Ziel dieser Arbeit ist es, eine mögliche Einflussnahme auf die Gestaltung oneiroider Erlebnisformen durch physiotherapeutische Behandlung bei intensivpflichtigen schwer brandverletzten Patienten aufzuzeigen.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Theoretischer Teil
2.1 Begriffsbestimmungen
2.2 Einteilung von Verbrennungen
2.3 Intensivtherapie bei Schwerstbrandverletzten
2.4 Das „künstliche Koma“
2.4.1 Analgosedierung
2.4.2 Verwendung von Ketamin bei langfristiger Analgosedierung
2.5 Bewusstsein und Wahrnehmung innerhalb der Analgosedierung
2.5.1 Bewusstsein und Bewusstlosigkeit
2.5.2 Hinweise auf Bewusstsein durch akustisch evozierte Potentiale
2.5.3 Beeinflussung der akustischen Wahrnehmung
2.6 Die oneiroide Erlebnisform
2.6.1 Entstehung von Oneiroiden
2.6.2 Inhalte der Traumwelten
2.7 Physiotherapeutische Interventionen bei brandverletzten Intensivpatienten
2.8 Untersuchungsleitende Fragestellung
3. Praktischer Teil - Methode der Datenerhebung
3.1 Problemzentriertes Interview
3.2 Auswahl der Interviewpartnerin
3.3 Entwicklung des Leitfadens
3.4 Durchführung des Interviews
4. Auswertung
4.1 Interviewtranskription
4.2 Methode und Vorgehensweise der Auswertung
4.3 Themenfelder
5. Ergebnisdarstellung
5.1 Wahrnehmungen
5.2 Traumwelten
5.3 Einbezug der körperlichen Situation in die Traumwelten
5.4 Prozess des Bewusstwerdens
5.5 Intensivstation allgemein
6. Zusammenfassung und Diskussion
7. Fazit und Ausblick
Literaturverzeichnis
Anhang
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1: Tiefeneinteilung thermischer Hautschäden (Krause-Wloch, 2004, S.23), modifiziert 7
Tabelle 2: Themenfelder und grundlegende Fragen zur Entwicklung des Leitfadens 30
Tabelle 3: eigene Darstellung des Reduktionsprozesses gemäß der qua litativen Inhaltsanalyse 33
Tabelle 4: Auszug aus der Auswertungstabelle 34
Tabelle 5: Themenfelder mit den dazugehörigen Kategorien 35
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Neuner Regel nach Wallace aus Steinbreithner & Bergmann, 1984, S.630 8
Abbildung 2: Aufsteigende Hörbahn und Akustisch Evozierte Potentiale 15
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
1. Einleitung
Täglich werden zahlreiche Patienten1 aufgrund von lebensbedrohlichen Verletzun- gen bzw. Erkrankungen intensivmedizinisch versorgt. Durch die Schwere der Er- krankung und eine evtl. maschinelle Beatmung kann es notwendig sein, die betref- fenden Patienten zu analgosedieren (Wengert, Becker, Eckart & Zeravik, 1989, S.10). Im Sprachgebrauch ist dabei die Rede von einem „künstlichen Koma“.
Obwohl zu den Aufgaben der Analgosedierung die Ausschaltung der bewussten Wahrnehmung zählt, gibt es immer wieder Erlebnisberichte von Patienten aus der Zeit des „Komas“ (Lippert-Grüner, 2002, S.25).
Schwender & Daunderer (2003, S.35) konnten in mehreren Studien nachweisen, dass unter bestimmten Anästhetika akustische Informationen aufgenommen und deren kortikale Verarbeitung nur unzureichend unterdrückt wird. Daraus lässt sich schließen, dass trotz Analgosedierung akustische Wahrnehmungen in einem gewis- sen Umfang möglich sind.
Zu den genannten Erfahrungsberichten gehören auch Erzählungen von oneiroiden Erlebnissen. Dabei handelt es sich um einen Zustand zwischen Traum, Bewusstlosigkeit und Wachheit, der meistens von albtraumartigen Szenen geprägt ist (Kammerer, 2006, S.171). Die Patienten sind dabei teilweise in der Lage äußere Reize wahrzunehmen und diese in die Traumwelten mit einzubauen.
