Die Examensarbeit setzt sich mit folgenden Fragestellungen auseinander: Was ist Mutismus, wie äußert er sich und wie kann man ihm im schulischen Alltag begegnen? Was gibt es für Möglichkeiten mit einem mutistischen Kind im Unterricht zu arbeiten? Wie kann das Kind angemessen im Unterricht integriert werden und gibt es spezielle Fördermaßnahmen, die im Unterricht greifen können?
In unserem täglichen Miteinander ist die Sprache ein wichtiges Werkzeug, um miteinander zu kommunizieren. Steht uns dieses Werkzeug nicht zur Verfügung, können wir uns mit anderen Menschen nur schwer verständigen und wir erleben uns in sozialen Situationen häufig hilflos und ohnmächtig. Vor allem aber werden Menschen mit einem Gefühl der Ohnmacht konfrontiert, die schweigenden Menschen begegnen. Mutismus ist ein Störungsbild, welches für Menschen, die davon nicht betroffen sind beziehungsweise die diesem Schweigen das erste Mal konfrontiert gegenüberstehen, schwer zu fassen ist.
Für einen Außenstehenden ist es kaum nachvollziehbar, weswegen ein Mensch verstummt und sich verbal nicht äußert. Er kann mitunter nicht verstehen, dass eine Person in der Kommunikation mit ihren Mitmenschen nicht spricht, obgleich sie die körperlichen und organischen Voraussetzungen dafür mitbringt. Vor allem Kindergarten und Grundschule, sprich Elementar- und Primarbereich, sind soziale Institutionen, in denen das Kind lernen sollte, soziale Beziehungen aufzubauen und Freundschaften zu schließen. All dies geschieht hauptsächlich über unsere Sprache und durch die Kommunikation miteinander.
Vor allem in der Schule stellt das mutistische Kind einen schwerwiegenden Fall für alle Beteiligten dar. Hier geht es neben den schriftlichen Leistungen, die die Schüler erbringen müssen, auch um die mündliche Beteiligung im Unterricht und um eine Integration in einen Klassenverband. Die beteiligten Lehrkräfte müssen versuchen, das Kind trotz seines Schweigens in den Unterricht und den Klassenverband zu integrieren, die anderen Kinder dafür zu sensibilisieren und auch sie selbst müssen sich in ihrem Umgang mit diesem Kind bemühen, diesem gerecht zu werden.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
1.1 Motivation zur Wahl des Themas
1.2 Überlegungen, Fragestellung und Zielsetzung
1.3 Aufbau der Arbeit
2. Der Begriff Mutismus
2.1 Definitionen
2.1.1 totaler Mutismus
2.1.2 selektiver Mutismus
3. Diagnostik
3.1 Diagnostische Kriterien
3.2 Komorbidität und Verlauf
3.3 Ausschlusskriterien
3.4 Diagnostische Grundlagen
3.5 Epidemiologie
3.6 Ätiologie
4. Therapeutische Ansätze
4.1 Psychotherapeutische Ansätze
4.2 Psychiatrische Ansätze
4.3 Sprachtherapeutische Ansätze
4.3.1 SYMUT (Konzept der systemischen Mutismustherapie)
4.3.2 DortMuT (Dortmunder Mutismus Therapie)
5. Inklusion
5.1 der Inklusionsbegriff
5.2 Inklusion im schulischen Alltag – eine Schule für alle
5.3 Bildungsgerechtigkeit im Rahmen der inklusiven Bildung
5.4 Förderschwerpunkt Sprache
6. Mutismus im Schulalltag
6.1 Schulmutismus
6.2 Problematiken und Besonderheiten im Kontext Schule
6.3 Umgang und Förderung mutistischer Kinder im schulischen Setting
6.4 Unterstützte Kommunikation
6.4.1 nonverbale Kommunikationsformen und Unterstützungssysteme im schulischen Alltag
7. Diskussion
8. Fazit
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
In unserem täglichen Miteinander ist die Sprache ein wichtiges Werkzeug, um miteinander zu kommunizieren. Steht uns dieses Werkzeug nicht zur Verfügung, können wir uns mit anderen Menschen nur schwer verständigen und wir erleben uns in sozialen Situationen häufig hilflos und ohnmächtig (Dobslaff, 2013, S. 9). Vor allem aber werden Menschen mit einem Gefühl der Ohnmacht konfrontiert, die schweigenden Menschen begegnen. Mutismus ist ein Störungsbild, welches für Menschen, die davon nicht betroffen sind bzw. die diesem Schweigen das erste Mal konfrontiert gegenüberstehen, schwer zu fassen ist. Für einen Außenstehenden ist es kaum nachvollziehbar, weswegen ein Mensch verstummt und sich verbal nicht äußert. Er kann mitunter nicht verstehen, dass eine Person in der Kommunikation mit ihren Mitmenschen nicht spricht, obgleich sie die körperlichen und organischen Voraussetzungen dafür mitbringt (ebd.). Vor allem Kindergarten und Grundschule, sprich Elementar- und Primarbereich, sind soziale Institutionen, in denen das Kind1 lernen sollte, soziale Beziehungen aufzubauen und Freundschaften zu schließen. All dies geschieht hauptsächlich über unsere Sprache und durch die Kommunikation miteinander (Hartmann & Lange, 2017, S. 9). Dobslaff (2013) nimmt in seinem Buch Bezug auf die Schule und kommentiert die Institution folgendermaßen:
Die Schule stellt sich als ein Kommunikationsort dar, an dem […] vom Schüler Leistung erwartet wird, wodurch seine Kommunikation stärker unter permanentem Bewertungsdruck steht, der Sprechdialog das hauptsächliche Mittel der Unterrichtsführung ist, um untereinander in wechselnder Hierarchie vielfältige Informationen auszutauschen, Erkenntnisprozesse zu führen, das Verhalten zu regulieren, um Bildungsresultate zu bewerten […] (S. 83)
Vor allem in der Schule stellt das mutistische Kind einen schwerwiegenden Fall für alle Beteiligten dar. Hier geht es neben den schriftlichen Leistungen, die die Schüler2 erbringen müssen, auch um die mündliche Beteiligung im Unterricht und um eine Integration in einen Klassenverband. Die beteiligten Lehrkräfte müssen versuchen, das Kind trotz seines Schweigens in den Unterricht und den Klassenverband zu integrieren, die anderen Kinder dafür zu sensibilisieren und auch sie selbst müssen sich in ihrem Umgang mit diesem Kind bemühen, diesem gerecht zu werden. Dies stellt, vor allem in der heutigen Zeit, in der mitunter noch andere inklusiv beschulte Kinder die Regelklasse besuchen, eine enorme Herausforderung für die Lehrkräfte dar. Sie müssen versuchen, das schweigende Kind adäquat zu benoten und zu behandeln, obgleich es sich verbal nicht äußert und sich somit nicht in den Unterricht einbringen kann. All das stellt eine Lehrkraft, die mit einem mutistischen Kind konfrontiert wird, vor eine große Herausforderung.
