„Merket wohl, alle nachdenklichen
Gemüter: Das schnellste Roß, das
Euch zur Vollkommenheit trägt, ist
Leiden ... Nichts ist so gallebitter
wie leiden und nichts so honigsüß
wie gelitten haben.“
Meister Eckehart
(1260-1327)
Um das Leiden der jungen Seele, die Krisen junger Menschen, die Gefühle der Ausweglosigkeit bis hin zu den suizidalen Gedanken und Absichten Jugendlicher und um die Hilfe hinaus aus dem Labyrinth der Verzweiflung, soll es in dieser Diplomarbeit gehen. Ich will den schmalen Grat zwischen Hoffnung und Hoffnungslosigkeit beschreiben, den jugendliche Suizidanten und mit Ihnen ihre „Retter in der Not“ gehen. Ich will versuchen, ein Licht in das Dunkel der jungen Seele zu bringen, indem ich aufzeige, wie sich schwer wiegende Krisen in der Zeit der Adoleszenz entwickeln können und wie mit ihnen die Gefahr der Suizidalität steigen kann.
Der erste Teil meiner Diplomarbeit soll einen theoretischen Überblick über die Entstehung von Krisen im Allgemeinen und anschließend über die Krisen speziell im Jugendalter, also den Adoleszententenkrisen, vermitteln. In einem weiteren Schritt werde ich, mit Hilfe von biologischen, soziologischen und psychologischen Erklärungsmodellen und mit der Beschreibung des „präsuizidalen Syndroms“ des Wiener Suizidforschers Erwin Ringel (1921-1994), die Entwicklung von der Krise bis zur Suizidalität aufzeigen.
Ich werde die jungen Menschen selbst, mit ihren eigenen Erlebnissen, Selbstmordabsichten und -versuchen, ihren Ausdrucksmöglichkeiten und ihrem Umgang mit dem Thema Suizid, betrachten und sie in einem gesonderten Kapitel zu Wort kommen lassen.
Diese Sammlung von Liedtexten, Erfahrungsberichten, Briefen und Bildern bildet den Impuls für den zweiten und damit den praktischen Teil meiner Arbeit - der Krisenintervention bei Suizidgefahr mit ihren Grundsätzen und Handlungsmodellen und der Krisenintervention bei jugendlichen Suizidanten im Kontext sozialer Arbeit.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1 Aus dem Lot geraten - Krisengebiet Seele
1.1 Der Krisenbegriff
1.2 Krisenkriterien
1.3 Chancen und Gefahren von Krisen
1.4 Psychosoziale Krisen
1.4.1 Traumatische Krisen
1.4.2 (Lebens-) Veränderungskrisen
2. Die „unerträgliche Schwierigkeit“ des Erwachsenwerdens - Krisenherd Adoleszenz
2.1 Entwicklungskrisen in der Adoleszenz
2.1.1 Sexuelle Entwicklungskrisen
2.1.2 Identitäts- und Autoritätskrisen
2.1.3 Narzisstische Krisen
2.2 Weitere Risikofaktoren in der Adoleszenz
3. Das Labyrinth der Verzweiflung - Von der Krise zur Suizidalität
3.1 Jugendliche Suizidalität
3.2 Erklärungsmodelle zur Entwicklung von Suizidalität
3.2.1 Biologische Theorien
3.2.2 Soziologische Theorien
3.2.3 Psychologische Erklärungsansätze
3.3 Das präsuizidale Syndrom
3.4 Die suizidale Krise - Alarmsignale von Jugendlichen
4. Dem Tod so nah - Songtexte, Erfahrungsberichte, Briefe & Bilder
4.1 Die Leiden der jungen Seele - „Jetzt reden wir!“
4.2 Texte deutscher Punk-Bands
4.3 Erfahrungsberichte
4.4 Abschiedsbriefe von Jugendlichen
4.5 Bilder
5. Schutzwall gegen den Tod - Krisenintervention bei Suizidgefahr
5.1 Krisenintervention - Definition
5.2 Ziele und Grundsätze der Krisenintervention
5.3 Der erste Kontakt - das erste Gespräch
5.4 Fragen zur Abklärung der Suizidalität
5.5 Handlungsmodelle der Krisenintervention
5.5.1 Problembearbeitung in der Krisenintervention
5.5.2 Das „BELLA“-System - Interventionskonzept für akute Krisensituationen
5.6 Umgang mit Suizidgefährdeten
5.7 Fehler im Umgang mit Suizidgefährdeten
6. Kriseninterventionen bei jugendlichen Suizidanten im Kontext sozialer Arbeit
6.1 Wo trifft die soziale Arbeit auf suizidgefährdete junge Menschen?
6.2 Sozialpädagogische Krisenintervention - Spezielle Interventionstechniken
6.3 Das Versorgungssystem - Institutionelle Krisenintervention
6.3.1 Ambulante Krisenintervention
6.3.2 Stationäre (Krisen-) Hilfe - Soziale Arbeit in der Kinder- und Jugendpsychiatrie
6.3.3 Ambulante oder stationäre Krisenintervention? - Ein Fallbeispiel
6.4 Krisenberatung online - Chatberatung für suizidgefährdete junge Menschen
6.4.1 Die Beratungsstelle neuhland in Berlin
6.4.2 Online-Beratung bei neuhland
6.4.3 Ein Fallbeispiel
7. Resümee
Literaturverzeichnis
Anhang
Einleitung
„Merket wohl, alle nachdenklichen
Gemüter: Das schnellste Roß, das
Euch zur Vollkommenheit trägt, ist
Leiden ... Nichts ist so gallebitter
wie leiden und nichts so honigsüß
wie gelitten haben.“
Meister Eckehart
(1260-1327)
Um das Leiden der jungen Seele, die Krisen junger Menschen, die Gefühle der Ausweglosigkeit bis hin zu den suizidalen Gedanken und Absichten Jugendlicher und um die Hilfe hinaus aus dem Labyrinth der Verzweiflung, soll es in dieser Diplomarbeit gehen. Ich will den schmalen Grat zwischen Hoffnung und Hoffnungslosigkeit beschreiben, den jugendliche Suizidanten und mit Ihnen ihre „Retter in der Not“ gehen. Ich will versuchen, ein Licht in das Dunkel der jungen Seele zu bringen, indem ich aufzeige, wie sich schwer wiegende Krisen in der Zeit der Adoleszenz entwickeln können und wie mit ihnen die Gefahr der Suizidalität steigen kann. Der erste Teil meiner Diplomarbeit soll einen theoretischen Überblick über die Entstehung von Krisen im Allgemeinen und anschließend über die Krisen speziell im Jugendalter, also den Adoleszententenkrisen, vermitteln. In einem weiteren Schritt werde ich, mit Hilfe von biologischen, soziologischen und psychologischen Erklärungsmodellen und mit der Beschreibung des „präsuizidalen Syndroms“ des Wiener Suizidforschers Erwin Ringel (1921-1994), die Entwicklung von der Krise bis zur Suizidalität aufzeigen.
Ich werde die jungen Menschen selbst, mit ihren eigenen Erlebnissen, Selbstmordabsichten und -versuchen, ihren Ausdrucksmöglichkeiten und ihrem Umgang mit dem Thema Suizid, betrachten und sie in einem gesonderten Kapitel zu Wort kommen lassen.
Diese Sammlung von Liedtexten, Erfahrungsberichten, Briefen und Bildern bildet den Impuls für den zweiten und damit den praktischen Teil meiner Arbeit - der Krisenintervention bei Suizidgefahr mit ihren Grundsätzen und Handlungsmodellen und der Krisenintervention bei jugendlichen Suizidanten im Kontext sozialer Arbeit.
Ich erinnere mich an zwei kleine fast unscheinbare Artikel, die ich im Dezember 2000 in der Neuen Osnabrücker Zeitung gelesen habe:
„Junge Frau identifiziert
Die junge Frau, die am Mittwoch vom oberen Parkdeck eines Kaufhauses gesprungen war, ist identifiziert. Nach intensiven Ermittlungen und einem Hinweis aus der Bevölkerung konnte die Polizei feststellen, dass es sich um eine 24-jährige Osnabrückerin handelt. Sie schwebt weiter in akuter Lebensgefahr.“ (Neue Osnabrücker Zeitung, 08.12.2000)
„An Verletzungen gestorben
Die junge Frau, die sich Mitte vergangener Woche vom Dach eines Parkhauses Öwer de Hase gestürzt hatte, ist trotz intensiver medizinischer Versorgung ihren schweren Verletzungen erlegen. Der Unfall hatte für großes Aufsehen bei den Passanten gesorgt. Zudem stand zunächst die Identität der 24-jährigen nicht fest, da sie keine Papiere bei sich trug.“ (Neue Osnabrücker Zeitung, 15.12.2000)
Mir gingen diese beiden Artikel lange nicht aus dem Sinn und ich dachte immerzu darüber nach, was mit der jungen Frau passiert oder wie es ihr ergangen wäre, wenn man ihr „rechtzeitig“ hätte helfen können. Ich meine mit rechtzeitiger Hilfe nicht die medizinische Betreuung, sondern die Hilfe in Form einer Krisenintervention. Schon damals stellten sich mir hierzu die folgenden Fragen:
- Hätte man zusammen mit der jungen Frau, im Rahmen einer Krisenintervention, einen „Schutzwall gegen den Tod“ errichten können?
