. (Klie/Student 2003:31)
3.1.1 Gesetzliche Grundlagen der Patientenverfügung.
Grundlage: Das Selbstbestimmungsrecht ergibt sich aus dem Recht zur Menschenwürde Art. 1 Abs.1 GG und dem Recht auf freie Persönlichkeitsentfaltung Art. 2 Abs. 1 GG Es umfasst die Bestimmung über Körper und Gesundheit, die wiederum vor fremden Eingriffen grundgesetzlich geschützt sind in Art. 2 Abs.2 Satz 1 GG.
Die Patientenautonomie ist ein spezieller Falls des Selbst- bestimmungsrechts. Sie umfasst, die Gegenwart und die Zukunft. Sie umfasst es damit auch für jene Fälle Vorkehrungen zu treffen, in denen eine aktuelle Willensbildung oder Willensäußerung nicht (mehr) möglich ist. Zwar besteht der Vorrang des Rechtsgutes von Leben, Körper und Gesundheit jedoch ein Eingriff ohne Zustimmung käme theoretisch einer Körperverletzung gleich.
Macht man damit Ernst sind auch „unvernünftige Entscheidungen“ verbindlich; da es keine Pflicht zur Vernunft gibt! (Vgl. Eberbach 2001:13)
Ein Patient kann jedoch nur dann wirksam seine Autonomie ausüben solange er einwilligungsfähig ist!
Eine Patientenverfügung tritt somit in dem Falle ein, wenn:
- der Patient nicht (mehr) einwilligungsfähig ist,
- eine lebensbedrohende Erkrankung vorliegt, die in absehbarer Zeit zum
Tode führen wird,
- sich für die Beteiligten die Frage stellt, ob auf ein mögliche Behandlung
verzichtet oder eine begonnene Behandlung beendet werden soll.
(Klie/Student 2003:156)
3.1.2 Erstellung einer Patientenverfügung
Wichtige Schritte zur Erstellung einer Patientenverfügung sind nach Klie u. Student (2003:145-152):
(1) Individuelle Auseinandersetzung mit dem Thema Tod und Sterben
(2) Das Gespräch suchen
(3) Schriftliche Niederlegung
(4) Selbst Formulieren
(5) Das Gespräch mit dem behandelnden Arzt
(6) Gespräch mit vertrauten Personen, nahen Angehörigen
(7) Juristische Beratung
(8) Hinterlegung und Aushändigung
Zusätzlich zur Patientenverfügung ist es sinnvoll noch eine Vorsorgevollmacht mit Betreuungsverfügung auszustellen.
3.2 Vorsorgevollmacht
Hier erhält eine andere Person das Recht für den Patienten in verbindlicher Weise zu entscheiden. Der Bevollmächtigte vertritt den Patienten gegenüber den behandelnden Ärzten und Pflegekräften und hat die Rechtsmacht für ihn zu entscheiden, solange er den Willen und das Wohl des Patienten verfolgt.
Die Vollmacht reicht weiter als eine PV, da der Bevollmächtigte nicht nur an den mutmaßlichen Willen gebunden ist sondern Entscheidungen treffen kann. Die Vollmacht kann auch von mehrere Personen ausgeübt werden. In der Vollmacht sollten genaue Regelungen enthalten sein, also keine Generalisierungen. Ist etwas nicht in der Vollmacht enthalten, müsste dazu ein gesetzlicher Betreuer bestellt werden. Auch daran kann gedacht werden, in Form einer Betreuungsverfügung festzulegen, wer, falls notwendig, als Betreuer eingesetzt werden sollte. Dabei sollten folgende Aufgabenbereiche benannt sein:
- Vermögensrechtliche Angelegenheiten
Vermögenssorge und Bankgeschäfte
- Persönliche Angelegenheiten:
Personensorge-Aufenthaltsbestimmungsrecht – Untersuchung des
Gesundheitszustandes, Heilbehandlung – Ärztlicher Eingriff – Unterbringungsähnliche Maßnahmen, Maßnahmen für Freiheitsentziehung - Wohnungsauflösung - Postkontrolle
Kann dabei eine volljährige Person aufgrund einer psychischen, körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung oder wegen einer psychischen Krankheit ihre Angelegenheiten ganz oder teilweise nicht mehr besorgen, dann bestellt das Vormundschaftsgericht nach §§ 1896 ff BGB im Betreuungsrecht einen Betreuer.