1.1 Motivation zur Wahl des Themas
Auch ich bin in meinen Tätigkeiten als Vertretungslehrkraft schon auf mutistische Kinder getroffen, was mich dazu bewegt hat, mich mit diesem Störungsbild intensiver zu beschäftigen. Es ist ein hilfloses und tatsächlich auch ohnmächtiges Gefühl, wenn man ein Kind anspricht und dieses zum einen in seiner Gestik und Mimik völlig erstarrt und zum anderen keine Antwort gibt. Für mich war es gleichzeitig auch immer ein unangenehmes Gefühl, da ich spüren konnte, dass sich das betroffene Kind, welches sich einer Kommunikation konfrontiert gegenübersah, nicht wohl gefühlt hat. Gleichzeitig ist es sehr schwer, mit solchen Kindern umzugehen, wenn einem das entsprechende Wissen und die Hintergrundinformationen zu dem Störungsbild fehlen. Deshalb war und ist es mir wichtig, mich mehr mit diesem Thema auseinanderzusetzen, um einerseits ein größeres, aber auch vielfältigeres Wissen zu erlangen und andererseits Aspekte herauszufiltern, die für einen gelungenen Umgang mit mutistischen Kindern notwendig sind, damit Lehrkraft und Kind kein Unwohlsein empfinden.
1.2 Überlegungen, Fragestellung und Zielsetzung
Aus den oben genannten Gründen ist es mir ein großes Anliegen, mich näher damit zu befassen und darüber aufzuklären, wie man einerseits schweigende Kinder in den inklusiven Schulunterricht adäquat integrieren kann, aber auch, wie es dazu kommt, dass die Betroffenen schweigen und was hinter dem Schweigen stecken kann. In meiner Examensarbeit sollen nun folgende Fragen thematisiert und anhand aktueller Literatur kritisch betrachtet werden: Was ist Mutismus, wie äußert er sich und wie kann man ihm im schulischen Alltag begegnen? Was gibt es für Möglichkeiten mit einem mutistischen Kind im Unterricht zu arbeiten? Wie kann das Kind angemessen im Unterricht integriert werden und gibt es spezielle Fördermaßnahmen, die im Unterricht greifen können? Aus diesen Gedanken heraus resultierte der Titel meiner Arbeit: Möglichkeiten zur Bildungsteilhabe schweigender Kinder im inklusiven Unterricht. Das primäre Ziel dieser Arbeit besteht folglich darin, aufzuzeigen, welchen Schwierigkeiten Lehrkräfte im inklusiven Alltag, wenn sie mit mutistischen Kindern konfrontiert werden, ausgesetzt sind und wie sie diese Kinder adäquat in den Unterricht integrieren können. Es soll außerdem gezeigt werden, welche Entstehungsursachen bei Mutismus in Frage kommen und wie man die Kinder gegebenenfalls fördern kann, damit sie aktiv (auf ihre Art) am Unterrichtsgeschehen partizipieren. Es soll aufgezeigt werden, dass auch mutistische Kinder durchaus am inklusiven Schulalltag teilnehmen können, wenn man ihnen die richtigen Mittel und Hilfestellungen an die Hand gibt. Die Arbeit soll außerdem eine Idee für Lehrkräfte sein, damit diese sich nicht ohnmächtig und hilflos in der Gegenüberstellung mit einem mutistischen Kind fühlen.
1.3 Aufbau der Arbeit
Wie bereits erwähnt, behandelt die vorliegende Arbeit primär die Frage, welche Möglichkeiten es gibt, schweigenden Kindern die Mitarbeit im inklusiven Unterricht zu ermöglichen. Die Arbeit gliedert sich in acht Kapitel. Beginnend mit der Einleitung, in der eine kurze Einführung und Übersicht in die Thematik – Umgang mit mutistischen Kindern – gegeben wird, geht es über zu Kapitel zwei, in dem das Störungsbild Mutismus näher betrachtet wird. Es wird gezeigt, welche Ausprägungen von Mutismus es gibt und was genau unter dem Störungsbild des Schweigens zu verstehen ist. Was kennzeichnet Mutismus? Wodurch unterscheidet er sich von anderen Störungsbildern? Daran anknüpfend geht es im dritten Teil dieser Arbeit um die Diagnostik des Schweigens. Es wird erläutert, welche diagnostischen Kriterien es gibt, um die Diagnose Mutismus stellen zu können. Darüber hinaus werden Ausschlusskriterien für eine Diagnose beschrieben und es wird ein Einblick in die Epidemiologie sowie die Komorbidität und den Verlauf der Störung gegeben. Wie ist die Prognose der Störung? Wie ist die Geschlechterverteilung bei der Diagnose Mutismus und wie häufig kommt er im Allgemeinen vor? Im Fokus des dritten Kapitels steht jedoch die Frage nach der Ursache für das Schweigen. Es sollen mögliche Gründe und Verursachungsfaktoren des Schweigens erörtert und beleuchtet werden. Anknüpfend daran geht es im vierten Kapitel um drei verschiedene therapeutische Ansätze und deren Vorgehensweisen, mit denen Mutismus entgegengewirkt werden kann. Das Kapitel endet mit der Vorstellung von zwei spezifischen Therapiearten, um exemplarisch aufzuzeigen, welche speziellen Möglichkeiten der Behandlung es gibt. Das fünfte Kapitel widmet sich dem Themengebiet der Inklusion. Nach einer terminologischen Klärung des Begriffes „Inklusion“ und deren Darlegung der rechtlichen Grundlage, wird speziell auf die schulische Inklusion eingegangen. Was bedeutet die Inklusion für den schulischen Alltag? Daran anknüpfend geht es um die Bildungsgerechtigkeit im Rahmen der inklusiven Bildung. An dieser Stelle wird aufgezeigt, dass alle Menschen das Recht auf Bildung haben. Das Kapitel endet mit einer Erläuterung des Förderschwerpunktes Sprache, da mutistische Kinder diesem zugeordnet werden. Den Kern der Arbeit liefert schließlich das sechste Kapitel. Hier geht es um Mutismus im schulischen Setting. Es wird primär der Frage nachgegangen, welche Möglichkeiten schweigenden Kindern in der Regelschule geboten werden, damit sie erfolgreich lernen und somit vom inklusiven Unterricht profitieren können. Nach einer terminologischen Klärung des Begriffs „Schulmutismus“ werden Besonderheiten im schulischen Kontext genannt. Es wird erörtert, mit welchen Schwierigkeiten schweigende Kinder in der Schule konfrontiert werden. Daraufhin soll dem Umgang und der Förderung schweigender Kinder eine besondere Bedeutung zukommen. Welche Möglichkeiten hat die Lehrkraft, den Schüler im Unterricht adäquat zu integrieren? Wie kann der Schüler am Unterrichtsgeschehen teilnehmen, ohne dass er sich ausgeschlossen fühlt? Anschließend folgt nach einer terminologischen Klärung des Begriffs der Unterstützten Kommunikation die nähere Beschreibung spezieller nonverbaler Kommunikationsformen und Unterstützungssysteme. Welche nonverbalen Möglichkeiten gibt es, damit ein betroffenes Kind im Unterricht kommunizieren kann? Abschließend folgt eine Diskussion über die Bildungsteilhabe mutistischer Kinder im inklusiven Unterricht. Wie sinnvoll ist es, mutistische Kinder im Regelschulsystem unterzubringen und welchen Anteil leistet dabei die Unterstützte Kommunikation? Kann die allgemeine Schule den Ansprüchen eines schweigenden Kindes gerecht werden? Ein abschließendes Fazit beendet schließlich diese Arbeit.
2. Der Begriff Mutismus
Im folgenden Kapitel soll das Störungsbild des Mutismus näher beschrieben werden. Hierzu werden zunächst die verschiedenen Ausprägungsarten des Mutismus erläutert. Daran anschließend wird eine Abgrenzung zu dem Begriff des Schweigens vorgenommen.
