Kampfsportarten erwecken bei vielen Menschen Unbehagen und Unsicherheiten. Sie werden oft in Verbindung mit Gewalt, Brutalität, Überlegenheit und Ausübung von Macht gesehen. Kung-Fu-Filme, die im Fernsehen oder Kino gezeigt werden, erhärten diese Einstellung häufig. Als Ziel von Kampfsport wird meistens die Zerstö-rung eines Menschen entweder zur persönlichen Verteidigung oder aufgrund eines körperlichen Angriffes vermutet. Hinzu kommt, dass sich viele Menschen unter „Kämpfern“ starke, muskulöse Männer vorstellen – wo sollen sich da Behinderte „behaupten“?
Da auch Judo zu den Kampfsportarten zählt, werden nicht selten solche Sichtweisen mit dem Judosport verknüpft. So scheint es unvorstellbar, dass anstatt Zerstörung die Erhaltung eines gesunden Körpers, statt individuellen Machtkämpfen die soziale Eingliederung, statt körperlicher Bedrohung die Wahrnehmung des eigenen Körpers im Vordergrund steht. Noch weniger vorstellbar war lange Zeit der Gedanke, Judo als pädagogische Fördermöglichkeit für Menschen mit erschwerten Bedingungen, sei es aufgrund problematischen Verhaltens, einer körperlichen, einer geistigen oder einer Sinnesbehinderung, zu betrachten.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Das Phänomen der geistigen Behinderung
2.1. Begriffsbestimmung
2.1.1. Stigmatisierung durch den Begriff „Geistig Behindert“
2.1.2. Ursachen von geistiger Behinderung
2.2. Die Schülerschaft im Förderzentrum mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung
2.3. Die Motorik von Menschen mit einer geistigen Behinderung
2.3.1. Untersuchungen zur Motorik von Menschen mit einer geistigen Behinderung
2.3.2. Ursachen der Motorischen Defizite
2.3.3. Weitere Beeinträchtigungen der Motorik
2.3.4. Zusammenfassung
3. Behinderten- und Rehabilitationssport
3.1. Begriffsbestimmung
3.2. Der organisierte Behindertensport
3.2.1. Sinnorientierung im Behindertensport
3.2.2. Rehabilitationssport
3.2.3. Ziele und Zielgruppen des Behindertensports
3.3. Sport für Menschen mit einer geistigen Behinderung
3.4. Sport im Förderzentrum mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwickl.
3.5. Zusammenfassung
4. Die Sportart Judo
4.1. Was ist Judo?
4.2. Geschichte
4.2.1. Ursprung und Entwicklung des Judosports
4.2.2. Entwicklung in Deutschland
4.3. Prinzipien und geistige Grundlagen
4.4. Inhalte und Ziele der Sportart Judo
4.4.1. Inhalte
4.4.2. Übungs- und Wettkampfformen
4.4.3. Ziele im Judosport
4.4.4. Methodische Grundzüge des Judounterrichts
5. Judo für Menschen mit Behinderungen
5.1. Entstehung
5.2. Judo als Maßnahme des Behindertensports
5.2.1. Vermutete Gefährlichkeit der Sportart Judo
5.2.2. Möglichkeiten des Judotrainings für behinderte Menschen
5.2.3. Spezielle Judo- und Wettkampfregeln
5.2.4. Beispiele für Judoprojekte mit behinderten Menschen
5.3. Judo für Menschen mit Behinderung in Bayern
5.3.1. Judoangebote in München
5.3.2. Wettkämpfe
5.4. Zusammenfassung
6. Fördermöglichkeiten mit Judo für Menschen mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung
6.1. Grafische Übersicht
6.2. Sensorische Integrationsförderung im Judo
6.2.1. Definition
6.2.2. Bereiche der Wahrnehmung
6.2.3. Möglichkeiten im Judo
6.2.3.1. Vestibuläre Wahrnehmung
6.2.3.2. Taktile Wahrnehmung
6.2.3.3. Kinästhetische Wahrnehmung
6.2.3.4. Zusammenarbeit der Sinne
6.2.4. Zusammenfassung
6.3. Psychomotorische Förderung
6.3.1. Definition, Ziele und Inhalte
6.3.2. Psychomotorik und geistige Behinderung
6.3.3. Gemeinsame Ziele von Judo und Psychomotorik
6.3.4. Förderbereiche
6.3.4.1. Bewegungskoordination
6.3.4.2. Bewegungsgenauigkeit
6.3.4.3. Antizipation
6.3.4.4. Körperschema
6.3.4.5. Haltung
6.3.5. Zusammenfassung
6.4. Sportmotorische Förderung
6.4.1. Ausdauer
6.4.2. Kraft
6.4.3. Schnelligkeit
6.4.4. Flexibilität und Gewandtheit
6.4.5. Zusammenfassung
6.5. Förderung im sozialen Bereich
6.5.1. Beziehungsaspekte im Judo
6.5.2. Die Rolle des Judotrainers
6.5.3. Judo als Bewegungsdialog und dialogisches Prinzip
6.5.4. Die interaktionistische Rollentheorie und Judo
6.5.5. Bedeutung von Ritualen und Struktur
6.5.6. Integration und Normalisierung
6.5.7. Zusammenfassung
6.6. Weitere Fördermöglichkeiten
6.6.1. Die Bedeutung des Wettkampfs
6.6.2. Gewaltprävention
6.6.3. Durchsetzungskraft und Selbstverteidigung
6.6.4. Selbstversorgung des eigenen Körpers
6.6.5. Kognitive Beanspruchung
6.6.6. Zugang zur Bewegung (wieder) erschließen
6.7. Zusammenfassung und Bewertung
7. Praxisteil
7.1. Exemplarischer Ablauf einer Judostunde
7.2. Fallbeispiel
7.3. Die Bedeutung von Judo für Teilnehmer der Judokurse
7.4. Wirkung nach außen
8. Videobeispiele
9. Schlussgedanken und Ausblick
10. Quellenangaben
10.1. Literaturverzeichnis
10.2. Internetquellen
10.3. Bildquellennachweis
„Was auch das Ziel ist, es kann am Besten
erreicht werden durch höchsten und wirksamsten
Gebrauch von Geist und Körper für diesen Zweck.“[1]
Professor Jigoro Kano, Begründer des Judo (1860 - 1938)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
1. Einleitung
Kampfsportarten erwecken bei vielen Menschen Unbehagen und Unsicherheiten. Sie werden oft in Verbindung mit Gewalt, Brutalität, Überlegenheit und Ausübung von Macht gesehen. Kung-Fu-Filme, die im Fernsehen oder Kino gezeigt werden, erhärten diese Einstellung häufig. Als Ziel von Kampfsport wird meistens die Zerstörung eines Menschen entweder zur persönlichen Verteidigung oder aufgrund eines körperlichen Angriffes vermutet. Hinzu kommt, dass sich viele Menschen unter „Kämpfern“ starke, muskulöse Männer vorstellen – wo sollen sich da Behinderte „behaupten“?
Da auch Judo zu den Kampfsportarten zählt, werden nicht selten solche Sichtweisen mit dem Judosport verknüpft. So scheint es unvorstellbar, dass anstatt Zerstörung die Erhaltung eines gesunden Körpers, statt individuellen Machtkämpfen die soziale Eingliederung, statt körperlicher Bedrohung die Wahrnehmung des eigenen Körpers im Vordergrund steht. Noch weniger vorstellbar war lange Zeit der Gedanke, Judo als pädagogische Fördermöglichkeit für Menschen mit erschwerten Bedingungen, sei es aufgrund problematischen Verhaltens, einer körperlichen, einer geistigen oder einer Sinnesbehinderung, zu betrachten.
Im Zuge meiner Tätigkeit im Heilpädagogischen Centrum Augustinum (HPCA) in München und meinem Kontakt zu Alwin Brenner, dem dortigen Judotrainer, konnte ich einen kleinen Einblick in die verschiedenen Möglichkeiten der Förderung durch Judo gewinnen, die ich in dieser Arbeit ausführlich und vor allem theoretisch fundiert darstellen möchte. Dieses Thema hat mich wohl gerade deswegen so stark interessiert, weil ich als Kind einmal selbst aktiv Judo betrieben habe.
Bei meinen Recherchen wurde mir immer wieder bewusst, dass es im Sport für Menschen mit einem speziellen Förderbedarf weniger darauf ankommt, was diese sportlich leisten können, als vielmehr darauf, was der Sport für die Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen zu leisten imstande ist.