Aber auch wenn der Betreuer die Gesundheitssorge innehat, muss er die Genehmigung des Vormundschaftsgerichtes einholen für Einwilligungen in gefährliche Untersuchungen, Heilbehandlungen und bestimmte ärztliche Eingriffe.
Am sichersten dürfte eine Kombination sein von Patientenverfügung und Vorsorgevollmachten mit Betreuungsverfügung. (Klie/Student 2003:44)
Eine PV wird mit dem Ziel aufgesetzt und unterzeichnet, dass auch dann, wenn der Patient nicht mehr in der Lage ist selbst zu entscheiden, ein früher geäußerter Wille respektiert und befolgt wird. Eine PV ist gewissermaßen ein in die Zukunft hinein verlängerter Wille, die Juristen sprechen vom „mutmaßlichem Willen“. (Eberbach 2001:22) Dieser Rechtsfigur Folge zu leisten kann Ärzte in einen Konflikt mit ihrem Hippokratischen Eid führen. Damit entsteht ein Wertekonflikt zwischen der ethischen Leitlinie der Ärzte und der Selbstbestimmung des Patienten. (Klie/Student2003:33)
Ein Betreuer darf keine höchstpersönlichen Entscheidungen treffen (Ehe, Testament) aber in welchen Entscheidungskonflikt kann er kommen oder wird durch die Umstände gebracht, wenn es um so etwas (höchstpersönliches) wie den Abbruch einer lebensverlängernden Maßnahmen geht?
3.3 Begriffserläuterungen
3.3.1 Passive/Aktive Sterbehilfe
Aktive Sterbehilfe ist nach § 216 StGB verboten, der Betreuer kann jedoch wirksam einwilligen in ärztliche Maßnahmen, die eine passive Sterbehilfe bedeuten: Handlungsbegrenzung/-beendigung (also Abbruch) können bei aussichtsloser Krankheit einen nicht begonnenen Sterbeprozess einleiten (Hilfe zum Sterben) bzw. einen bereits begonnenen Sterbevorgang seinen Fortgang lassen (Hilfe beim Sterben).
Indirekte Sterbehilfe liegt vor, wenn als Nebenwirkung der Behandlung, die nur noch auf Schmerzbehandlung ausgerichtet ist, der frühere Eintritt des Todes in Kauf genommen wird. (Eberbach 2001:11)
Die Grenzziehung zwischen aktiver und passiver Sterbehilfe ist äußerst schwierig und eventuell willkürlich.
3.3.2 Behandlungsverzicht/Behandlungsabbruch
Jede Heilbehandlung ohne Einwilligung des Patienten ist aber strafrechtlich und zivilrechtlich als Körperverletzung anzusehen. Der Arzt braucht eine Rechtfertigung und die Einwilligung /mutmaßlicher Wille des Patienten.
Abschalten wäre eine Unterlassung der Behandlung und dies war zuvor unterschiedlich durch Gerichte geregelt, jetzt bedürfen nicht nur bestimmte ärztliche Eingriffe der vormundschaftlichen Genehmigung sondern auch die Unterlassung, wenn der Arzt eine Weiterbehandlung anbietet.
Ärztliche Handlung bedarf einer Rechtfertigung, einer medizinische Indikation, wobei Diagnose und Indikationen sowie Prognose sich immer wieder im Verlauf der Behandlung verändern können. (Ankemann 2004:24)
Behandlungen, die nur noch auf eine Verlängerung des Lebens zielen, verletzen jedoch die Würde des Patienten. Nach den ärztlichen Richtlinien dürfen die Entscheidungen nicht von wirtschaftlichen Erwägungen abhängig gemacht werden und eine gewisse Grundversorgung ist zu gewährleisten:
- menschenwürdige Unterbringung,
- Zuwendung,
- Köperpflege,
- Linderung von Schmerzen,
- Atemnot und Übelkeit
- (sowie) Stillen von Hunger und Durst!
(Ankermann 2004:26)
Hier kommt nun zum Vorschein, welcher Problematik Angehörige und Ärzte gegenüberstehen wenn bereits eine Magensonde gelegt wurde! Wer mag nun die Entfernung der Magensonde und die Einstellung der künstlichen Ernährung verantworten?
3.4 Mutmaßlicher Wille im ethischen Grenzbereich
3.4.1 Ermittlung des mutmaßlichen Willens
Die Erkenntnis und die Ermittlung des mutmaßlichen Willen des Patienten ist konkret relativ schwierig.
Ethische Grenzfragen stehen zum Diskurs. Letztendlich wird die Entscheidung des Arztes im Einzelfall den Ausschlag geben, seine persönlichen Erfahrungen, seine Wertevorstellungen. Wünschenswert wäre allerdings eine Berücksichtigung der PV und ein Ernstnehmen der Äußerungen der Angehörigen.