2.1 Definitionen
Der Begriff „Mutismus“ stammt aus dem lateinischen „mutus“ und bedeutet übersetzt „schweigen“ (Katz-Bernstein, 2015, S. 24) oder „stumm“ (Hartmann, 1997, S. 19). In der Literatur findet man eine Vielzahl von Begrifflichkeiten, wobei sich im Folgenden auf die beiden Hauptformen, den selektiven und den totalen Mutismus, beschränkt werden soll. Im Verlauf der Arbeit liegt der Fokus auf dem selektiven Mutismus, denn diese Form tritt am häufigsten im Schulalltag auf, sodass Sprachheilpädagogen zumeist mit dieser im schulischen Setting konfrontiert werden. Der Terminus des „Mutismus“ stellt eine Kommunikationsstörung dar. Die Basis hierfür bildet das Schweigen bzw. die Verweigerung der Sprache. Das Störungsbild tritt überwiegend im Kindes- und Jugendalter auf, vereinzelt lässt sich dies aber auch bei Erwachsenen beobachten. Als Grundlage für die Diagnosestellung des Mutismus sollten eine Störung der Sprachentwicklung sowie organische Fehlbildungen ausgeschlossen werden, das heißt, das Sprechen wird trotz erworbener Sprachfähigkeiten und -fertigkeiten sowie intakter Hörfunktion verweigert. (Braun, 2006, S.225).
In der vorliegenden Arbeit wird der Begriff des selektiven Mutismus anstelle von elektivem Mutismus verwendet. Der Begriff des elektiven Mutismus wurde von Tramer 1934 eingeführt und gilt nach heutigem Kenntnisstand als überholt – in der Literatur wird der Terminus selektiver Mutismus verwendet. „Elektiv“ bedeutet dem Wortsinn nach, dass etwas frei wählbar ist. Ein mutistisches Kind hat sein Schweigen nach heutigem Wissen jedoch nicht frei gewählt, somit gilt diese Annahme als veraltet und es kann nicht von einem freiwilligen Schweigen gesprochen werden (Bahr 2015, S.15).
Bevor im weiteren Verlauf die Definitionen der beiden Mutismusausprägungen folgen, soll eine kurze Abgrenzung zu zwei ähnlichen Störungsbildern erfolgen. Da in der Literatur häufig eine Abgrenzung zur Sprechangst und dem Autismus erfolgt, soll an dieser Stelle kurz darauf Bezug genommen werden. Während mit Sprechangst die Angst gemeint ist, vor fremden Menschen zu sprechen, versteht man unter Mutismus vielmehr die Furcht, mit jemandem zu sprechen. Unter Sprechangst versteht man demnach die Angst, sich in Situationen, die ein Publikum implizieren, verbal zu äußern (Kriebel, 1984, S. 11). Die Betroffenen spüren eine Furcht und Belastung, wenn sie vor einer Gruppe an Menschen sich verbal äußern müssen. Demzufolge taucht das Phänomen der Sprechangst in spezifischen Kategorien von sozialen Situationen auf – in Publikumssituationen - und ist auf die Anforderung, sich verbal zu äußern, bezogen (Bahr, 2015, S. 55; Kriebel, 1986, S. 24). Laut Kriebel (ebd., S. 11) kommt die Sprechangst folglich in allen sozialen Situationen vor, in denen explizit vor anderen gesprochen wird, wie zum Beispiel Vorlesen vor der Klasse, Vorträge vor Gästen oder ähnliches. Sprich, sie tritt immer in solchen Situationen hervor, in denen der Betroffene „[…] durch einen Sprechakt hervortritt und damit öffentlich wird.“ (ebd.). Eine weitere Abgrenzung soll zu dem Störungsbild Autismus erfolgen, da auch mit dieser Diagnose der Mutismus häufig fälschlicherweise verwechselt wird. Der Autismus ist eine tiefgreifende Entwicklungsstörung, die gekennzeichnet ist durch ein „[…] eingeschränktes, stereotypes, sich wiederholendes Repertoire von Interessen und Aktivitäten […]“ (Poustka, F., Remschmidt, H. & Schmidt, M. H., 2019, S. 69). Hartmann & Lange (2017, S. 19f.) nennen wesentliche Faktoren, in denen sich beide Störungsbilder grundlegend voneinander unterscheiden. Während sich Menschen mit Autismus konstant zurückgezogen und kontaktscheu verhalten, haben Mutisten scheinbar zwei differente Gesichter. Einerseits zeigen sie das Bild eines gehemmten Sprechers bzw. Nichtsprechers und an anderer Stelle sind sie lebhaft und gelöst davon und verhalten sich nahezu normal. Ferner sind Menschen, die von Autismus betroffen sind, emotional eher kühl und können nur schwer einen gefühlvollen Kontakt zu ihrer Familie aufbauen, während selektive Mutisten in den Situationen, in denen sie sich ungehemmt verbal äußern, sich durchaus emotional und kontaktsuchend zu ihrer Familie verhalten (Hartmann & Lange, 2017, S. 19f).
2.1.1 totaler Mutismus
Unter totalem Mutismus versteht man gemäß Katz-Bernstein (2015, S. 24f.) eine vollständige Verweigerung der Lautsprache. Hierbei werden jegliche Äußerungsformen, die mit dem Mund produziert werden, „[…] wie räuspern, husten oder niesen gegenüber allen Personen vermieden.“ (Hartmann, 1991, S.13; Katz-Bernstein, 2015, S. 24; Schoor, 2001a, S. 184). Jegliche phonetischen Leistungen werden verweigert, wozu neben dem oben genannten auch weinen, lachen oder Atemgeräusche zählen (Fröhling & Krüger, 2017, S. 218). Bahr grenzt den totalen Mutismus deutlich von dem selektiven Mutismus ab, indem er sagt, dass sich dieser vor allem durch die „[…] Omnipräsenz des Schweigens […]“ (Bahr, 2006, S.24) auszeichnet. Diese Form des Mutismus zeichnet sich folglich durch die totale und konsequente Verweigerung der Sprache aus, wobei keine Abhängigkeit von Ort, Person oder Situation zu beobachten ist. In vereinzelten Fällen kann dem totalen Mutismus ein partielles Schweigen vorausgegangen sein (Bahr, 2006, S. 25), er tritt jedoch für gewöhnlich „[…] in Verbindung mit endogenen Psychosen oder bei abnormer Erlebnisreaktion auf […]“ (Strunk 1989 zitiert nach Schoor, 2001a, S. 184). Der totale Mutismus ist eher selten und tritt vor allem bei Jugendlichen und Erwachsenen auf (ebd.). Kinder, die von dieser totalen Form betroffen sind, werden oft von Außenstehenden für geistig beschränkt oder auch für autistisch gehalten. Dies liegt vor allem daran, dass jeglicher Kommunikationsversuch mit diesen Personen fehlschlägt.