Neben den theoretischen Ansätzen der vorliegenden Arbeit war es mir außerdem ein Anliegen, den Judosport mit Behinderten so lebensnah wie möglich darzustellen. Aus diesem Grund enthält diese Arbeit einen Teil mit Beispielen aus der Praxis, sowie einen Videofilm, den ich in Zusammenarbeit mit Alwin Brenner entwickeln durfte.
2. Das Phänomen der geistigen Behinderung
Bevor ich mich jedoch näher mit der eigentlichen Thematik beschäftige, möchte ich zuerst einmal den Personenkreis etwas genauer betrachten, mit dem wir es zu tun haben, wenn wir von „Sport für Menschen mit einer geistigen Behinderung“ sprechen. Da eine ausführliche Betrachtung im Rahmen dieser Arbeit zu weit führen würde, beschränke ich mich im Folgenden jedoch auf einige wichtige Aspekte.
2.1. Begriffsbestimmung
Gegen Ende der 1950er Jahre wurde der Begriff „Geistige Behinderung“ von der Elternvereinigung Lebenshilfe geprägt. Grund für die Einführung dieses Begriffs war zum einen ein erstrebter Anschluss an die anglo-amerikanische Terminologie der „mental retardation“, zum anderen sollten diffamierende Bezeichnungen wie „Schwachsinn“, „Blödsinn“, „Idiotie“ oder „Oligophrenie“ abgelöst werden.[2] Der Begriff stellt ein Konstrukt dar, das helfen soll einen bestimmten Personenkreis zu fassen. Doch „so geläufig nun auch die Bezeichnung ‚Geistige Behinderung’ inzwischen geworden ist, von einem bündig klaren Begriff, dessen Inhalt sich überprüfen (operationalisieren) lässt, kann keine Rede sein.“[3]
SPECK definiert den Begriff „Behinderung“ als einen komplexen Begriff, der aus verschiedenen Teilbegriffen resultiert:[4]
- aus einer organischen Schädigung (Zentralnervensystem),
- aus individuellen Persönlichkeitsfaktoren und
- aus sozialen Bedingungen und Einwirkungen.
„Erst das Zusammenwirken dieser Teilfaktoren ergibt das, was man hierzulande eine Behinderung nennt […]. Im Deutschen wird sowohl dieses Begriffsgesamt als geistige Behinderung bezeichnet als auch der Teilfaktor ‚Schädigung des Zentralnervensystems’ (intellektuelle Schädigung).“[5]
In der gängigen Literatur finden sich viele Bemühungen, den Personenkreis der „geistig Behinderten“ näher zu fassen. Äußerst bedenklich erscheint dabei die defizitorientierte Sichtweise, wie sie z.B. noch in der ICIDH 1980 dargestellt wurde.[6] Solche Erklärmodelle stellen die dauerhafte Schädigung der Intelligenz in den Vordergrund. In der modernen Geistigbehindertenpädagogik versucht man jedoch mittlerweile, diese defizitäre Sichtweise des Begriffs „Geistige Behinderung“ zu überwinden, indem man die kategoriale Festschreibung als „geistig Behinderte“ vermeidet und eine „allgemeine Kategoriebezeichnung wie ‚Kinder’, ‚Erwachsene’, ‚Schüler’, ‚Männer’, ‚Frauen’ voranstellt, die Behindertenproblematik wird als sekundäres Merkmal oder besser als Kennzeichnung einer besonderen Lebenslagenproblematik beschreibend hinzugefügt […]“[7]
Zusammenfassend kann man sagen, dass „das Verständnis und die Definition von ‚geistiger Behinderung’ einem permanenten Wandel [unterliegt], der mit der Veränderung gesellschaftlicher und individueller Wertvorstellungen einhergeht.“[8]
2.1.1. Stigmatisierung durch den Begriff „Geistig Behindert“
Besonders Menschen gegenüber, die als „geistig behindert“ bezeichnet werden, bestehen heute immer noch starke Vorurteile. Die relativ strenge Isolierung von geistig behinderten Menschen in Sonderschulen und anderen Behinderteneinrichtungen, die SPECK bereits 1974 beschreibt und die auch heute noch in ähnlich starker Form vorhanden ist, bewirkt, dass sich der Kontakt von geistig behinderten und nicht behinderten Menschen auf ein Minimum beschränkt.[9]
Durch den oben genannten defizitären Gebrauch der Bezeichnung „geistig behindert“ wird die „Sonderbarkeit“ dieser Menschen noch unterstrichen. Zwar werden gerade in letzter Zeit, wie bereits erwähnt, neue Begrifflichkeiten gesucht und man hat begriffen, dass es nicht die geistige Behinderung geben kann, sondern dass diese individuell verschieden ist. Aber dennoch bleibt auch unter dieser individuellen Sichtweise der Menschen mit einer geistigen Behinderung die Tendenz der Stigmatisierung durch den Begriff vorhanden. SPECK führt dazu aus, dass „das menschliche Problem der Stigmatisierung […] sich sicherlich nicht dadurch lösen [lässt], dass man lediglich die Begriffe ausmerzt, die zur Diskriminierung führen können.“[10]
2.1.2. Ursachen von geistiger Behinderung
Die Ursachen für eine geistige Behinderung können vielfältig sein. FORNEFELD gliedert nach prä-, peri- und postnatalen Schädigungsformen:[11]
Pränatal entstandene Formen geistiger Behinderung
- Genmutationen als Ursache geistiger Behinderung (z.B. Stoffwechselstörungen, Tuberöse Sklerose, Rett-Syndrom)
- Fehlbildungs-Retardierungs-Syndrom (z.B. Angelman-Syndrom)
- Fehlbildung des Nervenssystems (z.B. Makro- und Mikrozephalie)
- Chromosomenanomalien, die zu geistiger Behinderung führen können (z.B. Down-Syndrom, Katzenschrei-Syndrom, Klinefelter-Syndrom)
- exogen verursachte pränatale Entwicklungsstörungen, die zu geistiger Behinderung führen können (z.B. HIV.Infektion, chemische Einwirkungen wie Alkohol und Medikamente, Strahlen und andere Umweltbelastungen)
- Idiopathische geistige Behinderung (unklare Ätiologie und Pathogenese)
Perinatale Komplikationen als Ursache geistiger Behinderung
- Geburtstrauma (Verletzungen des Gehirns während der Geburt z.B. durch starke Verformung des Kopfes)
- Hypoxisch-ischämische Enzephalophatie (Sauerstoffmangelversorgung des Gehirns während der Geburt)
- Frühgeburt (unreife Organentwicklung)
- Erkrankungen des Neugeborenen (z.B. Atemstörungen, neonatale Meningitis oder Blutgruppenunverträglichkeit)
Postnatale Ursachen geistiger Behinderung
- Entzündliche Erkrankungen des Zentralnervensystems wie Meningitis (Hirnhautentzündung) oder Enzephalitis (Gehirnentzündung)
- Schädel-Hirn-Traumen (z.B. Hirnverletzungen durch Unfälle oder Gewalteinwirkung auf den Schädel)
- Hirntumore (Geschwülste des Gehirns und seiner Hüllen)
- Hirnschädigungen durch Vergiftungen (Intoxikation), Sauerstoffmangel (Hypoxie), Stoffwechselkrisen
Geistige Behinderung ist also kein statischer Zustand, denn sie kann in jeder Lebensphase entstehen. So kann es auch nach einem zunächst ungestörten Entwicklungsverlauf zu einem fortschreitenden Verlust der erworbenen intellektuellen Fähigkeiten kommen (z.B. Alzheimer Krankheit).[12]
Das alte Vorurteil, geistige Behinderung sei vererbt, kann außerdem nicht bestätigt werden. ZERBIN-RÜDIN geht davon aus, dass nur etwa 5-7% der auftretenden geistigen Behinderung erbbedingt sind.[13]
2.2. Die Schülerschaft im Förderzentrum mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung
In Deutschland leben zurzeit 6,6 Millionen schwerbehinderte Menschen.[14] Auf etwa 9% trifft die Diagnose „geistige oder seelische Behinderung“ zu.[15] Von insgesamt 492.721 Schülern mit einem besonderen Förderbedarf haben 72.277 Schüler den Förderschwerpunkt geistige Entwicklung.[16] In Bayern gibt es an Förderzentren mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung insgesamt 10.658 Schüler. Nach Nordrhein-Westfalen (16.349 Schüler) ist Bayern somit das Bundesland mit den meisten Schülern mit diesem Förderschwerpunkt.[17]
