„Normalerweise interessieren bolivianische Präsidenten niemanden besonders. Sie sind, global gesehen, in der Regel so unbekannt wie bulgarische Präsidenten oder albanische Fußballer,“1 schreibt Jochen-Martin Gutsch im Spiegel. Eine Aussage, die, wenn man die Bolivien-Berichterstattung in der deutschen Presse im letzten Jahrzehnt betrachtet, sicher ihre Berechtigung hat, in Bezug auf das letzte Jahr allerdings revidiert werden muss. Bolivien hat seit dem 22. Januar 2006 einen neuen Präsidenten, Juan Evo Morales Ayma, der nicht nur zum Medienstar avancierte, sondern die Position Boliviens auf der Weltkarte auch wieder in den Köpfen vieler Menschen konkretisierte. Der kleine Andenstaat ist, nach einem langen Dornröschenschlaf, Medienthema, wie er es seit der Entdeckung der Knochen Che Guevaras im Jahre 1997 nicht mehr war. Vergleicht man wie oft in den letzten zehn Jahren das Stichwort „Bolivien“ in Titeln der Onlineausgaben der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und Der Welt vorkam, kann festgestellt werden, dass das Medieninteresse 2006 enorm zugenommen hat. Die FAZ-Schlagzeilen enthielten bis zum 01.09.2006, 29 Mal das Wort „Bolivien“. Das ist fast dreimal soviel wie der über zehn Jahre festgestellte Durchschnitt von elf Artikeln pro Jahr. Die Welt erwähnte „Bolivien“ 2006, 15 Mal in einer Überschrift, brachte es aber innerhalb von zehn Jahren nur auf den mageren Schnitt von 3,9 Artikel jährlich.2
Sieht man von den Jahren 2006, 2005 und 2003 ab, berichtete Die Welt praktisch überhaupt nicht über Bolivien.3
Aber Evo Morales ist mehr als nur ein neuer Medienstar der westlichen Presse. Vor allem ist er eine neue lateinamerikanische Heldenfigur und damit eine Reinkarnation dessen, für was Lateinamerika seit den späten 60er Jahren paradigmatisch stand, als Schmiedestube romantischer Heldenfiguren, von einem Zigarre rauchenden Che Guevara bis zu einem anmutig reitenden Daniel Ortega. Viele lateinamerikanische Staaten generierten im letzten Jahrhundert ihre Heldenfiguren, von Evita Perón bis Subcomandante Marcos, von Salvador Allende bis Fidel Castro.
[...]
1 Jochen-Martin Gutsch, "Bolivien: Der globale Indio," Der Spiegel Nr. 18 (2006): 119.
2 Die Daten beruhen auf einer von der Autorin durchgeführten Titelstichwortsuche in den archivierten Onlineausgaben von FAZ und Welt der letzten zehn Jahre.
3 Im Jahr 2002 erschien ein Artikel, im Jahr 2000 wurden zwei Artikel publiziert und in den anderen Jahren fand keine Berichterstattung statt.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Der moderne Held
2.1 Die Funktion des Helden in der Gesellschaft
2.2 Der Held als Führungsfigur
2.3 Eigenschaften einer Führungsfigur
2.4 Caudillos und Neopopulisten als Helden?
3. Redemokratisierung und Krise in Bolivien als Basis für den Aufstieg EvoMorales’
3.1 Das Versagen des Neoliberalismus
3.2 Der Wandel der Gewerkschaftsbewegung
3.3 Der wachsende Einfluss indigener politischer Akteure
3.4 Zusammenfassung
4. Evo Morales: Auf dem Weg in den Heldenstand
4.1 Die Wahl Evo Morales’ zum Präsidenten Boliviens
4.2 Morales als Identifikationsfigur für die marginalisierte Bevölkerung
4.2.1 Aus armen Verhältnissen
4.2.2 Der indígena Morales
4.2.3 Der Kleidungsstil
4.2.4 Erfolgsmodell MAS
4.3 Die Inszenierung der Figur Morales
4.3.1 Anekdoten und Mythen
4.3.2 Die offizielle Homepage: www.evomorales.org
4.3.3 Evo Morales Fanartikel
4.4 Evo Morales als linke Identifikationsfigur
4.4.1 Der Globalisierungsgegner Morales
4.4.2 Morales als Held in der deutschen linken Presse?
5. Fazit
Abkürzungsverzeichnis
Bibliographie
1. Einleitung
„Normalerweise interessieren bolivianische Präsidenten niemanden besonders.
Sie sind, global gesehen, in der Regel so unbekannt wie bulgarische Präsidenten oder albanische Fußballer,“[1] schreibt Jochen-Martin Gutsch im Spiegel. Eine Aussage, die, wenn man die Bolivien-Berichterstattung in der deutschen Presse im letzten Jahrzehnt betrachtet, sicher ihre Berechtigung hat, in Bezug auf das letzte Jahr allerdings revidiert werden muss. Bolivien hat seit dem 22. Januar 2006 einen neuen Präsidenten, Juan Evo Morales Ayma, der nicht nur zum Medienstar avancierte, sondern die Position Boliviens auf der Weltkarte auch wieder in den Köpfen vieler Menschen konkretisierte. Der kleine Andenstaat ist, nach einem langen Dornröschenschlaf, Medienthema, wie er es seit der Entdeckung der Knochen Che Guevaras im Jahre 1997 nicht mehr war. Vergleicht man wie oft in den letzten zehn Jahren das Stichwort „Bolivien“ in Titeln der Onlineausgaben der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und Der Welt vorkam, kann festgestellt werden, dass das Medieninteresse 2006 enorm zugenommen hat. Die FAZ -Schlagzeilen enthielten bis zum 01.09.2006, 29 Mal das Wort „Bolivien“. Das ist fast dreimal soviel wie der über zehn Jahre festgestellte Durchschnitt von elf Artikeln pro Jahr. Die Welt erwähnte „Bolivien“ 2006, 15 Mal in einer Überschrift, brachte es aber innerhalb von zehn Jahren nur auf den mageren Schnitt von 3,9 Artikel jährlich.[2] Siehtman von den Jahren 2006, 2005 und 2003 ab, berichtete Die Welt praktisch überhaupt nicht über Bolivien.[3]
Aber Evo Morales ist mehr als nur ein neuer Medienstar der westlichen Presse. Vor allem ist er eine neue lateinamerikanische Heldenfigur und damit eine Reinkarnation dessen, für was Lateinamerika seit den späten 60er Jahren paradigmatisch stand, als Schmiedestube romantischer Heldenfiguren, von einem Zigarre rauchenden Che Guevara bis zu einem anmutig reitenden Daniel Ortega. Viele lateinamerikanische Staaten generierten im letzten Jahrhundert ihre Heldenfiguren, von Evita Perón bis Subcomandante Marcos, von Salvador Allende bis Fidel Castro. Bolivien lies in dieser Hinsicht nie von sich hören und dümpelte fern von den weltweit Aufsehen erregenden Revolutionen vor sich hin. Nur einmal gelangte es auf den globalen Radarschirm, als gerade dort der lateinamerikanische Revolutionstraum mit der vom bolivianischen Militär ausgeführten Hinrichtung des Che wie eine Seifenblase zerplatzte. Ernesto CheGuevaras BolivianischesTagebuch, Quasi-Bibel westlicher Linker, wird posthum nichts Gutes über die Revolutionstauglichkeit des Landes zu berichten wissen, in dem sich die Bauern mehr für die eigene Ernte als für die Revolution des Comandante interessierten.
