Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit der Sozialen Arbeit im Tätigkeitsbereich der Psychiatrie. Dabei geht sie der Frage nach, welche spezifischen Anforderungen die Soziale Arbeit zu erfüllen hat, um die Menschenwürde der Psychiatrie-Betroffenen in Deutschland zu gewährleisten. Anfangs erfolgt dafür ein historischer Rückblick, der sich mit den Entwicklungen der Psychiatrie seit 1945 in Deutschland befasst. In diesem Kontext wird die deutsche Teilung einbezogen und die zwei Staaten werden miteinander verglichen. Mit dem Bezug auf den Einigungsprozess wird der Übergang zur heutigen Zeit geschaffen. Als nächstes wird das Augenmerk auf bestehende Probleme und Mängel in der Psychiatrie gelenkt und somit aufgezeigt, welche Sachverhalte die Menschenwürde gefährden. Daraus werden Schlussfolgerungen getroffen, deren Umsetzung sich als notwendig herausstellt, um die Würde der Psychiatrie-Betroffenen zu gewährleisten. In diesem Zusammenhang wird der gemeindenahe sozialpsychiatrische Ansatz dargestellt. Es wird aufgezeigt, dass dieser durch seinen Rückbezug auf das soziale Umfeld der Psychiatrie-Betroffenen die gesellschaftliche Teilhabe und die Wahrung ihrer Würde als sein oberstes Ziel ansieht. Der letzte Teil der Arbeit bezieht sich auf die grundlegenden Aufgaben und Methoden der Sozialen Arbeit in der Psychiatrie, durch die sie sich in einem multiprofessionellen Team auszeichnet. Mit Hilfe konkret aufgezeigter Leitsätze der Sozialen Arbeit soll ihr Beitrag zur Wahrung der Menschenwürde in der Psychiatrie festgestellt werden.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Entwicklung der Psychiatrie in Deutschland seit
2.1 Vor der Spaltung
2.2 DDR
2.2.1 Versorgung – einheitlich und staatlich organisiert
2.2.2 Leitbild – Pawlow vs. Jones durch Rodewischer und Brandenburger Thesen
2.2.3 Behandlung – geprägt durch Arbeitstherapie
2.3 BRD
2.3.1 Versorgung – dezentral durch Ausbau ambulanter psychiatrischer Einrichtungen
2.3.2 Leitbild – Von stationärer zu gemeindenaher Versorgung durch die Psychiatrieenquete
2.3.3 Behandlung – von Bewahrung zur therapeutischen Qualifizierung
2.4 Nach der Wiedervereinigung
2.4.1 Versorgung
2.4.2 Leitbild
2.4.3 Behandlung
2.5 Zusammenfassung
3 Anforderungen an eine menschenwürdige Psychiatrie
3.1 Probleme und Mängel in der Psychiatrie
3.1.1 Versorgung
3.1.2 Leitbild
3.1.3 Behandlung
3.2 Schlussfolgerungen
3.3 Zusammenfassung
4 Mittendrin – sozialpsychiatrische und gemeindenahe Ansätze heute
4.1 Versorgung – durch den gemeindepsychiatrischen Verbund
4.2 Leitbild - Soteria-Idee am Beispiel der stationären Pflichtversor-
gung in Gütersloh
4.3 Behandlung – verstehen und behandeln
4.4 Zusammenfassung
5 Soziale Arbeit in der Psychiatrie
5.1 Aufgaben der Sozialen Arbeit in der Psychiatrie
5.2 Methoden der Sozialen Arbeit in der Psychiatrie
5.3 Leitsätze der Sozialen Arbeit für eine menschenwürdige
Psychiatrie
5.3.1 Klinische Sozialarbeit
5.3.2 Verhandeln statt Behandeln
5.3.3 Empowerment
5.3.4 Lebensweltorientierung
5.3.5 Soziale Anerkennung
5.3.6 Transparenz
5.3.7 Reflexion des eigenen Handelns
5.4 Zusammenfassung
6 Schlusswort und Ausblick
Literaturverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Anhang
Rodewischer Thesen
1 Einleitung
„Also wissen Sie, wenn es mir schlecht geht, traue ich mich meist nicht, mit jemanden darüber zu sprechen. Warum nicht? Aus Angst, der Andere könnte mir helfen wollen! Was wünschen Sie sich denn stattdessen? Ich wünsche mir einen Anderen, von dem ich sicher sein kann, dass er mir unendlich lange zuhört, damit ich solange reden kann, bis ich selbst wieder weiß, was los ist und was ich zu tun habe.“[1]
Für Psychiatrie-Betroffenen ist es sehr bedeutsam, ankommen zu dürfen. Das heißt, dass sie sich in ihrer Person angenommen fühlen wollen. Nur indem sie in ihrer Individualität wahrgenommen werden, mit ihren Stärken und Schwächen, mit ihrer Lebenswelt und Lebensgeschichte, kann dies gelingen. Das Thema der vorliegenden Arbeit „Sein ist gesehen werden“ soll dabei handlungsleitend sein, da eine menschenwürdige Psychiatrie in Deutschland nur gewährleistet werden kann, wenn die Psychiatrie-Betroffenen auf der Basis eines Trialoges wahrgenommen werden. Das Wissen um Unbestimmtheiten dabei ist besonders wichtig, da nur durch dieses der Andere als Andere verstanden wird.
In diesem Zusammenhang wendet sich diese Arbeit der Frage zu, welche spezifischen Anforderungen die Soziale Arbeit zu erfüllen hat, damit sie die Menschenwürde der Psychiatrie-Betroffenen in der Psychiatrie gewährleisten kann.
Um auf diese Frage Antwort zu geben, wird im zweiten Kapitel der vorliegenden Arbeit zunächst auf die Geschichte der Psychiatrie in Deutschland seit 1945 und dem damit einhergehenden Wandel des Umgangs mit Psychiatrie-Betroffenen eingegangen. Um einem Wissen sozialhistorischer Zusammenhänge zu genügen, wird die deutsche Teilung einbezogen. Hier werden die zwei Wege in dieser Zeit beschrieben und verglichen. Mit der Wiedervereinigung wird der Bezug zur heutigen Situation der Psychiatrie geschaffen.
Im dritten Kapitel wird der Fokus auf die Menschenwürde in der Psychiatrie gelegt. Dazu sollen bestehende Probleme und Mängel der Psychiatrie beschrieben werden, um sich daraus ergebende Anforderungen für eine menschenwürdige Psychiatrie in Deutschland aufzuzeigen.
Diese werden im vierten Kapitel, welches sich mit dem gemeindenahen sozialpsychiatrischen Ansatz befasst, in ihrer Umsetzung aufgezeigt.