2.1.2 selektiver Mutismus
Der selektive Mutismus stellt die häufigere und geläufigere Form des Mutismus dar. Hierbei existiert eine Verweigerung der Lautsprache der Betroffenen „[…] nach vollzogenem Spracherwerb […] gegenüber einem bestimmten Personenkreis“ (Hartmann 1997, S. 57). Hartmann (ebd., S. 23) bezeichnet diese Form des Mutismus als „partielles Schweigen“ „[…] einem (unbewusst) ausgewählten, fest umschriebenen, meist fremden Personenkreis gegenüber“. Die sprachliche Kommunikation wird einer bestimmten Gruppe an Menschen gegenüber oder wird in bestimmten Situationen abgelehnt und es kommt zu einem totalen, aber nur partiell auftretenden Schweigen. Das Schweigen äußerst sich vorwiegend gegenüber Erwachsenen und gegenüber fremden Personen. Für gewöhnlich sprechen Betroffene mit ihren Eltern, Geschwistern, nahestehenden Verwandten sowie mit gleichaltrigen Freunden, jedoch nicht mit fremden Erwachsenen (Hartmann 1997, S. 40; Garbani Ballnik, 2009, S.15). Auch Schoor (2001a, S.186) betont, dass selektiv mutistische Kinder in ihrem gewohnten Umfeld mit Familienangehörigen sowie mit engen Freunden sprechen, während sich außerhalb dessen ihr mutistisches Verhalten äußert. Somit zeigt das Kind in gewissen Situationen seine sprachliche Kompetenz, während es in anderen (meist ungewohnten) Situationen diese nicht anwendet. Schoor (ebd.) führt als Beispiel für ungewohnte Situationen den Kindergarten, die Schule oder auch weitere außerschulische Einrichtungen an. Er gibt an, dass 95% der von selektivem Mutismus betroffenen Kinder im außerhäuslichen Umfeld schweigen: „Die Kinder sprechen nicht mit fremden Personen, aber auch nicht mit vertrauten Menschen vor fremdem Publikum.“ (ebd.) Da in den wenigsten Fällen mit Personen außerhalb der Familie verbal kommuniziert wird, ist die Anzahl der möglichen Gesprächspartner begrenzt. Ferner schweigt der selektive Mutist „[…] in Abhängigkeit vom subjektiv empfundenen Belastungsgrad der kommunikativen Bedingungen.“ (Dobslaff, 2013, S. 19), sprich immer dann, wenn er mit der Sprache und der Situation überfordert ist.
Im ICD-10 wird der selektive Mutismus unter „F94 Störungen sozialer Funktionen mit Beginn in der Kindheit und Jugend“ (Dilling & Freyberger, 2016, S. 331) aufgeführt. Hierbei handelt es sich um Störungen, die Differenzen bezüglich der sozialen Funktionsfähigkeit aufweisen und ihre Anfänge häufig im Kindes- und Jugendalter haben (ebd). Laut Remschmidt et al. (2019, S. 103) geht der Mutismus häufig mit signifikanten Persönlichkeitsmerkmalen einher, wie beispielsweise der „[…] Sozialangst, Rückzug, Empfindsamkeit oder Widerstand […]“ (ebd.). Im DSM- 5 (Falkai et al., 2015, S. 136) wird der selektive Mutismus den Angststörungen untergeordnet, da dieser oftmals mit sozialer Ängstlichkeit einhergeht (Fröhling & Krüger, 2017, S. 218).
Sowohl das partielle als auch das totale Schweigen gehen beide mit einem sozialen Rückzug einher, sprich die betroffenen Personen vermeiden den Kontakt mit anderen Menschen. Sie isolieren sich von ihrer Umwelt und sie empfinden diese soziale Isolation mitunter als „kleineres Übel“ entgegen der „Verpflichtung zur sozialen Integration“ (Hartmann & Lange, 2017, S.13).
3. Diagnostik
Im folgenden Kapitel wird auf die Diagnostik Bezug genommen. Zunächst wird ein Überblick über die diagnostischen Kriterien gegeben, während im Anschluss daran diagnostische Methoden näher durchleuchtet und Ausschlusskriterien erläutert werden.
3.1 Diagnostische Kriterien
In Anlehnung an den ICD-10 wird zwischen einem selektiven (elektiven) und einem totalen Mutismus unterschieden. Während sich der selektive Mutismus durch „[…] selektives Sprechen mit bestimmten Personen oder in definierten Situationen […]“ (Klampfl & Seifert 2009, S. 461) auszeichnet, ist der totale Mutismus dadurch gekennzeichnet, dass jegliche verbale Äußerungen eingestellt werden, obgleich die Fähigkeit zu sprechen prinzipiell vorhanden ist. Ferner entfaltet sich mutistisches Verhalten zumeist langsam und kontinuierlich und meist sind sozial ängstliche, selbstunsichere, empfindsame und scheue Kinder davon betroffen (ebd.). Um eine Diagnose stellen zu können, wird gefordert, dass die Symptome mindestens über einen Monat andauern und es wird eine gewisse „[…] Konstanz und Persistenz der Symptomatik […]“ (ebd.) verlangt. Wie bereits erwähnt, ist der Mutismus im ICD-10 den „Störungen sozialer Funktionen mit Beginn in der Kindheit und Jugend“ (F94) zugeordnet (Dilling & Freyberger, 2016, S. 331).
Der DSM-5 ordnet das Störungsbild den Angststörungen zu. Zusätzlich zur Diagnose „selektiver Mutismus“ erhalten betroffene Kinder oft die Diagnose einer anderen Angststörung, am häufigsten die soziale Angststörung (soziale Phobie) (Falkai et al., 2015, S. 265).
Gemäß Schoor (2001a, S.185) ist das Verstummen von selektiv mutistischen Kindern differenzialdiagnostisch abzugrenzen von mannigfaltigen anderen Störungsbildern, da die Kernsymptomatik – das Schweigen – auch bei weiteren zahlreichen anderen Krankheitsbildern auftritt. Zunächst erwähnt er das bereits in Kapitel zwei erwähnte „[…] sprechängstliche Schweigen in bestimmten Publikumssituationen […]“ (ebd.). In dem Fall ist die Stummheit eine „[…] bewusste Vermeidungsstrategie bzw. ein Ausweichverhalten, das zumindest retrospektiv bewusst gemacht und sprachlich reflektiert werden kann […].“ (ebd.). Ferner ist Mutismus abzugrenzen von einer schlichten Schüchternheit, sprich von einem passageren Schweigen, beispielsweise beim Eintritt in den Kindergarten oder in die Schule. Hierbei beträgt die Schweigedauer nicht mehr als ein bis zwei Monate. Weiterhin ist es essenziell eine Abgrenzung zwischen einem mutistischen Kind und einem Kind, welches aufgrund von beschränkten Sprachkenntnissen in einer neuen Sprache schweigt, vorzunehmen. Hiervon sind besonders Kinder aus Familien mit Migrationshintergrund betroffen, die noch nicht über ausreichend sprachliche Kompetenzen in der neuen Sprache verfügen, obgleich sie ihre Primärsprache beherrschen (Schoor, 2001a, S. 185). Ein weiteres differenzialdiagnostisches Kriterium, welches Schoor (ebd.) aufzählt, ist das situative Verstummen von Kindern mit Sprachentwicklungsstörungen. Aufgrund von sprachlicher Überforderung kann es hier zum Schweigen kommen. Hinzu kommt das passagere oder totale Schweigen von Kindern mit Autismus. Hier ist davon auszugehen, dass das Schweigen Gegenstand einer Kommunikationsbarriere ist, die wiederum „[…] Ausdruck einer Beziehungsstörung ist.“ (ebd.). Auch das Verstummen von Kindern mit Hörbeeinträchtigungen bzw. Hörschädigungen und von tauben Kindern ist von dem Störungsbild des Mutismus differenzialdiagnostisch abzugrenzen. Auch Egberts & Gensthaler (2016, S.468) erwähnen die sogenannte Hörstummheit (Audimutitas) oder die eingeschränkte Hörfähigkeit, von der der Mutismus zu unterscheiden ist. Eine weitere Störung, von der sich der Mutismus differiert ist die Psychose, sowie das Verstummen bei „[…] organisch- und zentralorganisch bedingten Sprech- und Sprachstörungen […].“ (ebd.). Abschließend sind noch sogenannte Sprachverlustsyndrome aufgrund von hirnorganischen Schädigungen aufzuzählen wie beispielsweise Schädel-Hirn-Traumata oder Aphasie3 (Egberts & Gensthaler, 2016, S. 468).