Zur Zielgruppe des Förderzentrums gehören Schüler/innen mit Beeinträchtigungen im Bereich der geistigen Entwicklung, deren Förderung in einer allgemeinen Schule nicht ausreichend gewährleistet werden kann. Die geistigen Beeinträchtigungen gehen oft einher mit körperlichen, psychischen oder sozialen Beeinträchtigungen. Auch Kinder mit schwerer Mehrfachbehinderung gehören zur Zielgruppe des Förderzentrums.[18]
Allgemein lässt sich sagen, dass die Schülerinnen und Schüler im Förderzentrum mit dem Förderschwerpunk geistige Entwicklung eine sehr heterogene Lerngruppe darstellen. Diese Vielfalt ist durch unterschiedliche Faktoren bedingt. Im Wesentlichen sind dies:[19]
- Komplexität und Ausmaß der Beeinträchtigungen
- Aufwachsen in verschiedenen familiären und soziokulturellen Situationen
- Herkunft aus unterschiedlichen Ländern, Religionen und Kulturkreisen
- Förderung in verschiedenen vorschulischen Einrichtungen
- ungleiche Schullaufbahnen
Die Streubreite der Lernniveaus reicht von Schülern, die nur ansatzweise kognitive Leistungen und kommunikative Möglichkeiten erworben haben, bis hin zu Schülern an der Grenze zur Lernbehinderung, die eine relativ selbständige Lebensführung erreichen. Wichtig ist es, zu erkennen und die pädagogische Arbeit auch darauf auszurichten, dass geistige Behinderung, wie oben bereits erwähnt, kein statischer Zustand ist, sondern sich wandeln kann. Viele geistig behinderte Menschen erreichen erst im Erwachsenenalter, also lange nach ihrer Schulzeit, ihren Lernhöhepunkt. Die Erwachsenenbildung hat aus diesem Grund einen hohen Stellenwert.[20]
2.3. Die Motorik von Menschen mit einer geistigen Behinderung
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 1: Menschen mit Down-Sydnrom
Unter menschlicher Motorik verstehen wir die Gesamtheit der Funktionen des menschlichen Bewegungslebens. Die menschliche Motorik umfasst als wichtige Bereiche Bewegungsbegabung, Bewegungserfahrung, neurophysiologische Bewegungsentwicklung, Bewegungsausführung, motorische Eigenschaften und Fähigkeiten.[21]
Behinderungen der Motorik kommen bei Menschen mit einer geistigen Behinderung sehr häufig vor. Bei allen motorisch rückständigen, geistig behinderten Kindern kann man einen generellen Mangel an Bewegungsdrang, Nachahmungsdrang und Spielfreude feststellen. Dennoch besitzt, wie KIPHARD erläutert, das quantitative Kriterium „motorische Rückständigkeit“ keine Gültigkeit für den gesamten Bereich der geistig Behinderten. Keinesfalls handle es sich bei diesen Menschen generell um „Spätentwickler“.[22]
Grundsätzlich kann man laut FETZ nämlich sagen, dass sich der Aufbau von Bewegungsmustern bei geistig Behinderten in der gleichen Reihenfolge vollzieht wie bei Nichtbehinderten. Sie durchlaufen die Entwicklungsphasen allerdings meist stark verzögert. Die Entwicklungsrückstände betragen bei komplexen motorischen Aufgaben für 8-14 jährige Geistigbehinderte 3-6 Jahre, wobei ein Leistungsanstieg in der motorischen Entwicklung bis zum 18. Lebensjahr zu beobachten ist.[23] Das Niveau und der Verlauf der gesamten motorischen Entwicklung hängen von der Art und dem Schweregrad der geistigen Beeinträchtigung ab.[24]
Typisch für die motorische Lernbehinderung kognitiv retardierter Kinder sind ihre Wahrnehmungsstörungen sowie die verminderte Fähigkeit zur Wahrnehmungsselektion (Wahrnehmungsauswahl). Sie nehmen nur ungenau wahr, bemerken oft nur unwichtige Teile und reagieren auf diese Teilwahrnehmung. Daraus erklärt sich das anfängliche Zögern in ungewohnten Bewegungssituationen, dem dann plötzlich unbedachte Aktionsimpulse folgen. Aufgrund dieser Störungen in der Interaktion von Wahrnehmung und Bewegung fehlen Geistigbehinderten wichtige Grundvoraussetzungen für das motorische Lernen.[25]
Nach LIPMANN leiden sie vor allem aber auch an einem mangelnden Bewegungsgedächtnis. Während sie sich Namen und anderes gut merken können, haben sie Schwierigkeiten, motorische Vorgänge im Gedächtnis zu speichern.[26]
2.3.1. Untersuchungen zur Motorik von Menschen mit einer geistigen Behinderung
Im Körperkoordinationstest für Kinder (KTK) von KIPHARD und SCHILLING erbringen geistig Behinderte zu 98% Minderleistungen, und bei einem Drittel sind sogar nur Nullergebnisse festzustellen.[27] Wie RAPP und SCHODER zeigen konnten, holen geistig Behinderte jedoch bei einem entsprechenden Übungsangebot noch im Alter von 14, in Einzelfällen sogar bis 16 Jahren, motorische Entwicklung (gemessen am KTK) auf.[28]
Vergleichende Untersuchungen der letzten Jahrzehnte zwischen Nichtbehinderten und Geistigbehinderten machen deutlich, dass bei dieser Behindertengruppe nicht nur quantitative Mängel im Bewegungsbereich vorliegen. Es wurden außerdem erhebliche Mängel in der Qualität der Bewegungsausführung, aber auch in der motorischen Lernfähigkeit, festgestellt. Die Muskulatur dieser Kinder ist meist schlaff (hypoton), ihre Bewegungen sind verlangsamt, die Gleichgewichtserhaltung macht Schwierigkeiten. Der Bewegungsverlauf ist unbeholfen, plump, schwerfällig, hölzern, steif, träge und ausdrucksarm. Es besteht die Tendenz zu starken gesamt-körperlichen Mitbewegungen.[29]
Bewegungsstörungen treten gerade dann auf, wenn die Kinder ungewohnten motorischen Situationen gegenüberstehen. Die Alltagsmotorik erscheint dagegen weniger behindert. Nach der Checkliste motorischer Verhaltensweisen (CMV) von SCHILLING waren nur etwa 50% der geistigbehinderten Kinder bewegungsauffällig.[30]
2.3.2. Ursachen der Motorischen Defizite
Auf die Auffälligkeiten und Defizite in der motorischen Entwicklung und in Bewegungsabläufen geistig behinderter Menschen wird von verschiedenen Autoren hingewiesen. Nach SCHILLING wird der Aufbau der motorischen Muster zweifach blockiert. Erstens verlieren die äußeren Bewegungsstimuli ihren Reiz und zweitens sind die inneren Bewegungsreize vermindert. Die behinderten Kinder bleiben bei ihren Lernleistungen unter der maximalen Ausnutzung ihrer Kapazität, da ihnen die Bewegungsreize aus der Umwelt fehlen. Dies zieht eine verstärkte Verlangsamung der Entwicklungsprozesse im sensomotorischen, motorischen, emotionalen und kognitiven Bereich nach sich.[31]
Für RIEDER gilt die „motorische Auffälligkeit […] generell als ein Bestandteil geistiger Behinderung“. Diese scheinbar objektive Auffälligkeit wird aus dem Vergleich zum „normalentwickelten“ Kind gewonnen. Dadurch werden für RIEDER „in der Qualität der Bewegungsabläufe größere Mängel“ in der Alltags- und Ausdrucksmotorik sichtbar.[32]
KIPHARD vermutet, dass die motorischen Auffälligkeiten nur zu einem geringen Teil Ausdruck der minderen intellektuellen Leistungsfähigkeit geistig behinderter Kinder sind: „Ich würde nicht unbedingt von einer typischen „Schwachsinnsmotorik“ sprechen. Zuallermeist gehen die recht undifferenzierten, zum Teil stereotypen, aber auch vielfach bizarren Bewegungsmuster geistigbehinderter Kinder auf Störungen sowohl der Hirnrinde als auch der Stammhirnbereiche zurück.“[33]
