Die Ihnen vorliegende Arbeit ist dem Thema des ästhetischen Experiments als Modell und Gegenstand des Musikunterrichts der Sekundarstufe I gewidmet. Die Arbeit untergliedert sich in drei Haupteile. Im ersten Teil wird zunächst eine Analyse der Begriffe „Experiment“ und „Ästhetik“ vorgenommen. Auf diese Weise sollen die dem Topos des „ästhetischen Experiments“ innewohnenden Termini Aufschluss über sein Wesen und seine charakteristischen Merkmale geben. Ein besonderes Augenmerk wird auf die ästhetische Wahrnehmung bzw. Erfahrung gelegt sein und damit verbunden auch auf die ästhetischen Empfindungen, die in der Konfrontation mit (ästhetischen) Objekten erfahren werden können. Schließlich geht es um die Erklärung, warum sich der Mensch dem Experiment von Natur aus zugeneigt fühlt und warum die Erlangung von Erkenntnissen durch das Experimentieren als eine durchaus ästhetische Erfahrung wahrgenommen werden kann. Am Ende des ersten Kapitels tritt dann das ästhetische Experiment mit und in der Musik und somit als möglicher Gegenstand
des Musikunterrichts in den Fokus.
Im letzen Kapitel, das zugleich als Zusammenfassung gelten kann, sollen die in der Arbeit gewonnen und dargestellten Erkenntnisse diskutiert und evaluiert werden. Dabei geht es auch um die bildungspolitische Lage und die Problematik eines festgefahrenen Bildungssystems, um Wertevorstellungen, kulturelle und ethische Faktoren, die allesamt Einfluss auf die Institution Schule, somit auch auf das Schulleben und nicht zuletzt auf den Musikunterricht haben.
Im zweiten Teil der Arbeit soll das Ästhetische Experiment seitens der Lerntheorien beleuchtet werden. Dazu werden die markantesten Thesen und Erkenntnisse der drei wesentlichen Theorien, der des Behaviorismus, des Kognitivismus und des Konstruktivismus aufgegriffen und skizziert. Ziel ist es, die Aktualität der jeweiligen Lerntheorien und daraus resultierende Lernkonzepte herauszuarbeiten, um im abschließenden Teil des zweiten Kapitels eine Einstufung des ästhetischen Experiments - hier insbesondere als Unterrichtmodell wie auch als Lernmethode bzw. Lehrmethoden – zur Tauglichkeit im Musikunterricht der Sekundarstufe I unter lerntheoretischen Aspekten vorzunehmen.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1. Ästhetische Experimente
1.1. Das Wesen des Experiments
1.2. Ästhetik
1.2.1. Ästhetische Objekte
1.2.2. Ästhetische Wahrnehmung und Erfahrung
1.2.3. Erkennen und Ästhetik
1.2.4. Hässlich oder Schön
1.2.5. Ästhetische Praxis
1.3. Das ästhetische Experiment
1.3.1. Das ästhetische Experiment - eine begriffliche Annährung
1.3.2. Das Experiment als ästhetische Handlungsform zur Befriedigung des Sicherheitsbedürfnisses
1.3.3. Das ästhetische Experiment in und mit Musik
2. Wie lernen wir?
2.1. Behavioristische Ansätze
2.1.1. Latentes Lernen
2.1.2. Leistung nicht gleich Lernerfolg
2.2. Kognitivistische Ansätze
2.2.1. Lernen am Modell
2.2.2. Lernen durch Einsicht
2.2.3. Modell der Entwicklungsstufen nach Piaget
2.3. Konstruktivistische Ansätze
2.3.1. Der konstruktivistische Lernbegriff
2.3.2. Sozialer Konstruktivismus
2.3.3. Entdeckendes Lernen
2.4. Musiklernen
2.5. Das ästhetische Experiment im Auge der Lerntheorie
3. Abschließende Diskussion
Abbildungsverzeichnis
Literatur- und Autorenverzeichnis
Einleitung
Die Ihnen vorliegende Arbeit ist dem Thema des ästhetischen Experiments als Modell und Gegenstand des Musikunterrichts der Sekundarstufe I gewidmet. Die Arbeit untergliedert sich in drei Haupteile. Im ersten Teil wird zunächst eine Analyse der Begriffe „Experiment“ und „Ästhetik“ vorgenommen. Auf diese Weise sollen die dem Topos des „ästhetischen Experiments“ innewohnenden Termini Aufschluss über sein Wesen und seine charakteristischen Merkmale geben. Ein besonderes Augenmerk wird auf die ästhetische Wahrnehmung bzw. Erfahrung gelegt sein und damit verbunden auch auf die ästhetischen Empfindungen, die in der Konfrontation mit (ästhetischen) Objekten erfahren werden können. Schließlich geht es um die Erklärung, warum sich der Mensch dem Experiment von Natur aus zugeneigt fühlt und warum die Erlangung von Erkenntnissen durch das Experimentieren als eine durchaus ästhetische Erfahrung wahrgenommen werden kann. Am Ende des ersten Kapitels tritt dann das ästhetische Experiment mit und in der Musik und somit als möglicher Gegenstand des Musikunterrichts in den Fokus.
Im zweiten Teil der Arbeit soll das Ästhetische Experiment seitens der Lerntheorien beleuchtet werden. Dazu werden die markantesten Thesen und Erkenntnisse der drei wesentlichen Theorien, der des Behaviorismus, des Kognitivismus und des Konstruktivismus aufgegriffen und skizziert. Ziel ist es, die Aktualität der jeweiligen Lerntheorien und daraus resultierende Lernkonzepte herauszuarbeiten, um im abschließenden Teil des zweiten Kapitels eine Einstufung des ästhetischen Experiments - hier insbesondere als Unterrichtmodell wie auch als Lernmethode bzw. Lehrmethoden – zur Tauglichkeit im Musikunterricht der Sekundarstufe I unter lerntheoretischen Aspekten vorzunehmen.