Diese Arbeit stellt die These auf, dass Evo Morales eine neue Heldenfigur Lateinamerikas ist und auch international, wie die Helden der Guerillabewegungen, zur Identifikationsfigur werden kann. Der Präsident hat in den Augen der Autorin das Potenzial, ähnlich wie seine revolutionsfreudigen Vorgänger, in die Geschichte einzugehen, aber, und das muss explizit betont werden, auf einer anderen Basis. EvoMorales stammt aus der indigenen, verarmten Bevölkerungsmehrheit Boliviens und kann insbesondere durch seine Lebensgeschichte zu einer Identifikationsfigur für nationale Massen werden. Auch international stützt sich der konstitutionell gewählte Präsident auf eine andere Basis, da revolutionärer Umsturz nach dem Scheitern des Staatssozialismus doch selbst bei den meisten Linken kein akzeptiertes Mittel des Wandels mehr ist. Evo Morales ist eine lateinamerikanische Heldenfigur des neuen Jahrtausends und keine Reanimation eines alten 68er-Traums.
Die Aufgabe dieser Arbeit wird es sein, zu erfragen, warum gerade im Bolivien des 21. Jahrhunderts eine neue Heldenfigur geboren wurde und wieso Evo Morales diese Funktion zukommt. Dazu wird zunächst theoretisch definiert, was es braucht, damit eine Heldenfigur entsteht bzw. was einer Person eigen sein muss, um in den Heldenstand erhoben werden zu können. Für den Theorieteil wurde sich hauptsächlich auf Max Webers Wirtschaft und Gesellschaft sowie auf Murray Edelmans Politik als Ritual und Nikolaus Werz Aufsatz Alte und neue Populisten in Lateinamerika gestützt.
Eine der zentralen Annahmen dieser Bachelor-Thesis ist, dass eine gesellschaftliche Krise die Erschaffung einer Heldenfigur begünstigt. Im dritten Kapitel der Arbeit wird deshalb detailliert erläutert, warum die gesamtgesellschaftliche Krise in Bolivien von vorangegangenen Krisen unterschieden werden muss bzw. inwieweit sie ein so dramatisches Ausmaß annahm, dass die Bevölkerung, anstatt sich der demokratieeigenen Partizipationsmittel zu bedienen, zu einer quasi-sakralen Heldenverehrung überging. Für die geschichtliche Analyse bildeten vor allem die Schriften Ulrich Goedekings und die Aufsätze in der Fachzeitschrift Brennpunkt Lateinamerika die Grundlagen. Darüber hinaus wurden vielfach Zeitungsartikel als Quellen herangezogen, da die Thematik äußerst aktuell und die Quellenlage dementsprechend dünn ist.
Im vierten Kapitel geht es schlussendlich um die hauptsächliche Thematik dieser Arbeit und somit um die Konstitution der Heldenfigur Evo Morales. Dabei wird besonders auf zwei Aspekte eingegangen, nämlich die Heldentauglichkeit Morales’ aufgrund seiner Persönlichkeit und seiner Herkunft sowie die Fremdinszenierung seiner Person als Held. Dabei werden auf der einen Seite die Lebensgeschichte des Politikers, seine indigenen Wurzeln, sein Kleidungsstil sowie seine politische Einstellung betrachtet und auf der anderen Seite der Inszenierung und Vermarktung dieser Dinge gegenübergestellt. Die Autorin interessiert dabei nicht nur Evo Morales als nationale Heldenfigur, sondern ebenfalls seine Wirkung auf die westliche Welt, zum einen als Feindbild, zum anderen als Held der Anti-Globalisierungs-Bewegung. Hierfür wird sich genauer mit der deutschen Berichterstattung über den Präsidenten, insbesondere in linken Periodika, beschäftigt.
Außerdem wird zu analysieren sein, warum die Lebensgeschichte Evo Morales’ und sein politisches Programm ihm hohe Popularitätswerte verschafften, wohingegen andere autochthone Führungsfiguren nur eine kleine Anhängerschaft hinter sich zu versammeln vermochten bzw. nur einen kurzen Popularitätsfrühling erlebten. In einem Vergleich zwischen der in den frühen 90er Jahren populären, auf eine indigene Wählerschaft ausgerichteten CONDEPA[4] und Morales’ MAS[5] sollen Unterschiede zweier populistischer Bewegungen herausgestellt werden. Hierfür wurde in erster Linie Ulrich Goedekings Politische Eliten und demokratische Entwicklung in Bolivien 1985 -1996 und Andreas Steinhaufs Alte und neue politische Akteure in den zentralen Andenländern zu Rate gezogen. Des Weiteren ist für das vierte Kapitel die Berichterstattung in Lateinamerika Anders und in den Lateinamerika Nachrichten als Quelle von Bedeutung. Darüber hinaus konnten viele Erkenntnisse aus der offiziellen Homepage des Präsidenten www.evomorales.org, dem Spiegel und, für das Unterkapitel über die globalisierungskritische Bewegung, aus dem Buch Genial Dagegen von RobertMisik gewonnen werden.