Im fünften Kapitel soll die Rolle der Sozialen Arbeit in der Psychiatrie zum Tragen kommen. Dafür werden deren spezifische Aufgaben und Methoden in der Psychiatrie benannt. Daraufhin werden Leitsätze für die Soziale Arbeit beleuchtet, auf deren Grundlage das sozialarbeiterische Handeln auszurichten ist, damit Soziale Arbeit ihren Beitrag zur Wahrung der Menschenwürde der Psychiatrie-Betroffenen in Deutschland leisten kann.
Für die vorliegende Arbeit werden die Begriffe psychiatrisch Tätige und Psychiatrie-Betroffene verwendet. Damit werden Begriffe aus der aktuellen sozialpsychiatrischen Fachliteratur übernommen. Der Begriff Psychiatrie-Betroffene soll Stigmatisierungen und Vorurteilen entgegenwirken.
2 Entwicklung der Psychiatrie in Deutschland seit 1945
2.1 Vor der Spaltung
Am 08. Mai 1945 kapitulierte Deutschland, der Krieg war beendet. Das Land war zerstört, vieles zertrümmert, die Lebensmittel waren mehr als knapp und die Anzahl der Menschen, die im Krieg ihr Leben verloren hatten, schien unfassbar.
Für die Anstaltspsychiatrie war die Nachkriegszeit geprägt durch einen Mangel an Essensware. Die Versorgung wurde durch Lebensmittelkarten sichergestellt, wobei diese kaum für den täglichen Bedarf ausreichten. Jeder Erwachsene erhielt eine Normalverbraucherkarte. Für bestimmte Bevölkerungsgruppen wie Ärzte, das Pflegepersonal einer Heilanstalt und stationär untergebrachte, körperlich Erkrankte gab es eine Sonderration. Die Verschlechterung der Versorgungslage verspürten am meisten die stationär untergebrachten psychisch kranken Menschen. Dies lag einerseits daran, dass sie über keine Sonderration, wie die körperlich kranken Menschen, bei den Lebensmittelmarken verfügen konnten und andererseits daran, dass die Möglichkeit über Schwarzmarkteinkäufe weitere Lebensmittel besorgen zu können, fehlte.[2] Sonderrationen für psychisch Kranke waren nur schwer zu bekommen und wurden meist mit der Begründung, dass bei ihnen keine Betreuung notwendig sei, abgelehnt, wie im folgenden Abschnitt aufgezeigt wird:
„Lediglich klinische Abteilungen, die unter fachärztlicher Aufsicht stehen und in denen die Kranken täglich ärztlich betreut und behandelt werden, können den Verpflegungsansatz ‚A’ erhalten. Geisteskranke, die lediglich ‚verwahrt’ und keiner besonderen Behandlung unterliegen, (…) erhalten, (…) nur den Verpflegungssatz ‚C’.[3]
Auch andere Waren wie Heizmaterial, Medikamente, ärztliche Instrumente sowie Güter des alltäglichen Gebrauchs waren Mangelware. Der Mangel an Waren des täglichen Gebrauchs und der Mangel an Lebensmitteln führte dazu, dass sich das Therapiespektrum auf die Arbeitstherapie beschränkte. Nur mit Hilfe der Arbeitskraft der Patientinnen und Patienten in den eigenen Betrieben und der eigenen Landwirtschaft konnte das Überleben gesichert werden. So wurde für diesen Zweck das oberste Ziel, die Wiedereingliederung in die Gesellschaft und die Herstellung der Arbeitsfähigkeit, der Arbeitstherapie in dieser Zeit hinten an gestellt.[4]
Das größte Problem zu dieser Zeit war allerdings der Platzmangel in den Anstalten, welcher einher ging mit der Umfunktionierung der Anstalten als Lazarette und Behörden und der stetig ansteigenden Patientenanzahl, die mit der Verlegung psychisch kranker und behinderter Menschen aus Polen und der Sowjetunion in die Anstalten zusammenhing.
Im Gegensatz zu den westlichen Besatzungszonen, die sich erst seit Mitte der 1960er Jahre mit den Euthanasieverbrechen in der Psychiatrie beschäftigten, wurde in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) schon 1945 mit der Entnazifizierung begonnen.[5] Dies hatte zur Folge, dass ca. 20% des Pflege- und Verwaltungspersonals, welches im Dritten Reich in den Heil- und Pflegeanstalten gearbeitet hatte, entlassen wurde. Ärztliches Personal wurden in diese Prozedur nicht einbezogen, da diese zunehmend in die westlichen Besatzungszonen flüchteten und somit ein akuter Mangel an ärztlichem Personal drohte. In der SBZ wurde ein ganzes Maßnahmebündel umgesetzt, welches nicht nur ehemalige Nationalsozialisten aus leitenden Positionen enthob, sondern auch darauf abzielte die Wurzeln des Nationalsozialismus auszurotten um so einer neuen Gesellschaftsordnung den Boden zu bereiten.[6] So konnte schon 1948 von der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD) der Abschluss der Entnazifizierung bekannt gegeben werden.[7]
Um die Zeit des Inkrafttreten des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland (BRD) am 24. 05.1949 und der Gründung der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) am 07.10.1949 setzte der lang ersehnte wirtschaftlicher Aufschwung ein.
Der anhaltende Mangel an Lebensmitteln wurde endlich geringer und damit stabilisierten sich auch zunehmend die Verhältnisse in der Psychiatrie.