- Wenn ja, wie hätte diese Krisenhilfe ausgesehen?
- Was wäre im Umgang mit der suizidgefährdeten jungen Frau zu beachten gewesen?
- Und vor allem: wo hätte die junge Frau diese Hilfe finden können?
Diesen Fragen möchte ich in meiner Arbeit nachgehen. Denn gerade in der sozialen Arbeit trifft man auf Menschen, welche sich in Belastungssituationen, in schweren Krisen (dazu zählen materielle und finanzielle Krisen ebenso, wie psychische und physische Krisen) und in besonderen Lebenslagen befinden. Während einer Krise steigt die Gefahr der Suizidalität um ein Vielfaches. Eine professionelle Krisenintervention ist also nicht nur in speziellen Institutionen der Krisenhilfe zu leisten, sondern auch im gesamten Aufgabenfeld der sozialen Arbeit. Im zweiten Teils dieser Diplomarbeit, möchte ich versuchen genau diesen Zusammenhang deutlich zu machen. Es wird um die verschiedenen Interventionstechniken, um die ambulante und stationäre Krisenintervention und um die Nutzung des Internets in der Beratung junger suizidgefährdeter Menschen gehen.
Abschließend werde ich, als Anhang zu dieser Arbeit, die Basisangebote der Krisenintervention in Deutschland, aktuelle Internetangebote zur Online-Beratung bei Krisen und Internetadressen zu den Themen Suizid und Krisen aufführen.
1. Aus dem Lot geraten - Krisengebiet Seele
Nihil fit sine causa.
(Nichts geschieht ohne Ursache.)
Altrömischer Lehrsatz
1.1 Der Krisenbegriff
Wenn Menschen in Krisen geraten, treffen häufig so gravierende Ereignisse, Erlebnisse oder Veränderungen auf sie ein, dass sie nicht mehr in der Lage sind, ihr bisheriges Handeln fortzuführen. Selbstverständliche Handlungsabläufe funktionieren nicht mehr wie gewohnt oder kommen vollständig zum Erliegen. Ein Verlust an Kontrolle, wie z. B. über die körperliche Unversehrtheit oder die soziale Sicherheit sind die Folge. „Und damit sind emotionale Instabilitäten verbunden, die zwischen Totstellreflexen und emotionalen Turbulenzen variieren.“ (Dross 2001, S. 10)
Krisen sind Ausnahmezustände im menschlichen Leben und niemand ist vor ihnen gefeit. Jeder Mensch kann in seinem Leben in Situationen kommen, die Krisen auslösen können. Eine menschliche Krise kann entstehen durch: das Erleiden von Verlust, den Tod eines nahestehenden Menschen, die Trennung vom Partner, die Sorge um ökonomische und soziale Absicherung, die Konfrontation mit Belastungen durch Lebensübergänge (Schule-Beruf), das Erleiden von Gewalttätigkeiten (Vergewaltigung, sexueller Missbrauch) oder aufgrund von schweren körperlichen Schädigungen (Erkrankung, Behinderung). Mit diesen Krisen durchlebt der Mensch die damit verbundenen Reaktionen, wie Trauer, Schmerz, körperliches Unwohlsein, innere Spannung, Unruhe und Gereiztheit, Angst, Einsamkeitsgefühle, Verzweiflung, Aggression.
Von einer menschlichen Krise ist also dann zu sprechen, „wenn
- ein Zustand psychischer Belastung eingetreten ist, der sich deutlich von der Normalbefindlichkeit einschließlich ihrer Schwankungen abhebt, als kaum mehr erträglich empfunden wird und zu einer emotionalen Destabilisierung führt,
- die widerfahrenen Ereignisse und Erlebnisse die bisherigen Lebensgewohnheiten und -umstände und die Ziele massiv infrage stellen oder unmöglich machen,
- die veränderte Situation nach Lösungen verlangt, die aber mit den bisher verfügbaren oder selbstverständlichen Möglichkeiten der Problemlösung oder Anpassung nicht bewältigt werden können.“ (Dross 2001, S. 10)
In einer anderen Definition wird außerdem darauf hingewiesen, dass sich Menschen in Krisen, wie gegenüber einer Naturgewalt, ausgeliefert fühlen und dieser Situation nicht selbstständig entweichen können.
Die Empfindungen in einer Krisensituation
„ ... sind Reaktionen auf ein als bedrohlich empfundenes Ereignis, auf einen Verlust, eine hohe Anforderung, einen nicht gewollten und gewünschten Wechsel der Lebensbezüge, auf beängstigende Gedanken und Vorstellungen, denen das Individuum nicht ausweichen kann, die es aber auch nicht mit den ihm bekannten Bewältigungsstrategien zu lösen vermag.“ (Bosshard et al. 1999, S. 327)
1.2 Krisenkriterien
Um eine Krise von einer Nichtkrise unterscheiden zu können, ist es wichtig, die Merkmale einer Krise zu erkennen.
„Als Krisenkriterien gelten:
· die Wahrnehmung eines kritischen Ereignisses, das signifikante kognitive und affektive Störungen bewirkt;
- eine scheinbar unlösbare Problemsituation;
- ein signifikantes krisenspezifisches Verhalten und Erleben, wie z. B. Müdigkeit und Erschöpfung, Hilflosigkeit, Verwirrung, Angstgefühle, Desorganisation von Arbeits- und Familienbeziehungen;
- ein Gefühl von Bedrohung; das Individuum sieht keine Möglichkeit, die Situation zu bewältigen und kann selbst keine adäquaten Bewältigungsstrategien mobilisieren;
- das Fehlen oder die Nichterreichbarkeit fremder situationsangemessener Hilfen.“ (Bosshard et al. 1999, S. 328)
Krisensituationen gehen mit einer Reihe von psychophysischen Reaktionen einher. Dies bedeutet, dass ein Krisenanlass, je nachdem wie er empfunden wurde, entweder als Verlust, Bedrohung oder Herausforderung, in Form eines körperlichen Spannungsgefühls erlebt werden kann. Dominierend sind dabei Gefühle wie Angst, Panik oder depressive Verstimmungen.
Als Reaktion auf diese Gefühle können sich körperliche Beschwerden einstellen, die entweder als deutliche Begleitsymptome in Erscheinung treten oder als vages Gefühl des Unbehagens wahrgenommen werden.
„Solche körperlichen Symptome können sein:
- von Angst ausgelöst: Herzrasen, Atemnot, Erstickungsanfälle, Schweißausbrüche, motorische Unruhe
- von Depression ausgelöst: Appetitverminderung, Gewichtsverlust, Durchschlafstörung, Verlangsamung der Motorik, Erschöpfung
- von Spannung ausgelöst: Einschlafstörung, Kopfschmerzen, Kreislaufbeschwerden, Verdauungsstörungen, Zittern (‚Nervosität’)“
(Sonneck 2000, S. 58)
1.3 Chance und Gefahr von Krisen
Die chinesische Sprache fügt für das Symbol Krise zwei Schriftzeichen zusammen; das eine Zeichen bedeutet Chance, das andere Gefahr. Die Entwicklung einer Krise kann sowohl in die eine, als auch in die andere Richtung verlaufen. Eine genaue Vorhersage des Krisenverlaufs gibt es nicht. Die Chance liegt in dem Perspektivenwechsel, der innerhalb einer Krise vorgenommen werden kann; der Betroffene wandelt sich zu einem Beteiligten bei der Lösung des Konfliktes (vgl. Neumann 1999, S. 57).
Wo liegen aber nun die Gefahren in Krisen?
Die affektive Belastung in Krisen ist sehr hoch und auch die Tendenz der Betroffenen, sich Entlastung zu verschaffen. Dies drückt sich entweder durch kurzschlüssig-impulsive Handlungen, langwierige körperliche und seelische Störungen oder in einer Änderung des Sozialverhaltens aus.
So können Krisen zu Aggressions- und Kurzschlusshandlungen führen (Mord bzw. Selbstmord), Erkrankungen auslösen, sich in körperlichen Symptomen manifestieren, wenn die Begleitsymptomatik nicht als Krisenreaktion diagnostiziert wird und sie können zu einer Chronifizierung führen, wenn die Bewältigung der Krise verhindert wird (vgl. Sonneck 2000, S. 59).
1.4 Psychosoziale Krisen
Psychosoziale Krisen gehen mit dem Verlust des seelischen Gleichgewichts einher, den ein Mensch erleidet, wenn bestimmte Geschehnisse und Lebensumstände auf ihn einströmen, die er nicht bewältigen kann, weil diese von ihrer Art und Fülle seine Ressourcen und eigenen Hilfsmöglichkeiten zur Bewältigung seiner Lebenslage überfordern. Es sind also vielerlei Einflüsse dafür verantwortlich, dass eine psychosoziale Krise ausgelöst werden kann.