Für SCHILLING jedoch gibt es in der Regel sehr hohe Korrelationen zwischen motorischen und kognitiven Leistungen bei geistig behinderten Menschen, die in allen wesentlichen Persönlichkeitsbereichen einem niedrigen Leistungsstand entsprechen. Die motorische Leistung nimmt in den meisten Fällen, unabhängig vom Lebensalter, mit abnehmendem Intelligenzquotienten ab. Es können jedoch einfache motorische Muster bei mangelhafter Intelligenz durch hohe Übungsfrequenz erlernt werden. Diese motorischen Muster werden quasi automatisiert. Das motorische Training dient dazu, die sensomotorische und sprachliche Entwicklungsphase nachzuvollziehen, was wiederum die kognitive Entwicklung fördert. Laut SCHILLING ist daher eine hohe Wechselbeziehung zwischen Intelligenz und Motorik anzunehmen.[34]
2.3.3. Weitere Beeinträchtigungen der Motorik
Die Motorik von Menschen mit einer geistigen Behinderung kann noch durch weitere Faktoren beeinflusst werden. Durch Bewegungsmangelerscheinungen neigen beispielsweise viele geistigbehinderte Menschen zu Übergewicht, was negative Einflüsse auf die motorische Leistungsfähigkeit zur Folge hat. Aber auch hypotone Muskulatur oder hyperflexible Gelenke, wie zum Beispiel häufig beim Down-Syndrom, beeinträchtigen die Motorik.[35]
Zusätzlich können bei einer geistigen Behinderung weitere Störungen hinzukommen, wie beispielsweise zerebrale Anfälle (Epilepsie). Diese treten bei Menschen mit geistiger Behinderung aufgrund der Verletzung des Gehirns häufiger als in der Allgemeinbevölkerung auf (20 - 30% gegenüber 0,3 - 0,4%). Aufgrund der Schädigung des Gehirns kann es auch zu zerebralen Bewegungsstörungen (Cerebralparesen) oder zu Wahrnehmungsstörungen (Perzeptionsstörungen) kommen.[36]
Weitere Folgebeeinträchtigungen, die ihre Ursache in der Hirnschädigung haben können, sind psychische bzw. psychiatrische Störungen und Krankheitsbilder. Dies können beispielsweise Psychosen, Hyperaktivität und Aufmerksamkeitsstörungen, Stereotypien und Automutilation, Enuresis, Enkopresis oder Essstörungen sein.[37]
2.3.4. Zusammenfassung
Gerade die motorische Leistungsfähigkeit geistig Behinderter ist im Allgemeinen steigerungsfähiger als die kognitive[38], womit sich der besondere Stellenwert von Bewegung, Sport und Spiel für eine umfassende Persönlichkeitsförderung ableitet. „Zentraler Aspekt ist die Erweiterung der Handlungskompetenz, die zu einem Zuwachs an Selbständigkeit und sozialer Kompetenz führen kann.“[39] Gerade Bewegung ist für Menschen mit einer geistigen Behinderung unmittelbar nachfühlbar, da sie eine Auseinandersetzung mit sich selbst, dem Partner, den Räumlichkeiten und Situationen erfordert. Bewegung- und sportspezifische Maßnahmen konzentrieren sich daher auf die Aktivierung von motorischen, kognitiven und kommunikativen Funktionen und Prozessen.[40]
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 2: Läuferin mit Down-Syndrom bei den Special Olympics
3. Behinderten- und Rehabilitationssport
Nachdem wir nun die Menschen mit dem Förderbedarf geistige Entwicklung, sowie ihre Fähigkeiten und Defizite im Bereich der Motorik abgegrenzt haben, möchte ich nun den Sport mit behinderten Menschen betrachten. Was ist Sport und welche Möglichkeiten Sport zu treiben haben Menschen mit Behinderungen?
3.1. Begriffsbestimmung
Eine kurze und prägnante Definition des Begriffes „Sport“ erscheint aufgrund der vielfältigen Variablen und Erscheinungsformen unmöglich. Stellvertretend sei hier die Definition von BERNETT genannt, der unter Sport „eine der modernen Zeit angepasste, spezifische Einstellung zu Leibesübungen“ versteht. Diese „spezifischen Einstellungen“ äußern sich laut BERNETT im Leistungswillen und im Leistungsvergleich.[41]
Diese Definition, die auch heute noch nichts von ihrer Wirkung verloren hat, ist typisch und einseitig auf den Leistungsaspekt und das Erreichen von Höchstleistungen hin ausgerichtet. Im Behindertensport kann diese Definition deshalb kaum von besonderer Bedeutung sein. KOPP, der sich mit Sport und Verhaltensauffälligkeiten auseinander gesetzt hat, legt eine Definition mit anderer Zielsetzung vor: Verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche sollen im Sport „in einem vorsichtigen, auf ihrem Funktionsniveau aufbauenden Üben eine persönliche Leistungssteigerung und damit eine Erhöhung ihres Selbstvertrauens und -wertgefühls erfahren“.[42] Diese Aussage lässt sich auch auf andere Behindertengruppen übertragen. Sport wird hier also nicht nur als Leistungsvergleich gesehen, sondern vor allem als individuelle Bereicherung. Es wird nicht danach gefragt, was Schüler im Sport leisten können, sondern was der Sport für die Schüler leistet.
RIEDER, der sich viel mit dem Thema „Sporttherapie“ beschäftigt hat, definiert Sport „als Kombination von Bewegung, Spiel, Sport und körperlicher Aktivität […], wobei die Alltagsmotorik eine bedeutsame Rolle spielt“.[43] Zu Sporttherapie zählen für RIEDER „Schwimmen, Wandern, Radtouren, Zelten, kleine und große Spiele, Geländespiele, Turnen, Gymnastik, Laufen, Springen, Werfen, Trampolinspringen, Ringen, Boxen, Klettern, Schlittenfahren, Rudern, Eislauf, Skilauf, Bergwandern und Reiten“.[44] Dies sind Inhalte, die im Freizeitbereich unserer Gesellschaft tagtäglich Anwendung finden können. Behinderte Menschen sollen also nicht mit einem speziellen Instrumentarium konfrontiert und „therapiert“ werden. Vielmehr sollen übliche, ihnen bekannte sportliche Betätigungen genutzt und eingesetzt werden.
3.2. Der organisierte Behindertensport
Der „professionelle“ Behindertensport ist in Deutschland überwiegend im vereinsorientierten Deutschen Behinderten-Sportverband (DBS) organisiert. Der DBS ist einer der 55 Spitzenverbände des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB).[45] Der DOSB (damals noch Deutscher Sportbund DSB) stellte sich 1972 mit dem Programm „Sport für alle“ die Aufgabe, Sportangebote für alle Bürger zugänglich zu machen.[46] Damit war der DOSB auch die Verpflichtung eingegangen, sich um die große Gruppe der behinderten Menschen zu kümmern.
Der DBS ist mit 210.000 Aktiven[47] in 2.800 Behindertensport-Vereinen der größte Träger des Behindertensports.[48] Dennoch repräsentiert er damit nur etwa 1% der gesamten Mitglieder des DOSB (27 Mio. Mitglieder).[49]
In Bayern gibt es den DBS Landesverband, der sich Behinderten- und Versehrten-Sportverband Bayern e.V. (BVS) nennt. Nach eigenen Aussagen gehört er mit ca. 40.000 Mitgliedern in 385 Vereinen in 7 Bezirken zu den größten Behindertensportverbänden in Deutschland.[50]
Beim Durchsuchen der diversen Webseiten konnte ich feststellen, dass im Behindertensport die gleichen Sportarten betrieben werden können, wie im Sportbetrieb der Nichtbehinderten. Viele Sportarten werden durch Modifikationen des Regelwerkes und den Behinderungen angepasste Sportgeräte behinderten Menschen zugänglich gemacht.
3.2.1. Sinnorientierung im Behindertensport
Für STAUTNER stellt sich die Abgrenzung des Behindertensports zum Sport Nichtbehinderter wie folgt dar: „Behindertensport ist in systemtheoretischer Sicht nicht dadurch gekennzeichnet, dass er von Behinderten betrieben wird, dass eine behindertenspezifische Bewegung vollzogen wird oder dass bestimmte Organisationsmaßnahmen vorliegen, sondern Behindertensport ist gegenüber anderen Systemen im Sport durch eine Sinnorientierung abgrenzbar.“[51]
So stehen im Behindertensport die Sinnorientierungen Leistung und Wettkampf zwar nicht im Vordergrund, sind aber dennoch wichtig. Oftmals sind die behinderten (Leistungs-)Sportler in allgemeine Sportvereine Nichtbehinderter integriert.