2.2 DDR
2.2.1 Versorgung – einheitlich und staatlich organisiert
In den 1950er Jahren wurden die alten Heil- und Pflegeanstalten die einen verwahrenden Charakter hatten wiederaufgebaut. Sie orientierten sich insbesondere an den „Schockverfahren“ und der Arbeitstherapie. Die materiellen sowie die personellen Bedingungen in dieser Zeit waren äußerst schlecht. Durch die schlechten Arbeitsbedingungen sowie den geringen Verdienst, herrschte in den Anstalten enormer Personalmangel. Ambulante Kapazitäten waren zu diesem Zeitpunkt überhaupt nicht vorhanden.[8]
Eine neue Ära begann um 1956, in der die Schrecken der Nachkriegzeit langsam abnahmen. Das lag zum Teil an der Verarbeitung der Geschehnisse im Zweiten Weltkrieg und an der Entnazifizierung, welche im sozialistischen Staat stattgefunden hatte. Zusätzlich sorgten Neuroleptika, die neu auf dem Markt zu bekommen waren für Optimismus. Den Anfang macht 1952 hier das antipsychotische Mittel Chlorpromazin. Bis dahin war das Therapieverfahren durch Elektroheilkrampfbehandlung, Insulin-Koma-Therapie und Kardiazol-Schock geprägt.[9]
Das gesundheitliche Versorgungswesen sowie das Versicherungswesen wurden einheitlich und staatlich organisiert. Dies ermöglichte eine unkomplizierte Anwendung von verschiedenen Leistungsformen, die man je nach Bedarf entsprechend flexibel und auch gleichzeitig einsetzen konnte. Daraus ergab sich die Möglichkeit einer lebensbegleitenden Fürsorge, welche von der akuten Erkrankung über die mittel- und langfristige Rehabilitation bis hin zur Pflege der Angehörigen ein weites Spektrum füllte. So gab es keine Grenzen zwischen Beratung, Behandlung, Psychotherapie, sozialer Hilfe und der Einbeziehung nicht-professioneller, gesellschaftlicher Ressourcen und Pflege.[10] Gerade aber weil es nur eine gesundheitliche Institution gab, bestand die Gefahr des Missbrauchs, welche im Jahre 1950 durch die Einrichtung des Ministeriums für Staatsicherheit (MfS) und dessen Verschwörungstheorie der „politischen-ideologischen Diversion“[11], die seit dem Jahr 1957 an Wichtigkeit gewann, noch erhöht wurde. So hatte das MfS die Aufgabe Informelle Mitarbeiter (IM) zu finden. Diese sollten dafür sorgen, Informationen über das medizinische Personal herauszufinden, welches in den Westen flüchten wollte. Auch Patientinnen und Patienten, welche sich auffällig gegen das sozialistische System benahmen, bespitzeln und über diese Akten anzulegen und diese Akten regelmäßig dem MfS zu überreichen. Die inneren Konflikte, die durch die Anwerbungen des MfS entstanden, waren nicht leicht zu lösen. Entschied man sich für eine konspirative Arbeit mit dem MfS, wurde damit die ärztliche Schweigepflicht verletzt. Wollte man seine ärztliche Schweigepflicht nicht verletzen, war ein dekonspiratives Verhalten an den Tag zu legen. Hierbei musste man Dritten von der Anwerbung des MfS mitteilen. Daraufhin ließ das MfS meist von ihnen ab, da sonst die Absichten des MfS allzu deutlich ins Blickfeld der Öffentlichkeit geriet. Das dekonspirative Verhalten war aber für die betreffenden Personen nicht ungefährlich, da dadurch mit einer eventuellen „operativen Bearbeitung“ zu rechnen war, bei der die „feindlich-negativen“ Personen, in diesem Fall das medizinische Personal, dass seine Schweigepflicht nicht verletzen wollte, Zersetzungsmaßnahmen ausgesetzt waren, die darauf abzielten diese Personen einer sozialen Isolierung auszusetzen, ihren Ruf zu schädigen und sie psychologisch zu verunsichern.[12] Nach dem Mauerbau 1961 verschärfte das MfS seine Kontrollen noch mehr, dies und der Mauerbau führte zu einem Höhepunkt der Republikflüchtigen.[13]
Ein positiver Aspekt des zentralistischen Gesundheitssystems der DDR war die stetige Überprüfung der Hilfen für psychisch kranke Menschen und behinderte Menschen. So trat im Jahr 1968 ein Gesetz über die Einweisung von psychisch Kranken in psychiatrische Einrichtungen ein, welches das erste moderne psychiatrische Unterbringungsgesetz war, da es eine preußische Polizeiordnung aus dem Jahre 1938 ablöste. In dieser reichte die gesellschaftliche Gefährlichkeit der Betroffenen als Begründung für eine Zwangseinweisung aus. Nun wurde die Einweisung der Patienten und Patientinnen in die Verantwortlichkeit des ärztlichen Personals gelegt. Dieses konnte zwar bei entsprechender Notwendigkeit auch die Einweisung gegen den Willen des Betroffenen vornehmen, jedoch musste dafür die Zustimmung des zuständigen kreisärztlichen Personals vorliegen. Eine weitere entscheidende Rolle für die Verbesserung der Betreuung psychisch kranker und behinderter Menschen spielten die von 1969 umfassenden Maßnahmen zur Förderung, Beschulung und Betreuung geschädigter Kinder und Jugendlicher sowie psychisch behinderter Erwachsener.[14] Diese bewirkten, dass eine Verpflichtung für alle Bezirke entstand nach ihren regionalen Notwendigkeiten und Bedingungen eigene Rehabilitationsketten zu installieren, welche kontinuierlich weiter differenziert werden sollten.
Da das Pflegepersonal nur unzureichend für die vielfältigen Arbeitsansprüche in der Psychiatrie spezialisiert war, wurde 1975 eine Ausbildung zum Fachpfleger und zur Fachkrankenschwester für Psychiatrie und Neurologie eingeführt. Auch eine Ausbildung zur Fürsorgerin in der Psychiatrie, die bald darauf folgte, war für die Versorgung durch das Personal eine weitere entscheidende Verbesserung. Das Aufgabengebiet einer Fürsorgerin erstreckte sich von Hausbesuchen über die Berichterstattung bis hin zur Angehörigenarbeit. Das Aufgabenfeld dieser war dem der Sozialen Arbeit nicht unähnlich. Jedoch wurde dieser Begriff aus ideologischen Gründen nicht verwendet, da psychische Störungen als Folge krankmachender, gesellschaftlicher Strukturen nicht mit dem sozialistischen Leitbild vereinbar waren.
Die ambulante Versorgung in der DDR konnte bis in die 1990er Jahre trotz Reformbemühungen und vielfachem Engagement von Psychiatern und Psychiaterinnen nicht flächendeckend ausgebaut werden. Die hauptsächliche psychiatrische Versorgung ging für psychisch Kranke von den psychiatrischen Fachkrankenhäuser aus. Obwohl in den Leitlinien der Rodewischer Thesen[15] die Verringerung der Bettenanzahl und eine Dezentralisierung der psychiatrischen Anstalten gefordert wurde, konnte dies bis 1990 nur vereinzelt umgesetzte werden. Besonders erwähnenswert sind die Ausmaße der riesigen Versorgungsgebiete der psychiatrischen Fachkrankenhäuser. So gab es 1986 immer noch drei große psychiatrische Anstalten in der DDR, deren Kapazität jeweils 3000 Betten ausmachte. Diese waren: Brandenburg/Görden, Altscherbitz bei Leipzig und Arnsdorf bei Dresden. Beispielsweise umfasste Arnsdorfs Versorgungsgebiet 1,9 Mil. Einwohner. So setzten die Größe der Anstalten und deren überdimensionale Versorgungsgebiete den Reformbemühungen deutliche Grenzen.[16]
2.2.2 Leitbild – Pawlow vs. Jones durch Rodewischer und Brandenburger Thesen
Das Leitbild der psychiatrischen Versorgung und Behandlung in der DDR war bis in die 1960er Jahre stark durch Pawlow geprägt und kennzeichnete sich durch eine überwachende Struktur.
