Diese Arbeit ist in drei Teile gegliedert.
Im ersten Abschnitt wird die
gesellschaftliche Stigmatisierung und im
zweiten Teil die Theorie der Subkultur
dargestellt. Im Anschluß wird zu klären sein
in welcher Form zwischen den beiden
Bereichen, im allgemeinen, ein Konnex
besteht. Im letzten Teil wird am Beispiel
der S/M-Szene obiger Zusammenhang
gezeigt.zudem ist dies eine Sekundäranalyse
die aufzeigen soll ob die sadomasochistische
Subkultur, im speziellen, eine
gesellschaftliche Stigmatisierung erfährt
oder nicht. Daher werden für diesen Kontext
entscheidenden Kriterien aus den Bereichen
Stigmatisierung, Devianz und Subkulturen
separiet dargestellt.
Inhaltsverzeichnis
0. Präambel
1. Teil: Gesellschaftliche Stigmatisierung
1.1. Einleitung
1.2. Gesellschaft und Stigmatisierung
1.3 Differenzierungen von Stigma bzw. Stigmatisierung
1.3.1. Diskreditierte und diskreditierbare Personen
1.3.2. Defektive und kulpative Stigmata
1.4. In-group und out-group Orientierungen
1.5. Der Begriff der Devianz
1.5.1. Der Etikettierungsansatz
1.5.2. Heimliche Devianz
1.5.3. Primäre und sekundäre Devianz im labeling-Ansatz
1.5.4. Das Stufenmodell als "Karriere-Modell"
1.5.5. Kritik am labeling-Ansatz
1.6. Selbststigmatisierung als Alternativkonzept
1.7. Zusammenfassung von Teil 2
2. Teil: Theorie(n) der Subkultur
2.1. Einleitung
2.2. Der Begriff der Kultur
2.2.1. Von der Kultur zur Subkultur
2.3. Der Begriff der Subkultur
2.4. Differenzierungen von Subkulturen
2.4.1. Progressive und regressive Subkulturen
2.4.2. Unfreiwillige und freiwillige Subkulturen
2.5. Jugendliche Subkulturen
2.6. Entstehungsansätze von Subkulturen
2.7. Externer und interner Nutzen von Subkulturen
2.8. Identitätsbildung und Normen in einer Subkultur
2.9. Zusammenfassung von Teil 2
2.10 Stigmatisierung und die Entstehung von Subkulturen
3. Teil: Sadomasochismus als Subkultur
3.1. Einleitung
3.2. Zur Begrifflichkeit von Sadismus/Masochismus
3.2.1. Der Sadismus
3.2.2. Der Masochismus
3.3. Entstehungsansätze und Ursachen von S/M
3.4. Die S/M-Szene als Subkultur
3.4.1. Die heterosexuelle S/M-Szene
3.4.2. Die schwule S/M-Szene
3.4.3. Die lesbische S/M-Szene
3.4.4. Die professionelle S/M-Szene
3.5. Der Entstehungsweg der S/M-Karriere
3.6. Schutz und Identität in der S/M- Szene
3.7. S/M, Macht, Gewalt und Herrschaftsverhältnisse
3.8. S/M und gesellschaftliche Stigmatisierung
3.9. Zusammenfassung von Teil 3 und Fazit
Quellenverzeichnis
0. Präambel
Diese Arbeit ist, wie es der Titel nahelegt, in drei Teile gegliedert. Im ersten Abschnitt wird die gesellschaftliche Stigmatisierung und im zweiten Teil die Theorie der Subkultur dargestellt. Im Anschluß wird zu klären sein in welcher Form zwischen den beiden Bereichen, im allgemeinen, ein Konnex besteht. Im letzten Teil wird am Beispiel der S/M-Szene obiger Zusammenhang gezeigt. Was diese Arbeit leisten kann: Neue Erkenntnisse werden hier nicht erarbeitet, weil für (z.B.) eine empirische Erhebung die Zeit nicht ausreicht. Vielmehr ist dies eine Sekundäranalyse die aufzeigen soll ob die sadomasochistische Subkultur, im speziellen, eine gesellschaftliche Stigmatisierung erfährt oder nicht. Daher werde ich, die meiner Meinung nach, für diesen Kontext entscheidenden Kriterien aus den Bereichen Stigmatisierung, Devianz und Subkulturen separieren, wobei einige Fragen offen bleiben müssen.
