Grundlage dieser Arbeit ist der Umgang Jugendlicher mit ihrer Musik – was Jugendliche mit ihrer Musik machen und vor allem was ihre Musik aus und mit ihnen macht.
Renate Müllers Konzept der Selbstsozialisation soll dabei im Zentrum der Arbeit stehen, wobei der darin enthaltene Aspekt der Identität als so gewichtig erscheint, dass ein Kapitel über die Klärung des Identitätsbegriffs vorangestellt wird. Im dritten Kapitel, das dem Hauptkapitel über Selbstsozialisation folgt, wird der Frage nachgegangen, ob und warum es pädagogisch relevant ist, Popmusik und musikalische Gebrauchspraxen Jugendlicher im Musikunterricht an Schulen zu integrieren.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1 Was ist Identität?
1.1 Annäherung an das Thema
1.1.1 Die Aktualität der Identitätsfrage
1.1.2 Sein oder Werden?
1.1.3 Psychische Einheit oder Spaltung?
1.1.4 Das Verhältnis zwischen Identität und Alterität
1.1.5 Wesen und Oberfläche der Identität
1.2 Versuch einer Antwort auf die Frage „Was ist Identi- tät?“
1.2.1 Das Keupp’sche Identitätsmodell
1.2.2 Drei weitere Modelle
1.2.3 Synthese
2 Das Konzept der Selbstsozialisation
2.1 Einführung in die Thematik
2.2 Zur Geschichte der Sozialisationstheorien
2.3 Selbstsozialisation
2.3.1 Definitionen
2.3.2 Der konkrete Prozess der Selbstsozialisation
2.4 Musikalische Selbstsozialisation
2.4.1 Zur Bedeutung der Musik für Jugendliche
2.4.2 Von der allgemeinen zur musikalischen Selbst- sozialisation und deren Bedeutung für die Gesellschaft
2.4.3 Kulturelle Kompetenzen
2.4.4 Zum Umgang Jugendlicher mit Musik
2.5 Erweiterung des Müller’schen 3-Wege-Systems
3 Musikpädagogische Relevanz
3.1 Musikalische Gebrauchspraxis
3.2 Über die Unverzichtbarkeit musikalischer Ge- brauchspraxen Jugendlicher für Musikunterricht
3.2.1 Musikunterricht als Förderer jugendlicher Persönlichkeitsentfaltung
3.2.2 Identitätskonstruktion, Kommunikation und die soziale Seite der Popmusik
3.2.3 „Verstehen durch Erleben“
3.2.4 Weitere Lehrmeinungen
3.3 Synthese
Literaturverzeichnis
Einleitung
„Ich nehm’ jeden Tag Drogen, mal weniger mal mehr! Mal mit Action und mal ganz leger! Doch am Wochenende geht’s erst richtig los! Pillen fressen, Nasen ziehen, Wodka saufen, prost!“[1]
Mit solchen drogenverharmlosenden Aussagen oder gewaltverherrlichenden Texten wie "Frankreich ist eine Schlampe, vergiss nicht, sie zu ficken, bis sie erschöpft ist. Man muss sie wie eine Hure behandeln, Mann.“[2] stürmen HipHop-Stars die Charts weltweit. Natürlich handelt es sich hierbei zum einen um die extremsten Formen des HipHop und natürlich steht zum anderen die These zur Debatte, Drogen- und Gewaltverherrlichung diene dazu, in ironischer, überzogener Weise das Augenmerk der Gesellschaft auf soziale Brennpunkte zu richten und somit die Welt zu verbessern. Trotzdem oder gerade deshalb sollte die Frage gestellt werden, ob Musik, die in ihren extremsten Varianten solche Texte hervorbringt, heranwachsenden, identitätssuchenden Jugendlichen vorgesetzt werden darf, ob sie hilfreich in deren Persönlichkeitsentfaltung ist oder ob sie gar im Musikunterricht behandelt werden muss. Zur Beantwortung dieser Fragen bedarf es zunächst der genaueren allgemeinen Betrachtung des Umgangs Jugendlicher mit ihrer Musik.