Erst in den 1960er Jahren entwickelte sich eine Akzeptanz gegenüber sozialen Faktoren, die in der davor liegenden Zeit nicht anerkannt wurden. So wurde auf der Pawlow-Konferenz von 1953, unter anderem Freuds Theorie als überholt eingeschätzt und als nicht vereinbar mit dem Marxismus angesehen. In der darauf folgenden Zeit orientierten sich alle medizinischen Bereiche an Pawlows Lehren. Dadurch wurde ein sozialer und gesellschaftlicher Hintergrund für psychische Erkrankungen völlig ausgeblendet.[17] Der wirtschaftliche Aufschwung der DDR und ihrer damit einhergehenden Blockzugehörigkeit trug dazu bei, dass neue psychiatrische Ansätze generös unterstützt wurden. Dabei wurden auch internationale Trends wahrgenommen. Im Zuge dieser Entwicklungen fand 1963 das internationale Symposium in Rodewisch statt. Die Rodewischer Thesen setzten sich vor allem für eine gesellschaftliche Teilhabe der schwerer und chronisch psychisch Kranken und Behinderten ein. Aussage der Thesen war, geschlossene Heil- und Pflegeanstalten in überwiegend offene, moderne psychiatrische Krankenhäuser umzuwandeln. Sie forderten eine obligatorische Verflechtung klinisch-medikamentöser mit psycho- und soziotherapeutischen Verfahren.
Die Rodewischer Thesen hatten einen Leitliniencharakter und hatten somit Auswirkungen auf die Wandlung des früheren Leitbilds einer überwachenden, biologistischen Ausrichtung der Psychiatrie in eine immer mehr therapeutisch-effiziente Praxis, welche rehabilitativ ausgerichtet sein sollte. Der Ausbau von sozialistischen Strukturen und Lebensformen sollte eine kontinuierliche Verbesserung der Integration psychisch kranker Menschen nach sich ziehen.[18]
Die politische Unterstützung jedoch blieb den Thesen versagt, da in der DDR die Psychiatriepolitik nicht als Gesellschaftspolitik aufgefasst wurde. Die psychiatrische Versorgung wurde sehr häufig isoliert von ihrem gesellschaftlichen Umfeld betrachtet. Dies führte dazu, dass sich die psychiatrisch Tätigen immer stärker einer inneren Reform der psychiatrischen Institutionen zuwandten. Diese Mühen fanden ihren Niederschlag in den Brandenburger Thesen. Diese wurden 1974 während einer weiteren Arbeitstagung mit dem Thema Probleme der therapeutischen Gemeinschaft aufgestellt. Im Gegensatz zu den Rodewischer Thesen die einen Leitlinien-Charakter für den gesamten Staat hatten, sollten die Brandenburger Thesen nur noch als Forderung nach Veränderung im Inneren der Einrichtungen gelten.[19]
Hauptaussage der Brandenburger Thesen war, dass die konservatistische Haltung der Krankenhäuser ein Hindernis für die Behandlung und soziale Integration der psychisch kranken Menschen sei. Forderung war die Umsetzung der von Maxwell Jones formulierten Prinzipien der Therapeutischen Gemeinschaft. Die Umsetzung dieser sei nur in einer demokratischen Psychiatrie möglich in der das Mitsprache- und Mitbestimmungsrecht der Psychiatrie-Betroffenen umgesetzt werden kann. Soziale Räume sollten geschaffen werden, in denen die Realisierung dieser Rechte umgesetzt werden kann. Als Anregungen wurden genannt: Eigenverantwortlichkeit im Leitungsbereich, Patientenversammlungen, Patientenräte, Feriengestaltung unter normalen Lebensbedingungen innerhalb der übrigen Bevölkerung. Auch die offene Tür[20] die erst ein therapeutisches Klima ermöglicht und somit den strafenden Charakter der Psychiatrie ablöst, wird genannt. Ein damit einhergehender Abbau des Institutionalismus sollte erreicht werden. Diese Veränderungen sollten zu einer Verbesserung der sozialen Bedingungen und der Enthospitalisierung beitragen.[21] In den Brandenburger Thesen wurde formuliert, dass erst „...die sozialistische Gesellschaftsordnung…alle Voraussetzungen für eine optimale Behandlung der psychisch Kranken“[22] bietet:
„Erst in der sozialistischen Gesellschaftsordnung kann sich eine wertneutrale und humanistische Einstellung zum Geisteskranken durchsetzen.(…) Damit wird die Grundlage dafür geschaffen, dass die therapeutische Gemeinschaft zu einer den Erfordernissen unserer Zeit angemessenen therapeutischen Methode wird.“[23]
Festgestellt werden kann, dass die Reformen alle für die nachstehenden Sachverhalte kämpften:
- Öffnung der Psychiatrie zur Gesellschaft, Sicherung und Verwahrung sollten durch aktive Rehabilitation und soziale Wiedereingliederung ersetzt werden,
- Entwicklung von ambulanten Einrichtungen, Teilzeiteinrichtungen und ergänzenden Angeboten,
- Reduzierung gesellschaftlicher Zwangsmaßnahmen auf das unbedingt erforderliche Minimum und die
- Demokratisierung der Psychiatrie.
Fand noch in den ersten Jahren die beständige Umsetzung der Thesen statt, so ging sie ab dem Ende der 1970er Jahre nur schleichend voran. Bestimmte Forderungen konnten nicht erfüllt werden, da die Größe der Fachkrankenhäuser und deren schlechte Anbindung an das Lebensumfeld der Psychiatrie-Betroffenen für alle Reformbemühungen ein großes Hindernis darstellte.
Mitte der 1970er Jahre wurden Untersuchungen im Rahmen eines Forschungsprojektes des Ministeriums für Gesundheitswesen in einer repräsentativen Anzahl von Krankenhäusern durchgeführt, bei denen sich herausstellte, dass beträchtliche Entwicklungsrückstände im Hinblick auf die Unterbringungsbedingungen der psychisch kranken und behinderten Menschen bestanden. Des Weiteren wurde festgestellt, dass die Umsetzung des Zieles, mehr ambulante Einrichtungen zu entwickeln, zögernd verlief. Daraufhin folgte eine Konzeption zur Entwicklung der psychiatrischen Betreuung für den Zeitraum 1981 bis 1985, die nochmals bis 1990 verlängert wurde. Im Mittelpunkt dieser sollten ambulante Einrichtungen wie Ambulanz, Tagesklinik, psychiatrische Abteilung am Allgemeinkrankenhaus und der Komplementärbereich stehen. Ebenso wurde die Herstellung einer funktionalen Einheit der an der psychiatrischen Versorgung beteiligten Institutionen gefordert, im Sinne eines gemeindepsychiatrischen Verbundes. Allerdings hatte diese Konzeption so gut wie keinen Einfluss auf die alltägliche Arbeit in der Psychiatrie, da sie es über viele Schreibtische der Bezirksärzte nicht hinaus schaffte.[24]
2.2.3 Behandlung – geprägt durch Arbeitstherapie
Das somatische Behandlungsspektrum wurde, beeinflusst durch die Rodewischer Thesen, durch Psychotherapie und Soziotherapie ergänzt. Wobei sich diese Ansätze bis in die 1970er Jahre zunächst lediglich auf die psychiatrischen Großkrankenhäuser beschränkten.[25]
Im sozialistischen System hatte die Arbeitstherapie den wohl größten Stellenwert, daher war in der psychiatrischen Rehabilitation die berufliche Wiedereingliederung der wichtigste Bestandteil. Es bestand die Möglichkeit, bei entsprechendem Engagement der Professionellen, einen Arbeitsplatz auch für psychisch kranke und behinderte Menschen zu finden. Die Arbeit bedeutete für viele eine Stütze im sozialen Netzwerk, da die Tagesstruktur durch nicht-psychiatrische Aufenthalte geprägt war. Die gesetzliche Regelung Anordnung zur Sicherung des Rechts auf Arbeit für Rehabilitanden, welche im Jahre 1969 beschlossen und 1973 noch einmal ergänzt wurde, machte diese berufliche Rehabilitierung möglich. Diese galt für alle Erkrankungen und ermöglichte eine abgestufte Wiedereingliederung, die differenziert und individuell auf die zu Rehabilitierenden abgestimmt werden konnte. Sie verpflichtete das kommunale Gesundheits- und Sozialwesen, geschützte Werkstätten und Betriebe sowie geschützte Einzelarbeitsplätze zu schaffen. Für die Durchsetzung dieses Gesetzes wurden Rehabilitationskommisionen geschaffen, die eng mit den behandelnden Einrichtungen und dem Amt für Arbeit zusammenarbeiteten.[26]
Die Arbeit in normalen Tätigkeitsbereichen hatte einen positiven Einfluss auf das Selbst- und Fremdbild der Psychiatrie-Betroffenen. Stigmatisierungen und Etikettierungen konnten so minimiert werden.