Im Anschluss daran stellen sich die Fragen, wie äußere Reize, und somit auch Menschen, die mit den bewusstlosen Patienten in Kontakt kommen, auf deren Erleben einwirken, und in wieweit besteht die Möglichkeit, dass die thematische Gestaltung oneiroider Erlebnisse dadurch beeinflusst werden kann.
Anlass zur Bearbeitung dieses Themas, war der Bericht einer Kollegin, deren anal- gosedierter Patient während der Atemtherapie mit Erhöhung des Blutdrucks und des Pulses reagierte. Daraus stellte ich mir erstmals die Frage, in wieweit sedierte Pati- enten physiotherapeutische Interventionen wahrnehmen können. In der Literatur lassen sich nur Angaben dazu finden, wie man mit bewusstlosen Patienten umgehen sollte, nämlich so, als wären sie wach. Als Begründung dafür nennt Lippert-Grüner (2002, S.27) die Unwissenheit darüber, was sedierte Patienten tatsächlich wahrnehmen können. Man findet jedoch keine Angaben über eine mögliche Verbindung zwischen therapeutischen Maßnahmen und der Wahrnehmungen des Patienten.
Nach der ersten Recherche richtete sich meine Aufmerksamkeit immer mehr auf oneiroide Erlebnisformen, da es durch diese Berichte in gewisser Weise möglich schien, Erleben und Empfindungen von Menschen im „künstlichen Koma“ darzustellen. Dadurch, dass die geschilderten Erlebnisse teilweise sehr schockierend sind, entstand die Forschungsfrage, ob physiotherapeutische Maßnahmen Einfluss auf die Entwicklung der oneiroiden Erlebnisformen haben können.
Der Schwerpunkt dieser Arbeit liegt auf Schwerstbrandverletzte, da zum einen Oneiroide bei dieser Erkrankung gehäuft vorkommen (Kammerer, 2006, S.173) und ich zum anderen ein persönliches Interesse daran habe. Der Begriff „schwerstbrandverletzt“ schließt eine intensivmedizinische Behandlung sowie Beatmung und Analgosedierung der Patienten mit ein.
Die Wahl der physiotherapeutischen Intervention fiel auf die Kontrakturprophylaxe, da durch diese Maßnahme viele taktile Reize gesetzt werden und sie zusätzlich bei Brandverletzten eine gesonderte Rolle spielt.
Ziel dieser Arbeit ist es, eine mögliche Einflussnahme auf die Gestaltung oneiroider Erlebnisformen durch physiotherapeutische Behandlung bei intensivpflichtigen schwer brandverletzten Patienten aufzuzeigen.
Zu diesem Zweck wurde neben einer umfassenden Literaturbearbeitung ein Interview mit einer ehemaligen schwer brandverletzten Patientin zu ihren Erlebnissen während der Analgosedierung geführt.
Demnach besteht die Arbeit aus einem theoretischen und einem praktischen Teil.
Im nachfolgenden theoretischen Teil werden alle notwendigen Grundlagen be- schrieben, die zur Beantwortung der Forschungsfrage wichtig sind. Dazu gehören die Inhalte Verbrennungen, Intensivtherapie, Analgosedierung, Bewusstsein und oneiroide Erlebnisformen. Im letzten Kapitel des theoretischen Teils wird eine Zu- sammenfassung gegeben, die zur Untersuchungsleitenden Fragestellung führen wird.
Der praktische Teil startet mit der Beschreibung der Vorgehensweise der Datenerhebung und der Datenauswertung. Im Anschluss daran werden die Ergebnisse dargestellt, nachfolgend zusammengefasst und diskutiert.
Abschließend wird ein Fazit und ein Ausblick gegeben werden.
2. Theoretischer Teil
In diesem Kapitel sollen alle theoretischen Grundlagen angesprochen werden, die zur Beantwortung der Forschungsfrage dienen. Darunter fallen die Gebiete Intensivstation, Verbrennungen, oneiroide Erlebnisform und physiotherapeutische Interventionen. Zum besseren Verständnis werden zu Beginn die Begriffe im Zusammenhang mit Intensivmedizin erläutert.
2.1 Begriffsbestimmungen
Da in der Literatur zum Thema Intensivmedizin die Terminologie teilweise voneinander abweicht (Steinbreithner & Bergmann, 1984, S.), werden die wichtigsten Wortbedeutungen kurz erklärt.