Zugegeben, das Interesse an der Musik Jugendlicher, der sog. „Popmusik“, ist zunächst ein ganz persönliches rezeptionsästhetisches. Darüber hinaus ist jedoch die Auseinandersetzung mit eben diesem Thema des Umgangs Jugendlicher mit ihrer Musik – was Jugendliche mit ihrer Musik machen und vor allem was ihre Musik aus und mit ihnen macht – auch in pädagogischer Hinsicht äußerst relevant und soll daher Grundlage dieser Arbeit sein.
Renate Müllers Konzept der Selbstsozialisation soll dabei im Zentrum der Arbeit stehen, wobei der darin enthaltene Aspekt der Identität als so gewichtig erscheint, dass ein Kapitel über die Klärung des Identitätsbegriffs vorangestellt wird. Im dritten Kapitel, das dem Hauptkapitel über Selbstsozialisation folgt, wird der Frage nachgegangen, ob und warum es pädagogisch relevant ist, Popmusik und musikalische Gebrauchspraxen Jugendlicher im Musikunterricht zu integrieren. Die Frage, in welcher Form dies geschehen könnte, also die fachdidaktischen Folgen, die eine Beschäftigung mit diesem Thema nach sich zieht, muss an anderer Stelle erfolgen.
Das Thema Sozialisation im weiteren und (musikalische) Selbstsozialisation im engeren Sinne findet seit einigen Jahrzehnten in der Forschung breite Beachtung, wobei die Meinungen zu diesen Themen darin mitunter weit auseinander gehen. Die Literaturauswahl für diese Arbeit (s. Literaturverzeichnis) wurde bewusst mit dem Ziel eines allgemeinen Überblicks getroffen.
Als besonders hilfreich beim Zugang zum Thema erwiesen sich Renate Müllers Veröffentlichungen wie „Selbstsozialisation. Eine Theorie lebenslangen musikalischen Lernens“[3], „Musikalische Selbstsozialisation“[4], „Selbstsozialisation Jugendlicher durch Musik und Medien“[5] und „Zum sozialen Gebrauch von Musik und Medien durch Jugendliche“[6] zu nennen. Den Überlegungen zum ersten Kapitel liegen darüber hinaus hauptsächlich Keupps „Identitätskonstruktionen“[7], Janks „Ausgangspunkte“[8] und der Aufsatz „Sozialisation durch (Massen-)Medien“[9] von Schorb u.a. zugrunde.
Neben den beiden neueren Werken Renate Müllers „Das Konzept musikalischer und medialer Selbstsozialisation - widersprüchlich, trivial, überflüssig?“[10] und „Musikalische und mediale Selbstsozialisation“[11] basiert das zweite Kapitel insbesondere auf Vogts empirischer „Studie über Formen der musikalischen Selbstsozialisation“[12], Imorts Veröffentlichung „Musikalische und mediale Selbstsozialisation. Eine Diskussion über Herausforderungen und Perspektiven der Theorie“[13] sowie den beiden Werken Rolles „Wie Musik gefällt“[14] und „Medienpraxis und Musikunterricht“[15].
Die Überlegungen zum dritten Kapitel basieren neben einigen bereits genannten Werken Müllers, Janks und Rolles hauptsächlich auf Janks „Kultur erschließen“[16] und Pirners Arbeit „Selbstsozialisation – zur pädagogischen Tragfähigkeit eines soziologischen Konzepts“[17].
1 Was ist Identität?
1.1 Annäherung an das Thema
Die Annäherung an das Thema Identität kann auf völlig unterschiedliche Weise erfolgen, wie folgende Zitate belegen:
„Ich gebe meiner Seele bald dieses, bald jenes Gesicht, je nach welcher Seite ich sie wende. Wenn ich unterschiedlich von mir spreche, dann deswegen, weil ich mich als unterschiedlich betrachte. Alle Widersprüche finden sich bei mir in irgendeiner den Umständen folgenden Form. […] Vor allem sehe ich etwas in mir, je nachdem wie ich mich drehe; und wer immer sich aufmerksam prüft, entdeckt in seinem Inneren dieselbe Wandelbarkeit und Widersprüchlichkeit, ja in seinem Urteile darüber. Es gibt nichts Zutreffendes, Eindeutiges und Stichhaltiges, das ich über mich sagen, gar ohne Wenn und Aber in einem einzigen Wort ausdrücken könnte. […] Wir bestehen alle nur aus buntscheckigen Fetzen, die so locker und lose aneinanderhängen, daß jeder von ihnen jeden Augenblick flattert, wie er will; daher gibt es ebenso viele Unterschiede zwischen uns und uns selbst wie zwischen uns und den anderen.“[18]
Hier beschreibt Michel de Montaigne Identität äußerst bildhaft und lässt sie in einem instabilen, wandelbaren und widersprüchlichen Licht erscheinen. Aussagen über die Identität bzw. die „Seele“ sind für ihn unzutreffend, uneindeutig und nicht stichhaltig. An die Patchwork-Theorie (vgl. Kap. 1.2.2) erinnernd spricht er von „buntscheckigen Fetzen“.