1. Teil: Gesellschaftliche Stigmatisierung
1.1. Einleitung
Etymologisch betrachtet, ist der Begriff des Stigmas einerseits im religiösen Bereich zu verorten, und zwar als Wundmal Christi und andererseits als Brandmarkung von Sklaven im antiken Griechenland.([1]) Weiterhin gibt es in der Verbindung mit "stechen" oder "Stiche zufügen" die Bedeutung von "Tätowierung", als Narbung menschlicher oder tierischer Haut Mithilfe von Instrumenten wie Waffen, Loch- oder Brandeisen. Somit meint Stigma ursprünglich rein physische Merkmale in Form einer körperlichen Andersartigkeit oder Beschädigung.([2]) Zur heutigen, kurzen Definition von Stigmatisierung, ist ein Zitat aus Goffman's bekannter gleichnamiger Studie geeignet: "Stigma - die Situation des Individuums, das von vollständiger sozialer Akzeptierung ausgeschlossen ist."([3]) Daraus wird ersichtlich, daß gesellschaftliche Stigmatisierung einen sozialen Prozeß darstellt, der weitgehend fremdbestimmt ist. Das Stigmatisierung auch selbstbestimmt sein kann, wird in diesem Teil der Arbeit, unter anderem, herausgestellt (s.1.6.).
1.2. Gesellschaft und Stigmatisierung
In einer Gesellschaft werden an ihre Mitglieder bestimmte Erwartungen an das (Rollen) Verhalten und ebenso an die visuelle Erscheinung gerichtet, wie z.B. körperliche Unversertheit. Sie resultieren aus den sozialen Normen, welche eine anthropologische Voraussetzung für soziales Handeln darstellen.([4]) Zu ihnen gehören Attribute, die man bestimmten Kategorien von Menschen zuordnet und daher als gewöhnlich und natürlich empfindet. Betrachtet man z.B. einen Fremden, mit dem man evtl. interagieren möchte, wird seine soziale Identität (Attribute, Personen-Kategorie, optische Erscheinung etc.) i.d.R. antizipiert. Alle diese Antizipationen (Rollenerwartungen) sind von der Gesellschaft selbst bestimmt und daher normativ verankert. Da dieser Prozeß der Antizipation zum größten Teil unbewußt abläuft und erst in einer akuten Situation zu tragen kommt, bezeichnet Goffman diesen Vorgang als eine "Charakterisierung im Effekt", welche die "virtuale soziale Identität" konstituiert. Die Eigenschaften und Kategorien, die dem Individuum realiter nachgewiesen werden können, stellen die "aktuale soziale Identität" dar.([5]) Erweist sich nun eine Verhaltensweise als evident abweichend von der normativen Erwartung und liegt damit außerhalb des "kulturellen Standards", stellt dieses Attribut in unserer Vorstellung ein Stigma dar, auf das sich eine Widersprüchlichkeit zwischen virtualer und aktualer sozialer Identität gründet. Ebenso kann die Stigmatisierung durch eine offensichtliche physische Unterscheidung stattfinden, z.B. durch Behinderung, körperlicher Deformation etc. entstehen. Zudem gründet sich gesellschaftliche Stigmatisierung auf traditionelle Stereotypen, wie z.B. Geisteskrankheit. Sie sind fest geprägtes Allgemeingut der Gesellschaft, da sie von früher Kindheit an gelernt sind und durch Massenmedien und Alltagssprache kontinuierlich bestärkt werden.