Schwierig scheint mir die Situation sowohl mit als auch ohne Patientenverfügung. Wie steht es zum Beispiel mit reanimierten Suizidpatienten, die nun im Wachkoma liegen?! Gesetzlich ist das relativ klar; damit sind sie keine Sterbenden und haben dadurch weiter ein Anrecht auf die Grundversorgung, das heißt vor allem Nahrung und Flüssigkeit. Was muss in einem Vater vorgehen, der das Recht zu sterben für seinen Sohn einklagen muss? (Fall OLG München 2003) Der Sohn hatte keine Patientenverfügung hinterlassen und leidet nun seit seinem Suizidversuch unter dem apallischen Syndrom. (Seit dem durch die Reanimation verhinderten Suizid liegt der Patient also schon 5 Jahre im Wachkoma)
Der Arzt hatte in diesem Fall verordnet die Flüssigkeitszufuhr zu senken. Damit würde ein baldiges Nierenversagen in Kauf genommen werden. Das Pflegepersonal in dem Heim, in dem er inzwischen untergebracht war, wollte dem nicht nachkommen.
Das OLG wies die Klage des Betreuers (des Vaters), seinen Sohn sterben zu lassen, ab. Die deutsche Hospizstiftung begrüßte dieses Urteil (Sozialarbeiterbrief 3/03), da ihre Position im Falle einer bereits gelegten Magensonde relativ eindeutig ist. Das Entfernen (oder hier Flüssigkeitsabnahme) wäre ein aktiver Akt (in ihren Augen), der hier abgelehnt wird. Wichtigster Grund für das Gericht und die Hospizstiftung; es bestand keine Patientenverfügung und damit kein mutmaßlicher Wille! Weiter ging das Gericht in seiner Begründung auf den Heimvertrag ein, der bei Vertragsabschluss akzeptiert worden sei und damit auch die Inanspruchnahme pflegenotwendiger Versorgung und eben nicht die Beteiligung an der Mitwirkung der Beendigung des Lebens eines Heimbewohners!
Eine Berufung des Klägers hatte keinen Erfolg und eine Revision zum BGH hat das Oberlandesgericht nicht zugelassen, mit der Begründung, dass dieser Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung zuzumessen sei. (Ankermann 2004:102)
Durch Reanimation kann Leben gerettet werden. Im Rahmen praktizierter Maximaltherapie kann es aber auch zu schwersten Dauerschädigungen kommen! (Ankermann 2004:32)
Obiger Fall zeigt in seiner Tragweite große ethische Grenzbereiche auf.
Ein erfolgter Suizid wird durch Reanimation unterbunden. Was geschah hier mit dem nicht mehr nur „mutmaßlichen“ Willen? Wessen Wille wurde hier vollzogen? Ein Vater muss das Sterben seines Sohnes einklagen! Pflegepersonal, das den Menschen in diesem Zustand kennen gelernt hat, wird abverlangt die Grundversorgung zu reduzieren. Ärzte tragen eine hohe Entscheidungsgewalt (durch die jeweilige Verordnung), gewissermaßen über Leben und Tod. Gerichte müssen Urteilsbegründungen finden die sich als Rechtsfiguren halten lassen. Sie scheuen, verständlicherweise, die letztendliche Absicherung einer einheitlichen Rechtssprechung, trotzdem werden sie angerufen und treffen Entscheidungen, denen zu folgen ist. Dabei spielt in hohem Maße der gesellschaftliche Wertekonsens und die jeweiligen beteiligten Einzelpersonen eine Rolle. Es zeigt auch auf die generelle Prozessbereitschaft in Deutschland hin, die nach Meinung von Brückner (Advokatur und Notariat aus der Schweiz) wesentlich höher ist als in der Schweiz! So schreibt er in seinen Ausführungen: „Noch immer sind Patienten, Angehörige und Gerichte in der Schweiz nicht darauf eingestellt, Konflikte im Arzt-Patienten-Verhältnis juristisch-prozessual auszutragen.“ (Vgl. 2001:148)
Dies könnte außer auf eine erhöhte Gesprächsbereitschaft unter den Beteiligten auch darauf hindeuten, dass Ärzte sich in den Überlegungen der jeweiligen Therapieformen eher am Patienten (was zu hoffen ist) orientieren als an der Sorge über eine jeweilige Haftpflicht.