Es sei für die folgende Arbeit vermerkt, dass aus Gründen der Lesbarkeit, bei generellen Aussagen die maskulinen Wortformen verwandt wurden, was jedoch nicht ausschließen soll, dass alle generell getätigten Aussagen auch für weibliche Personen gelten.
2. Der moderne Held
2.1 Die Funktion des Helden in der Gesellschaft
Bevor man sich fragt, wieso eine Einzelperson aus der Masse heraustreten und zum Helden werden kann, sollte man überlegen, wieso eine Gesellschaft Helden überhaupt benötigt. Denn erst wenn man die Funktion eines Helden für die Bevölkerung versteht, kann man den Aufstieg einer Einzelperson in den Heldenstand erklären.
Jeder Mensch braucht Wegweiser, bis zu einem gewissen Grad vorgezeichnete Pfade, um sich in der Vielschichtigkeit dieser Welt zu Recht zu finden. Jekrisengeschüttelter die ihn umgebende Gesellschaft ist und je problembelasteter die eigene Existenz, desto eindeutiger und lenkender müssen diese Wegweiser sein.[6] Heldenfiguren generieren sich somit insbesondere in krisenhaften Phasen der nationalen Geschichte. Gottfried Korff schreibt über die 20er Jahre in Deutschland, dass
die intellektuelle und mentale Nervosität [...], verursacht durch die Weltkriegskatastrophe und die Revolution, gesteigert durch politische Instabilität und soziale Neubildungen, [...] in starkem Maß die Etablierung von neuen Göttern, Heroen und Divas, aber auch die Orientierung an überlieferten Erfahrungs- und Verehrungsweisen [begünstigte].[7]
Betrachtet man nun vergleichend die krisenerprobte neuere Vergangenheit Boliviens, kann festgestellt werden, dass Nährboden für die Entstehung einer Heldenfigur vorhanden ist.
Dennoch reichen die gesellschaftlichen Verhältnisse allein nicht, um Heldenfiguren zu erschaffen. „Der Gesellschaft muss [...] bereits eine Offenheit gegenüber Heldenmythen inhärent sein. Besonders zu Krisenzeiten tritt diese Offenheit zu Tage.“[8] Bolivien ist eine solche Offenheit nachweislich eigen, brachte das Land doch viele Heldenmythen hervor. Ein Beispiel hierfür ist die Legende um Tupac Amaru II, der im 18.Jahrhundert einen Aufstand der pueblos originarios gegen die spanische Krone leitete und von der indigenen Bevölkerung auch heute noch verehrt wird.[9]
Helden sollen Fixpunkte sein, an denen sich die Bevölkerung orientieren kann. Die von ihnen verbreiteten politischen Mythen „entlasten das Individuum in der Bewertung von Ereignissen, weil sie Muster bereitstellen, nach denen die Realität schablonenhaft geordnet werden kann.“[10] Viele ökonomische, politische und soziale Abläufe können von den Menschen nicht mehr nachvollzogen werden. KomplexeProzesse werden vereinfachend mit einer Person oder einer Gruppe in Beziehung gesetzt. Nur so kann mit der aus dem eigenen Unverständnis entstandenen Unsicherheit umgegangen werden. Im Fall Boliviens ist es sicher schwer, insbesondere der bildungsfernen Bevölkerung, das komplexe Abhängigkeitsverhältnis, in dem sich das Land zu den USA oder anderen Industrienationen befindet, zu erläutern. Der Slogan Morales’ „Bolivien will Partner, keine Herren“ ist dahingegen leicht verständlich. Erkann auf die Person Morales, die sich stellvertretend für die Bevölkerung dieses komplexen Problems annimmt. zurück projiziert werden. Rudolf Speth schreibt:
Das Entweder-oder, die plakative Gegenüberstellung, die Benennung des Gegners, die Dualisierung in Freund und Feind, die Moralisierung von Handlungsalternativen, die Emotionalisierung von Entscheidungen und überhaupt die Reduktion politisch komplexer Sachverhalte lassen sich durch ikonische Gestaltung besser und wirkungsvoller ins Werk setzen als durch umständliche Erzählungen.[11]
Es benötigt somit immer eine Feindfigur auf der einen Seite, die für Missstände verantwortlich gemacht werden kann und eine Identifikationsfigur, einen Helden, auf der anderen Seite, von dem erwartet wird, dass er diese Probleme zu lösen vermag. Köpfe und Taten verschwimmen schnell so sehr, dass die Person beginnt, eine Sache an sich zu symbolisieren. Che Guevara, zum Beispiel, wird heute synonym für den Kampf für eine „gerechte“ Weltordnung gebraucht, genauso wie George W. Bush für die Übel der Globalisierung schlechthin steht. Eine Che-Guevara-Fahne und ein Anstecker mit dem durchgestrichenen Konterfei des amerikanischen Präsidenten haben erst in diesem Kontext einen Sinn, da sie nämlich nicht für die Personen allein, sondern für die vereinfachte Zustimmung und Ablehnung zu einem komplexen Sachverhalt stehen.