([6]) Somit bewegen sich die Termini Stigma und Stigmatisierung, insgesamt betrachtet, als eine Art von Symbiose, zwischen Attribut und Stereotyp([7]), sind aber keine Eigenschaft an sich, sondern eher als eine Einstufung zu betrachten, weil das Stigma erst in der stigmatisierenden Reaktion des anderen zur Realität wird. Stigma und Stigmatisierung enthalten daher zwar namentlich voneinander getrennte, dennoch im Rahmen sozialer Interaktion grundsätzlich aufeinander bezogene "dialektische" Dimensionen.([8])
1.3 Differenzierungen von Stigma bzw. Stigmatisierung
Goffman unterscheidet drei stark differierende Kategorien von Stigmen:
a.) Abscheulichkeiten des Körpers, (die verschiedenen physischen Deformationen)
b.) individuelle Charakterfehler, (z.B.: wahrgenommen als Willensschwäche, beherrschende oder unnatürliche Leidenschaften, tückische und starre Meinungen und Unehrenhaftigkeit,
c.) phylogenetische Stigmata, (z.B.: Nationalität und Religionszugehörigkeit). Alle Stigmabeispiele weisen jedoch die gleichen soziologischen Merkmale auf; den sozialen Ausschluß.([9])
1.3.1. Diskreditierte und diskreditierbare Personen
Eine andere wichtige personale Unterscheidung bezieht sich darauf, ob dem Umfeld eines Individuums das Stigma bekannt und ob es evident ist oder nicht, bzw. auch nur wenig evident. Gemeint sind die diskreditierten und die diskreditierbaren Individuen. Im ersten Fall, bei den diskreditierten Personen, wird das unmittelbar offensichtliche Stigma oder die bekannte Verhaltensabweichung, während Interaktionen, häufig von den "Normalen"([10]) ignoriert aber auch umgekehrt wird die Andersartigkeit von den Betroffenen, als Hauptstrategie überspielt um eine gespannte Situation zu entschärfen. Geht es hingegen um die diskreditierbaren Menschen, selbst wenn sie teilweise nur annehmen, daß von ihrer Abweichung nichts bekannt sei, spielt nicht mehr die Spannungssituation ansich eine primäre Rolle, sondern vielmehr die Lenkung der Information (Devianz-Management) über den Fehler. D.h.: Soll sich der Diskreditierbare zu seinem Makel bekennen oder nicht. Somit stehen ihm zwei Möglichkeiten zur Verfügung. Bekennt er sich nicht, bleibt ihm die Möglichkeit des "Täuschens" (siehe dazu auch heimliche Devianz, Kapitel 1.5.2.). I.d.R. wird der Stigmatisierbare von beiden Möglichkeiten gebrauch machen, was vom Vertrauen zu den jeweiligen Leuten und dem Sinn der Interaktion abhängig ist.([11]) Z.B. wird ein Alkoholkranker sein "abweichendes Verhalten" seinen Freunden eher "beichten" oder anvertrauen in der Hoffnung auf Akzeptanz zu treffen, bei einem Vorstellungsgespräch hingegen, es jedoch bewußt verschweigen aus Angst davor den Arbeitsplatz nicht zu bekommen, weil Alkoholabhängigkeit stigmatisiert wird.