Denn der strafrechtlich relevante Bereich[11], lässt auch die Ärzte in Deutschland in ihrem Denken und Handeln nicht unberührt.
In einem anderen Fall ging ein Sohn bis zum Bundesgerichtshof. Sein Vater, hatte durch einen Myocardinfarkt einen hypoxischen Gehirnschaden im Sinne eines apallischen Syndroms im Jahr 2000 erlitten. Dieser inzwischen 72-jährige Betroffen hatte eine Patientenverfügung verfasst in der stand: „Im Falle meiner irreversiblen Bewusstlosigkeit, schwerster Dauerschäden meines Gehirns oder des dauernden Ausfalls lebenswichtiger Funktionen meines Körpers oder im Endstadium einer zum Tode führenden Krankheit, wenn die Behandlung nur noch dazu führen würde, den Vorgang des Sterbens zu verlängern, will ich: - keine Intensivbehandlung...,- Einstellung der Ernährung,-“ (Mitteilung der Pressestelle des Bundesgerichtshofes Nr. 52/2003)
Hier klagt der Sohn für seinen Vater das Sterben ein. Der Vater hatte eine Patientenverfügung. Diese wirkt jedoch nur im Falle einer irreversiblen Erkrankung! Und darunter fällt die Erkrankung des 72-jährigen nicht!
Der Krankenhausseelsorger Bruder Klaus erzählte mir dazu Folgendes:
Ein Mann lag nach einer Operation auf der Intensivstation, intubiert aber klar bei Verstand (er kann nicken und kopfschütteln).
Der Patient gab dem Seelsorger durch Handzeichen zu verstehen, dass er etwas schreiben möchte. Er gab ihm einen Zettel. Der Patient schrieb auf den Zettel, dass er wolle, dass abgeschaltet wird, im Grunde eine eindeutige Willenserklärung, eindeutig selber geschrieben und aus Sicht des Seelsorgers lag auch keine Geschäftsunfähigkeit vor.
Der Seelsorger las es nochmals vor, der Patient bestätigte es durch ein Nicken und gab so zu erkennen; Ja, so will ich das.
Dieses Blatt kam zur Krankenakte. (Der Patient hatte dieses am Freitag geschrieben, zuvor schon am Donnerstag fand ein Gespräch unter den Ärzten statt: „Wenn der Mann eine PV hätte, könnten wir mit der Therapie zurückfahren! Ihn sterben lassen!“ Aber es gab keine PV!
Aus ärztlicher Sicht war hier also klar erkennbar: „Den kriegen wir nicht durch“. Trotz des Einsatzes von Intensivmedizin ging es langsam und stetig dem Sterben zu.
Am Samstag fragt der Seelsorger wieder den Patient, ob das Abschalten immer noch sein Wille wäre, der Patient bestätigte dies. Er fragt, ob er dessen Ehefrau, die am Sonntag kommen wolle, das sagen solle, der Patient bestätigte dies durch Kopfnicken.
Die Reaktion der Ehefrau war jedoch letztendlich eine ganz andere: „Durchhalten, durchhalten, das wird schon wieder!“
Am Montag schließlich wurde ihm der ausdrücklicher Wunsch der Familie, übermittelt: Der Seelsorger solle den Patient nicht mehr besuchen!
Die Familie hatte darauf bestanden, dass die Intensivmedizin nur alles mögliche tat, bis zuletzt, dass er so lange es noch ginge am Leben bliebe. Nach einer weiteren vollen Woche verstarb er dann. Der Zettel lag in der Krankenakte.
Der Seelsorger hält unter anderem auch Vorträge bezüglich der Erstellung von Patientenverfügungen. Ein wichtiger Punkt für ihn aufgrund seiner langjährigen Erfahrungen in diesem Bereich:
„Überlegen sie gut, wen sie bevollmächtigen! Vielleicht doch lieber gute Freunde!“ Das, was vom Umfeld aufgrund der technischen Möglichkeiten und des persönlichen Umgangs mit diesem Thema abverlangt wird, ist vielleicht nicht das, was wir für uns selbst wünschen oder was Angehörige zu leisten vermögen.
Damit zeigt sich die Problematik der Fremdbestimmung, abhängig von der eigenen Vorsorge, der rechtlichen Ethik, des mutmaßlichen Willens und der allgemeinen Wertevorstellungen!