„Je unbekannter die Mittel zur Bewältigung einer Krise sind, desto fragloser vertraut man den magischen Fähigkeiten des Führers und folgt ihm loyal, weil man sich von ihm so sehnlich die Überwindung der Krise erhofft.“[12] Vor allem in extremen Krisensituationen wird aus einem Anführer eine Heldenfigur, die man verehrt, um nicht den Lebenswillen zu verlieren. Die Heldenverehrung dient somit als Ersatzreligion und bietet Menschen, die sich von Religion nicht angezogen fühlen, den Bezug zu ihr verloren haben oder diese kategorisch ablehnen, die Möglichkeit zu verehren. „Verehrung,“ schreibt Klaus Harpprecht in einem Artikel der Zeit, „muss sein, sie ist zwanghaft, zumal in den Köpfen, die gern von den ‚objektiven Gesetzten der Geschichte’ daherfaseln.“[13] Gerade linke, anti-religiöse Bewegungen neigen zu quasi-sakraler Heldenverehrung, behauptet Harpprecht. Er gibt das Beispiel Che Guevaras, der als „schöner Märtyrer zur Ehre der linken Altäre erhoben [wurde].“[14] Harpprechts Erkenntnis wird von der bereits in den 1920er Jahren formulierten These Robert Michels unterstützt, der dem Sozialismus eine Affinität für den Heroenkult zuschreibt.[15]
2.2 Der Held als Führungsfigur
Im Rahmen dieser Arbeit wird der Terminus „Held“ in einem soziologischen Sinnzusammenhang verwandt und nicht in einem mythischen oder gar literarischen. Deshalb werden im Folgenden die Begriffe Held und Führungsfigur synonym gebraucht, denn ein Held im soziologischen Sinne muss eine real existierende Person sein. Reale Identifikationsfiguren und Vorbilder sind oftmals Anführer von Bewegungen, Politiker, Revolutionäre, legal oder illegal an die Macht gekommene Herrscher, Führungsfiguren also. Es sei allerdings auf Begriffunschärfen zwischen den beiden Termini hingewiesen. Führungsfigur und Held haben die gleiche gesellschaftliche Funktion und dienen als Identifikationsfiguren für die Massen, als Möglichkeit Ängste und Hoffnungen auf eine gestaltende Person zu projizieren. Dennoch muss nicht jede Führungsfigur auch gleichzeitig ein Held sein. „Es ist der Held als geschichtsgestaltender Mensch, welcher der Geschichte den nachhaltigen Stempel seiner Persönlichkeit aufdrückt – ein Eindruck, der auch nach seinem Abtreten von der geschichtlichen Bühne noch erkennbar ist.“[16] Ein Anführer ist jedoch, wie an Evo Morales nachzuweisen sein wird, prädestiniert, geschichtsgestaltend zu wirken. Deshalb wird diese Arbeit vorrangig auf die theoretische Basis von Max Webers Führungstheorie gestellt.
2.3 Eigenschaften einer Führungsfigur
In dem Moment, in dem eine Führungsfigur aus der Masse der Bürger eines Landes heraustritt, verliert sie, obwohl sie eigentlich selbst einmal zu dieser gesellschaftlichen Masse gehörte, ihre Identität als Normalbürger. Che Guevara war für die Menschen nicht länger ein argentinischer Medizinstudent aus gutem Hause. „ElChe“ hatte mit dem alten Ernesto Guevara nichts zu tun, denn, wie es Speth ausdrückt „die mythisierte Person wird von der historischen Person abgesetzt, das Interesse an Letzterer verschwindet. An ihre Stelle tritt die heroische Person, die bewundert und mit einer Aura versehen wird."[17]
Jemand, der eine Masse anführt, hat aufgehört Teil der anonymen Bewegung zu sein. Er ist bekannt, die Menschen verbinden ein Bild mit seinem Namen und er bleibt nicht länger ein einfaches Partikel der anonymisierenden Masse.[18] Genau wie er jedoch die Massenbewegung braucht, um zum Führer stilisiert und als solcher bewundert zu werden, benötigt diese auch ihn. Ohne ein Gesicht zu haben, mit dem man sie in Verbindung bringt, auf das man seine Bewunderung oder Ablehnung projiziert, kann die Bewegung in den bildhaft denkenden Köpfen der Menschen nicht existieren.[19] Die Verbindung zwischen Held und Masse darf nicht abreißen. Es muss stets eine Allianz zwischen Führer und Geführten aufrechterhalten werden.
Dabei muss die Führungsfigur nicht wirklich einen Erfolg versprechenden Weg einschlagen, um die sozialen Missstände, die ihr den Aufstieg erleichtert haben, zu beheben. Die Massen entscheiden nicht rational, sondern emotional, wen sie zur Führungsfigur küren. „Politische Effektivität begründet sich nicht so sehr in nachprüfbaren guten oder schlechten Auswirkungen einer bestimmten Politik als vielmehr in der Fähigkeit des Amtsinhabers, fortgesetzt und unbegrenzt das Bild eines Mannes abzugeben, der weiß, was zu tun ist.“[20] Wichtig ist demzufolge nicht, handfeste Ergebnisse zu erzielen, sondern einfach die Bereitschaft der Massen, sich von dem Führer leiten zu lassen, nicht zu verlieren.
Max Weber unterscheidet in seiner Soziologie der Herrschaft zwischen legaler, traditioneller und charismatischer Herrschaft, wobei im Kontext der Erschaffung einer Heldenfigur vor allem der charismatische Herrscher interessant ist. So benutzt Weber selbst den Terminus Held, indem er schreibt, dass „dem charismatisch qualifizierten Führer als solchem Kraft persönlichen Vertrauens in Offenbarung, Helden tum oder Vorbildlichkeit im Umkreis der Geltung des Glaubens an dieses sein Charisma gehorcht.“[21] Nun ist evident, dass ein Held nicht zwangsläufig gewählter Herrscher sein muss. Dem stimmt Weber insofern zu, dass in seiner Kategorisierung nur der legale Herrscher durch Wahlen an die Macht kam. Charismatische Herrschaft muss nicht autoritär gedeutet werden und braucht eben nicht rechtlich legitimiert zu sein. Sie ist somit der Gegenpol zur legalen Herrschaft.[22] Es kann aber vorkommen, und dies ist besonders im Zusammenhang mit der Wahl Evo Morales’ ins Präsidentenamt von Bedeutung, dass die Anerkennung eines Führers aufgrund seines Charismas nachträglich legitimiert wird, zum Beispiel durch Wahlen.[23] Charisma beschreibt Weber als
[...] außeralltäglich geltende Qualität einer Persönlichkeit [...] um derentwillen sie als mit übernatürlichen oder übermenschlichen oder mindestens spezifisch außeralläglichen Eigenschaften [begabt] oder als gottgesandt oder als vorbildlich und deshalb als ‚Führer’ gewertet wird.[24]
Diese Persönlichkeitscharakteristika sind jedoch objektiv nicht feststellbar, sondern werden dem Führer subjektiv von seiner Anhängerschaft zugeschrieben. Hierbei sei nochmals auf die Nähe zur Religion verwiesen. Der Begriff Charisma stammt aus der christlichen Terminologie und bezeichnet das Gottgesandte im Propheten.[25]
Rudolf Speth beschreibt den Helden mit dem Terminus Trickster-Figur, um zu bezeichnen, dass ein Held in der Lage ist, die Widersprüche in der Gesellschaft in sich zu vereinen. „Der Trickster ist eine Figur, die aufgrund ihrer Fähigkeiten Gegensätze vermitteln kann. Sie hat von beiden Seiten etwas und bringt dadurch Bewegung in die starre Gegenüberstellung.“[26] Der Held kann somit seinen Anhängern glaubhaft versichern, dass er, und nur er, in der Lage ist, die gesellschaftliche Krise zu lösen. Ererscheint als Quasi-Messias.[27] Genau wie ein Messias benötigt auch der Held einen Gegenpol, einen Verräter. Er vermag sich nur in Abgrenzung zu einer anderen Person, die synonym für eine andere, feindliche Ideologie steht, zu definieren.[28]