1.3.2. Defektive und kulpative Stigmata
Lipp unterscheidet des weiteren "defektive" und "kulpative"([12]) Stigmata([13]). Weisen Personen oder Personengruppen Beschädigungen auf, wie z.B. physische Behinderungen, fehlende Gliedmaßen u.a., also unmittelbar evidente Andersartigkeiten oder soziale Mängel wie Armut, fehlende Bildung, Ohnmacht u.a., stellen diese Differenzen zur Normalität "Defekte" dar. Folglich wird das "Anders sein" durch "defektive" Stigmen identifiziert. Zudem bedeuten Stigmata für Lipp eine Art von Schuldzuweisung, da sie im Sinne eines Unterlegenheits- (eines Buß- und Schuldverhältnisses), gesellschaftlich ihren Trägern zugewiesen, nicht nur den faktischen Sachverhalt eines Defektes aufzeigen, sondern weil sie auch: "(...) verantwortlich für sie sind und für sie im Debet stehen: daß Stigmatisierte also, eben weil sie Stigmata tragen, offenbar zu recht gebrandmarkt sind und ihre Differenz zur Normalität, jetzt im Sinne gesellschaftlicher Moral, faktisch büßen müssen. Stigmata dieser Art werden hier kulpativ genannt."([14]) Menschliches Verhalten ist so strukturiert, daß externe Ursachen moralisch gesellschaftlichem und persönlichem Handeln zugeschrieben werden. Stigmatisierungsprozesse sind ein Beispiel dafür, weil sie zuerst körperliche sowie soziale "Defekte" darlegen und danach werden sie einerseits zu gesellschaftlichen Zeichen, daß diese Mängel (selbst) verschuldet sind und andererseits zum Auslöser die Betroffenen moralisch zu verurteilen, sie zu ächten und zu unterdrücken.([15]) Diese Differenzierung ist insbesondere im Kontext des Selbststigmatisierungskonzeptes zu betrachten (s.1.6.).
1.4. In-group und out-group Orientierungen
In dieser Untertteilung, die die Bezogenheit der Person betrifft, drückt die in-group-Orientierung ein besonders starkes Zugehörigkeitsgefühl von "Gleichgesinnten" aus. Es konstituieren sich i.d.R. mehrere Individuen, meistens mit dem gleichem Stigma, die daher auch die gleichen Privationen erfahren. Andere Kategorien und Gruppen, zu denen die Person auch zählen würde, werden negiert und die eigentliche Zugehörigkeit der Person abgesprochen. Von dem Mitglied dieser "Vereinigung" wird Loyalität verlangt, wendet es sich ab, gilt es als "feige und ein Narr".([16]) Ein völlig distanzloses Aufgehen in der "in-group" kann, aus den daraus resultierenden Wahrnehmungsmängeln, zu krassen Vorurteilen gegen Fremdgruppen führen.([17])
Bei der out-group-Orientierung dagegen, wenden sich Stigmatisierte auch einer zweiten Gruppe zu, den "Normalen" also der Gesellschaft. Meistens stehen hierbei soziale Institutionen dahinter, welche versuchen die Betroffenen davon zu überzeugen, daß es der richtige Weg für sie wäre sich mit der Gesellschaft auseinander zusetzen. Z.B. wird eine psychiatrische Klinik versuchen einen geisteskranken Patienten so auf das "normale" Leben "da draußen" vorzubereiten, daß er irgendwann einmal ganz allein zurecht kommt und somit sein Stigma-Management selbst bewältigen kann.([18])
1.5. Der Begriff der Devianz
Um mehr Klarheit in diesen Kontext zu schaffen, ist es sinnvoll den Terminus "Devianz" näher zu betrachten. Während Stigma eher geeignet scheint, eine nützliche klassifikatorische Arbeit zu leisten, in der Form, daß eine spezifische Komponente in der Interaktion zwischen "Normalen" und "Andersartigen" sichtbar gemacht wird, kann man das von dem Begriff Devianz nicht ohne weiteres behaupten. Er wird hauptsächlich im Bereich der Kriminologie verwendet und bezeichnet, einfach ausgedrückt, verschiedene Arten von abweichendem Verhalten, in der Ausprägung eines Verstosses gegen die sozialen Normen. Seit Durkheim wissen wir allerdings auch, daß es ohne abweichendem Verhalten auch keine sozialen Normen geben würde (prekärer Charakter der Normstruktur des sozialen Verhaltens) und sie daher integrierender Bestandteil einer nicht-pathologischen Gesellschaft sind.([19]) Merton sieht Devianz außerdem, soziologisch betrachtet, als Symptom der Dissoziation zwischen kulturell oktroyierten Zielen und sozialstrukturierten Wegen zu ihrer Erreichung.([20]) Beiden gemeinsam, soziale Stigmata als Indikator und Ausdruck von Devianz im interaktionistischen Konzept, ist, daß sie symbolisch zugeschrieben also sozial "festgestellt" werden und somit Zeichen stringenter sozialer Definition sind.([21]) Goffman unterscheidet vier Kategorien von Devianz: "In-group-Abweichende, sozial Abweichende, Minoritätenmitglieder und Personen unterer Klassen", welche wahrscheinlich alle Mal gesellschaftliche Stigmatisierung erfahren haben.([22]) Es gibt allerdings kein Verhalten, daß grundsätzlich als abweichend gesehen wird.([23]) Alkoholkonsum kann (z.B.) als abweichendes Verhalten stigmatisiert werden, wenn es evident wird, daß ein Büro-Job darunter leidet. Trinkt indes ein Jugendlicher viel und regelmäßig, kann das in seiner peer-group ganz normal sein oder sogar auf Bewunderung stoßen.