Zusammenfassend kann man sagen, dass der gesamte Behindertensport die Sinnbereiche Gesundheit und Körperlichkeit, Geselligkeit, Miteinander und Gemeinschaft anspricht. Doch wie schon erwähnt spielen auch Leistung und Wettkampf eine Rolle. Bezieht man den Rehabilitationssport noch mit ein, dann werden diese Sinnbereiche noch durch den Bereich Therapie erweitert.[52]
3.2.2. Rehabilitationssport
Rehabilitationssport definiert sich im Sinne des sozialen Leistungsrechts als ergänzende Leistung zur Rehabilitation, die im Rahmen der einzelnen Sozialleistungsbereiche geltenden Vorschriften den Behinderten vom Arzt verordnet und in Gruppen unter ärztlicher Betreuung ausgeübt wird. Er umfasst sporttherapeutische Übungen im Rahmen regelmäßig abgehaltener Übungsveranstaltungen (Vereinssport), die von einem Übungsleiter mit besonderem Qualifikationsnachweis (Lizenz) geleitet werden müssen.[53]
Die auf die Art und Schwere der Behinderung sowie auf den gesundheitlichen Allgemeinzustand der Betroffenen abgestimmten Mittel des Sports und sportlich ausgerichteten Spiele wirken ganzheitlich auf die Behinderten ein, um insbesondere ihre Ausdauer, Koordination, Flexibilität und Kraft zu stärken.[54]
Die Ziele des Rehabilitationssportes sind unter anderem:[55]
- Die Rehabilitation zu erreichen oder zu sichern,
- Hilfe zur Selbsthilfe zu vermitteln,
- Verantwortlichkeit für die eigene Gesundheit und die Motivation zum angemessenen Bewegungstraining zu stärken und
- psychosoziale Krankheitsfolgen zu bewältigen.
Als Rehabilitationssportarten gelten Gymnastik, Leichtathletik, Schwimmen und Bewegungsspiele in Gruppen sowie Sportkegeln für Blinde und Bogenschießen für Rollstuhlfahrer. Laut Sozialgesetzbuch IX und den Beauftragten der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen können geeignete Übungsinhalte anderer Sportarten (wie z.B. Judo) in die Übungsveranstaltungen eingebunden werden. Jedoch heißt es weiter, dass die Sportart Judo (sowie andere Kampfsportarten) für eine Anerkennung als Rehabilitationssport nicht in Betracht kommen.[56]
3.2.3. Ziele und Zielgruppen des Behindertensports
Die Ziele des Sports mit behinderten Menschen können in ihrer ganzen Bandbreite der möglichen pädagogischen, psychischen, sozialen und physischen Aspekte nur interdisziplinär beschrieben werden.
So werden sportpolitische und sportpädagogische Aspekte in der Konzeption „Sport der Behinderten“ des Deutschen Sportbundes angesprochen. Die Ziele dieser Konzeption liegen in der Weiterentwicklung des Sportes der Behinderten in Freizeit, Erziehung, Therapie und Rehabilitation.[57]
Aus sportpädagogischer, sportpsychologischer und sportsoziologischer Sicht kann der Sport die soziale Integration behinderter Menschen in allgemeine Sport- und Freizeitgruppen unterstützen und als eigenständiges Phänomen die Lebensqualität des behinderten Menschen steigern. Auch VAN DER SCHOOT betont den funktionalen Aspekt (Gesundheit, soziale Integration) und den autotelischen Charakter des Sports: „Bewegung, Spiel und Sport sind hier Medium des Handelns. Andererseits wird gleichermaßen dem Selbstzweck von Bewegung, Spiel und Sport mit all seinen Formen und Möglichkeiten gefolgt und entsprochen".[58]
Das Handeln und menschliche Verhalten wird als ein lebenslanger Entwicklungs- und Veränderungsprozess verstanden. Somit können die bewegungsspezifischen Maßnahmen erzieherische, präventive, therapeutische und rehabilitative Schwerpunkte beinhalten, die temporär oder permanent eingesetzt werden.[59]
Der Behindertensport soll nicht in erster Linie versuchen, einen am Nichtbehinderten gemessenen Funktionsverlust auszugleichen, sondern den behinderten Menschen die Möglichkeiten bieten und eröffnen, Freude an der Bewegung zu finden und gemeinsames Sporttreiben zu realisieren sei es nun mit Behinderten oder Nichtbehinderten. Gerade im Sport kann die drohende Isolation, die mit einer Behinderung eintreten kann, die Gefahr „der zunehmenden Defizienz durch Bewegungsmangel, Isolation und anregungsarmer Lebensumwelt“[60] gemeinsam mit anderen überwunden werden. Dem behinderten Menschen wird auf diese Weise ein Zugang zur Gesellschaft eröffnet.
Im Rehabilitationssport stehen sportmedizinische Gesichtspunkte im Vordergrund. Sie haben dem gesamten Behindertensport einen starken quantitativen und qualitativen Aufschwung gegeben. In dem medizinischen Teilbereich Sportmedizin werden vermehrt Untersuchungen zur Effektivität von Bewegung und Sport innerhalb der präventiven und rehabilitativen Maßnahmen durchgeführt.[61]
RIEDER beschreibt die Zielrichtung des gesamten Behindertensports mit seinen unterschiedlichen Bereichen folgendermaßen: „Die Zielrichtung kann schwerpunktmäßig im Freizeitbereich, Schulbereich, Leistungsbereich oder Therapiebereich liegen und sich auf einzelne Bewegungen, sportliche Aktivitäten oder Kombinationen daraus stützen.“[62]
Die Zielgruppe des Behindertensports, die auch außerhalb der Organisationsstrukturen des DBS den Behindertensport aktiv gestaltet, erscheint heterogen. Zielgruppe „sind Behinderte und von Behinderung Bedrohte aller Altersstufen und Klassifikationen“.[63] Es sind Menschen mit „Einschränkungen auf körperlich-organischer, geistiger oder seelischer Ebene; Einschränkungen der Motorik, der Denk- und Lernfähigkeit, der Kommunikations- oder der Verhaltensweise“.[64] Diese unterliegen in Abhängigkeit zur Entstehung des Schadens dauernder oder vorübergehender Einschränkungen, Störungen oder Beeinträchtigungen. Hierdurch liegen Auswirkungen auf das Verhalten, Erleben und Handeln der Betroffenen vor. Inwiefern diese Folgen für den einzelnen behindernd erscheinen, hängt mit den persönlichen, den sozialen und den gesellschaftlichen Bedingungen und Normen zusammen.[65]
Der Behindertensport stellt sich zusammenfassend als organisatorische Möglichkeit für behinderte Menschen dar und möchte sie anregen, sich trotz ihrer individuell unterschiedlichen Beeinträchtigungen zu bewegen und darüber hinaus zu größerer Aktivität zu gelangen.
3.3. Sport für Menschen mit einer geistigen Behinderung
Das fachlich-methodische Wissen für die Durchführung des Sports mit geistig behinderten Menschen kann unter anderem in den eigens für den Behindertensport eingerichteten Fachübungsleiterlehrgängen der Behindertensportverbände erworben werden. Es werden für den „Sport mit geistig Behinderten“ eigene Fort- und Weiterbildungen angeboten[66], um so das sportliche Angebot in diesem Bereich zu vergrößern. Nicht nur der funktionell orientierte Rehabilitationssport steht im Vordergrund, sondern zunehmend auch der Freizeit- und Breitensport.[67]
In den Fachübungsleiterlehrgängen werden die wichtigsten methodischen Grundsätze für den Sport mit Menschen mit einer geistigen Behinderung vermittelt. So sollten die Stunden ritualisiert und klar strukturiert aufgebaut sein, z.B. mit einem Anfangs- und Endkreis, um den Teilnehmern Orientierungshilfen zu bieten. Damit kann einer kognitiven Überforderung entgegengewirkt werden. Die Heterogenität des Erscheinungsbildes der geistigen Behinderung erfordert eine flexible Stundengestaltung, in der auf den Einzelnen eingegangen werden kann, um so den jeweiligen Fähigkeiten der Teilnehmer am ehesten gerecht zu werden. Hier sind pädagogische Schwerpunkte auf die Individualisierung und Differenzierung zu legen.[68] Weiterhin soll ein gemeinsames interdisziplinäres Abstimmen von Inhalten und Zielen mit anderen Fachbereichen (Pädagogik, Psychologie, Medizin) erfolgen.[69]
Nach VAN DER SCHOOT sollen besonders „aktivatorische, motorische, emotionale, motivationale, kognitive und kommunikative Funktionen und Prozesse“ gefördert werden.[70] Dabei können Methoden zur Verbesserung der energetisch-konditionellen Fähigkeiten[71], motorisch-koordinativ orientierte Methoden[72], Spielen und Spiel[73], Gymnastik und Tanz[74] angewandt werden. Diese Methoden können nicht nur im Bereich des Sports mit mental retardierten Menschen verwendet werden, sondern gelten auch für den allgemeinen Behinderten- und Nichtbehindertensport.