Anlässe für Krisen können sein:
„Katastrophen- und Massenbelastungen: politische und rassische Verfolgungen, Kriegswirren, Unwetter-, Bergwerks-, Eisenbahnkatastrophen etc.
Individuelle Belastungen: Schicksalsschläge oder Situationen des normalen Lebensablaufs.“ (Sonneck 2000, S. 32)
Der Mensch kann vorwiegend auf einer Ebene betroffen sein, aber es ist immer auch die Wechselwirkung mit den beiden anderen Ebenen zu beachten:
„a) die körperlich-biologische Ebene: z.B. Pubertät, Klimakterium,
chronische Erkrankungen;
b) die psychische Ebene: seelische Konflikte;
c) die soziale Ebene: Ereignisse, die z. B. durch Rollenveränderung oder
Statusverlust gekennzeichnet sind, wie beispielsweise die Scheidung (Ehefrau - alleinstehende Frau mit Kindern), längere Arbeitslosigkeit oder Tätigkeit als Gastarbeiter.“ (ebd.)
Art und Fülle von Krisenanlässen sind nicht (nur) als etwas „Objektives“ zu begreifen. Von entscheidender Bedeutung ist die jeweilige subjektive Wichtigkeit des Ereignisses mit all seinen realen oder phantasierten Konsequenzen. Das persönliche Erleben gibt einen Hinweis darauf, ob eine erhöhte Vulnerabilität (Verletzlichkeit) oder auch Krisenanfälligkeit besteht, wie sie zum Beispiel bei psychischen Erkrankungen oder früheren unbewältigten Krisen vorliegen kann (vgl. Sonneck 2000, S. 32-33).
Psychosoziale Krisen werden in zwei Krisentypen unterschieden, die traumatische Krise und die Lebensveränderungskrise. Beide werden nachfolgend näher beschrieben.
1.4.1 Traumatische Krisen
„Die traumatische Krise ist eine durch einen Krisenanlass mit subjektiver Wertigkeit plötzlich aufkommende Situation von allgemein schmerzlicher Natur, die auf einmal die psychische Existenz, die soziale Identität und Sicherheit und/oder die fundamentalen Befriedigungsmöglichkeiten bedroht.“ (zit. n. Sonneck 2000, S. 33)
Der Verlauf der traumatischen Krise erfolgt typischerweise in vier Phasen. Im akuten Stadium gehen die erste Phase und der Beginn der zweiten ineinander über und hält bis zu vier bis sechs Wochen an.
Die erste Phase wird als Schockphase bezeichnet. In dieser Phase kann der Mensch, oberflächlich gesehen, als geordnet erscheinen, innerlich jedoch ist bei ihm alles aus dem Lot geraten, verwirrt und chaotisch. Meist hat ein Mensch, der eine Schockphase durchleidet, später keinerlei Erinnerungen mehr an diese Zeit. Ziellose Aktivitäten, wie zum Beispiel Toben und/oder Rückzug (Regression), der (die) zu einem Zustand der „Betäubung“ anwachsen und eine Kommunikation mit der Außenwelt verhindern kann, können Anzeichen der extremen seelische Verwirrung sein.
In der zweiten Phase, der Reaktionsphase, versucht der Mensch, unter Einsatz psychischer Schutzmechanismen, die veränderte Realität „so gut es geht“ zu integrieren. Signifikant für diese Phase ist das Auftreten von Verdrängungsphänomenen, Verleugnungstendenzen, sozialem Rückzug mit selbstzerstörerischen Absichten (Alkohol- und Medikamentenmissbrauch), Rationalisierung der Ereignisse und starken Abhängigkeitswünschen. Tritt dieses Verhalten mit unerwarteter Intensität auf, so handelt es sich primär um Reaktionen emotionaler Natur. Risiken der Reaktionsphase sind zum einen die drohende Fixierungsgefahr und die Chronifizierungsgefahr.
Beim Übergang in die dritte Phase, die Bearbeitungsphase, kommt es zur Reflexion des Krisenereignisses und seiner Konsequenzen, das heißt, es findet die Be- und Verarbeitung der Krise statt und damit die Loslösung vom jeweiligen Trauma und der damit verbundenen Vergangenheit. Der Mensch entwickelt neue Zukunftspläne und Interessen. Die Grenze zwischen Reaktions- und Bearbeitungsphase verläuft fließend und beide Phasen können sich, in den ersten Wochen einer Krise, mehrfach abwechseln.
Abschließend folgt die vierte Phase, die Phase der Neuorientierung. Die Krise ist bearbeitet, der Mensch gewinnt wieder an Selbstvertrauen, er knüpft neue Beziehungen und ist in der Lage, diese auch zu halten. Die erlebte Krise gelangt nun in die Schatztruhe seiner gesammelten Lebenserfahrungen (vgl. Sonneck 2000, S. 33-34).
1.4.2 (Lebens-) Veränderungskrisen
Jeder Mensch kennt Situationen, die mit einer erheblichen Veränderung des bisher gewohnten Lebensablaufes einhergehen. Diese Veränderungen gehören zum Leben aller Menschen und können von einigen durchaus auch als etwas Positives erlebt werden. Lebensveränderungen sind zum Beispiel: das Verlassen des Elternhauses, Schwangerschaft, Heirat, beruflicher Wechsel und generell alle gravierenden Änderungen der Alltagsituation (vgl. Sonneck 2000, S. 36).
Aufgrund der Krisenanlässe, setzen die Lebensveränderungskrisen nicht plötzlich und unerwartet ein, sondern sie entwickeln sich innerhalb einiger Tage bis zu einer Zeit von maximal sechs Wochen. Wie bei den traumatischen Krisen findet bei den Lebensveränderungskrisen ein typischer Verlauf in vier Phasen statt. Der akute Krisenzustand entsteht jedoch erst am Ende der dritten Phase und bildet sich in der vierten Phase voll aus (ebd.).
Die Konfrontation mit dem schwierigen Lebensereignis stellt in der ersten Phase die zentrale Aufgabe dar. Gewohnte Problemlösungsstrategien (eigene Ressourcen und Hilfsmöglichkeiten) bleiben wirkungslos und führen zu inneren Spannungsgefühlen und Unbehagen.
In der zweiten Phase erlebt der Betroffene das Misslingen seiner Problemlösungsversuche und ein Gefühl des Versagens. Sein Selbstwertgefühl nimmt ab, wobei die innere Spannung steigt.
Dies führt dazu, dass der Betroffene, in der dritten Phase, die Mobilisierung all seiner inneren und äußeren Bewältigungsmöglichkeiten einsetzt. Er versucht Neues und Ungewohntes, wendet sich zum Beispiel an eine Beratungsstelle oder sucht Kontakt zu anderen Hilfeeinrichtungen. Dieser Kräfteaufwand kann dazu führen, dass entweder das Problem gelöst und bewältigt wird oder es zu einem Rückzug aus der jeweiligen Problemsituation kommt und das Gefühl der Resignation bestehen bleibt. Dieses Vermeidungsverhalten als Strategie der Problemlösung birgt die Gefahr der Chronifizierung.
Ist eine Lösung des Problems und ein Rückzug nicht möglich, so kommt es in der vierten Phase zum Vollbild der Krise. Der Betroffene ist rat- und orientierungslos, desorganisiert und konfus. Sein Verhalten kann zwischen ungesteuerter, zielloser Aktivität (Toben, Schreien, Suizidhandlungen), zur Entladung der inneren Spannung, und innerlichem „Gelähmt-sein“, was das Denken, Fühlen und Handeln betrifft, abwechseln (vgl. Sonneck 2000, S. 36-37).
In der von Sonneck (2000) hinzugefügten fünften und sechsten Phase der Lebensveränderungskrise kommt es zur Bearbeitung des Krisenanlasses und zur abschließenden Neuanpassung bzw. -orientierung. Des Weiteren wird erwähnt, dass Veränderungskrisen in jeder Phase beendet werden können, zum Beispiel durch Wegfall des Krisenanlasses oder weil Bewältigungs- und Lösungsstrategien entwickelt werden.
2. Die „unerträgliche Schwierigkeit“ des Erwachsenwerdens - Krisenherd Adoleszenz
„Die Jugend lernt im Fallen gehen.
Sie muß sich halb verbrennen,
halb versehnen
und zwischen Sturm und wilden
Klippen stehn.“
Christian Hofmann von Hofmannswaldau
(1617-1679)
2.1 Entwicklungskrisen in der Adoleszenz
Was bedeutet Adoleszenz und wie kann es in dieser Zeit zu einer krisenhaften Entwicklung kommen? Diese Fragen sollen nachfolgend beantwortet werden, um ein tieferes Verständnis dafür zu fördern, warum junge Menschen, besonders in ihrer Entwicklung vom Jugendlichen zum Erwachsenen, einer erhöhten Krisengefahr ausgesetzt sein können.
