Grundlage dieser Arbeit ist die literaturdidaktische Debatte darüber, wie Literaturunterricht in der heutigen Zeit gestaltet werden soll, wenn man bedenkt, dass laut einer Untersuchung im Rahmen der PISA Forschung 31% der 15- jährigen Lesen für Zeitverschwendung halten und 42% noch nie erfahren haben, dass Lesen Freude bereiten kann. Muss der Literaturunterricht für Vergnügen und lustvolles Lesen sorgen oder steht vielmehr die Vermittlung von sprachlich-ästhetischen Stilmitteln im Vordergrund? Ist die Auseinandersetzung mit literarischen Formen und Prinzipien Lesearbeit oder kann sie auch den Lesegenuss bereichern? Wenn Literaturunterricht die Schüler motivieren und „zum Lesen verlocken“ möchte, seinen Schwerpunkt auf Emotionen statt auf Kognition setzt, bestehen dann Zweifel an der Legitimation des Literaturunterrichts in der Schule? Gibt es einen Weg, emotionales, soziales und kognitives Lernen miteinander zu verbinden?
Diese und ähnliche Fragen werden, unter besonderer Berücksichtigung des Literaturunterrichts in der Grundschule, zu beantworten versucht.
Aus dieser Diskussion heraus ist ein Unterrichtsentwurf zum kreativen Schreiben in der Grundschule entstanden. In diesem Beispiel werden verschiedene Übungen zum kreativen Schreiben vorgestellt, die z.B. im Rahmen eines Lernens an Stationen den Kindern auf entdeckende Weise nahegebracht werden könnten.
Inhalt
I. Einleitung
II. Literaturdidaktische Debatte
II. 1 Analytisch vs. Ästhetisch-künstlerisch
II. 2 Schreibende Leser sind die besseren Leser?
II. 3 Literarisches und kreatives Schreiben
III. Vermittlung des literarischen Lernens in der Grundschule
III. 1 Wie wird literarisches Lernen in der Grundschule verwirklicht?
III. 2 Der Umgang mit der Literatur beginnt nicht erst in der Schule
III. 3. Der handlungs- und produktionsorientierte Vermittlungsweg
IV. Unterrichtsreihe zum kreativen Schreiben
V. Korrektur und Bewertung der kreativen Arbeiten
VI. Literaturverzeichnis
I. Einleitung
Grundlage dieser Arbeit soll die literaturdidaktische Debatte darüber sein, wie Literaturunterricht in der heutigen Zeit gestaltet werden soll, wenn man bedenkt, dass laut einer Untersuchung im Rahmen der PISA Forschung 31% der 15- jährigen Lesen für Zeitverschwendung halten und 42% noch nie erfahren haben, dass Lesen Freude bereiten kann.1 Muss der Literaturunterricht für Vergnügen und lustvolles Lesen sorgen oder steht vielmehr die Vermittlung von sprachlich-ästhetischen Stilmitteln im Vordergrund? Ist die Auseinandersetzung mit literarischen Formen und Prinzipien Lesearbeit oder kann sie auch den Lesegenuss bereichern? Wenn Literaturunterricht die Schüler motivieren und „zum Lesen verlocken“ möchte, seinen Schwerpunkt auf Emotionen statt auf Kognition setzt, bestehen dann Zweifel an der Legitimation des Literaturunterrichts in der Schule? Gibt es einen Weg, emotionales, soziales und kognitives Lernen miteinander zu verbinden?
Diese und ähnliche Fragen sollen, unter besonderer Berücksichtigung des Literaturunterrichts in der Grundschule, im Folgenden beantwortet werden. Aus dieser Diskussion heraus ist ein Unterrichtsentwurf zum kreativen Schreiben in der Grundschule entstanden, da die Schüler durch eigentätiges Kreieren von Texten für den Umgang mit Sprache sensibilisiert und auf diese Weise zukünftig aufmerksamer lesen würden.2
II. Literaturdidaktische Debatte
II.1 Analytisch vs. ästhetisch-künstlerisch
Auf der einen Seite stehen die Befürworter des analytischen Literaturunterrichts, deren Vertreter bspw. Rudolf Lehmann (19. Jh.) und Jürgen Förster (20. Jh.) sind, auf der anderen Seite Anhänger, wie z.B. Phillip Wackernagel (19. Jh.), Günter Waldmann (20. Jh.), des gefühlsbetonten, ästhetisch-künstlerischen Unterrichts, der oftmals eng in Verbindung mit einem handlungs- und produktionsorientierten Literaturunterrichts steht.