Intensivmedizin
Der Begriff der Intensivmedizin wird für diejenige medizinische Versorgung verwendet, die weit über den gewöhnlichen Umfang medizinisch-therapeutischer Maßnahmen hinausgeht (Steinbreithner & Bergmann, 1984, S.2). Die Intensivmedizin findet bei schwerstkranken Patienten auf einer Intensivstation oder als Erstversorgung im Notarztwagen statt und dient „dem Zwecke der Aufrechterhaltung und Stabilisierung der wieder gewonnenen Lebensfunktionen“ (ebd.). Diese Definition von Intensivmedizin beinhaltet „Intensivbeobachtung“ und „Intensivtherapie“, wobei hier nur auf die Bedeutung des letzteren Wortes eingegangen werden soll.
Intensivtherapie und Intensivpatient
Intensivpatienten sind meist durch verschiedene Ursachen so massiv erkrankt, dass sie lebenswichtige Körperfunktionen nicht aus eigener Kraft aufrechterhalten können. Diese Patienten benötigen daher „über einen längeren Zeitraum eine[r] intensive[n] Beobachtung bzw. Intensivtherapie“ (ebd., S.3).
Zur Intensivtherapie zählen alle medizinischen Maßnahmen, die ungenügende bzw. versagende Organ- und Vitalfunktionen apparativ oder medikamentös unterstützen, aufrechterhalten oder wiederherstellen (ebd.).
Verbrennungen stellen eine besonders schwere Art von Verletzung bzw. Erkrankung dar. Die aus der Verbrennung resultierenden Folgen für den Organismus sind viel- fältig und erfordern daher eine spezielle intensive Versorgung (Berger, 1984, S.629). Zum besseren Verständnis wird im nächsten Kapitel dargestellt, wie Verbrennungen eingeteilt werden.
2.2 Einteilung von Verbrennungen
Verbrennungen werden nach ihrem flächigen Ausmaß und nach der Tiefe der Verbrennung eingeteilt (Krause-Wloch, 2004, S.29). Bei der Tiefeneinteilung unter- scheidet man seit Ende der 70er Jahre anstatt vier Grade nur noch drei, unterteilt jedoch den zweiten Grad in zwei Abstufungen, da sich Unterschiede in der Narben- bildung zeigen (ebd., S.22).
Tabelle 1: Tiefeneinteilung thermischer Hautschäden (Krause-Wloch, 2004, S. 23), modifiziert
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Laut Krause-Wloch (2004, S.52) sind Verbrennungen zweiten Grades (vollständig dermal) und dritten Grades immer operativ zu behandeln. Die Wundflächen können vorübergehend mit Fremdhaut gedeckt, müssen aber langfristig mit Eigenhauttransplantaten behandelt werden (vgl. Kapitel 2.3).
Die Bestimmung der verbrannten Fläche erfolgt durch die sogenannte „Neuner Regel“, die 1950 ein engli- scher Arzt namens Wallace aufstellte (Krause-Wloch, 2004, S.24). Nach dieser Regel werden bei Erwachsenen die unterschiedlichen Körperareale in verschiedene Prozentzahlen eingeteilt. Je nach Ausdehnung werden die betroffenen Areale zusammenaddiert und man erhält die Fläche der
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Neuner Regel nach Wallace aus Steinbreithner & Bergmann, 1984, S.630
Verbrennung bezogen Körperoberfläche in 100%. auf die gesamte Bei kindlichen Verbrennungsopfern wird die „Handflächenregel“ angewandt, wobei „die Handfläche des Patienten 1% der Körperoberfläche entspricht“ (ebd.).
Die Internationale Gesellschaft für Verbrennungsbehandlung (IBA) empfiehlt, Pati- enten mit zweitgradigen Verbrennungen von mehr als 20% sowie Patienten mit drittgradigen Verbrennungen von mehr als 10% der Körperoberfläche intensivmedi- zinisch zu versorgen. Weitere Indikationen zur Intensivtherapie sind Verbrennungen der oberen Atemwege, Trachea und evtl. Lunge sowie Verletzungen durch andere Ursachen, die ebenfalls zu einem Schockgeschehen führen können (Steinbreithner & Bergmann, 1984, S. 629).