2.4 Caudillos und Neopopulisten als Helden?
Das spanische Wort caudillo wird in der deutschen Presse gern als negativ konnotierte Referenz bezüglich neuer Führerfiguren in Lateinamerika, im Besonderen für Evo Morales und Hugo Chávez verwandt. Ein Blick ins Duden-Fremdwörterbuch zeigt die verschiedenen Sinnebenen des Begriffs auf, der zwar aus dem Spanischen mit Führer bzw. Anführer übersetzt wird, den man im Deutschen aber als Synonym für Diktator gebraucht.[29] Evo Morales wird von seinen Anhänger als caudillo bezeichnet. Nestór Taboada Terán schreibt über Evo Morales, dass er, „un caudillo surgido del fondo de la tierra”[30], das bolivianische Volk erweckte und befreite und stellt ihm als Vergleichsfigur den „caudillo negro Nelson Mandela“[31] gegenüber. In der deutschen Erfassung des Begriffs kann der stark negative Term caudillo kaum als Synonym für Held verwandt werden, im Spanischen ist dies jedoch anders und bedarf deshalb einer gesonderten Betrachtung.
Nikolaus Werz schreibt: „Caudillismo soll heißen ein Typus autoritärer Herrschaft, der nicht institutionell verankert ist, sondern primär auf den persönlichen Führungsqualitäten des bzw. der Herrschenden beruht.“[32] Dabei muss diese Herrschaft allerdings partiell von den Beherrschten akzeptiert werden. Somit steht der caudillo, dem charismatischen Führer Webers und der Heldenfigur sehr nahe, ausgenommen, dass im Sinne Webers charismatische Herrschaft durchaus auch antiautoritär vollzogen werden kann. In seinem Essay setzt Werz die Termini caudillo und Populist gleich und unterscheidet im lateinamerikanischen Kontext zwischen historisch-populistischen und neopopulistischen Regimen. Nach Werz übernimmt der caudillo oder Populist eine Mittlerrolle zwischen den in der Gesellschaft Marginalisierten und der Nation.
Die Anhänger des caudillos werden als Bewegung definiert, die sich klar von der alten, institutionalisierten Regierung abgrenzt und diese zusammen mit allen Bewegungsfernen als Gegner betrachtet.[33] Die Bewegung ist vorwiegend antikapitalistisch, aber auch anti-intellektuell eingestellt und zeichnet sich neben einem Führerkult durch das Vorhandensein politischer Mythen aus. Entscheidend für den lateinamerikanischen Populismus ist, dass die politischen Parteien und Gewerkschaften, anders als bei populistischen Bewegungen in Europa, nicht vorrangig der Führungsfigur den Weg geebnet haben, sondern „eine spezifische Allianz der Massen mit dem Führer besteht.“[34]
Populistische Regime bilden sich auf Grundlage von wirtschaftlichen Krisen sowie Enttäuschung mit Elitenherrschaft, wirtschaftlicher Bevorzugung ausländischer Unternehmen und extremen sozialen Spannungen. In den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts entstanden in vielen lateinamerikanischen Ländern populistische Regierungen oder zumindest populistische Parteien. Im beginnenden 21. Jahrhundert ist erneut ein Aufstieg von Bewegungen mit den gleichen Zielen, auf der Grundlage der Enttäuschung der politisch Ausgeschlossenen mit den elitären Regierungen, zu erkennen. In diesem Kontext ist ebenfalls der Machtgewinn Evo Morales’ zu bewerten, an dem sich auch sehr gut die Unterschiede neuer und alter populistischer Führungsfiguren erkennen lassen. Kamen die caudillos in den 60er und 70er Jahren noch überwiegend aus der Mittelschicht und der vorherrschenden ethnischen Klasse, entstammen die neuen Populisten oft selbst den sozial benachteiligten Schichten.[35]
An den unterschiedlichen Sinnebenen des Terms caudillo lässt sich gut erkennen, dass ein Held selten universell, dass der Held des einen, oft der Feind des anderen ist. Für seine Anhänger ist der antikapitalistische caudillo oder Neopopulist ein Held, mögen diese die Marginalisierten seines eigenen Landes oder die Anti-Globalisierungs-Bewegung in Europa oder den USA sein. Für die dem caudillo skeptisch gegenüberstehenden Industrienationen definiert sich das gleiche Wort negativ und symbolisiert den Antihelden par exellence.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Erschaffung einer Heldenfigur von einer gesellschaftlichen Krise begünstigt wird, da die Bevölkerung in einer instabilen Umgebung nach einer Orientierungsfigur sucht. Eine solche Figur qualifiziert sich durch persönliche Eigenschaften, allem voran Charisma, Außeralltäglichkeit und besondere Aufopferungsgabe. Dennoch sind diese Eigenschaften allein nicht ausschlaggebend.
Ein Held wird von außen konstruiert, indem Wünsche und Hoffnungen auf ihn projiziert werden und er diese erfüllt bzw. vorgibt, diese zu erfüllen. EineHeldenfigur ist nicht länger Person, sondern steht synonym für einen Sachverhalt, eine bestimmte Forderung oder ein Gesellschaftsmodell. Dabei kann der Held die Funktion einer säkularen Heiligenfigur einnehmen. Dennoch existiert er nicht separat von seiner Anhängerschaft, sondern ist klar mit ihr in Allianz verbunden.
In dieser Arbeit soll analysiert werden, inwieweit Evo Morales diesem theoretischen Heldenbild entspricht. Der anschließende historische Teil widmet sich der gesellschaftlichen Krise in Bolivien und deren Einfluss auf den Aufstieg Evo Morales’ zur Führungsfigur.