Neben wettkampforientierten Sportaktivitäten bieten sich diese Methoden auch insbesondere für Angebote im Freizeit- und Breitensportbereich an. So werden sehr viele Sportarten mit Menschen mit einer geistigen Behinderung durchgeführt, die, je nach Art und Schweregrad der Beeinträchtigung, in didaktischer und methodischer Hinsicht modifiziert sind.
Weitere Sportmöglichkeiten werden in den Behindertensportgemeinschaften, in Familiensportgruppen[75], in Förderzentren mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung, in Einrichtungen und Maßnahmen der Lebenshilfe e.V. und, bisher noch zu wenig, in allgemeinen Sportvereinen angeboten. In Deutschland bietet die Special Olympics Deutschland e.V. (SOD) eine weitere Möglichkeit für Menschen mit einer geistigen Behinderung, sich gemeinsam bei Sport- und Spielfesten zu treffen. Die Special Olympics Organisation wurde 1968 in den USA gegründet und organisiert weltweit Trainings- und Wettkampfangebote für geistig behinderte Menschen. In Deutschland enstand 1991 eine internationale Tochterorganisation.[76]
Seit 2003 organisiert zudem die Hexal-Foundation gGmbH jährlich mindestens einmal das sogenannte „Deutsche Down-Sportlerfestival“ für Menschen mit Down-Syndrom, bei dem sich mehrere hundert Teilnehmer ab einem Alter von zwei Jahren in Wettbewerbssportarten messen können.[77]
Eine weitere sportliche Herausforderung für Menschen mit geistiger Behinderung ist beispielsweise die 4. INAS-FID Fußball-WM 2006, die vom 26. August bis zum 17. September 2006 in Bayern, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Sachsen-Anhalt stattfand. Der zuständigen Weltverband INAS-FID (International Sportsfederation for People with Intellectual Disability) hat die Ausrichtung dieser Großveranstaltung in diesem Jahr an den Deutschen Behindertensportverband vergeben.[78]
3.4. Sport im Förderzentrum mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung
Im bayerischen Lehrplan Förderschwerpunkt „Geistige Entwicklung“ von 2003 wird im Lernbereich „Bewegung und Sport“ der Sportunterricht im Förderzentrum mit dem Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung näher definiert: „Sportunterricht vermittelt Bewegungserlebnisse und regt Schülerinnen und Schüler dazu an, das vorhandene Bewegungspotenzial auf vorgefundene Gegebenheiten abzustimmen. Er motiviert dazu, neue Möglichkeiten der Auseinandersetzung mit der Umwelt zu erschließen. […] Regelmäßiger Sportunterricht beugt Bewegungsmangelerscheinungen vor und trägt zur Erhaltung und Verbesserung der körperlichen Gesamtkonstitution bei.“[79]
Der Sportunterricht im Förderzentrum mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung verfolgt neben der Persönlichkeitsentwicklung der Schülerinnen und Schüler folgende wesentliche Ziele:[80]
- Entwicklung von Bewegungsfreude durch ein erlebnisorientiertes, vielfältiges und individuell angemessenes Bewegungsangebot
- Eröffnung von Möglichkeiten zu gesellschaftlicher Teilhabe in freizeitrelevanten Sportarten
- Erziehung durch Bewegung (im Sinne der Psychomotorik), aber auch Vermittlung von Bewegungsfertigkeiten nach sportmotorischem Verständnis
Der Sportunterricht findet sowohl koedukativ als auch in geschlechtsgetrennten Gruppen statt. Neben dem Sportunterricht im Klassenverband gibt es in vielen Förderzentren interessenbezogene, klassen- und stufenübergreifende Sportgruppen. Neigungsgruppen bieten sich besonders dann an, wenn die Schule in einer bestimmten Sportart an Wettkämpfen teilnimmt und deshalb entsprechend gezieltes Training erforderlich ist.[81] Dies können schulhausinterne Wettkämpfe, regionale oder integrative Sportfeste aber auch die Special Olympics sein. Für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen, die auf den Rollstuhl angewiesen sind, fordert der Lehrplan die Lehrkräfte dazu auf, die Bewegungsaufgaben entsprechend zu verändern.[82]
Der Lehrplan umfasst im Lernbereich „Bewegung und Sport“ folgende Inhalte:[83]
- Bewegungserfahrungen (mit dem eigenen Körper, Materialien, im Raum, mit einem Partner)
- Grundformen der Bewegung
- Grundelemente der Bewegung (Koordinative und Konditionelle Fähigkeiten)
- Gymnastik und Tanz
- Bewegung im Wasser und Schwimmen
- Sport im Freien (Spielplatz, Wintersport, Wandern und Klettern, auf Plätzen und Straßen, auf dem Wasser)
- Turnen und Bewegungskünste
- Kleine Sportspiele (Kooperative Spiele, Konkurrenzorientierte Spiele, Rückschlagspiele)
- Hinführung zu Mannschaftsspielen (Ball- und Wurfspiele, v.a. Fußball, Basketball, Handball und Volleyball)
- Leichtathletik (Laufen und Fahren, Werfen und Stoßen, Springen)
- Teilnahme an Sportveranstaltungen und Wettkämpfen
3.5. Zusammenfassung
Der Behindertensport unterscheidet sich vom allgemeinen Sport nicht (allein) durch behindertenspezifische Bewegungen oder dadurch, dass ein behinderter Mensch sportbezogen agiert, sondern auch durch die eigene Sinnzuweisung.
Die Gruppe der sporttreibenden behinderten Menschen ist durch eine große Heterogenität in bezug auf Alter, Ausprägung und Schwere der Behinderung gekennzeichnet. Demzufolge besteht im Behindertensport eine große Angebotsvielfalt von Sportarten und Wettkämpfen. Grundsätzlich können hier die gleichen Sportarten wie im Sportbereich der Nichtbehinderten betrieben werden. Trotz der vielfältigen positiven Auswirkungen des Sportreibens und den Möglichkeiten, sich sportlich zu aktivieren, engagieren sich nur ca. 4% der behinderten Menschen in Deutschland im organisierten Behindertensport.[84]
Behindertensport wird in der Öffentlichkeit eher im Rahmen von Therapie oder Rehabilitation anerkannt. Zunehmend finden aber auch Veranstaltungen wie die Paralympics oder Special Olympics in den Medien positive Beachtung, sodass der Behindertensport mehr und mehr zu einem Stück Normalität für behinderte Menschen gerechnet wird.
Für Menschen mit einer geistigen Behinderung hat die Förderung durch Bewegung, Sport und Spiel einen hohen Stellenwert, da diese Menschen eher im motorischen Bereich Handlungskompetenzen erlernen können, als ihnen dies im kognitiven Bereich möglich ist.[85] Diese Erkenntnis wird auch in den entsprechenden Lehrplänen berücksichtigt.
Im folgenden Kapitel soll nun die Sportart Judo näher vorgestellt werden, um einen ersten Eindruck zu vermitteln, wie es möglich ist, Menschen mit einer geistigen Behinderung mit dieser Sportart zu aktivieren und zu fördern.
4. Die Sportart Judo
Eignet sich Judo für den Behindertensport? Welche methodisch-didaktischen Modifizierungen ermöglichen es mehrfachbehinderten Jugendlichen, die Sportart Judo zu betreiben? Kann Judo ein interessantes Sportangebot für Menschen mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung darstellen? Diese Fragen sollen anhand der Darstellung des Profils und der Besonderheiten dieser Sportart beantwortet werden.
4.1. Was ist Judo?
Judo ist vor allem in unseren Breiten einer Vielzahl von Menschen nur aus dem Fernsehen bekannt. Als Olympische Sportart rückt sie alle vier Jahre in das Gedächtnis der Zuschauer zurück. Weltmeisterschaften, Europameisterschaften oder gar deutsche Meisterschaften finden in der breiten Öffentlichkeit jedoch kaum Beachtung. Und das, obwohl in mehr als 140 Ländern und von mehr als 10 Millionen Menschen Judo betrieben wird. Was genau ist also Judo?