Wie sich die Intensivtherapie bei Schwerstbrandverletzten genau gestaltet, wird im Anschluss beschrieben.
2.3 Intensivtherapie bei Schwerstbrandverletzten
Von „Schwerstbrandverletzten“ spricht man bei Verbrennungen 2. und 3. Grades von mehr als 20% der Körperoberfläche. Erfährt eine Person Verbrennungen, die mehr als 15% ihrer Körperoberfläche einnehmen, leidet die Person an der Verbren- nungskrankheit (Pschyrembel, 1997, S.1657). Dabei kommt es neben Verbrennun- gen der Haut zu einem hypovolämischen Schock durch enormen Flüssigkeitsverlust, dem sog. Verbrennungsschock. Weitere Komponenten der Verbrennungskrankheit können sein: Schädigung der Lunge bis zum ARDS, Nierenversagen, Infektionsge- fahr durch fehlende Schutzfunktion der Haut, massive Ödembildung, Katabolie durch enormen Energieverbrauch und Reparationsvorgänge, sowie ein reflektorischer Ileus (Pschyrembel, 1997, S.1657; Berger, 1984, S.629).
Häufig müssen Schwerstverbrannte aufgrund von Verletzungen der Atemwege, Schwellung der Luftröhre, Inhalationstraumata oder des allgemein sehr kritischen körperlichen Zustandes längere Zeit intubiert und beatmet werden (Berger, 1984, S.632; Krause-Wloch, 2004, S.28). Die Beatmung stellt ein zusätzliches Risiko für die Patienten dar, da der Tubus und die durch die Intubation vermehrte Sekretansammlung in den Atemwegen eine weitere Eintrittspforte und Nährboden für Erreger liefern (Berger, 1984, S.632). Die Intubation erfordert außerdem eine spezielle Medikation, auf die in Kapitel 2.4 näher eingegangen wird.
Um die Gefahr der Infektionen durch die Hautverletzungen einzudämmen, wird eine sog. „Lokalbehandlung“ durchgeführt (Berger, 1984, S.634). Darunter versteht man die frühzeitige operative Abtragung der verbrannten Hautareale. Diese werden dann entweder mit Eigen- oder mit Fremdhaut, z.B. Schweinehaut in meist mehreren Operationsvorgängen durch verschiedenste Verfahren gedeckt. Die Transplantate sind sehr sensibel und laufen ständig Gefahr bei unsachgemäßem Umgang nicht richtig anzuwachsen (Krause-Wloch, 2004, S.52).
Aus der Summe der Besonderheiten, die Verbrennungen mit sich bringen, wird deutlich, dass eine optimale intensivmedizinische Versorgung von Verbrennungspa- tienten nur in eigens dafür vorgesehenen Einrichtungen geleistet werden kann (Ber- ger, 1984, S.629).
Um die Patienten durch die Abläufe auf der Intensivstation psychisch nicht zu gefährden, ist das Ziel nicht nur, ihnen die Schmerzen zu nehmen, sondern auch die bewusste Wahrnehmung um ein Vielfaches zu reduzieren. Zu diesem Zweck wird der Patient in ein „künstliches Koma“ versetzt bzw. analgosediert (Emrich, Klose, Stehen & Büttner, 1989, S.26).
Was man unter den Begriffen Analgosedierung und „künstliches Koma“ versteht, zeigt sich im nächsten Kapitel.
2.4 Das „künstliche Koma“
Aufgrund des meist bedrohlichen körperlichen Zustandes und der Notwendigkeit einer langfristigen maschinengestützten Beatmung ist eine spezielle Langzeitanästhesie in Form einer Analgosedierung indiziert (Wengert, Becker, Eckart & Zeravik, 1989, S.10). Im allgemeinen Sprachgebrauch spricht man dabei häufig von einem „künstlichen Koma“, um z.B. Angehörigen den veränderten Bewusstseinszustand des Patienten nahe zubringen. Allerdings ist der Grad des Bewusstseins häufig nicht so tief wie bei einem nicht medikamentös induziertem Koma. Es besteht daher die Möglichkeit der Wahrnehmung (vgl. Kapitel 2.5).
Als nächstes wird beschrieben, welchen Anforderungen eine Analgosedierung gerecht werden muss.