Dem gegenüber steht eine sinnlose Verlängerung des Lebens, die nur der Verhinderung des Sterben dient und damit eine Missachtung des Patientenwillens und der Patientenautonomie sein kann wenn es anders erwünscht war, bzw. ist. Und im Prinzip ist die Verlängerung des vom Patienten nicht mehr gewünschten Zustandes eine Verletzung seines Persönlichkeitsrechtes und eine Körperverletzung! (Ankermann 2004:31)
3.4.2 Verbindlichkeit von Patientenverfügungen
Im Prinzip ist die Patientenverfügung und Vollmachtserteilung dazu da, für eine zukünftige Äußerungsunfähigkeit rechtliche Vorsoge für eine von ihm gewünschte oder auch nicht gewollte ärztliche Behandlung zu treffen. Einer erstellten Patientenverfügung wird jedoch (im Gegensatz zum Organspendeausweis) der vergangene Zeitabschnitt entgegengehalten. Je länger die Ausstellung her ist um so eher könnte davon ausgegangen werden, dass sich der Wille doch noch verändert habe.
Zum einen jedoch ist die Verfügung wie auch die Vollmachtsgebung jederzeit änderbar und zum anderen ist die unbestimmte Zeitdauer einer verfassten Patientenverfügung im Prinzip immanent! Inwieweit dann eine eventuelle Meinungsäußerung, einer tatsächlich erfolgten vorgezogen werden darf, scheint doch zumindest fraglich. (Eberbach 2001:34) Zudem unterliegt eine Vollmachtserteilung einem „doppelten Kontrollregime“, der Schriftlichkeit und des Genehmigungsvorbehaltes des Vormundschaftsgerichts zugrunde. Hier steht sich staatliche Kontrolle dem ausgesprochenen Vertrauen der bevollmächtigten Person gegenüber. Eberbach spricht hier sogar von einer Überregulierung des Staates. (2001:33) Das Argument des Missbrauchs tritt hervor. Ankermann (2004:142) sieht diese Gefahr nicht als zwingend begründet an. Menschliches Fehlverhalten ist zwar nie ganz auszuschließen, aber ob das Ernstnehmen des Selbstbestimmungsrechtes eines jeden Menschen gleich die Freigabe aktiver Sterbehilfe nach sich ziehen würde, das sei an dieser Stelle angezweifelt. Eher führt die Einstellung einer Gesellschaft über Wert und Unwert menschlichen Lebens zu sozialem Druck!
Allgemein und in Deutschland im Besonderen ist dies natürlich kein einfaches Thema, vielleicht versuchen uns diese vielen rechtlichen Regelungen einen gewissen Schutz zu suggerieren, der Problematik des Missbrauchs möchte sich niemand schuldig machen das ist verständlich, schwierig wird es, wenn dabei Dritte über andere Menschen die Entscheidung treffen. Kommt ein Fall vor Gericht, üben zwar die Richter an sich nur ein „Wächter- und Kontrollamt“ aus, doch durch ihr Urteil gegen einen Behandlungsabbruch sind sie die maßgebliche Instanz im Leben (im Nicht-Sterben-Dürfen) des Patienten. (Eberbach 2001:35)
Ein weiteres Argument gegen die Verbindlichkeit der Patientenverfügung ist die mangelnde medizinische Kenntnis der Bürger, aber der Grundgedanke bei der Abfassung einer Verfügung dürfte wohl der Folgende sein:
Ich will, wenn ich schon sterben muss und mir keine Therapie mehr weiterhilft ,nicht länger als nötig leiden, ich will, dass meine Qualen und Schmerzen gelindert werden, ich will nicht monatelang oder gar jahrelang im Koma liegen, ich will nicht hilflos als Pflegefall ohne Teilhabe am Leben dahinvegetieren. (Vgl. Ankermann 2004:91)
Oft wird ja gerade dieser Zustand in Hinsicht auf Institutionen gesehen, wie im vorangegangen Kapitel bereits geschildert. Und genauso oft fehlt dem Bürger das letztendliche Vertrauen, dass in diesem Sinne auch für ihn gehandelt wird.
Eberbach sieht für die Missbrauchsgefahr keine Belege. Er fordert vom Staat sogar eine Rückgabe der Kompetenzen und der Verantwortung an die direkt Beteiligten und spricht dabei die „Entstaatlichung der Privatsphäre“ an. (Vgl. Eberbach 2001:35)
Um auf die Verbindlichkeit der Patientenverfügung zurückzukommen, so lässt sich sagen, dass es im Prinzip keine rechtsverbindliche Regelung derzeit gibt, wie eine Patientenverfügung auszusehen hat. Den Bürgern steht eine Fülle von Formularen gegenüber, die gerade für ältere Menschen schwer zu verstehen sind : (Ärztekammern, staatliche Stellen, Ethikinstitute der Universitäten, die deutsche Gesellschaft für humanes Sterben, Hospizbewegung, die Kirchen, Juristen und Notare und kompetente und nichtkompetente Privatpersonen...)