1.5.1. Der Etikettierungsansatz
Ein paradigmatischer Ansatz in der Devianzforschung ist der "labeling approach" oder auch "Etikettierungs-, Definitions-, oder Stigmatisierungsansatz" genannt.([24]) Konträr zu den älteren ätiologischen Ansätzen, in denen abweichendes Verhalten, je nach fachwissenschaftlichem Zugriff, auf abnorme Persönlichkeitsstrukturen, defizitäre Sozialisationsprozesse oder subkulturelle Prägungen zurückgeführt wird([25]), ist bei dem labeling -Ansatz abweichendes Verhalten als gegebene, objektive Tatsache und als Verletzung feststehender (sozialer) Normen zu sehen. Während der Stigmatisierungsentwurf von Goffman eher ein rollentheoretisches, allgemeines Konzept darstellt, hat Becker im labeling approach Stigmatisierung devianztheoretisch, im engeren Sinne, erklärt.([26]) Becker unterscheidet in seinen Ausführungen vier theoretische Typen abweichenden Verhaltens: "Konformes Verhalten", welches eigentlich eine "nicht-Abweichung" darstellt, da es den Regeln (sozialen Normen) entspricht und demzufolge nicht als abweichendes Verhalten empfunden wird.([27]) "Rein abweichendes Verhalten", verstößt hierwider gegen die Regeln und wird weiterhin auch als abweichendes Verhalten empfunden.([28]) Das "fälschlich beschuldigte abweichende Verhalten", trifft wohl hauptsächlich auf den Bereich der Kriminologie zu, wenn es z.B. zu einem "Justizirrtum" ("bum rap") kommt.([29]) In dieser Kategorie wird jedoch besonders deutlich, daß der Charakter des devianten Verhaltens ein Problem derer ist: "(...) die ein Verhalten als 'abweichendes' abstempeln, und dann erst ein Problem der sich 'abweichend' Verhaltenden selbst."([30]) Die "heimliche VerhaltensabWeichung", ist anderen nicht bekannt.([31]) Sie wird im folgendem Kapitel näher dargestellt.
