„Ich schneide ein Loch in meinen Kopf, in die Stirne schneide ich das Loch. Mit meinem Blut soll mir mein Hirn auslaufen.“ Während der bis dato wenig bekannte Autor Rainald Goetz diese Sätze aus seinem Beitrag zum Ingeborg-Bachmann-Preis vorlas, schnitt er sich mit einer Rasierklinge in die Stirn und las den Rest des Textes mit blutender Wunde zu Ende. Goetz beschrieb nicht nur eine selbstverletzende Handlung in seinem Wettbewerbsbeitrag, er demonstrierte sie an sich selbst. Machte den Text damit zur Wirklichkeit. Dieser spektakuläre Auftritt bei den Klagenfurter Literaturtagen im Juni 1983 brachte nicht nur die Gemüter der Jury und des Publikums in Wallung, sondern bescherte Goetz, auch ohne Auszeichnung für seine literarische Leistung, Erwähnung in allen bedeutenden deutschsprachigen Feuilletons. Der Aufritt machte ihn quasi über Nacht populär und teilte das Lager der Rezipienten in zwei Lager. „Da wurde das Werbetalent des Autors gelobt oder getadelt, das vitalistische Element der Lesung gefeiert oder bekämpft, da wurde ein literarischer Märtyrer ebenso entdeckt wie ein literarischer Brandstifter.“
In der vorliegenden Arbeit wird untersucht , ob und inwieweit Rainald Goetz Auftritt in Klagenfurt mehr war als eine bloße Provokation und der Versuch, sich auf radikale Art in der deutschsprachigen Literaturszene einen Namen zu machen. Hierbei werde ich zunächst die Reaktionen darstellen, die auf den „Rasierklingenschnitt“ folgten und im Folgenden der Frage des Seminars nach dem literarischen Tabu(bruch) nachgehen und erörtern, warum Goetz Aktion im Sinne einer geplanten Tabuüberschreitung (wenn dies denn der Anspruch des Autors gewesen sei) nicht funktioniert hat.
In dem zweiten Teil meiner Arbeit gehe ich anhand literaturwissenschaftlicher Analysen näher auf Goetz‘ mögliche Motivik ein. Dabei werde ich mich schwerpunkmäßig mit seinem Verständnis von Literatur und seinem Anspruch auf Authentizität befassen. Denn erst mit Einbeziehung dieser Aspekte scheint eine Einordnung und ein besseres Verstehen der Aktion möglich.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1. „Der Rasierklingenschnitt“: Hat Rainald Goetz in Klagenfurt ein Tabu verletzt?
1.2. „Hilflos“ und „wirkungslos“: Die Bewertung durch das Feuilleton
2. Der literarische Anspruch Rainald Goetz‘
2.2. Zitat und Simulation
2.3. Selbstverletzung als Mittel der Simulationskritik
Schlussbemerkung
Literaturliste
Einleitung
„Ich schneide ein Loch in meinen Kopf, in die Stirne schneide ich das Loch. Mit meinem Blut soll mir mein Hirn auslaufen.“[1] Während der bis dato wenig bekannte Autor Rainald Goetz diese Sätze aus seinem Beitrag zum Ingeborg-Bachmann-Preis vorlas, schnitt er sich mit einer Rasierklinge in die Stirn und las den Rest des Textes mit blutender Wunde zu Ende. Goetz beschrieb nicht nur eine selbstverletzende Handlung in seinem Wettbewerbsbeitrag, er demonstrierte sie an sich selbst. Machte den Text damit zur Wirklichkeit. Dieser spektakuläre Auftritt bei den Klagenfurter Literaturtagen im Juni 1983 brachte nicht nur die Gemüter der Jury und des Publikums in Wallung, sondern bescherte Goetz, auch ohne Auszeichnung für seine literarische Leistung, Erwähnung in allen bedeutenden deutschsprachigen Feuilletons. Der Aufritt machte ihn quasi über Nacht populär und teilte das Lager der Rezipienten in zwei Lager. „Da wurde das Werbetalent des Autors gelobt oder getadelt, das vitalistische Element der Lesung gefeiert oder bekämpft, da wurde ein literarischer Märtyrer ebenso entdeckt wie ein literarischer Brandstifter.“[2]
Ich werde in der vorliegenden Arbeit, aufbauend auf mein Referat, untersuchen, ob und inwieweit Rainald Goetz Auftritt in Klagenfurt mehr war als eine bloße Provokation und der Versuch, sich auf radikale Art in der deutschsprachigen Literaturszene einen Namen zu machen. Hierbei werde ich zunächst die Reaktionen darstellen, die auf den „Rasierklingenschnitt“ folgten und im Folgenden der Frage des Seminars nach dem literarischen Tabu(bruch) nachgehen und erörtern, warum Goetz Aktion im Sinne einer geplanten Tabuüberschreitung (wenn dies denn der Anspruch des Autors gewesen sei) nicht funktioniert hat.