2.4.1 Analgosedierung
Der Begriff „Analgosedierung“ setzt sich aus den Wörtern „Analgesie“ und „Sedie- rung“ zusammen. Analgesie stammt aus dem Griechischen und steht für Ausschal- ten von Schmerzen. „an“ ist die griechische Vorsilbe für „ohne“, „algos“ bedeutet Schmerz. „Sedierung“ leitet sich von dem lateinischen Verb „sedare“ ab, was über- setzt „beruhigen“ heißt. Ein Sedativum ist demnach ein Beruhigungsmittel, das unter anderem in der Intensivmedizin zur Unterbrechung der bewussten Wahrnehmung genutzt wird (Schwender & Daunderer, 2003, S.33f.). Durch die Analgosedierung wird demnach die Schmerzwahrnehmung unterbunden und das Bewusstsein des Patienten ausgeschaltet. Bei Schwerstbrandverletzten muss allerdings beachtet werden, dass deren Schmerzwahrnehmung von chirurgischen Patienten anderer Disziplinen abweicht (Emrich et al., 1989, S.28). Sie benötigen daher oft eine stärke- re Analgesie.
Einen Patienten optimal über einen längeren Zeitraum zu analgosedieren bedeutet für den behandelnden Anästhesisten eine große Herausforderung, da bestimmte Bedingungen erfüllt werden müssen: Die Medikation sollte neben der Schmerzfrei- heit und Bewusstlosigkeit die Vitalfunktionen der Organe gewährleisten, so dass die „Eigenregulationsmöglichkeiten des Organismus ... wiederhergestellt und gefördert werden“ (Wengert et al., 1989, S.10). Die Anwendung einer Allgemeinanästhesie in der langfristigen Intensivtherapie hätte für den Organismus schwerwiegende Folgen, da zentrale Regulationsmechanismen dauerhaft zusammenbrechen würden und so die gewünschte Eigenregulation nicht möglich wäre (Pfenninger, Bruckmooser, Ring-Hägele & Schmitz, 1989, S.1). Emrich et al. (1989, S.26) beschreiben die Auf- gabe der langfristigen Narkose folgendermaßen:
Ziel einer Analgosedierung in der Intensivbehandlung ist, den Patienten von dem Umgebungsstreß [sic] der Intensivstation psychosituativ abzuschirmen, ihm unangenehme Erinnerungen zu nehmen und den Schmerz zu dämpfen, den er permanent und besonders bei notwendigen Manipulationen und Phy- siotherapie empfindet.
Eine Möglichkeit der Analgosedierung bietet die Medikamentenkombination aus Ketamin und einem Benzodiazepin2, was allerdings aufgrund bestimmter Nebenwirkungen durch das Ketamin für Diskussionen sorgt. Gerade in punkto psychosituativer Abschirmung kann Ketamin seiner Aufgabe nicht gerecht werden, was weitere Probleme nach sich zieht (vgl. Kapitel 2.4.2).
Dieses Anästhetikum wird im nächsten Abschnitt näher erläutert werden, da Ketamin bei der Interviewpartnerin zur Analgosedierung angewendet wurde und es in der weiteren Bearbeitung der Fragestellung von Bedeutung sein wird.
2.4.2 Verwendung von Ketamin bei langfristiger Analgosedierung
Wie schon im vorherigen Kapitel erwähnt, hat eine Langzeitanästhesie unter ande- rem die Aufgabe dem Patienten die Schmerzen zu nehmen, ihn von der Umwelt psychisch abzuschirmen und die Tolerierung der Beatmung zu gewährleisten, ohne dabei sämtliche Körperfunktionen auszuschalten. Das übergeordnete Ziel der Anal- gosedierung ist der erweckbare, schmerzfreie Patient (Wengert et al., 1989, S. 23).
Ketamin erfüllt viele dieser Ziele, indem es weder die Atmung des Patienten noch das Kreislaufsystem nachteilig beeinflusst (Emrich et al., S. 28f.). In einer Studie von Wengert et al. (1989, S. 23) war die Entwöhnung vom Respirator bei polytraumati- sierten Patienten unter Ketamingabe im Vergleich zu analgosedierten Patienten mit dem Anästhetikum Piritramid früher möglich. Auch wiesen die Patienten dieser Un- tersuchung eine stärkere Wachheit und Kooperationsfähigkeit als die Piritramid- Patientengruppe auf, was wiederum enorme Vorteile für die Pflege und Therapie des Patienten bedeutete.