Bleibt die Frage, wie ein Bürger nun seine Patientenautonomie und sein Selbstbestimmungsrecht konkret und verbindlich ausüben kann.
Auf diese Frage fand auch der Europarat (2005:19) keine Antwort! So wurde darüber debattiert, ob es dem Patienten nun verbindlich möglich sei, im Voraus einen Abbruch der Behandlung festzulegen. Die Gegner dieser Ansicht bezeichnen dies als Aufforderung zur Euthanasie und verweisen auf das oberste Gebot – das Recht zu leben – und „ weder der Staat noch der Einzelne hätte das Recht, dies zu ändern, ob als Arzt oder Patient“. (Vgl. Europa 2005:19)
Zudem trat die Schwierigkeit auf, sich überhaupt auf eine gemeinsame Stellungnahme zu einigen.
Im Gegensatz zur vieldiskutierten Patientenverfügung möchte ich im Folgenden noch auf die Organentnahme eingehen. Im Vergleich zu dem bisher Erläuterten sieht sich der Organspendeausweis weit weniger Verbindlichkeitsproblematiken gegenüber.
Augenfällig wird, und darum möchte ich dieses Thema miteinbeziehen, dass bei einem Organspendeausweis der vergangene Zeitabstand (oder ein mutmaßlich veränderter Wille) keine Rolle spielt. Eine einmalige Ausstellung genügt und er sieht sich nicht den gleichen Überlegungen wie die PV gegenüber. Liegt überhaupt keine Erklärung vor, können (sollen) die Angehörigen in einer für sie schon belastenden Situation, diese Entscheidung für den „Verstorbenen“ treffen!
3.5 Organspende
3.5.1 Transplantationsgesetz
Das Transplantationsgesetz wurde 1997 verabschiedet. Darin enthalten sind Regelungen über die Organentnahme bei einem „toten“ Patienten.
Bei der Entwicklung des Transplantationsgesetzes wurde zunächst die Widerspruchslösung favorisiert. Das hätte bedeutet, dass jeder im Falle seines Todes zur Organspende bereit stünde, wenn er dem nicht zuvor ausdrücklich widersprochen hätte! Dies stieß doch insoweit auf Kritik, dass letztendlich eine erweiterte Zustimmungslösung das Ergebnis war. Dies wiederum bedeutet, dass Organe entnommen werden können, wenn zuvor dem nicht schriftlich widersprochen wurde und Angehörige dem zustimmen! (Klie/Student 2001:43)
Diese Gesetzeslage führt dazu, dass die Interessen der Organempfänger und ihrem jeweils bedrohten Leben Vorrang vor der körperlichen Integrität des hirntoten Menschen haben. Umstritten und durchaus bedenkenswert in diesem Zusammenhang ist die Definition des Todeszeitpunktes!
3.5.2 „Entnahmekriterium Hirntot“
Vor den 50er Jahren galten als Anzeichen des Todes noch Bewusstlosigkeit, Reaktionslosigkeit, Atemstillstand, Herzstillstand, kalte, blasse Haut, Totenflecken, Totenstarre und schließlich die Verwesung. Durch die rasante Entwicklung der Medizin und in diesem Zusammenhang die Möglichkeiten der Beatmung wurde es möglich, vitale Körperfunktionen beliebig lange künstlich aufrechtzuerhalten. Zusammen mit der sich entwickelnden apparativen und medikamentösen Therapie wurde es nun möglich, dass Patienten, die bis dahin mit der infausten Prognose des Coma depassé an Herztod starben, dies nun nicht mehr taten. (Conrad/Feuerhack 2002:9)
So wurde im Prinzip ein nicht umkehrbares Koma als neues Todeskriterium bestimmt, das heißt, wenn keine erkennbaren Aktivitäten im Zentralnervensystems feststellbar sind und es zu einem Ausfall aller Hirnstammreflexe kommt. Das Herz kann dabei durch lebensunterstützende Maßnahmen durchaus noch (oder wieder) schlagen.