„Das Jugendalter (Adoleszenz) wird im allgemeinen definiert als ein Lebensabschnitt, der mit dem Einsetzen der Pubertät beginnt, d.h. wenn die Fähigkeit zur Reproduktion entsteht. Nicht ganz so eindeutig ist jedoch, wann die Adoleszenz endet und das Erwachsenenalter beginnt. Ein Großteil der Schwierigkeiten, das Jugendalter zeitlich einzugrenzen, ist dadurch bedingt, daß unterschiedliche Gesellschaften sehr unterschiedliche Vorstellungen über dessen Natur haben. Sind die körperlichen Veränderungen während dieser Zeit auch universell, so hängen die sozialen und psychologischen Dimensionen der Erfahrungen des Jugendlichen doch stark vom jeweiligen kulturellen Kontext ab.“ (Zimbardo 1995, S. 91-93)
Der Begriff Pubertät leitet sich vom Lateinischen pubertas ab und bedeutet Geschlechtsreife. Die Zeit der Pubertät als Entwicklungsperiode beginnt mit der Ausbildung der sekundären Geschlechtsmerkmale und endet mit dem Erwerb der Geschlechtsreife, die mit tiefgreifenden Veränderungen im körperlichen, psychischen und sozialen Bereich verbunden ist. Das Auftreten der Pubertät (in Europa) liegt bei Mädchen zwischen dem 10. und dem 15. Lebensjahr und bei Jungen zwischen dem 12. und dem 17. Lebensjahr. Neben der körperlichen ist auch die seelische Entwicklung in der Zeit der Pubertät gekennzeichnet von Veränderungen, die sich in Form von Unsicherheitsgefühlen bis hin zu Suizidtendenzen äußern können (Pschyrembel 1994, S. 1266).
Adoleszenz und Pubertät sind jedoch nicht synonym zu verwenden. Remschmidt (1992) erläutert, dass sich der Begriff Adoleszenz auf die seelische Bewältigung der körperlichen und sexuellen Reifung bezieht. Bei der Pubertät hingegen handelt es sich in erster Linie um ein biologisches Geschehen. Die Pubertät bezieht sich auf den körperlichen Reifungsaspekt.
„Da die körperlichen Vorgänge gewissermaßen den Anstoß für alle folgenden Wandlungen geben, lässt sich die Pubertät als Beginn der Adoleszenz auffassen (Remschmidt 1992, S. 2)“.
Wie aber kommt es zu den Entwicklungskrisen, den so genannten Adoleszentenkrisen?
In der Adoleszentenkrise können sich Abweichungen von der normalen Entwicklung herauskristallisieren, die sich vorwiegend im Bereich des Erlebens, wie zum Beispiel die Entstehung von Schuldgefühlen, körperlichen und seelischen Selbstwertkonflikten, Insuffizienzgefühlen und - im Bereich des Verhaltens - in Form von übertriebener Protesthaltung, Suizidversuchen, Weglaufen, ausdrücken. Diese Verhaltensweisen und Erlebnisse werden vom Jugendlichen und seiner Umgebung als schwerwiegende Krise erlebt, die in ihrem Verlauf und ihrem Ausgang nicht abgeschätzt werden kann.
Adoleszentenkrisen sind als Ausdruck fehlgeschlagener Bewältigung von Entwicklungsaufgaben aufzufassen (vgl. Remschmidt 1992, S. 280).
2.1.1 Sexuelle Entwicklungskrisen
In der Pubertät weicht die kindliche Erforschung und Nachahmung der Sexualität bzw. des sexuellen Verhaltens einer Sexualität, die dem Selbstzweck dient. Empfindungen gegenüber sexuellem Erleben und Verhalten werden meist durch die elterliche Erziehung und durch gesellschaftliche Verhaltensvorschriften beeinflusst. Eine Sexualität, die von Scham bestimmt wird, die Schuldgefühle, Angst oder auch Freude und Vergnügen auslöst, ist also abhängig von der jeweiligen Erziehung und den Normen einer Gesellschaft. Tabus des vorehelichen Geschlechtsverkehrs, des Partnerwechsels oder sexuelle Leistungsanforderungen können als weitere Störfaktoren genannt werden, die eine Entwicklung mit Schuld- und Insuffizienzgefühlen begünstigen und/oder auch zu mangelndem Selbstwertgefühl führen können.
Zu den bedeutsamsten Störungen in der Phase der sexuellen Entwicklung gehören massive Schuldgefühle und die Unfähigkeit Partnerbeziehungen aufzubauen. Homosexualität im Jugendalter kann ebenfalls zu einer einschneidenden Belastungsquelle werden (vgl. Wunderlich 2004, S. 44-45).
In dem Buch Wenn die Seele überläuft - Kinder und Jugendliche erleben die Psychiatrie (Knopp/Napp 2000, S. 70-71), fand ich hierzu den folgenden Erfahrungsbericht:
„Weil ich kein Mädchen bin
Es fing alles vor gut acht Jahren an. Ich merkte, daß irgend etwas mit mir nicht stimmte. Ich hatte ganz andere Gefühle als ein richtiger Junge. Ich interessierte mich nicht für Mädchen, sondern insgeheim für Jungen. Am liebsten wollte ich ein Mädchen sein. Oft zog ich die Kleidung meiner Schwester an. Meine Eltern dachten, daß das normal sei, weil ich ja erst ein siebenjähriger Junge war. Ich schnitt mir heimlich aus Katalogen Männer in Unterwäsche aus und klebte sie sorgfältig in ein Buch. So lebte ich bis zur Hauptschule mit meinen Illusionen.
Inzwischen war ich zehn Jahre alt und wurde wegen meines Verhaltens oft in der Schule gehänselt. [... ] Die Schüler haben mich so fertig gemacht, daß ich einfach nicht mehr in die Schule gehen konnte. Ich war zutiefst verletzt und verstand nicht, weshalb meine Klassenkameraden mein Anderssein nicht akzeptieren konnten. Meine Eltern erfuhren, daß ich nicht mehr in die Schule gegangen war. Sie stellten mich zur Rede, und ich erzählte ihnen, wie ich fühlte. Ich sagte, ich wolle lieber ein Mädchen sein, eventuell sei ich homosexuell. Ich hatte große Angst, meine Eltern mit diesem Geständnis zu schocken. Aber genau das Gegenteil ist eingetroffen. Sie zeigten volles Verständnis und weinten vor Rührung. Das war ein großes Glück für mich. Meine Eltern sagten zu, daß sie mich in jeder Hinsicht unterstützen würden. Sie veranlaßten einen Schulwechsel. Doch dort erging es mir nicht besser. Die Schikanen waren unerträglich. So entschied ich mich, gar nicht mehr in die Schule zu gehen.
Meine Eltern hörten von der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Düsseldorf. In meiner Not war ich zu allem bereit. Ohne zu zögern, packte ich meine Sachen zusammen und ging in die Kinder- und Jugendpsychiatrie. [...] Jetzt bin ich 15 Jahre alt, und weiß, was ich will. Ich stehe zu meiner Homosexualität. Und es fällt mir heute nicht mehr schwer, offen darüber zu reden. [...]
Jedenfalls lebe ich glücklich, seitdem ich weiß, wo ich stehe. Ich habe sogar einen 16jährigen Freund und liebe ihn sehr. Mein Appell an alle, die so empfinden wie ich: Steht zu Euren Gefühlen und lebt Euer Leben, verkriecht Euch nicht! Marcel, 16“
2.1.2 Identitäts- und Autoritätskrisen
In der Adoleszenz ist die Suche nach persönlicher Identität eine zentrale Aufgabe. Die Jugendlichen werden durch die körperliche und psychische Beunruhigung, durch den gesellschaftlichen Erwartungsdruck und durch die Entwicklungsaufgaben, die in der Adoleszenz zu bewältigen sind, vor Probleme gestellt, die nicht einfach zu lösen sind. Diese Schwierigkeiten erschweren das Finden einer eigenen Mitte, als Kongruenz zwischen Selbsterleben, Fremderleben und Anpassung an soziale Normen ungemein (vgl. Remschmidt 1992, S. 114).
Auf der Suche nach sich selbst, stellen sich Jugendliche zentrale Fragen, wie:
Wer bin ich?
Was ist meine Aufgabe?
Wie bin ich und wie möchte ich sein?
Für wen hält man mich?
Die Besorgnis vieler Jugendlicher, nicht eigenständig zu sein oder sich selbst als „Abklatsch“ einer anderen Person zu sehen, führt häufig zu einer Abkehr von den Eltern und früheren Vorbildern.
Verunsicherungen und Ängste bezüglich der eigenen Identität können bei Jugendlichen zu der Befürchtung führen, sie könnten ihre „seelische und körperliche Einheit verlieren“ (vgl. Remschmidt 1992, S. 114).
Autoritätskrisen äußern sich häufig in Form von Protesthaltungen, gegenüber der Familie oder als universeller Protest „gegen alles“. Diese Protesthaltungen beinhalten die Auseinandersetzung mit Autorität, Ordnung und Normgefügen. Entzieht sich der Jugendliche diesen Auseinandersetzungen, so kann sich dies in Fluchtreaktionen äußern, wie Weglaufen oder die Flucht in die Drogen. Autoritätskrisen können zu psychiatrischen Notfällen werden, wenn es zu Suizidalität oder zu delinquenten Handlungen kommt (vgl. Remschmidt 1992, S. 282-283).