Im analytischen Ansatz wird bei Untersuchung der Texte zwischen der rezeptio-nellen und der interpretatorischen Ebene unterschieden. Der Ausdruck der ersten „spontanen, unbefangenen“ Eindrücke werden der Rezeption zugeordnet, als Interpretation hingegen werden die Ergebnisse eines zweiten Schrittes bezeichnet, die nun reflektierter, tiefgründiger sind und zusätzliche Informationen berücksichtigen.3 Im Rahmen der Interpretation werden kognitive Fähigkeiten, wie bspw. das Erkennen von „paradigmatischer und syntaktischer Ordnung der Worte“, Wiederholungen, Isotopien oder Metonymien, erwartet.4 In der Debatte Verstand vs. Gefühl, die von Beginn an in der Literaturdidaktik geführt wurde5, steht beim analytischen Ansatz der Verstand im Vordergrund, wobei z.B. Lehmann bereits im 19. Jh. extensive „Verstandesschulung“6 gerade für die jüngeren Schüler/innen ablehnte. Für unsere heutige Grundschule bspw. würde auch er „ein lebendiges, gefühlsmäßiges, anschauliches Literaturverständnis“7 befürworten. Während im analytischen Literaturunterricht Strategien und Techniken des Lesenlernens einen Schwerpunkt einnehmen, stehen im ästhetisch-künstlerischen Literaturunterricht hingegen vor allem affektive Lernziele, wie Freude, Lust, Spaß und Motivation im Vordergrund.8 Die Analytiker sind jedoch der Ansicht, dass der Lerngegenstand verloren gehe, wenn der Literaturunterricht nur noch der Motivation dienen soll. Sie plädieren dafür, dass ein lustvolles Lesen, welches die Befürworter des künstlerisch-ästhetischen Ansatzes für sehr wichtig halten, erst durch professionelles Lesen, das die Kenntnis über literarische Verfahren einschließt, möglich ist. So ist bspw. auch Harald Frommer der Ansicht, „>die Lust am Text>“ könne „mit einer >Lust an literarischer Erkenntnis>“9 kombiniert werden.
Erich Schön wiederum beklagt den Verlust der Sinnlichkeit in der Lesekultur, der sich bereits zur Wende vom 17. zum 18. Jh. einschleicht, wenn Leselust zur Lesearbeit wird. Vielmehr sollten beim Lesen alle Sinne angesprochen werden. Schön fordert bereits im 19. Jh. dazu auf, wieder in der Natur zu lesen, anstatt Körperlichkeit und Sinnlichkeit durch Kultivierungsprozesse zu verdrängen. In der heutigen Zeit würde auch das Lautlesen oder Vorlesen zu einem sinnlichen Lesen beitragen. Was Schön damals bemängelte, ist heute in vielen Grundschulen wieder zu finden. Es wurden Lese- bzw. Kuschelecken eingerichtet „zur genussvollen Zwischendurch – oder Pausenlektüre“ oder aber es werden Lese- und Bibliotheksnächte veranstaltet. Auch das Vorlesen findet selbst in Sekundarstufen wieder Anklang.10 Wenn man sich jedoch überlegt, dass Lehrer/innen, die bei aller Leseförderung das literarische Lernen nicht vernachlässigen möchten und somit an ein Vorlesen z.B. eine Interpretation anschließen würden, dann stellt sich die Frage, ob durch die intonatorischen Akzentuierungen des Vorlesers eine mögliche Interpretation beeinflusst würde. Lesestunden und Lesenächte würden bei Gegnern auf Ablehnung stoßen, weil diese freizeitähnliche Art des Lesens nichts mehr mit dem Unterrichtsfach Deutsch gemeinsam hätte.
In der Lesesozialisationsforschung fand man heraus, dass eine intensive Leselust-Phase in der Kindheit das Leseverhalten im Erwachsenenalter begünstige.
Dennoch würde ein Vertreter des analytisch betonten Unterrichts dem entgegenhalten, dass bei aller Freude und Motivation im Kinder-, Jugend-, und Erwachsenenalter die ‚Lesearbeit’, die auch ein Lesen mit Notizen sowie statarisches Lesen einschließt, Gewinn bringender sei. So ist auch Roland Barthes der Ansicht, einen Text würde man beim zweiten Lesen anders lesen. Kompromissbereit scheint hingegen Frommer zu sein, der zwar grundsätzlich den traditionellen Ansatz der Vermittlung bevorzugt, jedoch den Schülern zunächst die Chance gibt, ihre Meinung frei zu äußern und erst im nächsten Schritt zum literarischen Lesen übergeht. Hier lässt sich jedoch anmerken, dass viele Schüler/innen in der Schule diese einzelnen Schritte nicht spüren, da sie die erste Phase der subjektiven Meinungsäußerung oftmals nicht ernst nehmen, weil sie die Erfahrung gemacht haben, dass die eigene Sichtweise nicht gewürdigt wird. Vielmehr ist ihnen bewusst, dass sich die vermeintlich wichtigere Phase der Analyse und Interpretation bald anschließen wird.