Im letzen Kapitel, das zugleich als Zusammenfassung gelten kann, sollen die in der Arbeit gewonnen und dargestellten Erkenntnisse diskutiert und evaluiert werden. Dabei geht es auch um die bildungspolitische Lage und die Problematik eines festgefahrenen Bildungssystems, um Wertevorstellungen, kulturelle und ethische Faktoren, die allesamt Einfluss auf die Institution Schule, somit auch auf das Schulleben und nicht zuletzt auf den Musikunterricht haben.
Diese Arbeit beschäftigt sich ausdrücklich nicht mit der Analyse bestehender musikpädagogischer Konzepte und Didaktiken, sondern macht es sich zum Anliegen, die Möglichkeiten, wie auch die Grenzen einer Integration des ästhetischen Experiments als Modell und/ oder Gegenstand im musikalischen Schulunterricht der Sekundarstufe I auszuloten und insbesondere von lerntheoretischer Seite her zu begründen.
1. Ästhetische Experimente
Bevor das ästhetische Experiment auf seine Eignung für den schulischen Alltag des Musikunterrichts insbesondere für die Sekundarstufe I im Hinblick auf ein erfolgreiches Lernen analysiert wird, soll in diesem ersten Kapitel zunächst ein Definitionsversuch mit der Intention einer Herausarbeitung besonderer Charakteristika des ästhetischen Experiments unternommen werden. Eine vorbereitende Annährung an die Termini ‚Experiment’ und ‚Ästhetik’ erscheint insofern sinnvoll, als dass sich ihr indifferenter meist umgangssprachlicher Gebrauch zur ursprünglichen Bedeutung ambivalent verhält, des weiteren erweist sich eine inhaltliche Beschreibung der Begriffe als nötig, weil sie wesensbestimmend für das ästhetische Experiment sind.
1.1. Das Wesen des Experiments
Eine nachweislich ursprüngliche Bedeutung des Begriffs „Experiment“ lässt sich durch den Rückbezug auf das lateinische Ursprungswort „experiri“ in Erfahrung bringen, was im weitesten Sinne versuchen, erproben oder prüfen bedeutet. Zur genaueren Definition des Experiments als Terminus bieten sich die Ausführungen zweier Nachschlagewerke an. Eine sehr kurze, aber dennoch prägnante Beschreibung liefert das Fremdwörterbuch von Duden. Demnach sei das Experiment entweder ein „wissenschaftlicher Versuch, durch den etwas entdeckt, bestätigt oder gezeigt werden soll“ oder ein „[gewagter] Versuch, Wagnis, gewagtes, unsicheres Unternehmen“ oder eine „Unternehmung mit unsicherem Ausgang.“ (Duden 2001, S. 294) Im Brockhaus findet sich eine ähnliche kurzgehaltene allgemeine Bedeutungsbeschreibung, wonach das Experiment ein (wissenschaftlicher) Versuch, ein Wagnis bzw. ein unsicheres, gewagtes Unternehmen ist. Unter einem zweiten Punkt bietet Brockhaus eine sehr ausführliche Beschreibung des Experiments im naturwissenschaftlichen Sinne an. Per Definition ist das naturwissenschaftliche Experiment eine:
„methodisch-planmäßige Herbeiführung von meist variablen Umständen zum Zwecke wissenschaftlicher Beobachtung: wichtiges Hilfsmittel aller Erfahrungswissenschaften [...] Bestimmte, der Beobachtung zugängliche Größen – die verursachenden Variablen – in einer experimentell erzeugten Situation werden systematisch variiert, um die daraus entstehenden Wirkungen auf die abhängigen Variablen zu studieren. Alle anderen, meist als Parameter bezeichneten Faktoren, die das Ergebnis des Experiments beeinflussen könnten, sind konstant zu halten. Experimente sollten prinzipiell wiederholbar sein, was ihre intersubjektive Überprüfbarkeit sichert.“ (Brockhaus 1996, S. 25ff)
Den enzyklopedischen Definitionen zufolge, ist bei der Verwendung des Experimentierbegriffs zwischen dem Experiment im Allgemeinen und dem (natur-)wissenschaftlichen Experiment zu unterscheiden.
Wie im letzten Satz der Brockhaus-Definition besonders deutlich formuliert, wird vom wissenschaftlichen Experiment im Gegensatz zum Experiment im Allgemeinen eine nachträgliche interdisziplinäre Verifizierbarkeit bzw. Falsifizierbarkeit erwartet. Heuristische Motivationen sind in der Wissenschaft nur selten anzutreffen. Meist werden aus der Natur herausgelöste Vorgänge in eine künstlich geschaffene Umgebung übertragen, um dort von anderen Faktoren unbeeinflusst nachvollzogen werden zu können. Ein wissenschaftliches Experimentieren kann als induktive Methode verstanden werden, die allein dazu dient bestimmte Sachverhalte, Hypothesen oder Theorien planmäßig zu erforschen bzw. zu beweisen. Dazu bedient man sich strenger Versuchsanordnungen, bei denen systematisch die Parameter der Faktoren, die auf die Versuchsobjekte wirken, verändert werden (vgl. Langbehn 2001, S. 36-37). Man kann dem wissenschaftlichen Experiment eine Ungewissheit über den Ausgang des Probieren und Forschens nicht in Abrede stellen, doch ist an dieser Stelle nicht von einem Wagnis zu sprechen, noch wird etwas durchlitten oder aufs Spiel gesetzt. Doch auch diese Charakteristika werden per Übersetzung dem „experiri“ zugesprochen (vgl. Pons Wörterbuch Latein-Deutsch 1986, S. 364).