2.1.3 Narzisstische Krisen
Der Begriff narzisstische Krise, auch Selbstwertkrise genannt, ist aus einem psychoanalytischen Verständnis heraus entstanden. Der Entwicklung der Persönlichkeit wird hier besondere Achtung beigemessen und es wird von einer gewissen Verletzlichkeit ausgegangen, die schon vor dem Ausbruch einer Krise existiert (Giernalczyk 2003, S. 55).
Kennzeichen einer narzisstischen Krise ist die unangemessene Überspitzung der jugendlichen Ich-Bezogenheit. Die Jugendlichen überschätzen ihre Fähigkeiten und Möglichkeiten in bizarrer Weise. Sie entwickeln einen enormen Ehrgeiz, zeigen einen Mangel an Einfühlungsvermögen, reagieren sehr empfindlich auf Kritik und setzen sich mit starken Neidgefühlen auseinander, die sie anderen gegenüber empfinden, die einen erfolgreichen Lebensweg haben. Die Gefahr bei narzisstischen Krisen liegt darin, dass der Jugendliche aus oftmals geringfügigen Anlässen (Kränkung, Zurückweisung) in ein suizidales Verhalten abgleiten kann (vgl. Remschmidt 1992, S. 287).
Wie solch eine Zuspitzung einer narzisstischen Krise in der Adoleszenz aussehen kann, verdeutlicht das folgende Beispiel:
„Ein 18jähriger Gymnasiast, hervorragender Schüler in nahezu allen Fächern, für sein Alter jedoch noch relativ kindlich, unternimmt - für die Eltern aus heiterem Himmel - einen höchst gefährlichen Suizidversuch. Vorausgegangen war die Zurückweisung durch ein gleichaltriges Mädchen, in das er sich verliebt hatte, das ihm in der Entwicklung jedoch weit voraus war. Das dadurch entstandene Kränkungserlebnis löste bei dem ehrgeizigen und egozentrischen Jugendlichen eine schwere Selbstwertkrise aus, die eine 1½ jährige psychotherapeutische Behandlung erforderlich machte. Auch nach bestandenem Abitur war die Selbstwertkrise noch nicht überwunden. Der Patient wollte zur Bundeswehr gehen, um dort seine Männlichkeit zu beweisen. Davon nahm er nach erneuter Beratung Abstand und begann ein naturwissenschaftliches Studium, das er erfolgreich betreibt. Die Krise ist inzwischen überwunden.“ (entnommen aus: Remschmidt 1992, S. 287)
Da sich narzisstische Krisen, wie auch andere Adoleszentenkrisen, mit der Überspitzung normaler Entwicklungsvorgänge erklären lassen, stellt sich die Frage, warum manche Adoleszenten dieses extreme Verhalten zeigen und andere nicht. Dies kann verschiedene Ursachen haben, zum Beispiel, Entwicklungsverzögerungen, das Auftreten von zu vielen Entwicklungsaufgaben gleichzeitig oder eine erhöhte Anfälligkeit für psychotische oder neurotische Erkrankungen (Remschmidt 1992, S. 287-288).
2.2 Weitere Risikofaktoren in der Adoleszenz
Wie in den vorangegangenen Kapiteln beschrieben, stellt die Adoleszenz die Jugendlichen vor eine Reihe von physischen, psychischen und sozialen Anforderungen: die Jugendlichen sollen Ihre eigene Geschlechtsrolle annehmen, sich ihrer Identität und ihres Selbstwertes bewusst werden und befriedigende Beziehungen zu ihrer sozialen Umwelt aufbauen.
Neben all diesen Anforderungen, die in der Adoleszenz auf die jungen Menschen einwirken, beschreibt Meurer (2004, S. 197-199) einige weitere „Risikofaktoren für die Entwicklung schwer wiegender Krisen im Kindes- und Jugendalter“.
Dazu gehören:
- psychische Störungen (beginnende oder bereits ausgeprägte), wie Depressionen, psychotische Störungen, Angst- und Zwangsstörungen, Störungen des Sozialverhaltens, Leistungseinbrüche, Alkohol- und Drogenmissbrauch
- familiäre Belastungsfaktoren, wie beispielsweise die Trennung der Eltern, Gewalterfahrungen innerhalb der Familie (psychisch und physische Gewalterfahrungen), sexueller Missbrauch
- soziale und kulturelle Faktoren - Migration, schulische Belastungen
- Gewalt von außen - „Mobbing“ und schwere Konflikte mit Gleichaltrigen, Vergewaltigung
3. Das Labyrinth der Verzweiflung - Von der Krise zur Suizidalität
„Niemand wird zum Selbstmörder geboren,
jeder, der es tut, entwickelt sich erst dazu.“ Erwin Ringel (1921-1994)
3.1 Jugendliche Suizidalität
Das Statistische Bundesamt hat am 14. Februar 2005 eine Pressemitteilung zur Todesursachenstatistik (Todesursachen 2003 - Deutschland) herausgegeben, aus der hervorgeht, dass im Jahr 2003 11.150 Menschen durch vorsätzliche Selbstbeschädigung (Suizid) aus dem Leben schieden. Dies machte 1,3 % der Gesamtzahl der Todesfälle aus. Von diesen 11.150 Menschen nahmen sich 8.179 Männer (73,4 %) und 2.971 Frauen (26,6 %) das Leben (vgl. Statistisches Bundesamt 2005).
Bei den 15- bis 35-Jährigen konnte in den letzten Jahrzehnten ein Anstieg der Suizidrate festgestellt werden. Dies hängt möglicherweise mit der Zunahme von Abhängigkeitserkrankungen und Depressionen zusammen, die in den meisten westlichen Ländern aufgrund der Verstädterung und dem damit verbundenen Verlust von familiären und sozialen Bindungen auftreten. In der Bundesrepublik Deutschland steht bei den 16- bis 30-Jährigen die Todesursache Suizid an zweiter Stelle nach den Unfalltoden im Straßenverkehr (vgl. Wunderlich 2004, S. 11).
Auch in vielen europäischen Ländern und anderen hochindustrialisierten Staaten ist die Suizidrate der Altersgruppe der 15- bis 24-Jährigen in den letzten zwei Jahrzehnten deutlich angestiegen. Sogar in Ländern mit stabiler oder abnehmender Gesamt-Suizidrate kann eine Zunahme an Suiziden bei jungen Menschen festgestellt werden (ebd., S. 7).
Statistischen Erhebungen zufolge ist die Anzahl der Selbstmorde in Großstädten doppelt so hoch, wie die in ländlichen Gegenden. Mädchen versuchen, im Gegensatz zu Jungen, dreimal so häufig sich das Leben zu nehmen. Bei Jungen dagegen enden dreimal so viele Suizidversuche tödlich. Der Grund dafür ist, dass Jungen mehrfach die „harten Methoden“ wählen, wie zum Beispiel Erschießen, Erhängen oder den Todessprung aus großer Höhe. Die „weichen Methoden“ werden überwiegend von Mädchen gewählt, wie etwa die Überdosis Tabletten oder das Aufschneiden der Pulsadern. Dadurch besteht eine höhere Chance gerettet zu werden (vgl. Schütz 1994, S. 13).
Suizidversuche bei Jugendlichen unter 15 Jahren kommen äußerst selten vor. In der Altersgruppe der 15- bis 24-Jährigen hingegen liegt die Suizidversuchsrate schon bei 113 von 100.000 für die männlichen und für die weiblichen Jugendlichen bei 208 von 100.000, also eine fast doppelt so hohe Rate! Im Zeitraum von 1989-1993 lag die Suizidversuchsrate der Jugendlichen im Alter von 15 bis 19 Jahren sogar noch höher: bei den männlichen 127 von 100.000 und bei den weiblichen Jugendlichen waren es sogar 376 von 100.000! Auch die Zahlen einer Studie zum suizidalen Verhalten, die weltweit in 9 verschiedenen Nationen erhoben wurde, zeigen, dass die Suizidversuchsrate bei Frauen um ein 2-3faches höher liegt, als bei Männern. Bei weiblichen Suizidversuchen werden überwiegend die „weichen Methoden“ angewandt, wie Intoxikationen und Schneiden (vgl. Wunderlich 2004, S. 12-13).
3.2 Erklärungsmodelle zur Entwicklung von Suizidalität
3.2.1 Biologisch-medizinische Erklärungsansätze
Die Vererbungstheorie ist eine der wichtigsten biologischen Theorien zum Thema Suizid und Suizidversuch. Nach den Beobachtungen des französischen Psychiaters Esquirol gab es Familien, in denen zunehmend Suizide stattfanden. Hypothesen über eine eventuelle Erbanlage für Suizid oder eine Disposition für Depressionen wurden aufgestellt. Erwiesen ist, dass nicht der Suizid als solcher vererbt wird, sondern ein gewisses Unvermögen zur Impulskontrolle (vgl. Mess 2003, S. 12).
Im Jahre 1979 wurden 57 Suizide von Adoptierten untersucht und man fand heraus, dass die Suizidraten in deren biologischer Verwandtschaft bedeutend höher war als in der Adoptivverwandtschaft (vgl. Seyfried 1995, S. 45).