Dabei ist die Hirntoddefinition durchaus flexibel! Setzte zunächst eine Kommission der Harvard University (USA) das Ausbleiben aller Reflexe als Kriterium fest wurde dies noch im selben Jahr aufgegeben! Seither dürfen als Hirntod definierte Leichen bis zu 17 Reflexe aufweisen! Zum Beispiel; Spreizen der Finger, Bauchreflexe, Wälzen des Oberkörpers u.a. (Bergmann 2005:7)
Die Deklaration des irreversiblen Komas zum Tod des Menschen setzte sich jedenfalls rasch durch und wurde von den meisten Industriestaaten auch bald übernommen. (Conrad/Feuerhack 2002:10) Dies fiel in den 60er Jahre zeitgleich mit den beginnenden Transplantationsmöglichkeiten!
Zwar wird nach dem erfolgten Hirntod keine Umkehr des klinischen Verlaufes mehr erfolgen aber der „Hirntote“ wird weiterhin beatmet, er scheidet aus, schwitzt und hat einen messbaren Blutdruck! (Conrad/Feuerhack 2002: 3)
Hirntote Frauen können über Monate hinweg ihr Kind austragen und hirntote Männer sind zeugungsfähig! Ihre Herzfrequenz reagiert auf Kommunikation! Es gibt auch Fälle in denen nach Abschalten der Maschinen, da von den Angehörigen nicht der Entnahme zugestimmt wurde, der Hirntote spontan weiteratmete! (Ackermann-Grüger 1998:12)
3.5.3 Organentnahme und Sterbeprozess
Was dies für den einzelnen Sterbeprozess bedeutet, kann hier nicht beantwortet aber zumindest angedacht werden. Auch wissenschaftlich ist die Definition des Hirntodes nicht unumstritten. Die Frage lässt sich aber doch stellen, ob hier der Mensch und sein Körper noch am Sterben ist oder tatsächlich bereits tot?!
Diese Frage stellt sich auch die Internationale Gesellschaft für Sterbebegleitung und Lebensbeistand. (IGSL)
Hier wird der Hirntote als „Kunstprodukt der modernen Intensivmedizin“ deklariert (Vgl. Ackermann-Grüger 1998:9) Die Autorin und Ärztin weist aus ihrer Sicht darauf hin, dass „das Hirnversagen zwar einen schweren Einschnitt signalisiert, dass das Sterben nicht mehr rückgängig gemacht werden kann, dass der Tod nahe ist, aber es stellt nur einen Punkt im Sterbeprozess dar (!)“ (Vgl. 1998:11) Für sie ist der Sterbende hier keine Leiche und die „Für-tot-Erklärung“ nur eine Vorverlegung des Todeszeitpunktes.
Ist alles, was ein Individuum und ein menschliches Wesen ausmacht, im Gehirn verankert? Folgen wir einer „Gehirnmythologie“ ? Wer definiert ein menschliches Wesen und ab wann ist ihm seine Würde zugedacht? Bezeugt die Messbarkeit (nach jeweiligem Stand der Wissenschaft), die Qualität des Bewusstseins? Kann überhaupt davon sicher ausgegangen werden, dass das Bewusstsein eines Menschen an seine Gehirnfunktionen gebunden ist? Entfallen per Definition plötzlich sämtliche Schutzrechte? (Rest 98:165)
Aber auch die Haltung der Kirchen lässt sich hier hinterfragen, unterstützen sie doch im Prinzip die Organspende aus der Sicht der Nächstenliebe und der christlichen Opferbereitschaft (!) heraus und akzeptieren damit die naturwissenschaftliche und medizinische Definition des Todes. Damit unterstützen sie auch die These, dass der menschliche Geist nur an das Gehirn gebunden ist[12] ! (Conrad/Feuerhack 2002:39) Inzwischen üben zwar auch sie Zurückhaltung, was den Todeszeitpunkt betrifft, und betrachten den Hirntod eher als Entnahmekriterium für eine Organspende, aber ihre Haltung scheint mir religiös gesehen nicht wirklich schlüssig.
Andere Einflüsse wie die vorhandenen Wartelisten, die Zuteilungskriterien oder gar der Orangehandel sind hierbei noch gar nicht berücksichtigt!