Das Experiment im Allgemeinen ist nicht vorrangig durch ein vorbestimmtes Ziel geprägt, sondern richtet sich im wesentlichen auf die experimentelle Tätigkeit, die als solche meist Vermutungen oder Annahmen untersteht, aber prinzipiell einen offenen, somit ungesicherten Ausgang hat. In den meisten Fällen ist der Experimentator dahin gehend motiviert, dass er Neues entdecken oder erfahren möchte. Seine Neugierde bzw. sein auf das Neue hin gerichteter Endeckertrieb lassen ihn in unbekannte Zonen vorstoßen. Solche unbekannte Zonen sind sehr individuell dimensioniert, was bedeutet, dass ein Experiment im allgemeinen Sinne zwar ganz alltägliche Dinge betreffen kann, aber für den Experimentator gänzlich neue Erkenntnisse zum Resultat hat. Demnach sind die Erkenntnisse bzw. Ergebnisse des Experiments im allgemeinen Sinne in selteneren Fällen intersubjektiver Natur, sie sind, wie u.a. Langbehn argumentiert, eher sekundär und beziehen sich mehr „auf die Art und Weise wie oder mit welcher Einstellung und Haltung agiert wird“ (2001, S.36). An dieser Stelle wird sehr deutlich, dass der Vorgang des Experimentierens zwangsläufig mit dem Erfindens gleichzusetzen ist, obgleich durch ungeahnte Zufälle Neues entstehen kann.
„Das Leben ist ein Experiment, das meistens gelingt, das aber Tag für Tag neue Risiken aufbrechen lässt, wie ein sanftes Erdbeben Risse in die glatte Laufbahn schneidet.“ (Wördemann 2001)[1]
Dieses kleine Zitat spiegelt auf poetische Weise wieder, dass das Leben vom Experiment untrennbar ist. Wir können unser Leben planen und vorausberechnen, wir kennen die Produkte unserer Arbeit und können die Konsequenzen unseres Handeln nachvollziehen, doch in der letzten Instanz gibt es keine Garantie oder Versicherung. Dieser Hauch vom Ungewissen begleitet uns ein ganzes Leben lang und ist wohl das markanteste Merkmal des Experiments. Nicht zu wissen, was am Ende geschieht, stellt ein Wagnis dar. Dieses Wagnis, als unbestimmter Punkt der Zukunft ist der Auslöser, der uns motiviert immer weiter fortzuschreiten und uns weiterzuentwickeln, da er die Chance in Aussicht stellt, die uns umgebende Lebenswelt nach unseren Vorstellungen und Bedürfnissen zu optimieren. „Es bleibt die reine Erfahrung, die, wenn sie zustößt, >Zufall<, wenn sie gesucht wird >E[xperiment]< heißt.“[2] Bis zum Mittelalter wurde der Begriff des Experiments dem der Erfahrung gleichgesetzt. Erfahrungen ergeben sich bekanntermaßen mehr oder weniger durch Ausprobieren und Zufall, nicht etwa durch wissenschaftliche Versuchsanordnungen. Der Erfahrungsbegriff bezog sich in jener Zeit vor allem auf die Materialgewinnung und Materialbeherrschung praktischer Berufe sowie auf die Kenntnisse im Handwerksbereich, zu dem damals auch der Musiker gezählt wurde. Seine heutige wissenschaftliche Nutzform erlangte das Experiment erst ab dem 13. Jahrhundert, als sich die Bereiche von Produktion und Wissenschaft mehr und mehr zusammenfügten (vgl. Langbehn 2001 S. 37f). Bis zur heutigen Zeit hat der Experimentierbegriff keine großen Veränderungen erfahren, wohl aber einige Differenzierungen. Francis Bacon trat (1620) für geordnete Versuchsreichen ein, die sich auf methodische Prinzipien berufen, welche die notwendige Basis zur systematischen Erforschung der Natur bilden sollten (vgl. ebd.). Immanuel Kant forderte später, dass wissenschaftlichen Versuchen eine Methode zugrunde gelegt werden müsse, da:
„[...] die Vernunft nur das einsieht, was sie sich selbst nach ihrem Entwurfe hervorbringt, dass sie mit Prinzipien ihrer Urteile nach beständigen Gesetzen vorangehen und die Natur nötigen müsse, auf ihre Fragen zu antworten, nicht aber sich von ihr allein gleichsam am Leitbande gängeln lassen müsse, denn sonst hängen zufällige, nach keinem vorher entworfenen Plane gemachte Beobachtungen gar nicht in einem notwendigen Gesetze zusammen, welche doch die Vernunft sucht und bedarf.“ (Kant 1787, S. 23)[3]