Ein konkretes und nüchternes Umgehen mit der Materie hingegen zeigt die Definition des Begriffes Identität von Joachim Hasebrook:
„In der Psychologie bezeichnet Identität zum einen das Erleben der Gleichheit von Umwelt und Bewusstseinsinhalten in der Zeit, zum anderen das Selbst des Subjekts in seinem Lebenslauf.“[19]
Diese beiden Extreme im Umgang mit Identität vereint und erweitert Heiner Keupp durch seine „Unterscheidung von Spannungsfeldern der Identitätsdiskussion“[20]. Er arbeitet fünf Spannungsfelder heraus, die jedoch nicht voneinander abgetrennt sind, sondern einer „Vielzahl von Überschneidungen“[21] unterliegen. Diese Art der Annäherung an das Thema Identität erscheint am klarsten und vollständigsten und stellt den Einstieg in das Thema in ein griffiges und unkompliziertes Licht. Daher soll sie folgenden Ausführungen als Gliederung zugrunde liegen.
1.1.1 Die Aktualität der Identitätsfrage
Das erste Spannungsfeld (s. Abb. 1) betrifft die Frage nach der Aktualität der Identitätsdiskussion. Ist sie „neu, oder gehört sie zu den Ewigkeitsfragen menschlicher Existenz?“[22]
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
(Abb. 1)
Einen eindeutigen Schnitt in der Geschichte der Identitätsdiskussion stellt der Beginn der sogenannten „gesellschaftlichen Moderne“[23] dar. Erst seit dieser Epoche wird Identität zur Aufgabe des Einzelnen, wird stärker wähl- und veränderbar, wohingegen in der Vormoderne Identität „eine Funktion von festgelegten Rollen und eines traditionellen Systems von Mythen [war], die Orientierung und religiöse Sanktionen boten […]. Identität war unproblematisch und nicht Gegenstand von Reflexion oder Diskussion. Individuen durchlebten keine Identitätskrisen, noch änderten sie radikal ihre Identität.“[24] Das Ablegen dieser Zwänge und Fesseln in den letzten 30 Jahren betitelt Werner Jank als „Pluralisierung der Lebensverhältnisse [… und] Individualisierung der Lebensverläufe“[25]. Er schreibt:
„Die soziale, kulturelle, regionale und ökonomische Ausdifferenzierung in unserer modernen Industriegesellschaft hat zu einer Vielfalt von Lebensverhältnissen und –formen in der Familie, im Arbeitsleben sowie in Freizeit und Jugendkultur geführt.“[26]
Durch diese Individualisierung des Menschen in Bezug auf die vorhergehende Situation und der daraus resultierenden Möglichkeit der „aktiven Ausgestaltung des eigenen Lebens“[27] ist für Keupp das Thema Identität „zwar alt, seine Aktualität aber so neu“.[28]
1.1.2 Sein oder Werden?
Keupps zweites Spannungsfeld umreißt die Frage, ob es sich bei Identität um einen statischen oder einen dynamischen Begriff handelt; ob Identität ist, oder im Laufe des menschlichen Lebens wird. (S. Abb. 2)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
(Abb. 2)
Hierzu schreibt Keupp, dass Identität nach heutigem Verständnis eindeutig als eine „prozeßhafte und unabschließbare Aufgabe jedes einzelnen“[29] anzusehen ist – was Bernd Schorb, Erich Mohn und Helga Theunert bereits 1991 als „lebenslangen Sozialisierungsprozeß“[30] bezeichnen – dass dies jedoch nicht immer so war. Eine solche stabile Periode war zum Beispiel die organisierte Moderne (von circa 1950 bis Ende der 70er Jahre), als individuelle Entwicklung eingebettet wurde in gesellschaftliche Praktiken. Keupp betitelt diese Phase als eine „Phase konservativer Restauration“; bzw. schlagwortartig: „Jede[r] wußte, wo es langging.“[31] Die Frage nach Identität musste in der Jugendphase beantwortet und in der Erwachsenenphase gelebt werden. So sah es auch Erik
Erikson, den Keupp als „den Identitätstheoretiker der organisierten Moderne“[32] bezeichnet.