Eine genetische Prädisposition zum Suizid bei Zwillingen, erhoben in den so genannten Zwillingsstudien, kann nicht eindeutig interpretiert werden, da sich aufgrund der seltenen Auftretenswahrscheinlichkeit Hypothesen zur Erblichkeit nicht überprüfen lassen (vgl. Wunderlich 2004, S. 61).
Besteht eine genetisch bedingte Veranlagung zu psychischen Erkrankungen, so kann dies suizidales Verhalten fördern (ebd., S. 62).
3.2.2 Soziologische Theorien
Der Soziologe Emile Durkheim publizierte im Jahr 1897 sein epochales Werk Le Suicide. Darin unterteilt er das suizidale Verhalten in vier ätiologische Typen:
- Egoistischer Suizid
- Altruistischer Suizid
- Anomischer Suizid
- Fatalistischer Suizid
Egoistische Suizide treten bei Menschen auf, die ihre Bindung zur Gesellschaft verloren haben und denen der Suizid eine Befreiung vom Zwang zu leben bedeutet (vgl. Crepet 1996, S. 28).
„Der egoistische Suizid‚ ... bestimmt sich daraus, daß die Menschen im Leben keinen Sinn mehr sehen.“ (zit. n. Seyfried 1995, S. 47)
Im Gegensatz zu egoistischen Suiziden, geschehen altruisitsche Suizide aus einer Uneigennützigkeit heraus, also nicht aus persönlich zwingenden Gründen, sondern aus kollektiven (ebd.). Altruistische Suizide können aufgrund von zu hohem Gruppen- und Konformitätsdruck geschehen, wie auch aus Loyalitätsgründen (vgl. Seyfried 1995, S. 47).
Anomische Suizide können als Folge von zu weiten oder unbestimmten Normen geschehen (vgl. Mess 2003, S. 13).
„Anomie bedeutet Normen- und Regellosigkeit, die sich auf der ökonomischen Ebene als Mißverhältnis zwischen den vermeintlichen Bedürfnissen von Menschen und den ihnen zur Erfüllung zur Verfügung stehenden Mitteln äußert.“ (Seyfried 1995, S. 48)
Dieses Missverhältnis drückt sich in einen Verfall von Regeln und in einen fortschreitenden Verlust von Bindungen aus. Zustände von Unruhe, Erregung und Unzufriedenheit lassen den Suizid zu einer realistischen Möglichkeit werden. Typisch anomische Suizide ergeben sich beispielsweise als Folge relativer Armut oder bei Menschen in Ehe- und Familienkrisen (vgl. Seyfried 1995, S. 48).
Fatalistische Suizide werden von Personen unternommen, die sich in Situationen befinden, die sie selbst als unerträglich empfinden und denen sie durch den Tod entkommen wollen (vgl. Crepet 1996, S. 28). Typisch fatalistisch sind Suizide von Menschen, die starren moralischen Normen unterworfen sind und die sich in unnachgiebigen Notlagen befinden (vgl. Seyfried 1995, S. 48).
Zu einer weiteren soziologischen Theorie zählt die Imitationshypothese, die auch als Ansteckungshypothese oder Suggestionshypothese bezeichnet wird. Verschiedene Forscher haben festgestellt, dass Suizidversuche vermehrt im Freundes- und Bekanntenkreis betroffener Familien und auch in bestimmten Straßenzügen zu finden seien. Die Gründe liegen hier in der Nachahmung des suizidalen Verhaltens; es handelt sich um das so genannte „Lernen am Modell“. Als Beispiel hierfür gilt das im Jahr 1774 veröffentlichte Werk Goethes „Die Leiden des jungen Werther“ oder die Ausstrahlung einer Fernseh-Sendung „Tod eines Schülers“ in acht Folgen aus dem Jahr 1981. In beiden Fällen erhöhte sich die Suizidrate unter der Bevölkerung (vgl. Mess 2003, S. 14).
3.2.3 Psychologische Theorien
Die ersten tiefenpsychologischen Erkenntnisse, die sich auf die Suizidproblematik beziehen, gehen auf die Psychoanalytiker Sigmund Freud und Alfred Adler zurück. Sigmund Freud war der Ansicht, dass der Suizid von Aggressionen bestimmt wird, die ein Mensch gegen sich selbst richtet. Diese Aggressionen gelten in erster Linie einer anderen Person. Um aber den Verlust dieser anderen Person zu verhindern, greift der Mensch sich selbst an. Diese Selbstschädigung kann zu Depressionen und auch zum Suizid führen. Freud war außerdem der Meinung, dass ein depressiver Mensch einem ihm nahe stehenden Menschen gegenüber eine Hassliebe empfinden kann, aufgrund der ambivalenten Gefühle, die er in sich trägt (vgl. Mess 2003, S. 16).
„In der späteren Abhandlung Jenseits des Lustprinzips modifiziert Freud teilweise seine Gedanken. Er behauptet, dass Todestriebe (Thanatos), genauso wie Lebenstriebe (Eros), in der gesamten Tierwelt wirken und dass sie die primäre Triebkraft des Menschen darstellen, um ins Stadium der vollkommenen inneren Spannungslosigkeit zurückzukehren, dem Merkmal des fötalen Lebens. Diese Todestriebe sind allgemein den Lebenstrieben entgegengesetzt, wie auch den sozialen Werten, die der einzelne in seinen ersten Lebensjahren erlernt. Nach dieser Hypothese ist also die Aggressivität gegen sich selber nicht der verdrängten Aggressivität nachgeordnet, sondern sie entspricht einer dem menschlichen Wesen angeborene Neigung.“ (Crepet 1996, S. 31)
Der psychosoziale Ansatz verbindet die Erkenntnisse der Gruppenpsychologie, wie etwa die der sozialen Beziehungen, der Familienkonflikte und der Anpassungsprozesse in Freundeskreis und Schule, mit denen der kognitiven Psychologie, wie, die Einstellungen zum Tod, der Grad der Absichtlichkeit, der Motivation zur Selbstzerstörung und des Hoffnungsverlustes (vgl. Crepet 1996, S. 29).
Die Suizidforschung weist vermehrt darauf hin, dass viele der jugendlichen Suizidanten aus gestörten Familienverhältnissen kommen, den so genannten broken home-Situationen. Mit dem Begriff broken home kann das Fehlen eines Elternteils (durch Trennung, Scheidung, Tod) oder auch eine länger
andauernde Abwesenheit eines Elternteils gemeint sein. Andererseits rechnet man zu den broken home-Situationen auch schon schwerwiegende Auseinandersetzungen zwischen den Eltern oder der stete Wechsel von Bezugspersonen. Das Vertrauen des Kindes bzw. des Jugendlichen, sein Leben meistern zu können, stabile Beziehungen aufzubauen und dem Leben Sinn zu geben, kann durch das plötzliche Auseinanderbrechen des Familiengefüges oder durch die andauernden Spannungen in der Familie stark erschüttert werden (vgl. Wunderlich 2004, S. 63).
3.3 Das präsuizidale Syndrom
Der Wiener Suizidforscher Erwin Ringel hat im Jahre 1949 bei einer Untersuchung von 745 Personen nach Suizidversuchen eine gemeinsame seelische Befindlichkeit feststellen können, die ihn dazu veranlasste von einem „präsuizidalen Syndrom“, also von mehreren dem Suizid vorausgehenden charakteristischen Merkmalen, zu sprechen.
1951 beschrieb Ringel erstmalig das „präsuizidale Syndrom“ und unterschied es in folgende Elemente:
- Einengung
- situative Einengung
- dynamische Einengung
- Einengung der zwischenmenschlichen Beziehungen
- Einengung der Wertwelt
- Gehemmte und gegen die eigene Person gerichtete Aggression
- Selbstmordphantasien
Diese drei Elemente des „präsuizidalen Syndroms“ beeinflussen und verstärken sich gegenseitig. Kommt es zu keiner Intervention kann dies zu einer suizidalen Handlung führen (vgl. Ringel 1989, S. 15; Sonneck 2000, S. 168).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Hilferufe des Eingeengten
Zeichnung einer 25-Jährigen (Sonneck 2000, S. 168)
Einengung
Eine situative Einengung, also eine Einengung der persönlichen Möglichkeiten, entwickelt sich als Folge von Schicksalsschlägen aber auch als Folge eigener Verhaltensweisen, zum Beispiel die eingeengte Situation als Resultat des eigenen Fehlverhaltens. Persönliche Einbildung kann ebenfalls zur situativen Einengung führen, wenn beispielsweise der Betroffene eine Situation für längere Zeit als hoffnungsloser und schlimmer bewertet, als sie tatsächlich ist oder er sich das Leiden an einer unheilbaren Krankheit einbildet (vgl. Ringel 1989, S. 16-17).
Die dynamische Einengung bezeichnet eine Einengung der Gefühlswelt. Die Gefühle sind einseitig ausgerichtet und auch die Stimmung, die Gedanken, Vorstellungen und Assoziationen gehen nur in eine pessimistische und schwermütige Richtung. Dies führt zu Verzweiflung, Depression, Angst und Panik oder auch zu einer unheimlich anmutenden Ruhe, die jedoch nur nach außen hin das innere Chaos überdeckt, bis hin zum Selbstmord, der den Höhepunkt der dynamischen Einengung darstellt (ebd., S. 18).