3. Redemokratisierung und Krise in Bolivien als Basis für den Aufstieg Evo Morales’
Die Eskalation der politischen Gewalt und des außerparlamentarischen Protestes im neuen Jahrtausend sowie die Kurzlebigkeit gewählter bolivianischer Regierungen in den letzten drei Jahren wird oft mit den gut 200 unlauteren Regierungswechseln, auf die Bolivien in seiner nur 180-jährigen Unabhängigkeit zurückblickt, in einen geschichtlichen Kontext gestellt.[36] Wäre dies der Fall, könnte man von einer Kontinuität der politischen Krise in Bolivien sprechen, von keiner außerordentlichen gesellschaftlichen Situation also, welche die Erschaffung einer neuen Heldenfigur begründen würde.
Es ist jedoch zu betonen, dass die Absetzungen von Präsident Sánchez deLozada im Jahr 2003 und von Präsident Carlos Mesa im Jahr 2005 in einem ganz anderen Kontext stehen, als die, meist vom Militär oder von unzufriedenen politischen Eliten ausgehenden, früheren Regierungswechsel. In den letzten Jahren hat sich die zuvor gesellschaftlich vollkommen ausgegrenzte arme Bevölkerungsmehrheit das ihr zustehende politische Gewicht außerhalb staatlicher Institutionen erkämpft und erstmals selbst Führungspersönlichkeiten abgestraft. Dies ist speziell im Kontext der formal-demokratischen Stabilität, die den Ausschreitungen des neuen Jahrtausends voranging, interessant. Zwischen 1985 und 2003 hat sich, erstmals in der postkolonialen Geschichte Boliviens, eine gewählte Regierung nach der anderen turnusgemäß im Amt abgelöst.[37] In eben dieser Zeit stabilisierte sich das Land auch ökonomisch, nachdem es zwischen 1983 und 1985 eine der schwersten Inflationen der Wirtschaftsgeschichte, mit Preissteigerungen von bis zu 25.000%, erlebt hatte. In den späten 80er Jahren machte sich Bolivien damit einen Namen als Musterschüler des Internationalen Währungsfonds (IWF).[38] Unter der Regierung Sánchez de Lozadas Mitte der 90er Jahre[39] mauserte sich Bolivien zum weltweit beachteten „Traumland der Reformen“.[40] Der so genannte Plande Todos der Lozada-Regierung festigte den Neoliberalismus mit der Privatisierung von Staatsunternehmen. Allerdings initiierte die neue Regierung auch bedeutende Gesellschaftsreformen. Die oft kritisierte politische Zentralisierung wurde durch die Ley de Participación Popular gelockert. Darüber hinaus wurde eine Verfassungsreform verabschiedet, die erstmals den „multiethnischen und plurikulturellen“ Charakter des Landes anerkannte.[41] Man unternahm den Versuch einer Bildungsreform, die nicht spanischsprachige Kinder mittels Grundlagenunterricht in ihren Muttersprachen besser ins Schulsystem integrieren sollte. Hierfür setzte sich insbesondere Vizepräsident Víctor Hugo Cárdenas ein, der als erster indigener Politiker Boliviens ein bedeutendes politisches Amt innehatte.[42]
Diese positiv zu bewertende Entwicklung verkehrte sich in der jüngsten bolivianischen Geschichte in ihr genaues Gegenteil. Das Land blickt 2006 auf schwere politische Unruhen und drei Präsidenten in drei Jahren zurück. Die Gründe hierfür gilt es im Folgenden näher zu beleuchten und es wird zu analysieren sein, inwieweit die gesellschaftliche Krise Ausmaße annahm, welche die Erschaffung einer Heldenfigur begünstigten.
3.1 Das Versagen des Neoliberalismus
Am 29. August 1985 hielt unter Präsident Victor Paz Estenssoro mit dem Dekret 21.060 der Neoliberalismus Einzug in Bolivien. Das sich ganz nach den Vorgaben des IWFs richtende Strukturanpassungsprogramm hatte die Konsolidierung des Haushalts als oberstes Ziel, wofür Subventionen gekürzt, Preise dereguliert, die Wechselkurse freigegeben und die Löhne eingefroren wurden.[43] Innerhalb eines Jahres verloren fast 70.000 staatliche Beschäftigte in Industrie und Bergbau ihre Stellen.[44] Dies führte zum einen zu einer massiven Schwächung der Gewerkschaften, zum anderen zu einer Ausweitung des legalen Kokaanbaus und der illegalen Kokainproduktion, die Arbeitslosen ein neues Auskommen bot.[45] Der Bedeutungsgewinn der Koka beschwingte auch die politische Karriere des Wortführers der Kokabauern Evo Morales. Er wurde zu einer Identifikationsfigur für die vom neoliberalen System und den USA kriminalisierten zehn Prozent der bolivianischen Bevölkerung, die auf den Kokaanbau und/oder Drogenhandel als Lebensgrundlage angewiesen sind.[46]
Dennoch wäre Morales in den 80ern nur schwerlich der politische Erfolg des Jahres 2005 zuzutrauen gewesen. Sein Aktionsraum war damals auf das Kokaanbaugebiet Chapare[47] beschränkt. Ein Großteil der Bevölkerung unterstützte, noch unter dem Schock der Hyperinflation stehend, ein mit harten sozialen Einschnitten verbundenes Wirtschaftsmodell. Für die politischen Eliten entwickelte sich der Neoliberalismus aufgrund der passiven Akzeptanz weiter Teile der Bevölkerung schnell zur alternativlosen Doktrin. Die drei großen Parteien MNR, ADN und MIR[48] lösten sich regelmäßig in Wahlallianzen ab, politisches Profil wurde zur Mangelware und wirtschaftliche Entscheidungen waren allen anderen Bereichen des politischen Lebens übergeordnet.[49] Diese so genannte concentración oder democracia pactada wurde im wissenschaftlichen Diskurs Boliviens als Zeichen einer gefestigten Demokratie gewertet. In einem so stark von unlauteren Regierungswechseln gebeutelten Land wurde die Fähigkeit, eine überlebensfähige politische Koalition bilden zu können, als herausragender Erfolg angesehen und die damit verbundene Eintönigkeit des politischen Spektrums kritiklos akzeptiert.[50] Selbst linke und/oder populistische Parteien, die tendenziell Systemverlierer ansprechen, wurden „neoliberalisiert“ und schieden somit als wirkliche Wahlalternativen für die marginalisierten Bevölkerungsschichten aus. Mitdem immer größer werdenden Popularitätsverlust des Modells Neoliberalismus wurden diese Lücken im politischen Einheitskanon deutlicher und die Suche nach Figuren und Parteien, die diese zu schließen vermochten, intensiver.[51]