In dem zweiten Teil meiner Arbeit gehe ich anhand literaturwissenschaftlicher Analysen näher auf Goetz‘ mögliche Motivik ein. Dabei werde ich mich schwerpunkmäßig mit seinem Verständnis von Literatur und seinem Anspruch auf Authentizität befassen. Denn erst mit Einbeziehung dieser Aspekte scheint eine Einordnung und ein besseres Verstehen der Aktion möglich.
1. „Der Rasierklingenschnitt‘: Hat Goetz in Klagenfurt ein Tabu verletzt?
„Mehrere Damen verließen den Saal“ und „ein Zuschauer kippte um“, wie das Wochenmagazin „Stern“ berichtete.[3] Das Jury-Mitglied Gert Ueding verweigerte eine Beurteilung des Vorgetragenen mit der Begründung, Goetz mythisiere Gewalt und Unmenschlichkeit, entziehe sich dem analysierenden Verstand und suche Zerschlagung um des Zerschlagens Willen.[4] Diese Reaktionen zeigen, dass der Autor offensichtlich die persönlichen Grenzen einiger Zuschauer überschritten hat. Doch sie bildeten die Ausnahme. Der größere Teil des Publikums applaudierte zunächst spontan und auch die Jury blieb, abgesehen von der oben erwähnten Verweigerung Gert Uedings, beim gewohnten Procedere und gab ihre Bewertungen ab, bevor Goetz sich seine Wunde ärztlich versorgen lies.[5] Das Programm selbst wurde bis auf eine kurze Pause nicht weiter unterbrochen.
Die Bewertungen der Jury sind insofern interessant, dass sie sehr unaufgeregt und rational reagierte und sehr genau trennte zwischem dem vorgetragenen Text, dessen literarische Qualität anerkannt wurde, und der provokanten Handlung Goetz‘, die allgemein abgelehnt wurde.
Mit seiner Handlung hat Rainald Goetz den Rahmen der Literatur verlassen „Aus der zu goutierenden Fiktion ist Realität geworden, [...], das Geschrei nach Wirklichkeit in der Literatur ist nicht nur bildlich sondern real.“[6] Goetz schrieb nicht nur darüber, seine Haut mit einer Rasierklinge zu verletzen, er demonstrierte dies gleichzeitig live auf der Bühne, holte seinen eigenen Text in die Realität und widersetzt sich damit den Erwartungen an eine literarische Darstellung. Doch wie authentisch, wie wirklich kann eine solche Aktion im Rahmen einer kulturellen Veranstaltung tatsächlich sein? Meine Vermutung ist, dass Goetz Schnitt in die eigene Stirn innerhalb einer künstlerischen Performance verblieben ist, indem er vom Auditorium sozusagen zeitgleich in eine künstlerische Handlung transformiert wurde. Denn solange es sich um Kunst handelt, bleibt eine solche Tat für das Publikum ertragbar. Das irritierende Moment, unerwartet mit der Wirklichkeit, mit dem echtem Leiden eines Menschen konfrontiert zu sein, wird damit ausgeschaltet. Die Ordnung (dass man sich in einer kulturellen Veranstaltung befindet) ist wieder hergestellt. Somit erfolgt auch die Beurteilung nach ästhetischen Kriterien, und nicht als ‚Alltagsbeurteilung‘ im Sinne eines „Wie kann er so etwas tun“, wie es denkbar wäre, wenn sich auf der Straße oder in einer wie auch immer gearteten Versammlung von Menschen ein „Nichtkünstler“ selbst verletzen würde.