Kant machte besonders deutlich, dass wir uns zwar von den Resultaten eines Experiments belehren lassen können, doch werden wir sie nur verstehen, wenn der Weg – warum und wodurch ist was wie passiert - nachvollziehbar ist. Eine Ansicht, die Anfang des 20. Jahrhunderts ins Feuer der Kritik geriet. Ein Experiment, so Pierre Duhen, bestünde aus zwei Teilen, nämlich der Beobachtung einer Sache und der Interpretation jener Beobachtung (vgl. Dingler 1955, S. 245). Hugo Dingler machte darauf aufmerksam, dass Experimente entweder auf bereits aufgestellten Gesetzen basieren, oder von subjektiven Betrachtungen ausgehen, so sei z.B. die empirische Forschung völlig abhängig „von den Vorstellungen und Denkformen, mit denen man an sie herantritt und sie betreibt.“ (ebd. S. 226) Fragestellungen und Interpretationen unterstehen subjektiven Denkregeln, die oftmals zwar dem intersubjektivem Verständnis entsprechen, aber dennoch nicht als objektiv richtig verstanden werden können, erst recht nicht als naturgegeben (vgl. Langbehn 2001, S.39). Beispielsweise seien nach Wagenschein Naturwissenschaften nicht nur Verstehensweisen sondern auch Behandlungsweisen der Natur. Sie zeigten aber nicht, „wie Natur ist, sondern nur, wie sie einem bestimmten Anruf“ antwortet (Wagenschein 1976, S. 27). Nach den oben aufgeführten Ansichten können Experimente, auf denen Wissenschaft im großen Teilen basiert, nie selbst die Natur erklären, sondern es bedarf einer Interpretation ihrer Ergebnisse. Die Interpretation kann je nach Erkenntnisstand der Subjekte auch ebenso subjektiv und damit different ausfallen. Demnach können Wissenschaften nicht der Beweisfindung einer objektiven Wirklichkeit dienen, sondern sie sind selbst nur ein Konglomerat von Erkenntnissen interpretierender Subjekte, die mehr oder weniger den gleichen Erkenntnisstand bzw. Wissensstand teilen. Experimente in der Wissenschaft dienen primär der Erweiterung von Wissen. Der Begriff „Wissen“ suggeriert uns von je her etwas Absolutes, als gebe es unverrückbare objektive Wahrheiten, von denen man wüsste oder nicht. Nach konstruktivistischen Erkenntnissen gibt es keine objektive allegemein gültige Wahrheit, sondern nur eine subjektiv konstruierte. Demzufolge existiert auch kein absolutes objektives Wissen, Gábor Paál schlägt aus diesem Grunde vor, statt vom ‚Wissen’ besser von einer ‚Ahnung’ zu sprechen (vgl. Paál 2003, S. 122).
Fassen wir noch einmal zusammen: Das Experiment ist die bewusste Suche nach neuen Erfahrungen, woraus in der Folge Erkenntnisse gewonnen werden können. Die Sensibilität gegenüber dieses Erkenntnissen bezeichnen wir als Wissen bzw. Ahnung (vgl. ebd., S. 216). Experimente müssen so angelegt sein, dass sie auf bereits bestehende Erkenntnisse und Erfahrungen aufbauen bzw. bereits vorhandene aktuell gültige Denkwege berücksichtigen. Umgekehrt heißt es, dass Ergebnisse, die auf Experimenten beruhen, welche nicht auf einen vorhandenen Erfahrungs- und Kenntnisstand aufbauen, nicht interpretiert werden und somit auch nicht zu neuen Erkenntnissen führen können. Im wesentlichen ist zwischen dem Experiment der Wissenschaft, das meist eine Beweis- bzw. Widerlegungsfunktion inne hat und deshalb nach geplanten Versuchsanordnungen systematisch durchgeführt wird und dem allgemeinen Experiment, welches freier angelegt ist und sich mehr als Handlungsart versteht, zu unterscheiden. Das experimentelle Handeln, das sich durch freies Ausprobieren und Versuchen auszeichnet, beinhaltet ein Wagnis, das im Verlassen konventioneller Wege und Verfahrensweisen seinen Ursprung und dadurch einen offenen nicht gewissen Ausgang zur Folge hat.
1.2. Ästhetik
Der Begriff der Ästhetik wurde um 1750 von A. G. Baumgarten eingeführt und vom selben als die „Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis“ definiert. Das Wort ‚Ästhetik’ hat seinen Ursprung im griechischen Begriff ‚Aisthesis’, welcher alle Arten der Sinneswahrnehmung umfasst. In der Aisthesis integrieren sich demzufolge sowohl lebensweltliche und alltägliche als auch künstlerische Wahrnehmungen. Die Wahrnehmung ist hier in ihrem wörtlichsten Sinne als eine Wahr-Nehmung zu verstehen. Die Aisthesis wurde ursprünglich sowohl als Wahrnehmung, Erkenntnis und auch als sinnliches Empfinden verstanden. Modernere Ästhetik-Theorien lösten sich zunächst von der Doppelbedeutung der Ästhetik, um sich entweder auf die Seite von Ästhetik als die Theorie des Schönen oder auf jene Seite zu schlagen, die Ästhetik als Theorie der Wahrnehmung versteht. Jüngste Theorien versuchen wieder zur ursprünglichen Bedeutung zurückzukehren, um das Entweder-oder wieder durch ein Sowohl-als-auch zu ersetzen (vgl. Paál 2003, S. 8f.). Gabor Paál unterscheidet zwei große Formen der Ästhetik, zum einen die Erkenntnisästhetik, die als Überbegriff für die meisten ästhetischen Theorien aus Philosophie und Literaturwissenschaft, steht und sich mit der Schönheit von Erkenntnissen beschäftigt. Als Komplementär zur ihr nennt er die elementare Ästhetik[4], sie „beschäftigt sich mit der affektiven Reaktion auf sinnliche Reize und untersucht ästhetische Prozesse auf der Ebene der unmittelbaren Wahrnehmung.