Die Einengung der zwischenmenschlichen Beziehungen, die mit Verlassenheitsgefühlen, Einsamkeit, Isolation und den Gefühlen nicht verstanden
zu werden einhergeht, ist für alle selbstmordgefährdeten Menschen charakteristisch (vgl. Ringel 1989, S. 19).
Die Einengung der Wertwelt beschreibt Ringel mit mangelnden Beziehungen zu Werten und der Entwertung vieler Lebensgebiete. Als klassisches Beispiel für den Verlust des Wertempfindens zitiert er aus dem Buch „Wunschloses Glück“ von Peter Handke, in dem dieser den Weg seiner Mutter hin zum Selbstmord beschreibt:
„Sie hatte keine Liebhabereien, kein Steckenpferd; sammelte nichts, tauschte nichts; löste keine Kreuzworträtsel mehr. Schon lange klebte sie auch die Fotos nicht mehr ein, räumte sie nur aus dem Weg.“ (zit. n. Ringel 1989, S. 20)
Die mangelhafte Wertbezogenheit führt zu ansteigender Interesselosigkeit und Gleichgültigkeit. Sehr oft folgt darauf eine Unfähigkeit, sich für Werte einzusetzen, sie aus eigener Kraft zu verwirklichen, um dann aus dieser Verwirklichung eine Aufwertung des Selbstwertgefühls zu erfahren (vgl. Ringel 1989, S. 20).
Gehemmte und gegen die eigene Person gerichtete Aggression
Bevor es zu einer suizidalen Handlung kommt, muss in einem Menschen ein außergewöhnlich hohes Aggressionspotenzial entstehen. Jeder Suizid stellt eine enorm aggressive Haltung dar. Hinter dieser Haltung verbirgt sich nicht nur, dass der Suizidant seine Aggressionen gegen sich selbst richtet, sondern er richtet sie indirekt auch gegen andere Menschen oder gar gegen die gesamte Gesellschaft. Da aber das eigene Gewissen diese, gegen andere Menschen oder gegen die Gesellschaft gerichteten Aggressionen, verbietet, entsteht eine Aggressionsumkehr gegen die eigene Person. Die Abreaktion der Aggressionen nach außen muss also behindert bzw. gehemmt sein, bevor selbstverletzende oder selbsttötende Handlungen begangen werden (vgl. Ringel 1989, S. 21-22).
Selbstmordphantasien
Das dritte Element des präsuizidalen Syndroms bezeichnet
„... die Flucht des enttäuschten Menschen in eine Phantasiewelt, nicht zuletzt in Todes- und Selbstmordphantasien.“ (Ringel 1981, S. 14)
Die Phantasie hat eine lebensgestaltende Kraft und bei Jugendlichen erscheint sie besonders intensiv. Verhängnisvoll wird das Phantasieren dann, wenn dadurch eine Flucht aus der Realität bezweckt werden soll, um etwa einer unerträglich gewordenen Situation zu entfliehen (vgl. Ringel 1989, S. 14).
3.4 Die suizidale Krise - Alarmsignale von Jugendlichen
Suizidale Krisen sind bei Jugendlichen nicht immer sofort erkennbar. Meurer (2004, S. 201-202) hat in dem Fachbuch Praxis Krisenintervention einige dieser Alarmzeichen und Signale, die Hinweise auf eine mögliche Suizidgefährdung geben können, sehr ausführlich dargestellt. Diese Hinweise möchte ich nachfolgend zusammenfassen.
- Soziale Isolierung
Oft ziehen sich Menschen in schwer wiegenden Krisen zurück. Sie brechen Kontakte ab oder vermeiden diese. Auch schränkt sich die Kommunikationsfähigkeit immer weiter ein. „Jugendliche ziehen sich aus familiären Aktivitäten zurück, wirken lustlos, antriebslos. Für Außenstehende ist ihr Verhalten oft nicht nachvollziehbar."
- Aggressiv-abwehrendes Verhalten
„Insbesondere suizidgefährdete Jugendliche zeigen nicht selten nach außen ein abwehrendes, auch aggressives Verhalten. Ihre selbstzerstörerischen Impulse führen zu Abwehr und Ablehnung gegen die Außenwelt.“ (ebd.) Mit Äußerungen wie „Lasst mich doch alle in Ruhe“ oder „Ich will mit niemandem sprechen“ stoßen sie ihre Mitmenschen zurück, die sich aufgrund dessen ebenfalls zurückziehen.
- Stimmungsschwankungen
Starke Stimmungsschwankungen, von himmelhochjauchzend und zu Tode betrübt können bei suizidgefährdeten Jugendlichen besonders auffällig sein.
„Menschen, die bereits konkrete Suizidpläne gefasst haben, können ungewohnt ruhig und gelöst wirken, da sie sich durch den Entschluss, ihre Probleme ‚loszuwerden’, entlastet fühlen. Hier gilt es, sich nicht zu schnell beruhigen zu lassen, wenn ein vorher deprimierter Mensch sich plötzlich als sehr ausgeglichen zeigt. Wichtig sind weiterhin das konkrete Nachfragen und das Beachten weiterer Signale [...].“
- Veränderungen der äußeren Erscheinung
„Die äußerliche Erscheinung wirkt, anders als vorher, vernachlässigt. Mimik und Gestik sind eingeschränkt und ausdrucksarm.“
- Weitere auffällige Verhaltensweisen können sein:
„Essstörungen (starke Gewichtszunahme oder -abnahme), vermehrter Drogen-, Alkoholkonsum, Leistungsveränderungen in der Schule, Schulverweigerung, Aufgabe von Hobbys und Interesselosigkeit.“
- Vermehrte Unfallneigung
Eine Unfallhäufung kann ein Ausdruck für „verdeckte Suizidalität“ sein.
- Konkrete Handlungen
„Sammeln von Tabletten, Gegenständen zur Selbstverletzung, Waffen, selbstverletzendes Verhalten (z. B. Ritzen, Schneiden, Verbrennen), Verschenken von geliebten Dingen (z. B. Haustiere, Lieblings-CDs).“
- Körperliche/psychosomatische Symptome
In schweren Krisen treten bei Jugendlichen häufig auch körperliche Symptome auf, „wie z. B. Erschöpfung, Müdigkeit, Kopfschmerzen, Bauchschmerzen, Appetitlosigkeit, Schwindelgefühle.“
- Verbale Äußerungen
Damit sind Äußerungen gemeint, die auf Belastungsgefühle, die eigene Wertlosigkeit oder (Suizid-) Planungen hinweisen. Dazu gehören Sätze wie: „Es wäre für alle besser, wenn es mich nicht geben würde.“; „Am liebsten würde ich vor allem meine Ruhe haben.“; „Meinen Geburtstag erlebe ich sowieso nicht mehr.“
- Schriftliche Äußerungen
Manche Jugendliche verfassen „testamentarische Verfügungen“, deuten ihre Suizidgedanken in Schulausätzen an oder beschäftigen sich in anderer schriftlicher Form mit dem Thema Tod.
- Zeichnungen und Symbole
„Deprimierende Bilder, Zeichnungen von Gräbern und Grabkreuzen sind häufig Ausdruck pubertärer Auseinandersetzungen, können aber auch auf eine ernsthafte Gefährdung hinweisen.“
- „Philosophische Auseinandersetzung“ mit dem Thema „Tod und Suizid“
Jugendliche, die sich mit Suizidgedanken beschäftigen, versuchen häufig über den Sinn des Lebens zu „philosophieren“ oder über die „Legitimation von Suizid“ zu diskutieren. Die darin versteckten Botschaften gilt es zu beachten.
4. Dem Tod so nah - Songtexte, Erfahrungsberichte, Briefe & Bilder
„Der Grund, warum ich großes Übel leide,
ist, daß ich ein ICH habe. Hätte ich kein
ICH, welches Übel gäbe es dann noch?“
Laotse
4.1 Die Leiden der jungen Seele - „Jetzt reden wir!“
Im folgenden Kapitel soll es um die Gedanken, Gefühle, Wünsche, Hoffnungen und „Todessehnsüchte“ der jungen Menschen selbst gehen. In Form von (Punk-) Liedern, niedergeschriebenen Erfahrungen, Abschiedsbriefen und Bildern möchte ich dem Leser „die Leiden der jungen Seele“ näher bringen, um so eine Empathie zu erzeugen oder zumindest ein Verständnis für die „Qualen und Nöte“ der Jugendlichen. Gerade in der sozialpädagogischen Arbeit mit jungen Menschen, insbesondere in der Krisenhilfe, ist, meiner Meinung nach, das Wissen um die Sichtweisen und Erfahrungen der Jugendlichen selbst von größter Bedeutung und Wichtigkeit.
Wie gehen junge Menschen mit den Themen Suizid oder gar der eigenen Suizidalität um?