Bedeutet nun die Transplantation - als medizinisches Heilverfahren - die einzige Überlebenschance vieler Menschen und kann damit vom Sterbenden gefordert werden als „Ersatzteillager“ zu fungieren, der selbst im Sterben noch „Nutzen“ bringen kann? Stirbt ein anderer Mensch weil sein Bedarf wegen vorhandenem Organmangel nicht befriedigt werden kann? Stirbt ein Mensch nicht an einer Krankheit, an der Umweltvergiftung an sozialem oder persönlichen Missständen? Kann und darf ein Mensch auf Gehirn und Organe reduziert werden? (Conrad/Feuerhack 2002:53)
Was ist mit dem Mensch, dem die Organe zugedacht sein sollen? Welche Chance hat er, sich auf sein Sterben vorzubereiten, wenn ihm beständig die Hoffnung auf ein Weiterleben nahe gebracht wird und sein Wille zum Weiterkämpfen keine Abschiedsgedanken zulassen? (Wasner 1998:23)
Mehr Fragen als Antworten, wichtige Fragen wie mir scheinen. Dabei geht es mir nicht nur um den einzelnen Menschen, der auf sein lebens(verlängerndes)erhaltendes Organ wartet und bangt, ob die Zeit ihm ausreichen wird. Es geht mir mehr um die Haltung die dahinter steckt. Die Medizin und die Forschung bieten den Menschen Möglichkeiten an, die es vorher nicht gab. Neue Bedürfnisse werden geschaffen. Was ergibt sich in der Prioritätenliste einer Gesellschaft, in der alles Mögliche ersetzt werden kann im Zusammenhang mit Prävention oder nichtkrankmachenden Verhältnissen? Inwieweit ist ein würdevolles ruhiges Sterben möglich? Und wieweit wollen wir den Kampf gegen den Tod noch führen?
Eine enge Zustimmungslösung im Falle von Organspenden, das heißt die Entscheidung des Einzelnen über seine Bereitschaft zur Organspende würde wohl am ehesten einer Selbstbestimmung entgegenkommen. Diese Entscheidung, die erst nach ausführlicher Information und Erörterung des bisher Gesagten wirklich selbstbestimmt getroffen werden kann, beinhaltet auch die Akzeptanz weitgehender Fremdbestimmung im Sterbeprozess. (Platte 1998:16) Zudem würde es den Angehörigen diese Entscheidung in einer sowieso schon schwierigen Situation ersparen.
[...]
[1] Die Erstausgabe im Amerikanischen war bereits 1975
[2] Vorsorge: Sorge(n) im Voraus
[3] Durch die moderne Medizin ist es auch möglich geworden Krankheiten bereits dann zu diagnostizieren wenn der Patient sie selbst noch gar nicht als bedrohlich empfinden würde, somit kann Selbstwahrnehmung und Apparatur Diagnostik auseinanderfallen.
[4] Dies dürfte unterschiedlich ausfallen, je nach Intention (und Glaubensrichtung?) des Verfassers, ließe das die Frage von Feldmann (2004:64)wieder aufkommen; welche Gruppe/Individuen haben ein Interesse daran gewisse Todesbereiche zu tabuisieren, verdrängen(siehe dazu S. 4)
[6] Was kann ursprünglich unter Sterbehilfe gemeint sein? Die begleitende Unterstützung von Angehörigen bzw. Geistlichen? Was unter einem „schönen“ Tod zu verstehen ist, hängt stark von der jeweiligen Todesvorstellung ab. Siehe dazu Kapitel 3.3.1 sowie 9.6
[5] Wir sind aus der christlichen Lehre geprägt in der Christus uns „mit seinem Sieg über Sünde und Tod“ befreite, noch weiter geht der Katechismus ( Vgl. 1993:408) „...die Sünde der Welt, von der Krankheit eine Folge ist (!)“
Jetzt wird dem Leiden allerdings der Sinn zu erkannt (falls es nicht erfolgreich bekämpft werden konnte), dass das Leiden das Leiden Christi ergänze.
[6] Der zunehmende Wellnessbereich nicht zu vergessen (Massagen, Therapien, Anwendungen, Entspannung, Gymnastik.)
[7] Allenfalls die Frage von Kosten oder die Abdrängung der Frau vom Arbeitsmarkt könnten dieser Tendenz entgegenwirken oder auch die Männer in diesen Bereich mit hineinziehen.
[8] Vieles davon ist inzwischen auf Palliativstationen selbstverständlich in den Ablauf integriert
[9] entwickelt von der Amerikanerin Christine Longaker in Zusammenarbeit mit dem tibetischen Lehrer Sogyal Rinpoche
[10] Im Nachfolgenden PV genannt
[11] immer zum Schutze vor Missbrauch betitelt – setzt allerdings auch erwartetes Missbrauchsverhalten voraus
[12] Doch auch innerhalb der Kirchen gibt es dazu kontroverse Stimmen.
- Quote paper
- Beatrice Bucher (Author), 2006, Sterben, Tod und Trauer in einer fortschrittlichen Gesellschaft , Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/72364
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