Nach Kohler wird die Bedeutung der Arbeit unter sozialpsychologischer Betrachtungsweise in sechs Wirkungsfaktoren aufgeschlüsselt:
- der , bei dem die Arbeit als Sicherung des Lebensunterhaltes zählt,
- der , bei dem Arbeit als zweck- und zukunftsgerichtet gesehen wird,
- der , bei dem es um die Kooperation der einzelnen Individuen in sozialen Gruppen geht, in der ein Gefühl der Geborgenheit und der Zugehörigkeit in einer sozialen Einheit entstehen kann,
- der , bei dem die Möglichkeit besteht, seine geistigen und körperlichen Fähigkeiten und Eigenschaften zu entfalten, dies trägt zu einem kontinuierlichen Prozess der Persönlichkeitsentwicklung bei,
- der[27], bei dem die allgemeine sozialethische Bewertung der Arbeit innerhalb der jeweiligen Gesellschaftsordnung gemeint ist, durch welche die persönliche Einstellung zur Arbeit eines Menschen geformt werden kann und
- der , bei dem es um die Selbsterkenntnis des Patienten geht, in dem er sich über die Bedeutsamkeit der ersten vier Faktoren bewusst ist, und mit Hilfe dieser Erkenntnis seine Fehlhaltung zur Arbeit korrigieren kann.[28]
Neben diesen Faktoren , die eine verstärkte Integration der Psychiatrie-Betroffenen bewirkt, diente die Arbeitstherapie zur Wiederherstellung und zur Erhaltung der Aktivität, Ressourcen eigener Persönlichkeitsanteile wurden herausgebildet, weiterhin verminderte sie krankhafte Symptome.[29]
Bei allen Reformbemühungen und bei allem engagiertem Handeln der psychiatrisch Tätigen, zeigte sich mangelhaftes Bild im rehabilitativen Bereich[30]. Es wurde festgestellt, dass neben unzureichenden Aktivitätsangeboten und Tagesstrukturierungen eine Vielzahl der Patientenbelegung unter rehabilitativen Aspekten undifferenziert waren. So existierten bis zum Anfang der 1990er Jahre, teilweise unter Beibehaltung der Geschlechtertrennung Langzeitstationen, auf denen chronisch psychisch kranke Menschen neben Menschen mit Behinderung gemeinsam untergebracht waren. Die Verringerung der psychiatrischen Langzeitunterbringung ging einher mit der Zunahme chronisch psychisch kranker Menschen in den Pflegeheimen.[31]
2.3 BRD
2.3.1 Versorgung – dezentral durch Ausbau ambulanter psychiatrischer Einrichtungen
Die Nachkriegszeit der psychiatrischen Versorgung war auch in der BRD durch einen enormen Personalmangel, einen mangelhaften Zustand der Bausubstanz sowie einen Mangel an Waren des täglichen Gebrauchs geprägt. In den ersten zwanzig Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg vervierfachten sich die Aufnahmen in den Anstalten. Zusätzliche Betten wurden daher in Räumen aufgestellt, welche ursprünglich für soziale Aktivitäten vorgesehenen waren. Diese Mängel führten in fast allen psychiatrischen Anstalten zu elenden und menschenunwürdigen Lebensbedingungen.[32]
Ab den 1960er Jahren entwickelten sich in der Bundesrepublik mehr und mehr die Ansätze der gemeindenahen psychiatrischen Versorgung und der sozialtherapeutischen Methoden. Den Boden erhielten diese Ansätze durch die Mitte der 1960er Jahre angelaufene Studentenbewegung. Diese machte auf Missstände in der Gesellschaft aufmerksam, wie auf die Stellung der Frau, die Diskriminierung anderer Kulturen und die Diskriminierung psychisch kranker und behinderter Menschen, wodurch sich das Interesse der Öffentlichkeit erstmals auch auf die Psychiatrie und deren strukturell bestehende Probleme und Mängel verlagerte. Die reformerischen Bemühungen zielten auf die Integration psychisch kranker und behinderter Menschen in das gesellschaftliche Leben ab.[33]
Trotz dieser Reformansätze waren bis in die 1970er Jahre die großen psychiatrischen Krankenhäuser, welche weit ab der zentralen städtischen Ballungsgebiete lagen, die Basis der psychiatrischen Versorgung in der BRD. Ihr Versorgungsgebiet umfasste nicht selten mehr als eine Million Bürger.[34]
Einen grundlegenden Wandel erfuhr die westdeutsche Versorgungslandschaft seit der Psychiatrie-Enquete im Jahre 1975. Erst durch diese konnte eine allmähliche Verkleinerung der psychiatrischen Krankenhäuser und deren überdimensionalen Versorgungsgebieten erreicht werden. Die Verlegung vieler chronisch Kranker in Pflegeheime, ferner der zeitgleiche Aufbau von psychiatrischen Abteilungen in Allgemeinkrankenhäusern, wie er in der Enquete gefordert wurde, machte die Verringerung der Bettenanzahl aus.
Des Weiteren wurde durch die Psychiatrie-Enquete die unzureichende Qualifizierung des psychiatrischen Personals festgestellt. Daher wurde auf die Notwendigkeit von Aus-, Fort- und Weiterbildung der psychiatrisch Tätigen hingewiesen, um spezifische Qualifikationsstandards der einzelnen Berufsgruppen herauszubilden.