Heute ist dagegen der Prozess der Identitätsfindung und die Bewerkstelligung des Lebens zur selben Zeit zu bestreiten zu einer Notwendigkeit geworden, wie Renate Müller aufführt:
„Identitätskonstruktion […] ist kein Prozeß, der irgendwann – auch nicht am Ende der Adoleszenz – als abgeschlossen betrachtet werden kann. Vielmehr muß Identität ständig in Interaktionen aufrechterhalten werden. Das ist psychisch und sozial notwendig, damit das Individuum identisch bleibt in verschiedenen Interaktionskontexten mit unterschiedlichen, widersprüchlichen und uneindeutigen Erwartungen. […] Das Individuum muß also deutlich machen, daß es so ist wie niemand und daß es so ist wie alle. Beides stimmt nicht, insofern ist Identitätsaufrechterhaltung ein lebenslanger Balanceakt.“[33]
Keupp beschreibt diesen Prozess bildhaft: „Vieles gleicht […] dem Umbau eines Schiffs auf hoher See.“[34] (Vgl. hierzu auch Kap. 1.2.2 und Abb. 9)
1.1.3 Psychische Einheit oder Spaltung?
Die Frage, wie viel „Vielfalt an Erfahrung der Mensch verträgt und wie viel Einheit des Erlebens er braucht“ gepaart mit der Frage, ob es ungeachtet der sozialen Rollen, die ein Mensch in seinem Leben spielt, einen Identitätskern gibt (vgl. Kap. 1.1.4), stellt das dritte Spannungsfeld dar. (S. Abb. 3)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
(Abb. 3)
Mit dem Eintritt in die Moderne wird die Kohärenzzumutung von der Gesellschaft auf den einzelnen Menschen übertragen. Die Dissoziation, die „Aufsplitterung des Subjekts“ ist eine logische Folge davon. Problematisch wird dies sobald der „einzelne mehr erlebt, als er erfahren, das heißt für sich verarbeiten kann.“[35]
Frühere Identitätsgaranten wie nationale und ethnische oder Geschlechts- und Körperidentität gelten in der heutigen Zeit nicht mehr, so wird z.B. das System Körper längst nicht mehr als ein abgeschlossenes angesehen – Transplantationschirurgie oder auch nur die völlig neue Denkweise, den Körper als eine dem „Work in Progress“[36] unterlegene, gestaltbare physische Hülle für Identitätsveränderungen zu betrachten, sind ein Zeichen dafür. Mehr und mehr wird es dem Einzelnen, dem Subjekt zugemutet, mit Kohärenz und daraus folgender Dissoziationsgefahr umgehen zu können, mit Erfahrungen zurechtzukommen oder Erfahrenes nach zu erleben, zu verarbeiten. Renate Müller beschreibt diese Entwicklung wie folgt:
„Das große, goldene Buch der Gesellschaft, in dem alle Regeln nachzulesen sind, die den Platz des Individuums in der Gesellschaft ebenso vorschreiben wie seine Einstellungen und Verhaltensweisen, gibt es nicht (mehr)[…] Wir leben in einer Gesellschaft, […] in der individuelle Gestaltungsspielräume der eigenen Biographie so groß sind wie nie zuvor.“[37]
1.1.4 Das Verhältnis zwischen Identität und Alterität
Das vierte Spannungsfeld (s. Abb. 4) handelt von der Selbstbezogenheit, dem Bezug zu anderen Menschen und davon, dass „wir unsere Identität, unsere unverwechselbare Eigenheit nur in engem Zusammenwirken mit […] unserem sozialen Umfeld entwickeln und bewahren können.“[38] Auch hier ist die Frage nach dem in sozialen Rollen eingebetteten, bzw. durch ihn wachsenden und gedeihenden Identitätskern (s.u.) wesentlich.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
(Abb. 4)
Schon sehr früh schreibt Lothar Krappmann:
„Offenbar ist die Identität beides zugleich: antizipierte Erwartungen der anderen und eigene Antworten des Individuums. G. H. Mead hat diesen doppelten Aspekt der Identität in seinem Begriff des Selbst berücksichtigt, der ein ‚me’, die von den anderen übernommenen Einstellungen, und ein ‚I’, die individuelle Antwort auf die Erwartungen der anderen enthält.“[39]