1.5.2. Heimliche Devianz
Zu der nachfolgenden Beantwortung der Frage, ob Sadomasochismus stigmatisiert wird, ist der Begriff der heimlichen Devianz explizit entscheidend. Mit heimlicher Abweichung wird ein Verhalten oder eine Eigenschaft gekennzeichnet, die nur dem jeweiligem Individuum bekannt ist.([32]) Für die Geheimhaltung abweichenden Verhaltens gibt es zwei Gründe. Zum einen wird dieser "geheime" Sachverhalt vom Individuum selbst als abweichend empfunden und nach seiner Meinung auch von anderen sobald sie davon erfahren würden. Judith Lorber weist darauf hin, daß teilweise eine Art Selbstdefinition des Akteurs stattfindet und damit seine Handlungen als deviant bekennt aber dennoch andere daran hindern kann es herauszufinden.([33]) Zum zweiten wird das deviante Verhalten von der betroffenen Person selbst zwar nicht als deviant bewertet, aber seiner Meinung nach trotzdem von anderen, wenn sie davon Kenntnis bekämen. Hier handelt es sich, wie in Kapitel 1.3.1., ausgeführt, um die diskreditierbaren Personen. Ein Beispiel, für beide Ausprägungen, wäre der heimliche Konsum von z.B. Pornographie oder Drogen.([34]) Geht man von Weberschen Handlungskategorien aus (s.fn5), welche auch mit der Unterscheidung abweichenden Verhaltens von Merton korrespondieren,([35]) kann man zum einen das heimliche, persönlich interessierte, zweckrationale abweichende Verhalten und zum anderen das heimliche, persönlich interessierte, affektuelle abweichende Verhalten unterscheiden.([36]) Danach fallen Eigentumskriminalität unter erst genannte und (stigmatisierter) Drogenkonsum unter zweit genannte Differenzierung. Bei dem Terminus der heimlichen Devianz ergeben sich allerdings einige Schwierigkeiten. Es ist z.B. schwer festzustellen, ob es sich wirklich um heimliche Devianz oder um fälschlich beschuldigtes abweichendes Verhalten handelt. Ein weiteres Problem ist eher tautologischer Natur: Ist abweichendes Verhalten geheim, also niemanden bekannt, dann kann es auch nicht als solches, aufgrund der Definition, bezeichnet werden. Es fehlt die soziale Reaktion, welche ein Verhalten erst zu einem devianten macht.([37]) Dieses Problem könnte man lösen indem man, unabhängig ob wirklich ein Regelverstoß stattfindet oder nicht, eine subjektive Komponente, zusätzlich zu der sozialen Reaktion, in das Erklärungsmodell abweichenden Verhaltens von Becker mit einbezieht.([38])
1.5.3. Primäre und sekundäre Devianz im labeling-Ansatz
Eine wichtige Unterscheidung im Labeling-Ansatz, von Lemert herausgearbeitet, ist die von primärer und sekundärer Devianz. Sie ist auf die soziale Reaktion, welche auf eine deviante Person gerichtet ist, bezogen. Bei der primären Devianz wird ein Verhalten von den Interaktionspartnern (noch) nicht als Abweichung gesehen, sondern als "kleiner Fehltritt", "sonderbares Benehmen" oder ähnliches aufgefaßt. Es stellt zwar eine Normübertretung dar, wird aber nicht stigmatisiert, da dieses Verhalten noch der sozial akzeptierten Rolle zugeordnet werden kann.([39]) Dieses sozusagen "Ausnahmeverhalten" ist "polygenetic". Die Ursachen können psychologischen, physiologischen Ursprungs sein aber auch soziale und kulturelle Determinanten spielen eine Rolle. Die Faktoren können sowohl zufällig als auch in bestimmten Kombinationen auftreten.([40]) Wiederholt sich ein deviantes Verhalten, hat es eine starke Evidenz, kann es zu einer stärkeren sozialen Reaktion Seitens der anderen Interaktionspartner kommen, womit der Weg zur sekundären Devianz beschritten wäre. Das häufigere abweichende Verhalten kann also zu einer Etikettierung der betroffenen Person führen, welche wiederum anfängt diesen Prozeß in seine (persönliche) Identität zu internalisieren. Die Rollenerwartungen an den Devianten verändern sich. Andere Individuen verhalten sich wie einem Devianten gegenüber und zwingen ihn damit sich mit sozialen Situation auseinanderzusetzen.([41]) "When a person begins to employ his deviant behavior or a role based upon it as a means of defense, attack, or adjustment to the overt and covert problems created by the consequent societal reaction to him, his deviation is secondary."([42]) Das Überschreiten der Schwelle zur sozialen Reaktion, "Toleranzquotient"([43]), ist der entscheidende Moment zwischen primärer und sekundärer Devianz. Die Konstituierung von sekundärer Devianz ist somit eine Wechselwirkung zwischen sozialer Reaktion und der psycho-sozialen Reaktion des Betroffenen. Diese Interaktionsfolge wird von Lemert als ein allmählicher Prozeß der Eskalation bezeichnet, indem die gesellschaftliche Stigmatisierung des Individuums (in Form des Benennens, Etikettierens oder Stereotypisierens)([44]) das Erreichen des Toleranzquotienten symbolisiert. Das heißt insgesamt betrachtet: Primäre Devianz wird nicht stigmatisiert. Der Weg von der primären Devianz zur sekundären Devinaz ist allerdings nicht zwingend. Sekundäre Devianz wird gesellschaftlich stigmatisiert wobei Stigmatisierung den Überbegriff von Etikettieren etc. darstellt.