Eine Lösung wäre es, wenn man stets eine Balance zwischen Arbeit und Unterhaltung herstellen und den Kindern sowohl den Unterschied zwischen anspruchsvoller und „leichter“ Literatur aufzeigen würde. Doch darf der Anteil des unterhaltsamen oder gefühlsbetonten Literaturunterrichts nicht nur am Rande stehen, damit Lehrer/innen und Schüler/innen ihn ebenso wichtig einstufen und so auch mit gutem Gewissen emotional künstlerisch-ästhetische Anteile in den Literaturunterricht einfließen können.
Möglichkeiten, ästhetisch-künstlerische Aspekte mit einem intensiven Textverständnis zu verbinden, weist die literarische Schreibdidaktik auf.
II.2 Schreibende Leser sind die besseren Leser?
„Nur wer selbst schreibt, hat (wirklich) gelesen“11, lautet eine These von Barthes in der literarischen Schreibdidaktik. Begründen ließe sich diese These damit, dass man durch eigene Erfahrung im Verfassen von Texten, anschließend sorgfältiger, aufmerksamer liest und das Gespür für sprachliche Besonderheiten wächst.12 Um auf die Diskussion analytischer vs. künstlerisch-ästhetischer Literaturunterricht zurückzukommen, ist literarisches Schreiben eine Möglichkeit, die Schüler/innen künstlerisch-ästhetisch arbeiten zu lassen und gleichzeitig, durch eigene Verwendung von sprachlichen Mitteln oder durch Übung im Textaufbau, sie mit literarischen Mitteln auf eigenaktive Weise vertraut zu machen. Nebenbei erfahren sie, dass Texte ein menschliches Produkt sind, das nicht vom Himmel gefallen ist, hinter dem Intentionen stecken und allein schon aus diesem Grund der näheren Betrachtung würdig sind. So gehören selbstverfasste Texte der Schüler/innen zum Literaturunterricht und zum literarischen Lernprozess dazu.13
II. 3 Literarisches und kreatives Schreiben
In der literarischen Schreibdidaktik wird zwischen dem literarischen und dem kreativen Schreiben unterschieden.
Bei einem literarischen Schreibprozess stellt der Text eines „Nicht-Schülerautors“ die Ausgangslage und Grundlage dar. Schreibaufgaben könnten hier z.B. das Weiterschreiben eines Textes im Stile des Autors sein. So müssen sich die Schüler/innen zunächst mit dem Ausgangstext auseinandersetzen und ihn dann auf Grundlage ihres individuellen Verständnisses zu Ende schreiben. In der Sekundarstufe bieten die fragmentarischen Texte von Franz Kafka solch eine Gelegenheit.15 Aber auch für die Grundschule gibt es diverse Möglichkeiten solcher „Weiterschreibgeschichten“. So ist beispielsweise in jeder Ausgabe der fachwissenschaftlichen Zeitschrift „Praxis Grundschule“ eine solche Geschichte zu finden. Auch Kinderbücher mit einem offenen Ende, wie z.B. Helme Heines „Freunde“ bieten einen solchen Schreibanlass. Mechthild Dehn stellt ein grundschulorientiertes Schreibkonzept vor. Sie plädiert dafür, nicht nur zuerst die Buchstaben zu lernen, sondern auch schon möglichst bald Geschichten schreiben zu lassen. In den Entwürfen der Kinder würde deutlich, dass sie Strukturen von Geschichten sehr wohl verinnerlicht haben oder (zuvor besprochene) sprachliche Mittel von ganz allein in den Text einbauen.16
Während des kreativen Schreibens steht der literarische Lernprozess nicht im Vordergrund, sondern ist lediglich ein Nebeneffekt. Vielmehr als kognitive, stehen emotionale und soziale Kompetenzen im Vordergrund, da oft auch Schreibwerkstätten oder Lerngruppen zum kreativen Schreiben eingerichtet werden17. Gefühle und Erfahrungen können durch das Schreiben ausgedrückt und verarbeitet werden. Der Ausgangstext dient lediglich der Ideensammlung, muss aber nicht zwingend verwendet werden oder vorhanden sein.18 Jürgen Fröchling spricht auch von einem ‚expressiven Schreiben’, einem Schreiben, das „von Innen her“ komme. Es ist ein phantasievolles, ästhetisches und kommunikatives und autobiographisches Schreiben.19
Hier wird deutlich, dass das kreative Schreiben hauptsächlich mit dem künstlerisch-ästhetischen Ansatz vereinbar ist, während das literarische Schreiben noch eine Brücke zwischen dem analytischen und dem künstlerisch-ästhetischen Literaturunterricht bauen kann. Es weicht von traditionellen Schreibmethoden ab, Schreibnormen dürfen gebrochen werden. Schrift darf auf alle Weisen gestaltet werden. Eine kreative Möglichkeit in der Einführungsphase des kreativen Schreibens ist es z.B. Wörter wie <Wolke>, <Blitz>, oder <Regenschirm> ihrer Gestalt nach schreibend zu malen.