Auch heute ist diese Ansicht der Spannung zwischen Identität und Alterität, bzw. der gegenseitigen Befruchtung dieser beiden Spannungspole, hochaktuell; so schreibt zum Beispiel Winfried Pape in seiner Definition von Jugendszenen:
„Jugendszenen sind als spezifische, von Suche nach Kontakt, Intimität, Solidarität und Spaß gekennzeichnete Interaktionsbereiche zu begreifen. […] Sie ermöglichen soziale Zugehörigkeit, identitätsstützende und identitätsfördernde Erfahrungen und prägen Lebensstile.“[40]
Heiner Keupp postuliert den Begriff der Teilidentitäten bzw. der lebensweltübergreifenden Metaidentität mit der Überlegung, „daß
Identität sich in der dialogischen Selbsterfahrung in verschiedenen Lebenswelten bildet“[41] und kombiniert damit ebenso die beiden gegensätzlich stehenden Begriffe „Selbstbezogenheit“ und „Bezug zu anderen“.
1.1.5 Wesen und Oberfläche der Identität
Als fünftes Spannungsfeld führt Keupp die Ebene „tief und flach“, „Wesen und Oberfläche“[42], bzw. die Ebene einer Identität, die auf innerpsychischen Prozessen beruht, und einer sozial konstruierten, narrativen Identität an. (S. Abb. 5)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
(Abb. 5)
Dieser Ansatz der narrativen Identität fußt auf der Annahme, dass „die dialogische Form der Selbstkonstruktion primär im Modus der Narration, der Erzählung, stattfindet“[43] und dass „die Erzählung das primäre strukturierende Schema ist, durch das Personen ihr Verhältnis zu sich selbst, zu anderen und zur physischen Umwelt organisieren und als sinnhaft auslegen.“[44]
Diesem Konzept der über Sprache und ihre Erzählstrukturen vermittelten Identität steht das Konzept der tief empfundenen
Identität gegenüber: Identität als Substanz. Diese traditionelleren Darstellungen betrachten
„persönliche Identität als etwas […], was der Erreichung eines bestimmten Bewußtseinszustandes verwandt ist. Das reife Individuum ist danach eines, welches ein stabiles Selbstgefühl oder eine feste
Identität ‚gefunden’, ‚kristallisiert’ oder ‚realisiert’ hat. Im allgemeinen wird dieser Zustand als höchst positiv bewertet und ist er einmal erreicht, können Varianz oder Inkonsistenz in jemandes Verhalten minimiert werden.“[45]
Eine gesteigerte Stufe des narrativen Ansatzes ist die Selbst-Narration. Diese unterliegt nach Keupp einer ständigen sozialen Bewertung, da sie selbst in unausgesprochenem Zustand greift, z.B. beim Prozess des Nachdenkens über sich selbst.
Keupp fasst diesen Pol des fünften Spannungsfeldes wie folgt zusammen:
„Wie also in einem Leben eines zum anderen kam, ein Ereignis seine Ursache in einem anderen hatte, ist nicht objektiv zu konstatieren, sondern eine soziale Konstruktion. Dies ist auch der Grund dafür, daß das Archiv möglicher Selbsterzählungen nur theoretisch unendlich groß ist. Denn in der Praxis wird sich eine Kultur aus Gründen sozialer Nützlichkeit, ästhetischer Erwünschtheit und linguistischer Möglichkeit auf ein eingeschränktes Repertoire beschränken.“[46]
1.2 Versuch einer Antwort auf die Frage „Was ist Identität?“
Hier sollen zunächst vier bestehende Identitätsmodelle dargestellt werden, bevor dann der Versuch unternommen wird, aus diesen eine Essenz zu ziehen.
Das erste ist das Modell Keupps, das oben bereits skizziert und hier in grafischer Form noch einmal zusammengefasst werden soll. Das zweite Modell Unity & Difference von Ronald Hitzler sowie das dritte Modell der Patchwork-Identität von Mike Featherstone stellen ebenfalls zwei relativ moderne Sichtweisen dar, während das vierte Modell der Interaktionistischen Identität seine ersten Erwähnungen bereits im Jahre 1934 erfuhr.