1.5.4. Das Stufenmodell als "Karriere-Modell"
Um einen weiteren Weg der Devianz zu beschreiben, ist die abweichende Laufbahn in Form eines "Stufenmodells" von Becker geeignet.([45]) Differenzen zum "Eskalationsweg" Lemert's sind z.B. in der stärkeren Betonung der sozialen Reaktion und dem dargestellten Weg in die Subkultur zu sehen. Für diesen Kontext und der evtl. Stigmatisierung der S/M-Szene, sind beide Modelle von Nutzen. Das "Karriere-Modell" Becker's ist in vier Schritte unterteilt: Im ersten Schritt findet ein Verstoß gegen eine Regel (Norm) in Form einer nonkonformen Handlung statt, die sowohl gewollt, als auch ungewollt stattfinden kann.([46]) Als mögliche Ursachen dieses abweichenden Verhaltens, konstatiert Becker kurz psychologische und soziologische Faktoren.([47]) Danach folgt im zweiten Schritt eine mehr oder weniger regelmäßige Wiederholung des abweichenden Verhaltens, welches dem Individuum ein vorher nicht geahntes Vergnügen bereitet.([48]) Weiterhin findet eine Art von Lernprozeß statt: "(...) das Individuum 'lernt,' an einer Subkultur zu partizipieren, die um das jeweilige abweichende Verhalten gruppiert ist."([49])
Im dritten Schritt erfährt die deviante Person eine Stigmatisierung, hier in der Form einer Verhaftung. Das hängt allerdings davon ab, ob die anderen Personen die verletzte Regel durchsetzen oder nicht. Überträgt man diesen Schritt auf andere Bereiche, die nicht in den Kriminologischen fallen, würde das eine soziale Stigmatisierung bedeuten, welche eine drastische Veränderung in der "öffentlichen Identität" zur Konsequenz hat.([50]) Sie ist gleichzusetzen mit der Diskrepanz zwischen virtualer und aktualer sozialer Identität bei Goffman. Der letzte und vierte Schritt in dieser Laufbahn der Devianten: "(...) ist der Eintritt in eine organisierte Gruppe von Abweichenden. Die abweichende Subkultur bildet sich aus dem Gefühl des gemeinsamen Schicksals, dem 'Zwang' sich mit den gleichen Problemen auseinanderzusetzen. Die Mitgliedschaft in solch einer sub verfestigt die abweichende Identität."([51])
[...]
[1] Vgl. z.B., Goffman, (1967) S.9
[2] Vgl. Lipp, (1975) S.31
[3] Goffman, (1967) S.7
[4] Neben dem wertrationalen und traditionalem Handeln, aus der Typologie von Max Weber, unterscheidet er obendrein zweckrationales und affektuelles Handeln. Die Beiden zuletzt genannten, sind für den Kontext dieser Arbeit wichtig. Vgl. Weber, (1964) S.18
[5] Vgl. Goffman, (1967) S.9ff
[6] Vgl. Scheff, (1973) S.68
[7] Vgl. Goffman, (1967) S.12
[8] Vgl. Lipp, (1975) S.32
[9] Vgl. Goffman, (1967) S.12f
[10] Die Kategorie "Normale" verwendet Goffman als auf Stigmatisierte bezogenen Komplementärbegriff für die Personen, welche von den jeweils in Frage stehenden Erwartungen nicht negativ abweichen. (Vgl. ebd. S.13). Das der Terminus generell wertend und diskriminierend ist, steht hier nicht zur Debatte.