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Abb. 3: Japan. Kalligraphie der Zeichen für Judo
Das Wort Judo setzt sich zusammen aus den japanischen Begriffen „dju“ (= edel, vornehm, sanft) und „do“ (= Weg, Grundsatz, Prinzip). Der Begriff Judo ist also zu übersetzen mit „sanfter Weg“.[86]
4.2. Geschichte
4.2.1. Ursprung und Entwicklung des Judosports
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Abb. 4: Buddhistischer Priester um 1897
Judo ist die wohl jüngste asiatische Kampfsportart. Sie entwickelte sich um die letzte Jahrhundertwende, also vor ca. 100 Jahren in Japan aus dem Jiu-Jitsu (= „sanfte Kunst“). Jiu-Jitsu ist keinesfalls japanischen Ursprungs, sondern kommt, wie fast alles Japanische, aus China.[87] Hier entwickelten Buddhistische Wandermönche, denen das Waffentragen verboten war, die Kunst, sich ohne Waffen gegen die allzu oft stattfindenden Angriffe von Räubern zu wehren. Diese Kampfkünste brachte man sich gegenseitig bei und tauschte sie bei vielen Gelegenheiten aus.[88] Mit einem Umweg über Korea[89] gelangten diese Techniken schließlich nach Japan, „wo sie ausgehend von Okinawa, einen beachtlichen Aufschwung erlebten.“[90]
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Abb. 5: Samurai in voller Bewaffnung 1860
In Japan wurde diese Kampftechnik dann systematisiert und in das System des Jiu-Jitsu eingeordnet. Die ethisch-moralische Grundlage für das Jiu-Jitsu liegt im stark vom Zen-Buddhismus beeinflussten Ehrenkodex der japanischen Samurai von denen diese Kunst vornehmlich ausgeübt wurde.[91] Mit dem Niedergang der Samurai in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verlor aber auch die Kunst vom waffenlosen Kampfsystem Jiu-Jitsu mehr und mehr an Bedeutung.[92]
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Abb. 6: Erwin Bälz
Dem deutschen Gelehrten Dr. Erwin Otto Eduard BÄLZ, der von 1872 - 1884 an der Kaiserlichen Universität in Tokio Medizin lehrte, verdankt Japan die Rückbesinnung auf seine traditionsreiche Zweikampfdisziplin. Um seinen von der Wissenschaft stark beanspruchten Studenten einen körperlichen Ausgleich zu verschaffen, besann er sich auf das alte System des Jiu-Jitsu.[93]
Unter seinen Studenten befand sich ein junger Mann namens Jigoro KANO, der die Anregungen seines Lehrers mit großem Interesse entgegennahm und sich mit unermüdlichem Eifer und Hingabe dem Studium und der Weiterentwicklung des Jiu-Jitsu widmete. Er erkannte bald die positiven Einflüsse dieser Kunst auf die Entwicklung der körperlichen und geistigen Kräfte des Menschen. Seine Hauptkritik an diesem traditionellen System der Selbstverteidigung aber richtete sich dagegen, dass das Ziel des Kampfes immer noch die Kampfunfähigkeit, ja der Tod des Gegners war. Er entwickelte daher ein System, aus dem er allmählich alle gefährlichen Tritte, Stöße und Griffe eliminierte. Dafür verbesserte er die für einen sportlichen Zweikampf notwendigen Angriffs- und Verteidigungstechniken, indem er neue Techniken kreierte.[94]
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Abb. 7: Jigoro Kano
1882 eröffnete KANO im Alter von 23 Jahren seine eigene Schule und lehrte in ihr Judo, den „sanften Weg“. Seine Schule nannte er Kodokan (= Schule zum Studium des Weges). Er deutete damit an, dass über die Technik hinaus das Studium eines Weges mit ethischen Forderungen unterrichtet wird.[95]
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Abb. 8: Trainingsstunde im Kodokan
Schon 1890 wurde Judo vom damaligen japanischen Minister für Erziehung in das Schulprogramm aufgenommen. KANO selbst wurde Seminarleiter eines Lehrseminars für Judo. Nachdem Judo 1911 Pflichtfach an allen japanischen Mittelschulen geworden war, war seine Breitenentwicklung nicht mehr aufzuhalten. Als Jigoro
KANO 1938 starb, gab es bereits 100 000 „Schwarzgurtträger“ in Japan. Nach dem 2. Weltkrieg und dem Verbot des Judosports durch die Amerikaner wurde Judo seit 1950 wieder an den japanischen Schulen unterrichtet.[96] In Europa wurde Judo 1901 im Londoner Variete erstmals durch japanische Sportler bekannt gemacht.[97]
4.2.2. Entwicklung in Deutschland
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Abb. 9: Wilhelm II.
In Deutschland wurde Judo, damals noch als Jiu-Jitsu, erstmalig 1906 in Kiel anlässlich eines japanischen Flottenbesuchs vorgestellt. Der anwesende Wilhelm II. muss so beeindruckt gewesen sein, dass er einige japanische Meister beauftragte, diesen Sport in Deutschland bekannt zu machen.[98]
Dennoch stagnierte die Entwicklung des Judosports in den ersten Jahren, da diese Zweikampfsportart sofort in eine Kategorie mit Ringen und Boxen gesetzt wurde, nicht nur zu dieser Zeit weniger erstrebenswerte Sportarten. Demgegenüber erkannten jedoch Militär und Polizei sehr schnell die Effektivität von Judo. Die Berliner Kriminalpolizei ließ bereits 1910 ihre Beamten durch Erich RAHN ausbilden, 1913 wurde RAHN Ausbilder an der Berliner Militäranstalt.[99]
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Abb. 10: Erich Rahn
Nachdem die Entwicklung des Judo/Jiu-Jitsu durch den Ersten Weltkrieg wieder zurückgeworfen wurde, ging es in den zwanziger und dann in den dreißiger Jahren endlich aufwärts.[100]
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Abb. 11: Alfred Rhode 1997
Als Geburtsstunde des Judo in Deutschland gilt allgemein die erste internationale Judo-Sommerschule, die vom 7. - 12. August 1932 in Frankfurt am Main ausgetragen wurde und von Alfred RHODE, einem Schüler von Erich RAHN, organisiert worden war. Hier bekamen die deutschen Judoka[101] erstmalig Kontakt mit dem echten Kodokan-Judo Jigoro KANOs durch einige angereiste japanische Judolehrer.[102]
Durch den Besuch KANOs 1933 setzte sich das Judo endgültig durch. Nun wurde auch der Begriff Judo (= Kodokan-Judo) eingeführt und vom Jiu-Jitsu getrennt.[103]
Jedoch erst nach dem Zweiten Weltkrieg, nach einer von den Alliierten verordneten kurzen Zwangspause, nahm Judo als Sport einen ungeahnten Aufstieg. Nach Gründung einiger Landesverbände wurde 1956 in Frankfurt der Deutsche Judo-Bund (DJB) gegründet. Bereits vier Jahre vorher hatten sich die „Schwarzgurtträger“ im Deutschen Dan-Kollegium (DDK) zusammengeschlossen. Hauptberufliche Lehrer, die vor allem aus Japan kamen, sowie die Eröffnung zahlreicher Judoschulen, die bisher abseits stehende Kreise mit dem Judo vertraut machten, führte dazu, dass es Ende der sechziger Jahre bereits an die 100.000 deutsche Judoka gab.[104] 1995 waren in Deutschland 275.207 aktive Judokas in 1.800 Vereinen organisiert.[105]
4.3. Prinzipien und geistige Grundlagen
Zwei Grundsätze verhindern, dass Judo zu einem simplen Kräftevergleich ausartet: Zum Einen ist dies das technische Judoprinzip „Siegen durch Nachgeben“, bei dem man nicht versucht, sich einer Kraft zu widersetzen, sondern diese Kraft durch Ausweichen bzw. Weiterziehen in die Richtung, in die sie geht, auszunützen, und seinen Gegner damit zu überraschen. KANO nannte dieses Prinzip „Sei-Ryoku-Zen-Yo“
(= möglichst wirksamer Gebrauch der körperlichen und geistigen Kräfte).[106]
Zum Anderen gibt es das moralische Prinzip vom gegenseitigen Helfen und Verstehen über das HOFMANN sagt: „Jede Judoübung wird mit einem Partner und nicht gegen einen Gegner durchgeführt; ohne Partner, ohne willige Freunde, für deren Fortschritt man sich genauso verantwortlich fühlt, wie für den eigenen, ist Judo nicht möglich. Lehren und Lernen [...] sind Tätigkeiten, die den Menschen als soziales Wesen ansprechen und ihn zum vollwertigen Mitglied einer freien Gesellschaft werden lassen.“ Dieses Prinzip nannte KANO „Ji-Takyo-Ei“ (= Wohlergehen für alle durch gegenseitiges Helfen und Verstehen).[107]
Vor diesem Hintergrund scheint nun auch die Übersetzung „sanfter Weg“ nachvollziehbar („Nachgeben“). Über Bewegungserlebnisse („Gebrauch von Körper und Geist“) soll Judo im Sinne KANOS zur Bildung und Stabilisierung der Persönlichkeit beitragen. Dies ist eine Zielsetzung, die auch in der heutigen Psychomotorik einen wesentlichen Bestand hat.[108]
Den meisten Menschen ist bekannt, dass der Judosport stark mit der fernöstlichen, japanischen Tradition verbunden ist. Dies zeigt sich insbesondere durch die Kleidung (= Judogi), Ritualen wie Verbeugung, sowie das barfüßige Ausführen des Judo auf einer Judomatte (= Tatami). Auf die Einhaltung der Judoetikette wird sehr viel Wert gelegt. So entspricht die Verbeugung beispielsweise nicht nur einer freundlichen fernöstlichen Geste, sondern gibt zum Ausdruck, dass ein Judoka eine Judoübung oder einen Übungskampf mit einem anderen Judoka durchführen möchte. Zugleich drückt dieser Gruß Achtung und Respekt vor dem Partner aus. Die bei dieser bewegungsreichen Sportart etwas unpraktisch wirkende Bekleidung, die bei den Übungen ständig verrutscht, veranlasst die Judoka sehr oft, die Kleidung zu richten und den Gürtel neu zu binden. Der Judoka ordnet nicht nur die Kleidung, sondern er ordnet sich selbst. Das Ordnen der Kleidung ist in diesem Sinne eine Neuformierung der Ordnung, ein Sammeln von Konzentration und Kraft für Körper und Geist.[109]
[...]