Die Angst vor einer neuen Inflation konnte ein neoliberales Modell, das nichts zu erreichen vermochte als ökonomische Stabilität auf niedrigstem Niveau, allein nicht rechtfertigen. Die Lebensverhältnisse der breiten Masse der Bolivianer waren nach wie vor erschreckend. Nach UN-Angaben waren zu Beginn des neuen Jahrtausends, nach über 15 Jahren Strukturanpassung und Schuldenabbau, 50-60 % der Bevölkerung Boliviens arm und 20-30 % extrem arm, unter den autochthonen campesinos erreichte die Quote sogar 90 %. Die Arbeitslosenzahl hat sich im Laufe der 90er Jahre auf 8,5% mehr als verdoppelt, 60 % der Bolivianer sind unterbeschäftigt und die meisten arbeiten in informellen Professionen am Fiskus vorbei. Da bereits 40 % der Staatseinnahmen zur Schuldendeckung aufgebracht werden mussten, konnte der Staat kein soziales Auffangnetz für die Unterprivilegierten aufbauen und finanzieren. Das neoliberale System war somit zwar kurzzeitig in der Lage, Sympathien durch wirtschaftliche Stabilisierung niedriger Intensität zu gewinnen, über eine Zeitspanne von 20 Jahren war der neoliberale Konsens und der Schuldenabbau als oberste Staatsdoktrin jedoch nicht an die breite Bevölkerung vermittelbar.[52]
Hinzu kommt, dass ein Großteil der am Anfang beschriebenen Reformen unter Gonzalo Sánchez de Lozada, die Bolivien das irreführende Signum „Traumland der Reformen“ einbrachten, ihre großen Ziele nicht annährend erreichen konnten.[53] Zwarkann nicht bestritten werden, dass die unter der Mitte-Links-Regierung versuchte politische Wende das „Innovativste, [war, das] Bolivien seit langem erlebt hat“[54], dennoch ging auch dieser Reformprozess ganz uninnovativ von oben, von der politischen Elite aus, und konnte so nicht den Rückhalt der erstarkenden sozialen Bewegungen gewinnen.[55] Sánchez de Lozada versuchte seinen eigentlich neoliberalen Reformen, einen sozialen Geist einzuhauchen, scheiterte aber an der notorischen Unterfinanzierung und am plakativen Widerstand von Opposition und Gewerkschaften. Die Vernachlässigung und das teilweise Demontieren der Reformprojekte durch die nachfolgende Regierung unter Hugo Banzer taten ihr Übriges.[56] Außerdem privatisierte die Regierung Lozada wichtige Staatsunternehmen, deren Renationalisierung ein späteres Hauptziel der Protestbewegungen werden sollte. Einzig die eingeführte Ley de Participación Popular mauserte sich zu einem akzeptierten Teil der bolivianischen Gesellschaft und hatte in gewisser Weise am späteren ruhmlosen Abgang des Präsidenten Anteil. Das stärkere Gewicht der Provinzregierungen eröffnete Lokalpolitikern neue Möglichkeiten, sich politisch zu profilieren und ebnete so auch Sánchez de Lozadas späterem Widersacher Evo Morales den Weg nach La Paz.[57]
Es sind allerdings nicht die schlechten Lebensbedingungen allein, welche die politische Elite bei der Bevölkerung diskreditierte, sondern ebenso die offen herrschende Vetternwirtschaft. Parteiführer werden selten demokratisch innerhalb der Partei gewählt. Korruption ist gang und gäbe im Politzirkus und einen Parteiposten zu ergattern, dient eher der Absicherung der eigenen Existenz als der Verwirklichung von Idealen.[58] Ein bolivianisches Sprichwort deklariert die Politik deshalb auch zur „wichtigsten Industrie des Landes.“[59] Parteiprogrammatik fällt generell hinter charismatischen Führerpersönlichkeiten zurück, die sich ihren einmal „erkämpften“ Posten nur schwerlich wieder nehmen lassen. Politische Parteien werden in Bolivien, da bildet Evo Morales’ MAS keine Ausnahme, generell mit Führern, nicht mit Programmen, in Verbindung gebracht.[60] Sie rekrutieren ihre Wähler insbesondere aufgrund des sozialen Hintergrunds des Spitzenkandidaten und nicht, weil sie eine wirkliche politische Alternative zu bieten vermögen.[61]
[...]
[1] Jochen-Martin Gutsch, "Bolivien: Der globale Indio,"Der Spiegel Nr. 18 (2006): 119.
[2] Die Daten beruhen auf einer von der Autorin durchgeführten Titelstichwortsuche in den archivierten Onlineausgaben von FAZ und Welt der letzten zehn Jahre.
[3] Im Jahr 2002 erschien ein Artikel, im Jahr 2000 wurden zwei Artikel publiziert und in den anderen Jahren fand keine Berichterstattung statt.
[4] Conciencia de Patria.
[5] Movimiento al Socialimo; im Folgenden wird in Anlehnung an den spanischen Artikel von dem MAS gesprochen. Jedoch muss bemerkt werden, dass hierüber in der Fachliteratur keine Einigkeit besteht und in Zitaten deshalb auch gelegentlich von der MAS gesprochen wird.
[6] Vgl.: Murray Edelman, Politik als Ritual: Die symbolische Funktion staatlicher Institutionen und politischen Handelns (Frankfurt a.M./New York: Campus Verlag, 2005) 62.
[7] Gottfried Korff, "Personenkult und Kultpersonen: Bemerkungen zur profanen >>Heiligenverehrung<< im 20. Jahrhundert,"Personenkult und Heiligenverehrung, ed. Walter Kerber (München: Kindt Verlag, 1997): 167.
[8] Sebastian Hergott, Der Mythos Che Guevara : Sein Werk und die Wirkungsgeschichte in Lateinamerika (Marburg : Tectum-Verl, 2003) 38.
[9] So lebt zum Beispiel die Legende fort, dass, wenn der bei seiner Enthauptung abgetrennte Schädel Tupac Amarus II. je gefunden wird, die Revolution ihr siegreiches Ende nimmt. Vgl.: Thomas Pampuch / Agustín Echalar A., Bolivien (München: Beck, 1998) 41-44.