Zudem zeigt Schoor (2001a, S. 187) auf, dass mutistisches Verhalten oftmals beim ersten verbalen Kontakt mit und/oder vor unbekannten Personen beobachtet wird. Die betroffenen Kinder äußern sich zunächst nur zurückhaltend und leise und verstummen schließlich sukzessiv. Der Grund hierfür sind oft beschämende Ereignisse. Darüber hinaus berichten Eltern, deren Kinder von Mutismus betroffen sind, von massiv einschneidenden Ereignissen, welche „[…] sie mit dem plötzlichen Auftreten von selektiv mutistischem Verhalten in Verbindung bringen.“ (Schoor, 2001a, S.187). Da das Ausdrucksverhalten der betroffenen Kinder insgesamt massiv beeinträchtigt ist, hat das mutistische Verhalten eine Art „Syndromcharakter“, so Schoor (2001a, S.187). Von Mutismus betroffene Kinder weisen eine starre Körperhaltung und Mimik auf, wenn sie jemand anspricht oder auch, wenn ihr Schweigen thematisiert wird. Dabei ist der Blick der Kinder meist nach unten gerichtet und ihre Körperhaltung zumeist abgewandt von ihrem Gegenüber. Schoor (ebd.) erwähnt an dieser Stelle den Begriff des „hilflosen Erstarrens“, das sogenannte „freezing“, welches typisch für betroffene Kinder ist. Auch im ICD-10 werden diagnostische Kriterien dargestellt: Es muss nachweisbar sein, dass ein konstantes Unvermögen besteht, in gewissen sozialen Situationen, in denen das Sprechen erwartet wird (beispielsweise in der Schule), zu sprechen, in anderen Kontexten jedoch das Sprechen realisiert werden kann. Ferner wird, wie oben bereits dargestellt, eine Dauer von länger als vier Wochen angegeben. Im DSM-5 (Falkai et al., 2015, S.136) wird noch ergänzt, dass das Schweigen nicht auf den ersten Monat nach Schulbeginn reduziert werden soll. Mannhard & Scheib (2005, S.99) weisen auf, dass dieser Zeitraum, in dem geschwiegen wird, als außerordentlich persistierend empfunden wird, und demnach nicht mehr als reine „[…] Eingewöhnungszeit in eine neue Situation verstanden werden kann.“ (ebd.). Auch eine tiefgreifende Entwicklungsstörung sollte nicht vorliegen. Besonders wichtig ist noch einmal zu erwähnen, dass die Redehemmung bzw. das Störungsbild des Mutismus nicht auf einen Mangel an Kenntnissen der gesprochenen Sprache zurückgeführt wird, die in der konfrontierten sozialen Situation erforderlich ist (Dilling & Freyberger, 2016, S. 332). Im DSM-5 (Falkai et al., 2015, S. 136) wird noch ergänzt, dass das Störungsbild des Mutismus die schulischen und auch beruflichen Leistungen sowie die soziale Kommunikation beeinflusst. Zusammenfassend setzt die Diagnose Mutismus vor allem voraus, dass die Betroffenen ein normales oder fast normales Sprachverständnis aufweisen, sie über eine gewisse Performanz im verbalsprachlichen Ausdruck verfügen und sie damit die Effektivität besitzen, eine normale Kommunikation führen zu können (Remschmidt et al., 2017, S. 103). Auch sollte nachweisbar sein, dass die betroffenen Personen in ausgewählten Situationen sich verbal äußern können. Zuletzt verlangt die Diagnose Mutismus eine gewisse Stabilität und Prognostizierbarkeit von den Situationen, in denen gesprochen wird und in denen geschwiegen wird (ebd.).
3.2 Komorbidität und Verlauf
Wie in dem vorangegangenen Abschnitt bereits erwähnt, werden vor allem Angststörungen und die soziale Phobie häufig als komorbides Störungsbild genannt. Remschmidt & Kamp- Becker (2015, S. 152) zählen noch die Trennungsängstlichkeit hinzu. Darüber hinaus geben die Autoren an, dass bei circa zweidrittel der von Mutismus betroffenen Kinder eine Entwicklungsverzögerung vorliegt, vor allem im sprachlichen und motorischen Bereich (ebd.). Des Weiteren gehen sie auf auftretende Frühsymptome bei Mutismus ein. Hierzu zählen sie „[…] eine zunehmende kommunikative Unsicherheit, ausgeprägte Kontaktscheu, eine zeitlich begrenzte Sprechverweigerung sowie die Instabilität von Äußerungsweisen.“ (ebd.). Zudem konnte in Verlaufsuntersuchungen festgestellt werden, dass zwischen „[…] 30% und 58% der mutistischen Kinder und Jugendlichen nach 5 Jahren ein normales Sprechverhalten zeigen.“ (ebd.). Die verbliebenen Personen zeigen zwar eine offensichtliche Verbesserung bezüglich des Sprechverhaltens, tendieren jedoch auch noch nach Jahren zu Ängsten vor „[…] zwischenmenschlichen Kontakten, einer gewissen Sprechscheu und Rückzugstendenzen“ (ebd.). Mannhard & Scheib (2005, S. 102) geben an, dass sich ein selektiver Mutismus in seltenen Fällen auch bis hin zu einem totalen Mutismus entwickeln kann, sprich, es kann zu einer völligen Stummheit kommen. Zudem beinhaltet der selektive Mutismus das Risiko, dass sich die Symptomatik sowie das kindliche Selbstbild als „schweigendes Kind“ chronifiziert (Mannhard & Scheib, 2005, S. 102). Auch nach dem Überwinden der mutistischen Symptomatik, kann es zu sogenannten postmutistischen Symptomen kommen, welche unter anderem „[…] Ängstlichkeit, Schüchternheit, Schweigsamkeit, Unbehagen in sozialen Situationen, Isoliertheit und Rückzugstendenzen.“ sein können. (ebd.). Klein, E. R., Armstrong, S. L., Skira, K. & Gordon, J. (2016, S.3) berichten in ihrer Studie darüber, unter welchen Bedingungen man mit einer besseren Prognose bei Mutismus rechnen kann. Hierfür ist eine gute Zusammenarbeit zwischen dem häuslichen Umfeld und den Therapeuten von größter Wichtigkeit. Ebenfalls kann es als positive Voraussetzung gesehen werden, wenn das Kind noch vergleichsweise jung ist und die Störung einen geringen Schweregrad aufweist und bisher noch von keiner langen Dauer ist. Aus all diesen Gründen ist es von großer Notwendigkeit, dass der Mutismus frühzeitig erkannt wird, um daran anknüpfend entsprechende Therapiemaßnahmen einzuleiten.