In diesem Zusammenhang wurde auf den unzureichenden Personalschlüssel hingewiesen. Die ärztliche Versorgung wurde als besorgniserregend bezeichnet, da im Zeitraum der Untersuchung lediglich ein Viertel der psychiatrischen Krankenhäuser über eine ausreichende Anzahl an ärztlichen Personal verfügte. Als katastrophal wurde die Betreuung durch Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, auf 540 Betten gäbe es einen Sozialarbeiter oder eine Sozialarbeiterin. Ein ausreichender Personalbedarf wurde daher in der Psychiatrie-Enquete empfohlen.[35]
In den 1980er Jahren lagen die Ergebnisse des 1976 ins Leben gerufenen Modellverbundes ambulante psychiatrische und psychotherapeutische/psychosomatische Versorgung und des zwischen 1981 und 1986 durchgeführten Modellprogramms Psychiatrie der Bundesregierung vor. Diese neuen Ergebnisse machten die Notwendigkeit die Empfehlungen der Enquete fortzuschreiben und neue Rahmenbedingungen zu schaffen deutlich. Ganz entscheidend ging daraus hervor, dass die Psychiatrieplanung Bestandteil der Sozial- und Gesundheitsplanung werden sollte.[36]
Im Jahr 1990 hatte sich eine Angliederung psychiatrischer Abteilungen an Allgemeinkrankenhäusern bewährt. Diese sind von 21 im Jahr 1971 auf 90 im Jahr 1990 angestiegen, somit konnte eine wichtig Grundsatzforderung der Enquete, die Großkrankenhäuser zu verkleinern, erfüllt werden. Die Bettenanzahl auf max. 600 Betten konnte dadurch in den meisten psychiatrischen Krankenhäusern erreicht werden. Der ausschlaggebende Punkt für die Verringerung der Bettenzahlen liegt bei der Verkürzung der Aufenthaltsdauer.
Diese minimierte sich von 1970 bis 1984 stark:
- 1970 lag diese bei 290 Tagen,
- 1980 bei 128 Tagen
- und senkte sich 1984 nochmals auf ca. 100 Tage.[37]
Die Verkürzung konnte durch die Entlassung langfristig untergebrachter chronisch kranker Menschen erreicht werden. Jedoch konnte diese Maßnahme nicht völlig ausgeschöpft werden, da die Voraussetzung dafür, ein hinreichend ausgebautes Netz an gemeindenahen, komplementären psychiatrischen Diensten, im Jahr 1989 noch nicht genügend gegeben war.[38]
Dem rehabilitativen Bereich konnte zu dieser Zeit ein deutlicher Aufholbedarf gegenüber den Entwicklungen in den stationären und ambulanten Bereichen diagnostiziert werden. Die Ursachen lagen bei den Langzeitbereichen der psychiatrischer Krankenhäuser, die keine komplementär entwickelten Angebote in ihrem Einzugsbereich vorwiesen.[39]
Die Stigmatisierung psychisch kranker Menschen und deren Benachteiligung im Vergleich zu somatisch Kranken konnte weitgehend durch gesetzliche Maßnahmen aufgehoben werden. Beispiele dafür sind die Änderung des Wahlgesetzes im Jahr 1985[40], durch das die Beteiligung an der politischen Willensbildung auch für psychisch erkrankte und behinderte Menschen ermöglicht wurde. Auch das Gesetz über die Angleichung der Leistungen zur Rehabilitation[41] von 1974, das Regelungen zur Eingliederung von körperlich, geistig und seelisch behinderten Menschen in Arbeit, Beruf und Gesellschaft durch medizinische, berufsfördernde und ergänzende Maßnahmen enthielt und das Gesetz zur Sicherung der Eingliederung Schwerbehinderter in Arbeit, Beruf und Gesellschaft[42] von 1986 haben sich sehr fördernd auf die Verbesserung der psychiatrischen Versorgung ausgewirkt.[43]
2.3.2 Leitbild – Von stationärer zu gemeindenaher Versorgung durch die Psychiatrieenquete
Die Ausgangsbedingungen für eine Reform der Psychiatrie der Nachkriegszeit waren sehr schlecht. Nicht nur war es schwierig auf veraltete und festgefahrene Denkmuster einzugehen und die Öffentlichkeit wachzurütteln, sondern auch an den materiellen Dingen scheiterten erste Reformansätze. So standen die alte Bausubstanz, die Überbelegung in den Anstalten und der erhebliche Personalmangel im Weg.[44]
So wie die Verbesserung der Versorgungsstruktur einen nährhaften Boden durch die Studentenbewegung erhielt, änderte sich damit einhergehend auch das Leitbild, welches einem dringenden Mentalitätswandel gegenüber psychisch erkrankten und behinderten Menschen bedurfte.
Unter anderem gab die Unterstützung des Bundstages Anstoß für die Psychiatrie-Enquete im Jahre 1975. Nachdem der Deutsche Bundestag eine Anhörung von Sachverständigen über die Psychiatrie durchgeführt hatte, beschloss dieser am 23.06.1971 die Psychiatrie-Enquete durchzuführen.[45]
Für die Psychiatrie-Enquete wurde eine Sachverständigenkommission einberufen, die einen Bericht zur Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland erarbeiten sollte. Schon bei dem Zwischenbericht vom 19.10.1973 kristallisierte sich heraus, dass eine dringende Notwendigkeit bestand, sich auf die Lebensqualität psychisch kranker Menschen zu konzentrieren. Denn der Zustand der Fachkrankenhäuser wurde als „brutal“ beschrieben. Der Schlussbericht schließlich, gab den Anstoß für die Veränderung, die schon so lange auf sich warten ließ. So wurde in diesem auf Missstände hingewiesen, wie die unmenschlichen Zustände in den psychiatrischen Einrichtungen. So hieß es:
„Die Sachverständigen-Kommission hat bereits …mit Nachdruck gefordert, dass die Beseitigung grober inhumaner Missstände unbedingt jeder Neuordnung der Versorgung psychisch Kranker und Behinderter vorauszugehen hat. Sie hält es für selbstverständlich,…dass ein ausreichender Standard zur Befriedigung humaner Grundbedürfnisse gewährleistet wird. (…) Auf keinen Fall dürfen Reformen…auf dem Rücken derjenigen ausgetragen werden, die sich gegenwärtig in den psychiatrischen Einrichtungen befinden.“[46]
Für die Realisierung der Empfehlungen der Psychiatrie-Enquete wurde auf die nachstehenden Prinzipien hingewiesen, die bis heute ihre Gültigkeit nicht verloren haben und von denen unter keinen Umständen abgewichen werden darf. Diese sind :
- das Prinzip der gemeindenahen Versorgung,
- das Prinzip der bedarfsgerechten und umfassenden Versorgung aller psychisch Kranker und Behinderter,
- das Prinzip der bedarfsgerechten Koordination aller Versorgungsdienste und
- das Prinzip der Gleichstellung psychisch Kranker mit körperlich Kranken.