1.2.1 Das Keupp’sche Identitätsmodell
Für Keupp führt der Weg zur Identitätsfindung notwendigerweise über die Alterität (vgl. Kap. 1.5), also über die „Betonung des situativen Bezugs der verschiedenen sozialen Lebenswelten“ und hin zur Beschäftigung mit „konkreten Interaktionspartnern und ‑situationen“.[47]
In folgendem Schaubild (s. Abb. 6) zeigt sich dieser Aspekt durch die sich gegenüberstehenden Felder Innen und Außen.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
(Abb. 6)
Ein zweiter Aspekt für Keupp ist der ständige Umbauprozess, dem die Identitätsbildung unterliegt. Dieser ist im Schaubild durch eine Vielzahl von Pfeilen dargestellt, die einerseits die Wechselwirkung zwischen Individuum und Selbst- bzw. Fremdbild, andererseits die erweiterten Wechselwirkungen unter Miteinbezug individueller Ressourcen bzw. konkreter Interaktionspartner darstellen sollen.
[...]
[1] Sido: Endlich Wochenende.
[2] Monsieur R: Politiquement Incorrect. Zitiert nach Eberhard Dobler: Zensur: Für Hip Hop in den Knast? In: http://www.laut.de/vorlaut/news/2006/05/31/ 02230/index.htm am 8.9.2006.
[3] Renate Müller: Selbstsozialisation. Eine Theorie lebenslangen musikalischen Lernens. In: Klaus-Ernst Behne u.a. (Hg.): Musikpsychologie. Jahrbuch der Deutschen Gesellschaft für Musikpsychologie, Bd.11, 1994. Wilhelmshaven 1995. S. 63-75.
[4] Dies.: Musikalische Selbstsozialisation. In: Johannes Fromme u.a. (Hg.): Selbstsozialisation, Kinderkultur und Mediennutzung. Opladen 1999a. S. 113-125.
[5] Dies.: Selbstsozialisation Jugendlicher durch Musik und Medien. In: Bertelsmann Briefe, Heft 142. 1999b. S. 12-15.
[6] Renate Müller/ Patrick Glogner/ Stefanie Rhein/ Jens Heim: Zum sozialen Gebrauch von Musik und Medien durch Jugendliche. Überlegungen im Lichte kultursoziologischer Theorien. In: Renate Müller u.a. (Hg.): Wozu Jugendliche Musik und Medien gebrauchen. Jugendliche Identität und musikalische und mediale Geschmacksbildung. Weinheim und München 2002. S. 9-26.
[7] Heiner Keupp u.a. (Hg.): Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne. Reinbeck bei Hamburg 1999.
[8] Werner Jank: Ausgangspunkte. In: Ders. (Hg.): Musikdidaktik, Kapitel 5. Berlin 2005a. S. 69-91.
[9] Bernd Schorb/ Erich Mohn/ Helga Theunert: Sozialisation durch (Massen-)
Medien. In: Klaus Hurrelmann/ Dieter Ulich (Hg.): Neues Handbuch der Sozialisationsforschung, 4., völlig neu bearbeitete Auflage. Weinheim und Basel 1991. S. 493-508.
[10] Renate Müller/ Stefanie Rhein/ Patrick Glogner: Das Konzept musikalischer und medialer Selbstsozialisation – widersprüchlich, trivial, überflüssig? In: Dagmar Hoffmann/ Hans Merkens (Hg.): Jugendsoziologische Sozialisationstheorie. Impulse für die Jugendforschung. Weinheim und München 2004a. S. 237-252.
[11] Dies.: Musikalische und mediale Selbstsozialisation. In: Ludwigsburger Beiträge zur Medienpädagogik. Selbstsozialisation – Beiträge und Dokumentation einer IZMM-Diskussionsrunde. Ludwigsburg 2004b. S. 1-4.
[12] Sabine Vogt: Ich höre immer viel Musik, die ich auch wirklich hören kann. Und nicht nur die, die ich viel hören kann. Eine empirische Studie über Formen der musikalischen Selbstsozialisation. In: Diskussion Musikpädagogik 23/04. S. 3-10.