“ (ebd. S. 7f.) Solche Wahrnehmungsprozesse werden heute zahlreich z.B. in der experimentellen Psychologie erforscht, die uns in vielen Studien erklärt, auf welche Farben, Formen, Klänge, Gerüche, Gesichter oder Landschaften wir wie reagieren. Es gibt eine Unzahl von Definitionen für die Ästhetik, die viele Aspekte nennen, aber auch ausschließen. Dies macht es schwierig eine eindeutige Begriffsbeschreibung vorzunehmen. Hinzu kommt, dass das Wort Ästhetik in den verschiedensten Bedeutungszusammenhängen gebraucht wird. Eine kurze dennoch prägnante Begriffsbeschreibung lieferte Nowak (1987, S. 229):
„Ästhetisch ist das, was dem Menschen in seiner Sinnlichkeit (nicht erst im Denken und sittlichen Handeln) Erfahrung von Sinn verschafft.“
1.2.1. Ästhetische Objekte
Zum Ende des 20. Jahrhunderts wendete sich die Aufmerksamkeit der philosophischen Ästhetik vom ästhetischen Objekt zum ästhetischen Subjekt hin. Dabei gilt bis heute das besondere Interesse dem ästhetischen Empfinden des Subjekts, also der ästhetischen Wahrnehmung bzw. Erfahrung. Diese Aufmerksamkeitsverlagerung lässt sich hauptsächlich auf die zunehmende Freiheit der Künste zurückführen. Bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts bestimmten tradierte Formen, die sich gleichsam als Normen verstanden, das künstlerische Objekt wie auch das ästhetische Urteil. Da sich die Beurteilung des Ästhetischen eines Kunstwerkes vornehmlich an der Form des Objektes orientierte, wurde es mit dem Verlust der festgelegten Form schwierig zu bestimmen, was und was nicht ästhetisches Objekt sei. Sabine Sanio spricht in diesem Zusammenhang von der Krise des Werkbegriffs, welche dazu führte, dass es nicht mehr plausibel war, Ästhetik allein auf die Künste zu beziehen. So begann die künstlerische Praxis ästhetischen Erfahrungen und nicht mehr sich selbst zum Thema zu machen (vgl. Sanio 1998, S. 12). John Cage und Helmut Heißenbüttel erkannten den Sinn und Zweck ästhetischer Objekte – hier künstlerischer Werke – allein darin, dass sie beim Subjekt ästhetische Erfahrungen provozierten.
„Sie verstehen ästhetische Objekte nicht mehr als Gebilde, die ihren Zweck allein in sich selbst haben[...] Für beide Künstler bildet die entscheidende Grundlage ihres Denkens die Überzeugung, ästhetische Erfahrung sei grundsätzlich nicht auf Kunst angewiesen.“ (ebd. S.14f).
Kunst wird nicht mehr um seiner selbst erschaffen, sondern soll dem Rezipienten als Stifter ästhetischer Erfahrung dienen. Wenn Kunst auch in vieler Augen in außergewöhnlichem Maße für das Erzeugen ästhetischer Erfahrungen geeignet erscheinen mag, so stellt sie keineswegs die einzige Möglichkeit dar, ästhetische Erfahrungen hervorzurufen. Paál schreibt, dass ästhetisches Erleben immer auf eine bestimmte Kontextualisierung beruhe. Wenn wir X schön fanden, dann ist es immer eine Kurzform dafür, das es schön für uns war, X in einem bestimmten Kontext erlebt zu haben (vgl. Paál 2003, S. 23). Durch eine Kontextualisierungen kann im Grunde jedes Objekt ästhetisiert bzw. entästhetisiert werden. Objekte können in unterschiedlichen Kontexten unterschiedliche Wirkungen auf das Subjekt haben. Der goldene Ring z.B. gilt im Kontext einer glücklichen Partnerschaft als Symbol der Liebe, im Schaufenster des Juweliergeschäfts vielleicht als Objekt der Begierde, während er am Finger einer fremden Person, die unser Herz entflammt hat, als Indiz dafür gelten kann, dass diese bereits vergeben ist. Es wird Menschen geben, die sich davon abschrecken lassen und diese Person besser vergessen, aber es wird auch Menschen geben, die diesen Umstand besonders ästhetisch finden, weil er bei ihnen vielleicht einen unwiderstehlichen Eroberungswillen erzeugt. Diese unterschiedlichen Bewertungen der Subjekte deuten darauf hin, das Ästhetisierung mehr eine Haltung, denn eine Handlung ist (vgl. ebd.). Hieraus geht hervor, dass Objekte in der Wirklichkeit – reale Objekte - zwar eine Rolle für das Auslösen und die Qualität von (ästhetischen) Erfahrungen spielen, aber von ästhetischer Relevanz ist das subjektive Erleben des Individuums (ebd. 24f).