Der italienische Kinderbuchautor Gianni Rodari hat eine ‚Grammatik der Phantasie’ entwickelt. Er zeigt auf, wie man unangestrengt Geschichten erfinden kann. Seine Kapitelüberschriften: „Das willkürliche Präfix“, „Wie Limericks gemacht werden“ Konstruktion eines Rätsels, „Märchensalat“ oder „Mathematik der Geschichten“ machen deutlich, dass er ein Kreativitätsverständnis vertritt, das sich nicht fernab von allen Regeln liegt, sondern dass er kreatives Schreiben den Kindern erleichtern möchte, indem er ihnen gewisse Übungsaufgaben und Vorgaben gibt.20 Spontaneität kann auch auf Grenzen stoßen, sodass Anleitungen eine Hilfestellung bieten können. So können inhaltliche Vorgaben bezüglich eines Themas oder Satzanfangs gemacht werden, oder aber formale Kriterien z.B. zum Sprachgebrauch oder zur Gestaltung gemacht werden. Ein Beispiel zur Gestaltung wäre das ‚Akrostichon’, bei dem das Wort <Ferien> untereinandergeschrieben würde und zu jedem Buchstabe müsste dann ein passendes Wort - je nach gewünschtem Schwierigkeitsgrad thematisch gebunden oder ungebunden - gefunden werden. Liegen strukturelle Regeln vor, muss der Text oder auch ein Gedicht eine bestimmte Struktur haben. Sollen die Kinder bspw. ‚Elfchen’ schreiben, sind ihnen ganz klare Regeln für die Struktur vorgegeben. In die erste Zeile wird ein beliebiges Wort zu einem beliebigen Thema, einer Idee, einem Gefühl, einer Stimmung o.a. geschrieben. In der zweiten Zeile kommen zwei Wörter hinzu, die thematisch zum ersten Wort passen müssen. In die dritte Zeile werden drei Wörter geschrieben. „Wo oder wie ist das in Zeile 2 Genannte? Was tut es?“ In der nächsten Zeile werden vier Wörter hinzugefügt, die noch weitere Details über die Wörter in Zeile 2 erzählen. In die letzte Zeile wird ein Schlusswort geschrieben. Diese Anweisungen können aber frei variieren oder bis auf die Anzahl der Wörter ganz wegfallen.21 Ein Elfchen einer Viertklässlerin sah folgendermaßen aus:22
[...]
1 vgl.: Kammler: Anmerkungen zum Stellenwert des Literaturunterrichts nach PISA
2 vgl.: Paefgen: Einführung in die Literaturdidaktik, S. 107
3 Paefgen: Einführung in die Literaturdidaktik, S. 53
4 Paefgen: Einführung in die Literaturdidaktik; S. 104
5 Paefgen: Einführung in die Literaturdidaktik, S. 6
6 Paefgen: Einführung in die Literaturdidaktik, S. 7
7 ebd.
8 Paefgen: Einführung in die Literaturdidaktik. S. 139
9 Paefgen: Einführung in die Literaturdidaktik, S. 102
10 Paefgen: Einführung in die Literaturdidaktik, S. 103
11 R. Barthes, in: Paefgen: Einführung in die Literaturdidaktik, S. 106
12 vgl.: I. Meckling, in: Paefgen: Einführung in die Literaturdidaktik. S. 107
13 vgl. Paefgen: Einführung in die Literaturdidaktik, S. 105
15 Paefgen: Einführung in die Literaturdidaktik, S.108
16 Paefgen: Einführung in die Literaturdidaktik, S.114
17 Böttcher: Kreatives Schreiben, S. 13
18 Paefgen: Einführung in die Literaturdidaktik, S.115
19 Paefgen: Einführung in die Literaturdidaktik, S. 116
20 ebd.
21 Böttcher (Hrsg.): Kreatives Schreiben, S. 58
22 ebd.
- Citar trabajo
- Anika Geißler (Autor), 2006, Ein Unterrichtsentwurf zum kreativen Schreiben in der Grundschule auf Grundlage der literaturdidaktischen Debatte, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/70610
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