Die Lebensqualität der Psychiatrie-Betroffenen wurde seit dem Einsetzen der Psychiatrie-Enquete erheblich verbessert. So konnte die gesellschaftliche Teilhabe, durch gemeindenahe sozialpsychiatrische Ansätze und einen damit einher gehenden Rückbezug auf das soziale Umfeld der Psychiatrie-Betroffenen, besser verwirklicht werden. Ein weiteres deutliches Signal dafür, dass ein Mentalitätswandel erreicht wurde, kann in dem großen Engagement der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für Enthospitalisierungen festgestellt werden, obwohl ein damit einhergehender Arbeitsplatzverlust inbegriffen ist.[47]
Auch der Umgang mit psychisch kranken und behinderten Menschen hatte durch die Psychiatrie-Enquete einen deutlichen Wandel erfahren. So konnten durch diese die strukturell bestehenden Mängel ins Licht der Öffentlichkeit gerückt werden. Seitdem schlossen sich viele Angehörige psychisch Kranker zu einem Bundesverband zusammen. Zahlreiche psychosoziale Hilfsvereine entstanden. Auch setzten sich viele der psychiatrisch Tätigen für eine weitere Umsetzung der Psychiatrie-Enquete ein. So konnte ein stetige Wandlung des Leitbilds und somit des Umgangs mit psychisch kranken und behinderten Menschen beobachtet werden.
2.3.3 Behandlung – von Bewahrung zur therapeutischen Qualifizierung
Auch in der BRD fand ab 1952 der Medikamenteneinzug statt, dadurch entstand für die Psychiatrie ein breites, ambulantes und stationär anwendbares Behandlungsinstrument. Dies war nach den Elektro-, Kardiazol- und Insulinschocktherapien für die Behandlung akuter Psychosen, welche seit den 30er Jahren durchgeführt wurden, jedoch mit Problemen behaftet waren, ein wichtiger Durchbruch. Gekoppelt mit den neuen, gut lehrbaren und ökonomisch vertretbaren Psychotherapien war so das psychiatrische Personal handlungsfähiger geworden. Die Beschränkung des ärztlichen Personals auf die Funktion der Bewahrung und Beaufsichtigung, war vorbei, nun war es möglich psychotische Episoden schnell zu behandeln, vorbeugende Arbeit gegen Rückfälle durchzuführen und leichte psychotische Störungen ambulant zu behandeln.[48]
Auch die durch die Psychiatrie-Enquete einsetzenden baulichen Maßnahmen, halfen sich nun auf ein wirkliches Therapiespektrum zu konzentrieren. Vorher konnte durch die Zusammenlegung der Patientinnen und Patienten aller Altersstufen und unterschiedlichster Erkrankungen nur der Beaufsichtigungs- und Betreuungsbedarf erfüllt werden. Stationen waren geschlechtsspezifisch getrennt und unterteilten sich in geschlossene, halboffene, offene und pflegeintensive Stationen. Erst die Zusammenlegung der psychisch kranken Menschen mit Menschen mit ähnlichem psychischem Erkrankungsbild, welche analoge Therapien bedurften, schaffte eine erste Qualifizierung der therapeutischen Betreuung. Mitte der 1970er entstanden Funktionsbereiche für Akutbehandlung, Langzeitbehandlung, für Suchtkranke und gerontopsychiatrisch Kranke. Auch gemischtgeschlechtliche Stationen waren zu diesem Zeitpunkt vorzuweisen.[49]
Der ambulante Bereich mit seinen Hilfen zur Tages- und Freizeitgestaltung, wie zum Beispiel Tagesstätten, Clubs und Teestuben, war 1989 jedoch noch völlig unzureichend ausgebaut.[50]
2.4 Nach der Wiedervereinigung
2.4.1 Versorgung
Mit der Deutschen Einheit wurde in den neuen Bundesländern über Nacht ein neues Versorgungssystem übernommen.
Die in der DDR bestehenden Polikliniken wurden durch niedergelassene Nervenärzte ersetzt. Die neuen Bundesländer nahmen die Empfehlungen der Psychiatrie-Enquete auf und arbeiten seit 1991 an einer Umsetzung dieser.
Auf der 74. Gesundheitsministerkonferenz die im Juni 2001 in Bremen stattfand, wurde ein einheitlicher Beschluss gefasst, welcher besagte, dass eine Bestandsaufnahme zu den Entwicklungen der Psychiatrie in den letzten 25 Jahren vorzulegen sei. Als Begründung für diesen wurde angegeben, dass der Zustand der Versorgung psychisch kranker und behinderter Menschen noch immer von Fachkreisen, Psychiatrie-Betroffenen und Angehörigen bemängelt wurde, obwohl vieles durch die Psychiatrie-Enquete verbessert werden konnte und auch in den neuen Bundesländern seit 1991 die Psychiatrie-Enquete umgesetzt wurde.[51]
Die Fortschritte die seit Verabschiedung der Psychiatrie-Enquete im psychiatrischen Versorgungsbereich sichtbar waren, konnten laut Bericht bis ins Jahr 2000 im geeinten Deutschland weitergeführt werden. So wurde eine Verringerung der Gesamtbettenanzahl von ca. 53.500 Betten auf 17.700 Betten erreicht. Eine gesamtdeutsche Auflösung psychiatrischer Krankenhäuser wurde jedoch nicht erreicht. Die Zahl der psychiatrischen Fachkrankenhäuser konnte nur um vier gesenkt werden. Dafür konnte die Anzahl der Fachabteilungen an Allgemeinkrankenhäusern nochmals bis in das Jahr 2000 auf 220 gesteigert werden. In der psychiatrischen Langzeitversorgung ist es zu einer deutlichen Verringerung in der Gesamtkapazität der Betten gekommen. So waren es 1990 noch ca. 15.000 Betten, was etwa 17% der Gesamtkapazität ausmachte. Im Jahr 2000 reduzierte sich die Anzahl auf ca. 1.600 Betten was einer Gesamtkapazität von etwa 2,5% der psychiatrischen Langzeitversorgung entsprach.[52]
[...]
[1] Dörner u.a. 2002: Irren ist menschlich, S. 17.
[2] Vgl. Hanrath 2002: Zwischen ‚Euthanasie ‘ und Psychiatriereform, S. 56f.
[3] Ebd., S. 56.
[4] Vgl. ebd., S. 111ff.
[5] Vgl. Hanrath 2002, S. 66ff.; Kersting 2003: Vor Ernst Klee. Die Hypothek der NS-Medizinverbrechen als Reformimpuls. In: Kersting: Psychiatriereform als Gesellschaftsreform, S. 63ff.
[6] Vgl. Hanrath 2002, S. 177.