1.2.2. Ästhetische Wahrnehmung und Erfahrung
Die Begriffe ästhetische Wahrnehmung und ästhetische Erfahrung werden in der Literatur meist synonym verwendet. Es käme sicher eine interessante Diskussion zustande, wollte man sich über die Gemeinsamkeiten und Unterschiede ästhetischer Erfahrung und ästhetischer Wahrnehmung einigen. Diese Diskussion soll und kann nicht Gegenstand dieser Arbeit sein, weshalb die Begriffe entsprechend der jeweils besprochenen Autoren verwendet werden. Von Martin Seel werden die Begriffe Erfahrung und Wahrnehmung ebenfalls synonym verwendet. Sein Erfahrungsbegriff rückt nur dann in den Mittelpunkt, wenn es um eine besondere nachhaltige Veränderung unserer Sichtweise bzw. unserer Lebenseinstellung geht. Bei der ästhetischen Wahrnehmung unterscheidet er zwischen drei Modi: der kontemplativen, korresponsiven und imaginativen ästhetischen Wahrnehmung. Diese Differenzierung sei dienlich, „um ästhetische Wahrnehmung in all ihren Facetten und Möglichkeiten zu verstehen.“ (Rolle 2002, S.90)
Bei der kontemplativen ästhetischen Wahrnehmung gelte die „Aufmerksamkeit einzig dem Spiel der Erscheinungen unabhängig von jeglichem Sinn“ (ebd.) Zugunsten von Sinnlichkeit werde auf Sinn verzichtet.
„Die kontemplative Wahrnehmung verweilt bei den Erscheinungen, die ihr Gegenstand aufweist, sie ergeht sich in den Unterscheidungen, die sie ihrem Gegenstand abgewinnt, ohne darüber hinaus auf eine Deutung zu zielen. Ihre Begegnung mit den Phänomenen lässt deren Bedeutung außer acht. Es ist die sinnfremde phänomenale Individualität eines Gegenstands, auf die es der kontemplativen Wahrnehmung ankommt“ (Seel 1991, S. 39).
Kunst könne in Seels beschriebener Weise kontempliert werden, jedoch dürfte sich die Aufmerksamkeit nicht auf die Gestaltung des Werkes richten. Bei der Instrumentalmusik läge sogar eine Hörweise kontemplativer Art nahe, weil sie ein „Sinnesereignis ohne Entsprechung“ sei und „referentielle Bedeutung“ habe. Eine Unterscheidung zwischen kontemplativem und strukturellem Hören sei jedoch zu treffen (vgl. ebd.).
Eine weniger interessenlose Wahrnehmung ist nach Seel die korresponsive ästhetische Wahrnehmung. Diese steht im direkten Bezug zum persönlichen Lebenskonzept des Wahrnehmenden. Sie spielt eine wichtige Rolle für die Gestaltung unseres täglichen Lebens, da wir nach ihr Dinge (Gegenstände, Menschen, Verhalten etc.) nach unseren ästhetischen Präferenzen (Vorstellungen) beurteilen und auswählen. Es kann sich um die kleinen täglichen Alltagsfragen handeln, z.B. in welche Ecke ich das Bücherregal stelle, damit es etwas wohnlicher in meinem Büro ist, oder welchen Schmuck ich beim nächsten Date trage oder welche Musik ich am Samstagmorgen zum Wohnungsputz auflege. Die korresponsive Wahrnehmung dient der Stilisierung des Lebens, indem eine ästhetische Auswahl expressiver Objekte getroffen wird, welche nach dem Vorhandensein „sinnlich-sinnhafter Korrespondenzen“ (Seel 1996, S. 130) mit dem eigenen Existenzideal evaluiert ist. (Seel 1991, S. 241)
Die dritte Form der ästhetischen Wahrnehmung nennt Seel ‚imaginativ’. Das Interesse sei hier, ästhetische Darbietungen interpretierend zu verstehen. Es handle sich um eine kunstbezogene Form der Wahrnehmung, die sich auf das, was über die sinnliche Gegenwart hinaus präsentiert ist, richtet. Es müsse sich bei der Interpretation nicht immer um verbale Verständigung über das ästhetische Objekt handeln: So wie der Pianist auf seinem Flügel Beethoven interpretiert, versteht es der Tänzer seine Bewegungen interpretierend einzusetzen (vgl. Rolle 2002, S. 92). Letztendlich könne alles als Kunst gelten, solange es als „Zeichen dafür, wie uns die Dinge der Welt angehen oder angehen könnten“ (Seel 1991, S. 161) verstanden werden könnte.
Eine der differenziertesten Definitionen darüber, was ästhetische Erfahrung sei, legte Bernd Kleimann vor:
„Ästhetische Erfahrungen sind handlungsentlastete, vollzugsorientierte, selbstzweckhafte, an sinnliche Wahrnehmung gebundene, affektiv, volitiv und kognitiv bestimmte Begegnungen mit Phänomenen, die durch die Weise, in der sie sich oder ihre Gehalte holistisch präsentieren, eine Selbstbegegnung der Erfahrenden in der Fremdbegegnung (Jauß 1982) mit dem Gegenstand ermöglichen und somit einen Rückbezug auf die Hintergrunderwartungen von Erfahrungssituationen einschließen. Formen ästhetischer Erfahrung sind das sinnabstinente, leibsinnliche Gewärtigen der anschaulichen Gestalt des Phänomens, das orientierende Vergegenwärtigen von Lebenshaltungen in anschaulichen Darbietungen und das Entwerfen und Verstehen von möglichen Sichtweisen der Welt (vgl. Seel 1991). Ästhetische Erfahrungen sind nicht auf andere Arten von Erfahrungen rückführbar, sondern stellen einen eigenen Modus des In-der-Welt-Seins dar.“ (Kleimann 1996)
Dieser Modus der Welterfahrung kann durch andere Erfahrungsmodi nicht ersetzt werden. Eine ästhetische Erfahrung kann nicht auf die Erfahrung von Kunstwerken reduziert werden, da der Modus des Prozesses, in dem ein Subjekt seine Umwelt erfährt, als ästhetisch bezeichnet wird, was nicht unbedingt bedeutet, dass dem Erfahrungsobjekt ebenfalls diese Eigenschaft inne ist (vgl. Meyer 2005, S. 61; Rolle 1999, S. 120;). Ästhetische Erfahrungen sind als Ergebnisse komplexer Prozesse zu verstehen. In diesen Prozessen fließen emotionale und sinnliche Eindrücke, erfüllte oder enttäuschte Erwartungen, Erinnerungen, Reflexionen, Wissenspartikel und Urteile ineinander. Es wird davon ausgegangen, wie Liessmann in seinem Buch „Reiz und Rührung – über ästhetische Empfindungen“ schrieb, dass ästhetische Erfahrungen:
„[...] imstande sind, an einem Menschen eine dauerhafte Zustandsänderung herbeizuführen. In einem emphatischen Sinn kann die ästhetische Erfahrung dann auch als „Schwellenerfahrung“ beschrieben werden, die gleich einem Übergangsritus, einer rite de passage, einer Grenzerfahrung, „zu einer Transformation desjenigen führen kann, der die Erfahrung durchlebt“ (Fischer-Lichte 2003, S. 139)“ (Lissmann 2004, S.17).