[13] Peter Imort: Musikalische und Mediale Selbstsozialisation. Eine Diskussion über Herausforderungen und Perspektiven der Theorie. In: Ludwigsburger Beiträge zur Medienpädagogik. S. 5-9.
[14] Christian Rolle: Wie Musik gefällt. Zur Bedeutung musikalischer Präferenzen in den ästhetischen Praxen von Jugendkulturen. In: Nicolai Petrat u.a. (Hg.): Mit Spaß dabei bleiben. Essen 2003. S. 164-179.
[15] Ders.: Medienpraxis und Musikunterricht. In: Diskussion Musikpädagogik 23/04. S. 26-29.
[16] Werner Jank: Kultur erschließen. In: Ders. (Hg.): Musikdidaktik, Kapitel 6.4. Berlin 2005b. S. 113-122.
[17] Manfred Pirner: Sel bstsozialisation – zur pädagogischen Tragfähigkeit eines soziologischen Konzepts. In: Ludwigsburger Beiträge zur Medienpädagogik. S. S. 13-16.
[18] Michel de Montaigne: Essays. Erste moderne Gesamtübersetzung von Hans Stiller. Frankfurt am Main 1998. S. 167f. Zitiert nach Keupp 1999. S. 21 f.
[19] Joachim Hasebrook: Identität. In: Microsoft Encarta Enzyklopädie Professional 2005.
[20] Keupp 1999. S. 63.
[21] Keupp 1999. S. 64.
[22] Keupp 1999. S. 64.
[23] Keupp 1999. S. 70.
[24] Douglas Kellner: Popular culture and the construction of postmodern identities. In: S. Lash & J. Friedman (Hg.): Modernity & identity. Oxford 1992. S. 141. Zitiert nach Keupp 1999. S. 71.
[25] Jank 2005a. S. 69.
[26] Jank 2005a. S. 69. Hier bezieht er sich auf Ralf Vollbrecht: Kinder und Jugendliche in der Familie, Schule, Jugendkulturen und Konsumwelten. In: Die Realschule. Zeitschrift für Schulpädagogik und Bildungspolitik. S. 20-24.
[27] Jank 2005a. S. 69.
[28] Keupp 1999. S. 70.
[29] Keupp 1999. S. 76.
[30] Schorb u.a. 1991. S. 508.
[31] Keupp 1999. S. 76.
[32] Keupp 1999. S. 77.
[33] Müller 1995. S. 70.
[34] Keupp 1999. S. 83.
[35] Keupp 1999. S. 87.
[36] Charles Siebert: The cuts that go deeper. The New York Times Magazine, July 7, 1996. In: http://nytimes.com/specials/women/warchive/960707_5051.html am 15.8.2006. Zitiert nach Keupp 1999. S. 88.
[37] Müller 1999b. S. 12.
[38] Keupp 1999. S. 67.
[39] Lothar Krappmann: Soziologische Dimensionen der Identität. Stuttgart 1969. S. 39.
[40] Winfried Pape: Jugend, Jugendkulturen, Jugendszenen und Musik. In: Helmut Rösing und Thomas Phleps (Hg.): Neues im Umgang mit Rock- und Popmusik (Beiträge zur Popularmusikforschung 23). Karben 1998. S. 109.
[41] Keupp 1999. S. 99.
[42] Keupp 1999. S. 68.
[43] Keupp 1999. S. 101.
[44] Donald E. Polkinghorne: Narrative Psychologie und Geschichtsbewußtsein. Beziehungen und Perspektiven. In: Jürgen Straub (Hg.): Erzählung, Identität und historisches Bewußtsein. Die psychologische Konstruktion von Zeit und Geschichte. Frankfurt am Main 1998. S. 15. Zitiert nach Keupp 1999. S. 102.
[45] Kenneth J. Gergen und Mary Gergen: Narrative and the self as relationship. In: Leonard Berkowitz (Hg.): Advances in experimental social psychology. New York 1988. S. 36. Zitiert nach Keupp 1999. S. 101.
[46] Keupp 1999. S. 103.
[47] Beide in Keupp 1999. S. 107.
- Arbeit zitieren
- Matthias Jakob (Autor:in), 2006, Musik im Leben Jugendlicher. Das Konzept der Selbstsozialisation und seine musikpädagogische Relevanz, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/69581
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