[7] Vgl. Schroeder 1999: Der SED-Staat, S. 66f.; Schulz 2003: Die Rodewischer Thesen von 1963 – ein Versuch zur Reform der DDR-Psychiatrie In: Kersting: Psychiatriereform als Gesellschaftsreform, S. 87f.
[8] Vgl. Hanrath 2002, S. 303ff.
[9] Vgl. Trenckmann 1985: Die andere deutsche Psychiatrie. In: Sozialpsychiatrische Informationen 4/85, S. 7; Weise, Uhle 1990: Entwicklungsformen und derzeitige Wirkungsbedingungen der Psychiatrie in der Deutschen Demokratischen Republik. In: Thom, Wulff: Psychiatrie im Wandel, S. 442; Dörner 2002, S. 505.
[10] Vgl. Weise 1990: Bewahrenswertes in der Psychiatrie der DDR. In: Sozialpsychiatrische Informationen 3/90, S. 3f.
[11] Die politisch-ideologische Diversion ist darauf ausgerichtet, die Richtigkeit und den Erfolg der sozialistischen Entwicklung zu bezweifeln. Die feindlich negativen Personen werden diese Zweifel in der Bevölkerung säen, durch die dann die Feindschaft gegen den Sozialismus entsteht und die Ausbeutergesellschaft als erstrebenswert, frei und demokratisch betrachtet wird. Jedes Denken, welches von dem der SED-Führung abwich, sollte deshalb beseitigt werden. Vgl. Süß 2000: Politisch missbraucht?, S. 122f.
[12] Vgl. ebd., S. 122ff.
[13] Vgl. Schroeder 1999, S. 151f.; Süß 2000, S. 151.
[14] Vgl. Späte 1990: Arbeit und Beschäftigung für psychisch Kranke und geistig Behinderte in der DDR. In: Thom, Wulff: Psychiatrie im Wandel, S. 326; Weise, Uhle 1990, S. 446.; Süß 2000, S. 82f.
[15] Vgl. Kapitel 2.2.2.
[16] Vgl. Trenckmann 1985, S. 9f.; Uhle 1990: Zur Betreuung chronisch psychisch Kranker in der DDR. In: Thom, Wulff: Psychiatrie im Wandel, S. 237ff.
[17] Vgl. Hanrath 2003: Strukturkrise und Reformbeginn. In: Kersting: Psychiatriereform als Gesellschaftsreform, S. 44ff.; Schulz 2003, S. 92.
[18] Vgl. Rodewischer Thesen im Anhang, Uhle 1990, S. 243ff.; Schulz 2003, S. 91f.
[19] Vgl. Hanrath 2002, S. 461.
[20] Siehe hierzu die Soteria-Idee im Kapitel 4.2.
[21] Vgl. Trenckmann 1985, S, 19ff.
[22] Ebd. These 5.
[23] Ebd.
[24] Vgl. Weise 1990: Konzeption zur Reform der psychiatrischen Versorgung. In: Sozialpsychiatrische Informationen 3/90, S. 13.
[25] Vgl. Weise, Uhle 1990, S. 444.
[26] Vgl. Trenckmann 1985, S. 8; Späte 1990, S. 326; Weise/Uhle 1990, S. 446ff.
[27] Unter Axiologie ist die Wertlehre zu verstehen.
[28] Vgl. Kohler 1968: Kommunikative Psychotherapie, S. 89f.
[29] Vgl. Weise 1971: Die marxistisch-leninistische Auffassung von der Arbeit und ihre Bedeutung für die Methodik der Arbeitstherapie. In: Schwarz, Weise, Thom: Sozialpsychiatrie in der sozialistischen Gesellschaft, S. 249f.
[30] Vgl. Untersuchungen im Rahmen eines Forschungsprojektes des Ministeriums für Gesundheitswesen – Kapitel 2.2.2.
[31] Vgl. Uhle 1990, S. 243ff.
[32] Vgl. Deutscher Bundestag 1975a: Bericht über die Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland - zur psychiatrischen und psychotherapeutischen/psychosomatischen Versorgung der Bevölkerung. Drucksache 7/4200, S. 62; Hanrath 2003, S. 44ff.
[33] Vgl. Häfner 2003: Die Inquisition der psychisch Kranken geht ihrem Ende zu. In: Kersting: Psychiatriereform als Gesellschaftsreform, S. 113ff.; Bauer, Engfer 1990: Entwicklung und Bewährung psychiatrischer Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland. In: Thom, Wulff: Psychiatrie im Wandel, S. 413.
[34] Vgl. Bundestags-Drucksache 7/4200, S. 62ff.; Bauer, Engfer 1990, S. 413ff.
[35] Vgl. Bundestags-Drucksache 7/4200, S. 405ff.
[36] Vgl. Bauer, Engfer 1990, S. 415ff.
[37] Vgl. Häfner; Rössler 1989: Die Reform der Versorgung psychisch Kranker in der Bundesrepublik. In: Kulenkampff: Fortschritte und Veränderungen in der Versorgung psychisch Kranker, S. 20ff.; Bauer, Engfer 1990, S. 417ff.
[38] Vgl. ebd.
[39] Vgl. Kunze 1989: Probleme der beruflichen und sozialen Rehabilitation psychisch Kranker und Behinderter in der Bundesrepublik Deutschland. In: Kulenkampff: Fortschritte und Veränderungen in der Versorgung psychisch Kranker, S. 184f.; Bauer, Engfer 1990, S. 426.
[40] Vgl. Siebtes Gesetz zur Änderung des BWG vom 08.03.1985.
[41] Vgl. Gesetz über die Angleichung der Leistungen zur Rehabilitation (RehaAnglG) vom 07.08.1974.
[42] Vgl. Schwerbehindertengesetz (SchwbG) vom 26.08.1986.
[43] Vgl. Bestandsaufnahme zu den Entwicklungen der Psychiatrie in den letzten 25 Jahren 2003, S. 6ff.
[44] Vgl. hierzu Kapitel 2.3.1.
[45] Vgl. Bauer, Engfer 1990, S. 413ff.; Häfner 2003, S. 124ff.
[46] Bundestags-Drucksache 7/4200, S. 408.
[47] Vgl. Bauer, Engfer 1990, S. 416f.; Häfner 2003, S. 137f.
[48] Vgl. Häfner 2003, S. 124f.
[49] Vgl. Kunze 1990: Funktionswandel des psychiatrischen Krankenhauses. In: Thom, Wulff: Psychiatrie im Wandel, S. 200ff.
[50] Vgl. Kunze 1989, S. 174ff.
[51] Vgl. Bestandsaufnahme zu den Entwicklungen der Psychiatrie in den letzten 25 Jahren 2003, S. 1ff.
[52] Vgl. ebd., S. 17ff.
- Citation du texte
- Nicole Landgraf (Auteur), 2006, Sein ist gesehen werden. Anforderungen an die Soziale Arbeit für eine menschenwürdige Psychiatrie in Deutschland, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/70362
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