Darüber wie ästhetische Erfahrungen mit einem ästhetischen Objekt wahrscheinlich eher verhindert als produziert werden können, soll das folgende Gedicht von Bernd Lunghard (2000, S. 12)Aufschluss geben:
Gedichtbehandlung
Bernd Lunghard
Heut haben wir ein Gedicht durchgenommen.
Zuerst hat’s der Lehrer vorgelesen,
da ist es noch sehr schön gewesen.
Dann sind fünf Schüler drangekommen,
die mussten es auch alle lesen;
das war recht langweilig gewesen.
Dann mussten drei Schüler es nacherzählen –
für eine Note; sie hatten noch keine,
da verlor das Gedicht schon Arme und Beine.
Dann wurde es auseinander genommen
Und jeder Vers wurde einzeln besprochen.
Das hat dem Gedicht das Genick gebrochen.
„Warum tat der Dichter dies Wort wählen?
Warum benutzte er jenes nicht?“
Und schließlich: „Was lehrt uns das Gedicht?“
Dann mussten wir in unsere Hefte eintragen:
Das Gedicht ist ab Montag aufzusagen.
Die ersten Fünf kommen dran.
Mich hat das zwar nicht weiter gestört;
Ich hab das Gedicht so oft heut gehört,
dass ich es jetzt schon auswendig kann.
Aber viele machten lange Gesichter
Und schimpften auf das Gedicht und den Dichter.
Dabei war das Gedicht zunächst doch sehr schön.
So haben wir oft schon Gedichte behandelt.
So haben wir oft schon Gedichte verschandelt.
So sollen wir lernen, sie zu verstehen.
Dieses Gedicht verdeutlicht, dass ästhetische Erfahrungen nicht übertragbar sind und auch nicht vermittelt werden können, indem man Wissen über das ästhetische Objekt vermittelt. Doch wird in unseren Schulen täglich dieser Vermittlungsversuch unternommen, eigentlich ästhetische Objekte werden bis ins kleinste Detail zerpflückt und verlieren so ihren ursprünglichen Reiz, der oft in der bloßen Erscheinung bzw. Wirkung jener liegt.
1.2.3. Erkennen und Ästhetik
Ästhetik und Erkenntnis sind unmittelbar miteinander verknüpft (vgl. u.a. Paál 2003; Scheer 1997). Dass Ästhetik ein komplementäres Gegenstück zur Erkenntnistheorie, oder ästhetisches Empfinden ein Teil der Erkenntnis wäre, würde den Resultaten der Kognitionsforschung widersprechen. Sie belegt, dass Kognition und Emotion nicht zu trennen sind, etwa in die Separierung Kopf und Herz. Unsere kognitiven Leistungen sind sozusagen allesamt emotional gefärbt, wobei viele davon erst durch die emotionale Markierung überhaupt ermöglicht werden (vgl. Damasio 1994 und 1999). In der Erkenntnisästhetik wird davon ausgegangen, dass alle Wahrnehmungs- und Erkenntnisprozesse ästhetisches Potenzial aufweisen und auch ästhetisch beurteilt werden können. Des weiteren sind ästhetische Erlebnisse immer an Objekte geknüpft (vgl. u.a. Paál 2003). Bernd Kleimann konstatierte hierzu in einem Schriftwechsel mit Christian Rolle, dass „Erfahrung und Erfahrungsgegenstand interdependent sind.“ (Kleimann/ Rolle 2000, S. 143) Es bestünde demnach eine wechselseitige Abhängigkeit von Erfahrungsprozess und Gegenstandsbeschaffenheit (vgl. ebd.). Doch bedeutet das auch, dass die Qualität der Gegenstände unmittelbare Auswirkung auf den ästhetischen Erfahrungswert hat?
Der Mensch nimmt die Umgebung über seine Sinne wahr, die ästhetische Wahrnehmung gilt dabei als besonderer Fall der sinnlichen Wahrnehmung (vgl. Rolle 1999, S. 120 auch S. 116f.). Bei elementar- sowie bei erkenntnisästhetischen Prozessen ist diese Wahrnehmung „immer eine Wahrnehmung von Unterschieden.“ (Paál 2003, S. 36) Kontinuierliche äußere Reize nimmt unser Gehirn nicht mehr wahr. Eine Reaktion erfolgt nur bei einer Veränderung des Reizes bzw. beim Eintreten eines neuen Reizes (ebd. S. 16). Die Wahrnehmung der Reize ist individuell verschieden. Generell können diese Wahrnehmungsunterschieden sowohl genetisch als auch angelernt sein. Das genetisch bedingte Wahrnehmungsverhalten ist auf die evolutionäre Entwicklungsgeschichte zurückzuführen (vgl. ebd. S. 35), auf diese Weise lassen sich z.B. die Abneigung für verdorbenes Fleisch oder die Vorliebe für Zucker erklären. Regionale Wahrnehmungsunterschiede sind eher dem erlernten Wahrnehmungsverhalten zuzuordnen, z.B. die Vorliebe für eine bestimmte Musik oder die Abneigung gegen ein bestimmtes Gewürz.