Wie empfinden und verarbeiten sie diese schwer wiegenden Gedanken?
Wie drücken sie sich aus?
Die nachfolgenden Liedtexte, Erfahrungsberichte, Briefe und Bilder werde ich absichtlich unkommentiert lassen, weil ich denke, dass sie für sich selbst sprechen und sich selbst erklären.
4.2 Texte deutscher Punk-Bands
Kalte Steine von Neurotic Arseholes (1983)
Alle Strassen sind so kalt und dunkel.
Alle Menschen sind so schwarz und leer.
Keiner merkt was, keiner fühlt wie ich.
Ich bin allein und frage mich: „Tu´ ich´s oder schaff´ ich´s nicht?“
Ich hab´ den Drang, ich töte mich.
Wenn ich einsam in den Himmel starre,
wenn das Schicksal der Sterne mich umhüllt;
genauso einsam und verlassen steh´n sie droben
und scheinen meinen Entschluss zu loben:
„So mach´ doch Schluss, es ist vorbei!“
Die schwarze Welt ist einerlei.
Das eig´ne Schicksal ist besiegelt.
Die ganze Welt, sie hat mich enttäuscht.
Wie graue Möwen, die den Horizont versuchen,
wie kalte Asche, die der Wind verweht.
Zwietracht und Überdruss,
die Menschheit lebt doch ohne Lust.
Es ist Zeit, diesen Hass zu fliehen.
Es ist Zeit für den Tod als Retter.
Er erlöst wie der grosse Regen,
der die Wüste wieder Blühen lässt.
Liebe war noch niemals da, ich war allein,
was niemand sah.
Innenraum von EA 80 (1990)
Hier sind alle so traurig - jeder ist in seinem Raum
Es bleibt kaum etwas zu sagen - alles isoliert
Oh, wo ist sie denn nur hin? - wir haben alles durchsucht
Alle Wächter schweigen sich aus - sie war auf jeden Fall hier
Es stand dort hinten in der Zelle
Es war nur eine Zeile - geschrieben mit Blut
Sie hat zu lange gewartet
Hatte keine Chance mehr auf Glück
Sie nahm den leichten Weg ´raus
Im Innenraum
Sie stand mit vielen auf einer Stufe - jeder Schritt bedeutet Tod
Als sie miteinander riefen: „Hass ist nur ein Wort!“
Manche zählten bis sieben - manche lachten immerfort
Warum hat sie das alles getan - wozu musste sie das tun?
Es stand dort hinten in der Zelle
Es war nur eine Zeile - geschrieben mit Blut
Wir haben zu lange gewartet
Sie hatte keine Chance mehr auf Glück
Sie nahm den leichten Weg ´raus.
4.3 Erfahrungsberichte
„Geliebt vom Tod
‚Geliebter Tod, nimm mich in deine warmen Arme und lass mich nie wieder los! Ich will bei dir bleiben, für immer eins mit dir sein. Deine Liebe spüren und ins Reich der Glückseligkeit hinabsinken. Lass mich deine Zärtlichkeit spüren, sei meine Erlösung! Lass mich diese Welt verlassen und ich folge dir in deine!’
Solche Gedanken kommen mir, wenn ich verzweifelt bin und Ängste mich quälen.
Die Brücke war mein Ziel. Einmal springen, mit dem schönen Gefühl zu wissen, wenn ich unten auf komme, sterbe ich endlich. Der Tod war mein einziger Ausweg aus dieser Welt voller Schmerz, Angst, Hass und Verständnislosigkeit. Klar hätte ich mit meinen Eltern reden können, ich fühlte mich nur total unverstanden von allen Menschen um mich herum. So baute ich um meine Gefühlswelt eine Mauer auf. Ich habe allen Leuten das gezeigt, was sie gerne sehen wollen, und verhüllte mein ¢Inneres Ich¢. Über meine Gefühle habe ich dann nicht mehr gesprochen.
In der Schule ausgegrenzt und mit dummen Sprüchen fertig gemacht, wurde ich in meinem Verlangen zu sterben nur noch mehr bestärkt. Es tat sehr weh zu merken, dass meine ganzen früheren Freunde auf einmal gegen mich waren. Durch das Mobbing wurde mein Selbstbewusstsein sehr stark angekratzt, und mein Selbstwertgefühl war auch dahin. Egal wo ich war, ich dachte, die Menschen um mich herum könnten meine Gedanken lesen, wüssten was in der Schule passiert. Wer gibt schon gerne zu, dass er keine Freunde mehr hat und so fertig gemacht wird. Ich lies [sic!] mir immer neue Sachen einfallen, warum ich zum Arzt gehen könnte und ging kaum noch zur Schule.
Es sind so viele Sachen passiert, mit denen ich nicht klar kam, worüber ich natürlich auch nicht gesprochen habe. Ich wollte anders sein und träumte mir eine kleine Welt zusammen, in der ich stark, hübsch und einfach anders war.
Ich redete dann doch irgendwann mit meiner Mutter und erzählte ihr, was in der Schule passiert war. Ich wechselte die Schule, war aber nur fähig, einen Tag da hin zu gehen. Also startete ich einen letzten Hilfeschrei. Ich schrieb meiner Mutter einen Brief, in dem ich ihr erklärte wie dreckig ich mich fühlte und dass ich mich am liebsten umbringen würde.
Ich fuhr ganz normal los, als ob ich zur Schule gehen würde. Ich ging in die Stadt und lief durch irgendwelche Wohnviertel. ¢Zum Glück regnet es!¢ dachte ich. Ich wollte nicht, dass jemand sieht, dass ich weine.
Irgendetwas hielt mich dann doch davon ab von der Brücke zu springen, wahrscheinlich gab es doch noch einen Wunsch zu leben. Ich rief meinen Vater an und er holte mich ab. Ich war irgendwie froh, als ich wieder zu Hause war. Meine Eltern setzten sich mit mir hin und erklärten mir, dass es vielleicht besser sei, eine Therapie in einer Kinder- und Jugendpsychiatrie zu machen. So landete ich schließlich in Düsseldorf. Es braucht zwar Zeit, aber welche Probleme sind schon von heute auf morgen gelöst?
Lisa, 16 Jahre“
(entnommen aus: KLAPSE 2002, Nr. 22)
„Vom Leben enttäuscht
Ich bin in die Kinder- und Jugendpsychiatrie gekommen, weil ich versucht habe, mir mein Leben zu nehmen. Es war am 13.03.1997.
Ich kam spät nach Hause, und meine Eltern waren total sauer auf mich. Es kam zu einem heftigen Streit. Meine Eltern wollten, daß ich die Familie verlasse, d.h. ich sollte ins Heim oder in einen Wohngruppe. Da ich meine Familie sehr gern habe, war das ein großer Schock für mich. Also ging ich in mein Zimmer und griff zu den Tabletten, die ich damals vom Zahnarzt bekommen habe, und schluckte sie runter. Danach habe ich mich schlafen gelegt. Nach einiger Zeit wurde mir übel, ich übergab mich mehrmals. Als meine Mutter darauf aufmerksam wurde, kam sie zu mir und fragte, was mit mir los sei. Ich zeigte ihr die leere Tablettenpackung und sagte, daß ich alle genommen habe. Nun sollte mich mein Vater ins Gerresheimer Krankenhaus fahren. Als wir dort ankamen, wurden mir sehr viele Fragen gestellt, die ich alle beantwortete. Dann kam ich endlich auf mein Zimmer. Ich versuchte zu schlafen, doch es ging nicht. Am nächsten Morgen kamen alle Ärzte zu mir und stellten mir die gleichen Fragen. Sie nahmen mir Blut ab und beobachteten meinen Puls. Doch essen konnte ich immer noch nichts. Also schlief ich noch etwas. Doch besser ging es mir nicht. Ich verbrachte acht Tage im Krankenhaus. Dann endlich wurde ich entlassen und sollte sofort Therapie machen. Also begab ich mich in die Kinder- und Jugendpsychiatrie auf dem Gelände der Rheinischen Landesklinik in Grafenberg. Hier sollte ich nun bis zum Ende der Osterferien bleiben und Einzeltherapie machen. Ich kam in die Tagesklinik und lebte mich dort sehr gut ein. Als sich das Ende der Ferien näherte, schlug man mir vor, daß ich meine Schule verlassen und meinen Abschluß auf der ‚Geländeschule’ machen sollte. Nach einigem Hin und Her entschied ich mich für den Schulwechsel und blieb auch weiterhin in Behandlung. Jetzt habe ich weniger Probleme und viel bessere Noten. Ich bin froh, daß ich diesen Weg gegangen bin, denn er hat mir bis heute nur Vorteile gebracht. In einigen Wochen verlasse ich die Schule und beginne mit der Ausbildung zur Erzieherin.
Leben!
Ich hatte Probleme, in der Schule und zu Haus´!
Ich stand unter Druck und hielt ihn nicht mehr aus!
[...]
- Quote paper
- Diplom-Sozialpädagogin Verena Scherling (Author), 2005, Die Leiden der jungen Seele. Kriseninterventionen bei jugendlichen Suizidanten im Kontext sozialer Arbeit, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/69724
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