[10] Rudolf Speth, Nation und Revolution: Politische Mythen im 19.Jahrhundert (Opladen: Leske und Budrich, 2000) 138.
[11] Speth, Nation und Revolution, 124.
[12] Edelman, Politik als Ritual, 62.
[13] Klaus Harpprecht, "Große Vorsitzende, grell geschminkt,"Die Zeit Nr.39 (21.09.2006): 22.
[14] Ebd., 22.
[15] Vgl.: Korff, Personenkult und Kultpersonen, 175.
[16] Sidney Hook, Der Held in der Geschichte: Eine Untersuchung seiner Grenzen und Möglichkeiten (Nürnberg: Nest-Verlag, 1951) 13.
[17] Speth, Nation und Revolution, 121.
[18] Vgl.: Edelman, Politik als Ritual, 124.
[19] Vgl.: Hergott, Der Mythos Che Guevara , 39.
[20] Edelman, Politik als Ritual, 58.
[21] Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft: Grundriss der verstehenden Soziologie (Tübingen: J.C.B. Mohr, 1972) 124.
[22] Vgl.: Ebd., 140-41.
[23] Vgl.: Dirk Käseler, Max Weber: Eine Einführung in Leben, Werk und Wirkung (Frankfurt/New York:
Campus Verlag, 1995) 213.
[24] Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 140.
[25] Vgl.: Ebd., 124.
[26] Speth, Nation und Revolution, 58.
[27] Vgl.: Ebd., 58-59.
[28] Vgl.: Ebd., 130.
[29] Dies ist auch darauf zurückzuführen, dass Franco sich den Beinamen “El caudillo“ gab. Vgl.: Duden Fremdwörterbuch, 7. Auflage (Mannheim: Dudenverlag, 2001) 163.
[30] Nestór Taboada Terán, Tierra Martír: Del socialismo de David Torro al socialismo de Evo Morales (La Paz: Autor, 2006) 77.
[31] Ebd., 78.
[32] Nikolaus Werz, "Alte und neue Populisten in Lateinamerika,"Populismus: Populisten in Europa und Übersee, ed. Nikolas Werz (Opladen: Leske + Budrich, 2003) 47.
[33] Vgl.: Ebd., 47-51.
[34] Werz, Alte und neue Populisten in Lateinamerika, 49.
[35] Vgl.: Ebd. 51-63.
[36] Vgl.: Jonas Wolf, "Bolivien: Krise eines Friedensmodells,"Friedensgutachten (2004): 7.
[37] Vgl.: Ulrich Goedeking, "Auf dem Weg in die Liga der Krisenstaaten,"Die Andenregion: Neuer Krisenbogen in Lateinamerika, ed. Sabine Kurtenbach et.al. (Frankfurt a.M.: Vervuert, 2004): 297.
[38] Vgl.: Wilhelm Hofmeister, "Parteien und politischer Wandel in Bolivien,"Bolivien: Traumland der Reformen?, ed. Peter Birle (Hamburg: Institut für Iberoamerika-Kunde, 1996): 37.
[39] 1993-1997.
[40] Helene Zuber, "Bolivien: Traumland der Reformen,"Der Spiegel Nr. 45 (1996): 184-194.
[41] Vgl.: Peter Birle, Interne und externe Rahmenbedingungen der bolivianischen Politik,"Bolivien,
Birle (ed.): 15.
[42] Vgl.: Zuber, Bolivien: Traumland der Reformen, 192-194.
[43] Vgl.: Jonas Wolff, Demokratisierung als Risiko der Demokratie: Die Krise der Politik in Bolivien und Ecuador und die Rolle der indigenen Bewegungen (Frankfurt M.: Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, 2004) 13.
[44] Vgl.: Hofmeister, Parteien und politischer Wandel in Bolivien, 37-38.
[45] Vgl.: Wolff, Demokratisierung als Risiko der Demokratie, 13.
[46] Vgl.: Birle, Interne und externe Rahmenbedingungen der bolivianischen Politik, 21.
[47] Provinz im Norden des in Zentralbolivien gelegenen Departements Cochabamba.
[48] MNR: Movimiento Nacional Revolucionario, 1952 gegründet (Politiker: Víctor Paz Estenssoro; Hernán Siles Zuazo; Gonzalo Sánchez de Lozada) ; ADN: Acción Democrática Nacionalista, 1979 (Hugo Banzer; Jorge Quiroga) ; MIR: Movimiento de la Izquierda Revolucionaria, 1971 (Jaime Paz Zamora).
[49] Vgl.: Wolff, Demokratisierung als Risiko der Demokratie, 16.
[50] Vgl.: Goedeking, Auf dem Weg in die Liga der Krisenstaaten, 301-302.
[51] Vgl.: Ebd., 8.
[52] Vgl.: Goedeking, Auf dem Weg in die Liga der Krisenstaaten, 11-12.
[53] So gilt unter anderem die Bildungsreform als gescheitert. Vgl. dazu: Juliane Ströbele Gregor, "Bildungsreform und indianische Bewegung in Bolivien,"Bolivien, Birle: 62-73.
[54] Pampuch / Echalar A., Bolivien, 102.
[55] Vgl.: Ulrich Goedeking, "Partizipation und Blockade: Über das Funktionieren von Demokratie in Bolivien,"Neue Optionen lateinamerikanischer Politik: Analysen und Berichte, ed. Karin Gabbert (Münster: Westfälisches Dampfboot, 2005): 100.
[56] Die aus den Gewinnen der Erdgasindustrie unter Sánchez de Lozada gezahlte staatliche Rente, der Bonosol, wurde eingestellt und die Justizreform zum Teil rückgängig gemacht. Vgl.: Pampuch / Echalar A., Bolivien, 104.
[57] Vgl.: Wolff, Demokratisierung als Risiko der Demokratie, 17.
[58] Vgl.: Wolff, Demokratisierung als Risiko der Demokratie, 8.
[59] Zitiert nach Hofmeister, Parteien und politischer Wandel in Bolivien, 28.
[60] Vgl.: Goedeking, Partizipation und Blockade, 99.
[61] Vgl.: Goedeking, Auf dem Weg in die Liga der Krisenstaaten, 301.
- Quote paper
- Janine Schildt (Author), 2007, Evo Morales - Die Konstitution einer neuen lateinamerikanischen Heldenfigur, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/72101
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