Das erkenntnisästhetische Erleben setzt im Gegensatz zur bloßen elementarästhetischen Wahrnehmung ein bewusstes Erkennen von Unterschieden voraus. Bei erkenntnisästhetischen Erfahrungen hat das ästhetische Objekt meist eine Zeichenträgerfunktion, das heißt, wir assoziieren mit einem Gegenstand bestimmte Stilrichtungen, Lebensgefühle, Erfahrungen, Stimmungen oder Vorstellungen. So verbinden wir beim Hören von Merenguemusik nicht nur den Musikstil, sondern werden vielleicht auch an Lateinamerika und ein bestimmtes Lebensgefühl erinnert. Elementar- und erkenntnisästhetisches Erleben schließen sich gegenseitig nicht aus, denn meist setzen schon nach kurzem Wahrnehmen des elementarästhetischen Reizes, die ersten Reflexionsprozesse bzw. Assoziationen ein (vgl. ebd. 34 ff.).
1.2.4. Hässlich oder Schön
Nachdem erläutert wurde, was für das Erkennen bzw. für den Erkenntnisprozess bestimmend ist, soll im folgenden der Frage nachgegangen werden, wann ein Objekt für uns ästhetisch oder nicht ästhetisch ist, bzw. wann wir etwas für schön befinden oder wann eher als hässlich. Diese Betrachtung erscheint insofern sinnvoll, als das ein allgemeiner Konsens darüber besteht, dass Menschen dazu neigen, „Schönes“ zu wiederholen und „Hässliches“ zu unterlassen. Christopher Wallbaum spricht in diesem Zusammenhang von Attraktionen, die das Objekt der Erfahrung zu einem ästhetischen Objekt werden lassen und dadurch, das es die korresponsive, kontemplative oder imaginative Wahrnehmung anregt. Geschieht dies, so ist das Subjekt dazu verleitet, „in diesem ästhetischen Wahrnehmungsvollzug zu verweilen und das Produkt möglicherweise erneut aufzusuchen“ (Wallbaum 2000, S. 248).
Wenn wir kategorische Unterscheidungen in schön und hässlich vornehmen, dann sprechen wir von einem persönlichen ästhetischen Empfinden, das wir benennen. Der Begriff „Empfinden“ enthält eine Doppeldeutigkeit, die wir auch im Begriff der Ästhetik wiederfinden. Wir sprechen in einer Analogie zur Aisthetik von Empfindungen einerseits, „wenn wir die Wirkung äußerer Eindrücke auf unsere Sinnesorgane bezeichnen wollen“ (Liessmann 2004, S. 23). Andererseits dient der Begriff des Empfindens auch der Beschreibung unserer Gefühle. Natürlich lassen sich unsere Gefühle nicht allein in die Worte ‚schön’ und ‚hässlich’ pressen, sondern wir bedienen uns einer ganzen Palette von Begriffen, die unser Empfinden ausdrücken sollen. Wir finden Dinge beeindruckend, reizend oder interessant, andere halten wir für angsteinflößend, langweilig oder gar lächerlich. Es soll nun nicht Aufgabe sein, sämtliche Varianten von Empfindungen auf ihre Entstehung hin zu analysieren, vielmehr soll die Ursache, wonach sich ästhetisches Empfinden einstellt, herausgearbeitet werden.
Unumstritten ist, dass Empfindungen höchst subjektiv sind. Was der eine interessant findet kann für den anderen tot langweilig sein. Aber warum? Es existieren bisher keine zuverlässigen hirnphysiologischen Erkenntnisse darüber, wie das Empfinden bzw. die Wahrnehmung wirklich funktioniert. Hinzu kommt, dass weder die Anzahl der Empfindungen noch die Menge der unterschiedlichen Interpretationen von Empfindungen zu überblicken ist. Dennoch rangieren einige Theorien darüber, wie wir bzw. warum wir (ästhetisch) empfinden.
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[1] Dieses Zitat stammt aus der kleinen Fabel „Das dicke Buch“ von Helmut Wördemann. In seinem „Wunschbuch Fabeln 1“ werden kleine Geschichten zu Fabelthemen heutiger Zeit erzählt. (Wördemann 2001)
[2] Zitiert nach Langbehn 2001: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Joachim Ritter (Hg.), Band 2, Darmstadt 1972, Sp. 868ff.
[3] Das Zitat wurde der Werkausgabe, Band 3 von 1977entnommen.
[4] Der Begriff der elementaren Ästhetik ist keine eigenständige Theorie, sondern wird von Gábor Paál als zusammenfassender und von der Erkenntnisästhetik abgrenzender Begriff verwendet. Während im elementaren Bereich der Ästhetik danach gefragt wird, wie wir auf was reagieren, beschäftigt sich die Erkenntnisästhetik mit den Ursachen und der Deutung dieser Reaktionen.
- Citation du texte
- Joan-Ivonne Bake (Auteur), 2006, Das ästhetische Experiment als Modell und Gegenstand des Musikunterrichts der Sekundarstufe I, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/71850
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