[11] Vgl. ebd. S.56f
[12] Kulpa stammt vom alt-Lateinischen Terminus Culpa (Schuld, Verschulden, Fahrlässigkeit, Sünde) ab.
[13] Vgl. Lipp, (1975) S.31f
[14] ebd. S.32
[15] Vgl. ebd. S.33
[16] Vgl. Goffman, (1967) S.140f
[17] Vgl. Dreitzel, (1972) S.316
[18] Vgl. Goffman, (1967) S.143ff
[19] Vgl. hierzu z.B. auch Cohen, (1968) S.19ff
[20] Vgl. Merton, (1975) S.250 (Merton hat das Anomiekonzept von Emil Durkheim aufgegriffen und es deutlich vorangetrieben.)
[21] Vgl. Lipp, (1975) S.26
[22] Vgl. Goffman (1967) S.178f
[23] Vgl. z.B. Becker, (1973) S.11f, Matza, (1973) S.18
[24] Die Entwicklung des Labeling-Ansatzes geht weitgehend auf Edwin M. Lemert zurück und wurde dann von H. S. Becker weiterentwickelt. Aber auch K.T. Erikson und J.I. Kitsuse haben den Etikettierungsansatz weitergeführt. Gemeinsam ist der Weiterentwicklung, daß die Autoren unter dem Terminus Devianz nur das mit einbezogen haben, was von Lemert unter sekundärer Devianz (s.1.5.3.) verstanden wird: "Doch sind wir weniger an dem Menschen interessiert, der ein einziges Mal eine abweichende Handlung begeht,(...)" Becker, (1973), S.27
[25] Vgl. Brusten u.a., (1975) S.1
[26] Vgl. Lipp, (1975) S.26
[27] Vgl. Becker, (1973) S.17
[28] Diese Klassifizierung ist unter dem Blickwinkel eines gegebenen Regelkataloges zu sehen. Das Verhalten der gleichen Person kann bei einigen Handlungen konform, bei anderen abweichend sein. Vgl. ebd. Anmerkung
[29] Vgl. ebd. S.18
[30] Vgl. Dreitzel, (1972) S.70
[31] Vgl. Becker, (1973) S.18
[32] Vgl. Becker, (1973) S. 18., Lemert, (1951) S.51
[33] Vgl. Becker, (1973) S.168
[34] Vgl. Dreitzel, (1972) S.310
[35] vgl. Merton, (1976) S.30
[36] Zu den Komponenten affektuellen Handelns gehören der sexuelle Trieb, Aggressionen, Angst, Wut, Hass u.a. Sie stehen i.d.R. unter (labiler) "Selbstkontrolle"
[37] Das hat auch Becker erkannt, in einer nachträglichen Betrachtung seiner Studie. Vgl. Becker, (1973) S.168
[38] Vgl. Ahrens, (1975) S.33
[39] Vgl. Lemert, (1951) S.75
[40] Vgl. ebd., (1972) S.62
[41] Vgl. ebd., (1951) S.76
[42] ebd. (Im Original kursiv)
[43] Vgl. ebd., S.57f und S.77
[44] Vgl. ebd., S.76f
[45] Das Modell ist zwar auf die von Becker untersuchten Subkulturen der "Marihuana-Benutzer" und der "Tanzmusiker" bezogen, dennoch läßt es sich, Becker's Meinung nach, verallgemeinern: "Das Modell kann leicht umgeformt und dann zum Studium abweichender Laufbahnen verwendet werden." Becker, (1973) S.22
[46] Vgl. ebd. S.22f
[47] Vgl. ebd.
[48] Der letzte Teil dieser Aussage ist wohl spezifisch für die von Becker untersuchten Subkulturen (siehe fn 46) aber läßt sich nicht ohne weiteres verallgemeinern.
[49] Becker, (1973) S.27
[50] ebd. S.28
[51] ebd. S.34
- Quote paper
- Diplom-Sozialwirt Wolfhardt Stöwsandt (Author), 1994, Gesellschaftliche Stigmatisierung und die Entstehung von Subkulturen - Dargestellt am Beispiel von S/M, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/69575
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