3.3 Ausschlusskriterien
Um die Diagnose Mutismus stellen zu können, gibt es mehrere voraussetzende Faktoren. Hierzu zählen eine (nahezu) regulär verlaufende Sprachentwicklung sowie die Kompetenz, sich sprachlich ausdrücken zu können. Ein weiteres voraussetzendes Kriterium ist jenes, dass die von Mutismus betroffene Person sich in vielfältigen Situationen durchaus normal verbal artikulieren kann (Egberts & Gensthaler, 2016, S. 468; Remschmidt et al., 2017, S. 103). In Abhängigkeit vom sozialen Kontext zeigt ein mutistisches Kind in manchen Situationen seine sprachliche Kompetenz, während es in anderen klar umschriebenen Situationen diese nicht zeigt und demnach stumm oder partiell stumm bleibt (Egberts & Gensthaler, 2016, S.468). Gemäß Egberts & Gensthaler (ebd.) soll die Unfähigkeit zu sprechen bereits über einen längeren Zeitraum, länger als vier Wochen, bestehen, um eine Diagnose stellen zu können. Darüber hinaus soll eine „[…] Konsistenz und Voraussagbarkeit für die Situationen bestehen, in denen gesprochen bzw. nicht gesprochen wird.“ (ebd.)
Als Ausschlusskriterien werden im ICD-10 (Dilling & Freyberger, 2016, S. 331) der „passagere Mutismus als Teil einer Störung mit Trennungsangst bei jungen Kindern“ aufgezählt als auch die Schizophrenie, tiefgreifende Entwicklungsstörungen und „umschriebene Entwicklungsstörungen des Sprechens und der Sprache“ (Dilling & Freyberger, 2016, S. 331; Remschmidt et al., 2017, S. 104).
Abschließend erwähnt der DSM-5 (Falkai et al., 2015, S. 136) noch den Aspekt, dass die Redehemmung nicht durch eine sogenannte Kommunikationsstörung erklärt werden kann. Zudem kommt sie nicht ausschließlich „[…] im Verlauf einer Autismus-Spektrum-Störung, einer Schizophrenie oder einer anderen psychischen Störung […]“ (Falkai et al., 2015, S. 136) vor.
3.4 Diagnostische Grundlagen
Im folgenden Kapitel geht es um die Erfassung und Erkennung von selektivem Mutismus. Besteht die Annahme, dass ein Kind unter selektivem Mutismus leidet, dann gibt es unterschiedliche Wege4, um die Störung festzustellen. Ein erster Verdacht könnte dann entstehen, wenn die Lehrkraft feststellt, dass das Kind in der Schule nicht redet, die Eltern aber wiederum von einem altersadäquaten Sprechverhalten im häuslichen Umfeld berichten. Um eine weitere, allumfassendere Diagnostik bezüglich der Störung selektiver Mutismus einzuleiten, ist es unabdingbar, dass die Selektivität des Schweigens gegeben ist. Katz-Bernstein (2015, S. 65) zählt vier differente Aspekte mutistischer Verhaltensweisen auf. Zunächst erwähnt sie das „Versteinern“ oder auch „freezing“ als Reaktion auf eine direkte Ansprache der betroffenen Personen. Zudem schweigen sie fortdauernd und haben ein generell eher gehemmtes und zurückhaltendes Auftreten. Ihr Verhalten ist grundsätzlich normal, sie äußern sich jedoch nicht verbal. Außerdem werden die Lautsprache „[…] und das laute Sprechen […] gemieden […].“ (ebd.), dafür kommunizieren sie oft gestikulierend. Diese verschiedenen Verhaltensweisen sind häufig nicht eindeutig voneinander zu trennen. Vielmehr tauchen sie als Mischtypen auf „[…] oder sind situativ und temporär bedingt“ (ebd.). Ist ein Kind nach mehr wie drei Monaten immer noch nicht in der Lage, sich verbal in seiner neuen Umgebung zu artikulieren und zeigt es dazu eine der eben genannten Verhaltensweisen in Verbindung mit dem Nichtsprechen, so kann anhand dieser Merkmale davon ausgegangen werden, dass es sich hierbei um ein von Mutismus betroffenes Kind handelt (Katz-Bernstein, 2015, S. 65). Katz-Bernstein (ebd.) hebt dabei als essenzielles Anzeichen hervor, dass das Kind in seinem Verhalten völlig erstarrt und keine „[…] weitere Entwicklung, um Vertrautheit und Sprechen zu erreichen […]“ (ebd.), erkennbar ist. Die Diagnose Mutismus wird folglich anhand der oben genannten Kriterien gestellt, hinzu kommen die Anamnese, die Familienanamnese und Fremdanamnese5. Ferner ist die Verhaltensbeobachtung essenziell, um eine genaue Diagnose stellen zu können, wobei, wie eben bereits erwähnt, die oben genannten Aspekte gegeben sein müssen (Remschmidt & Kamp-Becker, 2015, S. 151). Die beiden Autoren führen ebenfalls auf, dass eine körperlich-neurologische Untersuchung sowie eine Sprach und Intelligenzdiagnostik erfolgen sollten (ebd.).
Zunächst geht es bei einer genaueren Diagnostik also darum, andere Störungsbilder, welche für das Verstummen verantwortlich sein könnten, auszuschließen. Das heißt, es sollten potenzielle „[…] Sprach-, Sprech-, Stimm- und Redeflussstörungen […]“ (Braun, 2006, S. 270) ausgeschlossen werden und zudem sollte das „[…] sozialinteraktive Kommunikationsverhalten differenziert […]“ (ebd.) beschrieben und eingeschätzt werden. Um die Diagnose Mutismus zu stellen, müssen Störungen, die beispielsweise durch organische Schädigungen hervorgerufen werden, vom Kinderarzt ausgeschlossen werden. Hierzu zählen z.B. die Aphasie (ebd.). Weitere Ausschlusskriterien für die Diagnose Mutismus sind unter Kapitel 3.3 Ausschlusskriterien aufgeführt.
Da das Kind im häuslichen Umfeld oftmals ein mehr oder minder „normales“ Kommunikationsverhalten zeigt, werden viele Eltern von dem mutistischen Verhalten ihres Kindes überrascht, vor allem, wenn dieses in der frühen Entwicklungsphase auftritt (Katz-Bernstein, 2015, S.65). Die Beobachtungskriterien, welche für eine erste Diagnostik ausschlaggebend sein können und die für einen Mutismus sprechen können, sollen hier nochmal kurz aufgezählt werden: Das Kind weist ein Unvermögen auf, in definierten sozialen Situationen zu sprechen, während es in anderen durchaus in der Lage ist, zu kommunizieren. Außerdem werden die schulischen bzw. beruflichen Leistungen sowie die soziale Kommunikation beeinträchtigt (Katz-Bernstein, 2015, S.65). Darüber hinaus hält das Nichtsprechen länger als einen Monat an. Des Weiteren verfügt das Kind über ausreichend Sprachkenntnisse in der jeweiligen Sprache, die die soziale Situation verlangt und es existiert keine Kommunikationsstörung oder tiefgreifende Entwicklungsstörung (ebd.). Fröhling & Krüger (2017, S. 218) führen als Teile einer Diagnostik, neben einer fundamentalen Patienten- und Familienanamnese und den ärztlichen Untersuchungen, auch die psychische Diagnostik sowie die sprachtherapeutische Diagnostik auf. Als Beispiel nennen sie die „patholinguistische Diagnostik bei Sprachentwicklungsstörungen“ (Kauschke & Siegmüller 2010, zitiert nach Fröhling & Krüger, 2017, S. 218). Ferner erwähnen sie als diagnostische Maßnahme die Feststellung des bereits „[…] zugrundeliegenden Kommunikationsverhalten und der emotionalen Motivationskriterien“ (Hartmann & Lange, 2003, zitiert nach Fröhling & Krüger, 2017, S. 218). Als Beispiel nennen sie den „Evaluationsbogen für das sozialinteraktive Kommunikationsverhalten bei Mutismus“ (Hartmann & Lange, 2003, zitiert nach Fröhling & Krüger, 2017, S. 218).