[1] s. Kano 1980, S. 155.
[2] vgl. Theunissen 2002, S. 95 f.
[3] s. Speck 1999, S. 38.
[4] ebenda, S. 39.
[5] ebenda, S. 39.
[6] vgl. Fornefeld 2002, S. 47 f.
[7] s. Neuhäuser/Steinhausen 1999, S. 11.
[8] s. Hedderich/Hirsch 1998, S. 122.
[9] vgl. Speck/Thalhammer 1974, S. 148.
[10] s. Speck 1999, S. 42.
[11] vgl. Fornefeld 2002, S. 52 ff.
[12] vgl. Fornefeld 2002, S. 54.
[13] vgl. Zerbin-Rüdin 1990, S. 26 ff.
[14] vgl. Statistisches Bundesamt 2003 (www.destatis.de/presse/deutsch/pm2004/p4780085.htm).
[15] ebenda.
[16] vgl. Kultusministerkonferenz 2003 (www.kmk.org/statist/Dokumentation177.pdf), S. 13.
[17] ebenda, S. 46.
[18] vgl. Staatliche Schulberatung Bayern (www.schulberatung.bayern.de/saufbauf5.htm).
[19] vgl. Landeselternverband Bayern (www.landeselternbeirat-bayern.de/Lehrplan%20%20neu.html).
[20] vgl. Bonfranchi 2002, S. 98f.
[21] vgl. Fetz 1989, S. 31.
[22] vgl. Kiphard 1995, S. 263 f.
[23] vgl. Fetz 1982, S. 59.
[24] vgl. Van der Schoot et al. 1990, S. 926.
[25] vgl. Kiphard 1995, S. 263 f.
[26] vgl. Lipman 1963, S. 391 ff.
[27] vgl. Schilling, 1977, S. 106 ff.
[28] vgl. Rapp/Schoder 1975, S. 25 ff.
[29] vgl. Kiphard 1995, S. 263 f.
[30] ebenda, S. 264.
[31] vgl. Schilling 1980, S. 10f.
[32] vgl. Rieder 1981, S. 41.
[33] s. Kiphard 1995, S. 264.
[34] vgl. Schilling 1980, S. 11f.
[35] vgl. www.sonderpaed-online.de/behind/down/down.htm.
[36] vgl. Fornefeld 2002, S. 54.
[37] ebenda, S. 54f.
[38] vgl. Van der Schoot et al. 1990, S. 926.
[39] s. Stammer 1993, S. 8.
[40] vgl. Van der Schoot 1990, S. 894.
[41] vgl. Bernett in Kopp 1976, S. 9.
[42] s. Kopp 1976, S. 9.
[43] s. Rieder 1993, S. 202.
[44] s. Rieder 1971, S. 214 f.
[45] vgl. www.dsb.de/index.php?id=539.
[46] vgl. www.dsb.de/index.php?id=532.
[47] vgl. Rheker 1993, S. 41.
[48] vgl. Stiftung Behindertensport 1995, S. 4.
[49] vgl. www.dsb.de/index.php?id=534.
[50] vgl. www.bvs-bayern.com/DesktopDefault.aspx?tabindex=1&tabid=42.
[51] s. Stautner 1989, S. 223.
[52] ebenda, S. 223.
[53] vgl. www.sgb-ix-umsetzen.de/pdf.php?aid=94.
[54] vgl. Worms/Haep u.a. 1999, S. 23.
[55] ebenda.
[56] vgl. www.sgb-ix-umsetzen.de/pdf.php?aid=94.
[57] vgl. Deutscher Sportbund 1982, S. 158.
[58] vgl. Van der Schoot 1990, S. 4.
[59] vgl. ebenda.
[60] vgl. Scheid 1995, S. 34.
[61] vgl. Deutsche Zeitschrift für Sportmedizin, Sonderheft 1 /1995.
[62] s. Rieder 1992, S. 40.
[63] vgl. Van der Schoot 1990, S. 11.
[64] vgl. Haep 1994, S. 88.
[65] vgl. Van der Schoot 1990, S. 11.
[66] vgl. Behinderten-Sportverband Nordrhein-Westfalen 1995, S. 60.
[67] Breitensport = umfasst im Gegensatz zum Leistungssport sämtliche sportlichen Aktivitäten, die hauptsächlich der körperlichen Ertüchtigung, dem Ausgleich von Bewegungsmangel und der Abwechslung dienen und zumeist in der Freizeit betrieben werden. Hierbei spielt nicht zuletzt auch der Spaß am Sport eine wichtige Rolle (vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Breitensport).
[68] vgl. Buttendorf 1981, S. 172 f.
[69] vgl. Stammer 1993, S. 9.
[70] vgl. Van der Schoot 1990, S. 894.
[71] vgl. Froböse & Geist 1990, S. 98 ff.
[72] vgl. Neumaier 1990, S. 127 ff.
[73] vgl. Seek 1990, S. 135 ff.
[74] vgl. Stossberg 1990, S. 148 ff.
[75] vgl. Rheker 1993, S. 85 ff.
[76] vgl. www.specialolympics.de/index2.html.
[77] vgl. www.down-sportlerfestival.de/ und http://de.wikipedia.org/wiki/Down-Sportlerfestival.
[78] vgl. www.inas-fid-wm2006.com.
[79] s. Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung 2003, S. 256.
[80] ebenda, S. 257.
[81] ebenda.
[82] ebenda.
[83] ebenda, S. 255 ff.
[84] eigene Berechnung mit Daten des Statistischen Bundesamtes und des DBS.
[85] vgl. Kapitel 2.3.
[86] vgl. Worms/Haep u.a. 1999, S. 13.
[87] ebenda.
[88] vgl. Deshimaru-Roshi 1978, S. 115.
[89] vgl. Innenmoser u.a. 1992, S. 60.
[90] s. Deshimaru-Roshi 1978, S. 115.
[91] ebenda, S. 184.
[92] vgl. Worms/Haep u.a. 1999, S. 13.
[93] ebenda, S. 13 f.
[94] vgl. Janko 1986, S. 2 ff.
[95] vgl. Amirpour 1985, S. 11 ff.
[96] vgl. Janko 1986, S. 2 ff und Koshrow 1985, S. 11 ff.
[97] vgl. www.tsvaltenfurt-judo.de/Judogeschichtliches.htm.
[98] vgl. Worms/Haep u.a. 1999, S. 15.
[99] vgl. Worms/Haep u.a. 1999, S. 15.
[100] ebenda.
[101] Judokämpfer; Person, die den Sport Judo betreibt.
[102] vgl. Worms/Haep u.a. 1999, S. 15.
[103] vgl. Hofmann 1985, S. 10.
[104] vgl. Worms/Haep u.a. 1999, S. 16.
[105] vgl. Spiegel Special 1996, S. 12.
[106] vgl. Worms/Haep u.a. 1999, S. 17.
[107] vgl. Hofmann 1985, S. 12.
[108] ebenda.
[109] vgl. Brenner 2002, S. 2 f.
- Arbeit zitieren
- Tim Tengler (Autor:in), 2006, Sport für Menschen mit einer Behinderung unter besonderer Betrachtung der Sportart Judo als Fördermöglichkeiten für Menschen mit Förderschwerpunkt geistige Entwicklung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/72017
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