Eine solche Tat wäre sicherlich als psychopathologisches Problem betrachtet und entsprechend darauf reagiert worden. Innerhalb der Kunst herrschen dagegen andere Regeln und Kriterien. Die Grenzen des Machbaren und, vom Standpunkt des Publikums aus betrachtet, des Ertragbaren sind weiter gefasst. Die Toleranzschwelle innerhalb der Kunst ist sehr hoch. Provozierende und schockierende Auftritte sind für ein kulturgewöhntes Publikum schon lange ‚Normalität‘.[7] Somit hat Goetz die Grenzen dessen was noch als Kunst gilt ausgelotet, aber kein Tabu gebrochen.
Im Focus der Kritik stand das zu augenfällig durchscheinende Motiv Goetz‘ für seine Überschreitung der literarischen Grenzen: Publicity. Somit rückte die selbstverletzende Handlung und das sich dahinter verbergende Dilemma des Autors ebenso in den Hintergrund wie der Text selbst. Diskutiert und kritisiert wurde die Goetz‘ unterstellte Instrumentalisierung des Wettbewerbes und die einkalkulierte mediale Wirkung. Der Autor sah sich mit dem Vorwurf konfrontiert, daß er auf diese Weise und nicht durch die Qualität seiner Literatur schnell Berühmtheit erlangen wolle. Sowohl von Seiten der Klagenfurter Jury als auch in den Besprechungen des Feuilleton wurde Goetz entsprechend eine fehlgeschlagene und sinnlose Aktion bescheinigt. Doch es bleibt die Überlegung, ob es ihm tatsächlich in erster Linie darum ging, das Publikum zu schocken, und auf diese Weise Popularität zu erlangen. Oder war es die Intention des Autors, ein literarisches Tabu zu brechen? Goetz Text ist eine - in einer aggressiven und provokanten Sprache gehaltene - Ansammlung von gesellschaftlich tabuisierten Handlungen und Phantasien, sei es die Beschimpfung einer behinderten Frau, das Benennen von Protagonisten nach RAF-Terroristen, blutige Gewaltphantasien, die detaillierte Schilderung einer selbstverletzenden Handlung oder die Verwendung von Nazivokabular.
[...]
[1] Goetz, Rainald: Subito. In: Klagenfurter Texte zum Ingeborg-Bachmann-Preis 1983. Hrg. v. H.Fink u.a. München, 1983. S. 75.
[2] Kühn, Rainer: Bürgerliche Kunst und antipolitische Politik. Der „Subjektkultkarrierist“ Rainald Goetz. In: Neue Generation – Neues Erzählen. Deutsche Prosa-Literatur der Achtziger Jahre. Hrg. v. Walter Delabar u.a. Opladen, 1993. S. 25f
[3] „Stern“, 30. Juni 1983.
[4] vgl. „Neue Züricher Zeitung“, 30. Juni 1983.
[5] Die Jury entsprach damit Goetz ausdrücklicher Forderung. Der Autor lehnte eine sofortige Behandlung seiner Wunde ab und forderte die Besprechung seines Textes ein. Erst danach ließ er sich medizinisch versorgen.
[6] Delabar, Walter: Goetz, Sie reden wirres Zeug. Rainald Goetz und sein Wahnsinns-Ritt in die Literaturszene. In: Juni-Magazin für Kultur und Politik am Niederrhein. Heft 4, 1990. S. 69.
[7] Ich denke hier an Kunst/Theaterperformances, die die Grenze zwischen Realität und Kunst verwischen ließen. In den sechziger Jahren provozierten Künstler des „Wiener Aktionismus“ mit echtem Blut auf der Bühne. Sie gingen zum Teil so weit, daß sie Tiere auf der Bühne schlachteten. Ein anderes Beispiel wäre, der österreichische Aktionskünstler Wolfgang Flatz der mit den Reaktionen und den Grenzen des Publikums experimenterierte, indem er sich beispielsweise auf offener Bühne real schlagen lies.
- Arbeit zitieren
- Katharina Maas (Autor:in), 2000, Rainald Goetz - ‚Rasierklingenschnitt’ bei den Klagenfurter Literaturtagen: mehr als eine kalkulierte Publicity-Aktion?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/71510
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