Abschließend warnt Katz-Bernstein (2015, S. 69) ausdrücklich vor einer vorschnellen Taxierung „[…] einer kindlichen Verhaltensauffälligkeit und dem damit verbundenen Beitrag zu seiner Fixierung“ (ebd.).
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Diagnose Mutismus durch eine Interaktion von verschiedenen Methoden gestellt wird. Im Zentrum stehen dabei die direkte Verhaltensbeobachtung sowie eine tiefergehende kinder- und jugendpsychiatrische und -psychologische Diagnostik.
3.5 Epidemiologie
Die Prävalenzrate betreffend, liegen hier keine genauen Angaben vor: sie sind von Studie zu Studie abweichend. Goodman, R., Scott, S. & Rothenberger, A. (2000, S. 156) geben an, dass zu Schulbeginn ungefähr 1% der Kinder von Mutismus betroffen sind, während im Alter von sechs bis sieben Jahren circa 0,02%- 0,05% von 10.000 Kindern betroffen sind. Kopp & Gillberg (1997, S. 257) geben in ihrer Studie jedoch an, dass 0,18% aller Kinder von Mutismus betroffen sind. Böhme (2003, S. 377) gibt ebenfalls einen etwas höheren Prozentsatz an, laut ihm sind 0,5 – 0,7% aller Kinder betroffen. Insgesamt betrachtet kann man jedoch von einem vergleichsweise selten auftretenden Störungsbild sprechen. Obgleich Jungen anfälliger für Sprachentwicklungsstörungen im allgemeinen sind, sind von der Kommunikationsstörung Mutismus Jungen als auch Mädchen ungefähr gleich stark betroffen (Goodman et al., 2000, S. 156; Remschmidt et al., 2017, S. 103), wobei es eine stärkere Tendenz zu Mädchen gibt, so Goodman et al. (2000, S.156). Auch Mannhard & Scheib (2005, S. 100) geben eine leicht stärkere Tendenz bei Mädchen an. Gemäß diesen Autoren sind Mädchen circa anderthalbmal häufiger davon betroffen als Jungen (ebd.). Gemäß Goodman et al. (2000, S. 156) hat die Familiengröße, der sozioökonomische Status und auch die Geschwisterreihenfolge keinen Einfluss auf die Entwicklung des Störungsbildes Mutismus. Auch das Alter, in dem der Mutismus das erste Mal auftritt, schwankt in der Literatur je nach Autor und es finden sich unterschiedliche Angaben hierzu. Damerau & Subellok, (2015, S. 77) sowie Viana, A. G., Beidel, D. C. & Rabian, B. (2009, S. 59) geben an, dass der Beginn meist zwischen dem dritten und vierten Lebensjahr liegt6, sprich in der frühen Kindheit. Viana et al. (2009, S. 59) zeigen zudem auf, dass oftmals eine signifikante Verzögerung zwischen dem Beginn der Erkrankung und dem Zeitpunkt, an dem diese erkannt und eine Überweisung an einen Kinderarzt erfolgt, besteht. In vielen Fällen bleibt der selektive Mutismus solange unerkannt, bis das Kind den Kindergarten oder die Grundschule besucht, wo es dann stetig mit der Herausforderung konfrontiert wird, in einer ungewohnten und unvertrauten Umgebung mit fremden Menschen zu sprechen (ebd.). Katz-Bernstein (2015, S. 29) unterscheidet zwischen einem Frühmutismus (der Beginn liegt hier zwischen 3:4 – 4:1 Jahren) und einem Spät-/ Schulmutismus (hier liegt das erstmalige Auftreten bei einem Alter von 5:5 Jahren) (ebd.). In Anbetracht dieser Einteilung wird deutlich, dass die Redehemmung meist mit einem Übergang zusammenhängt; und zwar mit einem Wechsel von einem „[…] vertrauten, familiären Kreis zu einem Exponiert-Sein verbunden mit der Anpassung und der Integration in eine neue soziale Gruppe.“ (Hartmann 1997, zitiert nach Katz-Bernstein, 2015, S.29). Sprich, der Übergang von einem geschützten, vertrauten Ort und/oder von einer vertrauten Personengruppe hin zu einem ungewohnten, fremden Kontext ist meist Auslöser für den selektiven Mutismus und das mutistische Verhalten.
3.6 Ätiologie
Wenn es darum geht, die Ursache für das Schweigen finden zu wollen, ist es in erster Linie essenziell, diejenigen kommunikativen Situationen genau zu beschreiben, in denen gesprochen bzw. das Sprechen vermieden wird. Anders formuliert bedeutet dies, dass zunächst erfasst werden muss, ob und in welchen Situationen der Betroffene tatsächlich spricht. Um die Diagnose „selektiver Mutismus“ stellen zu können ist es unvermeidlich, eine „[…] völlig unterschiedliche Kommunikationsbereitschaft […]“ (Hartmann & Lange, 2017, S. 26) nachweisen zu können. Zu den mutistischen Formen zählt kein allgemein eher schüchternes und zurückhaltendes Antwortverhalten, bei dem der Betroffene auf Ansprache konstant etwas erwidert. Hartmann & Lange (2017, S.26) zufolge, ist das Kardinalsymptom von Mutismus die partielle bzw. situative oder totale Redehemmung. Der Mutismus lässt sich nicht auf eine grundlegende Ursache zurückführen, sondern es muss vielmehr von multifaktoriellen Verursachungen ausgegangen werden (Fröhling & Krüger, 2017, S. 218). In der Literatur gibt es verschiedene Erklärungsansätze, wie es zu dem plötzlichen Verstummen kommt. So werden sowohl psychologische Erklärungen angenommen als auch soziale und biologische Verursachungsfaktoren. Diese Erklärungsansätze sollten gemäß Hartmann (1992, S. 498) jedoch nicht in ihrer Absolutheit betrachtet werden, denn vielmehr wirken bei Mutismus bezüglich der Verursachung Aspekte aus allen Bereichen zusammen. Zunächst soll auf ein psychodynamisches Erklärungsmodell eingegangen werden, welches zu den sogenannten Problemlösungsmodellen zählt (Hartmann & Lange, 2017, S. 26). Dieses geht davon aus, dass das Störungsbild des Mutismus das „[…] Symptom einer Konfliktlösung bei neurotischer Problematik.“ (Schoor, 2001a, S. 192) darstellt. Das Verstummen wird hier als „intrapsychische Bewältigungsstrategie“ (Hartmann & Lange, 2017, S.26) von einem existierenden seelischen Konflikt oder Problem angesehen (ebd.). Durch das Nichtsprechen wird bei den Betroffenen eine Regulation der eigenen Emotion Angst realisiert, welche durch das Verhalten – dem Schweigen – verringert wird. Durch das Phänomen des Schweigens wird der mögliche Konflikt für das Kind gelöst, denn es weiß nicht, wie es etwas ausdrücken und somit lösen soll. Dem Kind gelingt es, sein Selbstwertgefühl zu erhalten, indem es am Schweigen festhält. Das Schweigen ist hier bereits Teil des Selbstbildes des Kindes geworden. Ein weiterer positiver Aspekt für das Kind ist darin begründet, dass es durch das Schweigen vermehrte Aufmerksamkeit durch Bezugs- und Autoritätspersonen erhält (Bahr, 2006, S. 154). Schoor (2001a, S. 192) beschreibt differierte Erklärungsrichtungen. Zunächst ist hier der Punkt zu erwähnen, dass Mutismus, hier der totale Mutismus, auf kindliche Traumata zurückgehen kann und somit eine Art Verarbeitungsversuch darstellt. Durch das traumatische Erlebnis kommt es zu einem Schock, wodurch wiederum eine „sprechmotorische Innervationsstörung“ hervorgerufen wird (ebd.). Sprich, die für das Sprechen notwendigen Nerven werden aufgrund des Traumas vom Gehirn paralysiert und daher ist das Sprechen in entsprechenden Situationen nicht mehr möglich. Abnorme Erlebnisreaktionen sind somit eine Erklärungsrichtung im psychodynamischen Erklärungsmodell (Schoor, 2001a, S. 192). Auch die Trennungsangst kann zum Verstummen führen und wird als weitere Ausprägung des psychodynamischen Erklärungsmodells aufgeführt. Hierbei geht es darum, dass ein Kind mit Angst reagiert, sobald es eine vertraute Kommunikationssituation verlässt (ebd.). Das Kind hat Angst, die Mutter nie wieder zu sehen. Diese Urangst löst dann wiederum die grundlegende Abwehrform – das Schweigen – aus, welches tief im Kind verwurzelt ist. Zusammenfassend geht es bei diesem Ansatz darum, dass das Schweigen als eine Art Abwehrmechanismus dient, um angstauslösende Momente zu umgehen (Hartmann, 1992, S. 497).
Eine weitere Dimension sind die sogenannten lerntheoretischen Erklärungsansätze. Bei diesen Modellen geht es darum, selektiv mutistisches Verhalten mit differenten Lernprozessen zu erklären bzw. das Verstummen mittels erlernten Reaktionsmustern zu deuten. Zum einen wird hier das Modell der „operanten Konditionierung“ genannt, welche das Schweigen in einer entsprechenden Situation entweder positiv oder negativ verstärkt. Wenn der Betroffene durch das Nichtsprechen bzw. das Schweigen zunehmend positive Konsequenzen erlebt, wie zum Beispiel erhöhte Aufmerksamkeit oder auch das Vermeiden von Pflichten, dann führt dies dazu, dass das Schweigen konstant bleibt. Hierbei handelt es sich um positive (vermehrte Zuwendung) bzw. negative (Vermeidung von Pflichten) Verstärkung (Bahr, 2006, S. 29f.; Braun, 2006, S.227; Hartmann & Lange, 2017, S.27). Einen weiteren Aspekt, den Hartmann & Lange (2017, S. 27) in dem Zusammenhang ansprechen, ist das sogenannte Imitationslernen, hier wird das Schweigen imitiert. Diese Nachahmung setzt neben einer exakten Beobachtung voraus, dass sich die Person mit der Modellperson identifizieren kann. Diese kommt für gewöhnlich aus dem näheren Umfeld des Kindes (Braun, 2006, S.227). Solche lerntheoretischen Mechanismen sind bei der Aufrechterhaltung des Schweigens und auch bei der Entstehung des „subjektiven Krankheitsgewinns“ von zentraler Bedeutung (Hartmann & Lange, 2017, S. 27). Wenn die von Mutismus betroffene Person schweigt, dann entstehen für sie Vorteile, die zwar als angenehm wahrgenommen werden, die Schwierigkeit des Schweigens jedoch aufrechterhalten (ebd.). Ferner wird in der Literatur der Stresstheoretische Ansatz (Hartmann, 2017, S. 27; Schoor, 2001a, S. 193) erläutert bzw. bezeichnet Braun (2006, S.228) diesen als Interaktionistischen Erklärungsansatz. Laut diesem Ansatz besitzt ein von Mutismus betroffenes Kind eine erhöhte Vulnerabilität und wenig Resilienz. Das meint, dass das Kind folglich nicht ausreichend Ressourcen zur Verfügung hat, um belastende oder stressige Situationen und Ereignisse zu bewältigen (Bahr, 2015, S. 20; Hartmann & Lange, 2017, S. 27). Es kommt also „[…] zu einer Überflutung der als gering angesehenen eigenen Bewältigungsvariablen durch ein problematisch erscheinendes Umweltereignis (z.B. Kindergarten – oder Schuleintritt).“ (Hartmann & Lange, 2017, S. 27). Schoor (2001a, S. 193) zeigt ebenfalls auf, dass sich das mutistische Kind nach dem stresstheoretischen Modell in einem Stresszustand befindet, da es sich in seinem „[…] Bewältigungsverhalten in einer für das persönliche Wohlergehen bedeutsam bewerteten sprachlichen Anforderungssituation überfordert fühlt.“ (ebd., S. 197). Sprich, Situationen die das Kind als Überforderung wahrnimmt, wirken auf dieses stress- und angstauslösend. Daraufhin reagiert das Kind mit Nichtsprechen bzw. Verstummen. Wie bereits beschrieben, ist das Wahrnehmen der Überforderung einer Situation von verschiedenen Faktoren bestimmt. Es ist vor allem dann festzustellen, wenn man beobachtet, wie das Kind das Erlebte wahrnimmt und bewältigen kann (Braun, 2006, S. 228). Wenn eine kommunikative Situation für das Kind etwas Verunsicherndes und Bedrohliches aufweist, ist eine nahe liegende Konsequenz, dass das Kind schweigt. Es verstummt, da es mit der Situation nicht zurechtkommt (ebd.). Zudem führt Hartmann (1997, S. 94ff) das Diathese-Stress-Modell auf, in welchem vier Faktoren in Abhängigkeit zueinander gesetzt werden. Hierzu zählen die genetische Veranlagung, biologische und psychologische sowie soziale Faktoren (Hartmann, 1997, S. 94fff; Schoor, 2001a, S. 194). Gemäß dem Modell basiert das Schweigen auf einer genetisch vorgegebenen (hereditären) Disposition, dass die Kinder in ihrer Kommunikation gehemmt sind. Mit Schweigen zu reagieren, ist für die Kinder die bisher einzig erlernte Strategie, mit dem psychischen Stress (in der Kommunikation) umzugehen (Schoor, 2001a, S. 194). Hartmann & Lange (2017, S. 29) zufolge entsteht nach dem Diathese-Stress-Modell eine „[…] Kombination aus familienbiografisch gehäuft auftretender Gehemmtheit und seelisch belastenden Umweltfaktoren (Diathese- Stress-Konfiguration).“ (ebd.).
[...]
1 Zur Vereinfachung des Leseflusses wird sich im Folgenden nur auf den Begriff des Kindes beschränkt, dieser impliziert aber auch Jugendliche.
2 Um einen besseren Lesefluss zu ermöglichen, wird im Folgenden von einer genderneutralen Ausdrucksweise abgesehen. Sämtliche personenbezogenen Bezeichnungen sind folglich geschlechtsneutral zu verstehen.
3 Hierbei handelt es sich um einen Verlust der Sprache aufgrund einer plötzlich erworbenen Schädigung des Gehirns (Baur, 2001, S. 231; Braun, 2006, S. 128).
4 Dies umfasst ärztliche Untersuchungen, Beobachtungen des Kindes und Kinder-/Familienanamnese.
5 Fremdanamnese beinhaltet Beobachtungen und Berichte beispielsweise aus dem Kindergarten oder der Schule.
6 Viana et al. (2009, S. 59) geben in ihrem Artikel eine Altersspanne von 2:7 bis 4:1 Jahre an.
- Quote paper
- Anonymous,, 2019, Schweigende Kinder im inklusiven Unterricht. Möglichkeiten zur Bildungsteilhabe bei Mutismus, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/703409
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