Die problematische Seite des Ketamins besteht darin, dass es psychomimetische Nebenwirkungen in Form von Halluzinationen (vgl. Kapitel 2.6) sowie quälende, traumhafte Angst- und Unruhezuständen hervorruft (Emrich et al., 1989, S. 29). Als mögliche Ursache wird die „dissoziative“ anästhetische Wirkung des Ketamins vermutet (Klug, 1991, S.21). Diese liegt zum einen in der „Stimulation des limbischen Systems“ und zum anderen in der „teilweise hemmende[n] und teils erregende[n] Wirkung von Ketamin im Thalamus“ (ebd.).
Wird Ketamin als Monosubstanz verwendet, also ohne Kombination mit einem Benzodiazepin, kann es in bis zu 80% der Fälle zu den genannten unangenehmen Erlebnissen kommen (ebd.), allerdings variieren die Angaben hierzu in der Literatur deutlich (ebd., S.65). Die Häufigkeit dieser Nebenwirkung wird zwar durch die Gabe eines Benzodiazepins nachweislich gesenkt, kann aber nicht mit absoluter Sicherheit unterbunden werden (Wengert et al., 1989, S. 10).
Dennoch scheinen die positiven Eigenschaften des Ketamins zu überwiegen, so dass die erheblichen Nebenwirkungen in Kauf genommen werden und es in Kombi- nation mit Benzodiazepinen weiterhin Anwendung findet (Emrich et al., 1989; Wen- gert et al., 1989).
Ob es trotz einer Analgosedierung zu Formen des Bewusstseins und zu Wahrnehmung kommen kann, wird im nächsten Kapitel beschrieben.
2.5 Bewusstsein und Wahrnehmung innerhalb der Analgosedie- rung
Es gibt immer wieder Berichte von Intensivpatienten, die sich nach der Sedierung an bestimmte Erlebnisse während dieser Zeit erinnern können, sowie Schilderungen von intraoperativer Wachheit (Schwender & Daunderer, 2001; Schwender, Kunze- Kronawitter, Dietrich et al., 1998). Anhand von neurophysiologischen Diagnostikver- fahren konnte nachgewiesen werden, dass von sedierten Patienten bestimmte Um- weltreize aufgenommen und teilweise auch verarbeitet werden können (vgl. Kapitel 2.5.2).
Kammerer (2006, S.276) nimmt dazu folgendermaßen Stellung:
Diese Inseln der Wahrnehmung sind nachweisbar, obwohl klinisch keine An- zeichen für Bewusstsein vorhanden sind und die Patienten nicht im Stande sind, ihr Erleben und ihre Fähigkeiten durch ihr Verhalten auszudrücken.
Dies wirft die Frage auf, in wieweit Narkotika in der Lage sind Bewusstsein und Wahrnehmung zu unterbinden. Zur besseren Beantwortung dieser Frage werden zu Beginn die Begriffe Bewusstsein und Bewusstlosigkeit erklärt.
2.5.1 Bewusstsein und Bewusstlosigkeit
Aus anatomischer Sicht wird das Bewusstsein aus dem lateralen und medialen An- teil der Formatio reticularis und den Raphekernen gebildet (Henze, 2003, S. 38). Die Steuerung des Bewusstseins erfolgt über ein Zusammenwirken des Kortex (Frontal-, Parietal- und Occipitallappen), des Thalamus und des limbischen Systems (ebd.).
Je nach Blickwinkel und professionellem Standpunkt existieren viele verschiedene Ansätze, die den Begriff des Bewusstseins mit Inhalt füllen (Zimmermann, 1988, S.82). Da aus diesem Grund keine allgemeingültige Definition existiert, werden zum besseren Verständnis verschiedene Erklärungsmodelle angeführt. Die erste Definition verwendet Überlegungen aus der Psychologie, Medizin und Philosophie, wodurch sie eine breite Anwendung finden kann:
Bewusstsein kann als Zustand der Wachsamkeit und Bewusstheit als ‚aware- ness’ definiert werden, indem die Fähigkeit zur Wahrnehmung und zur Kom- munikation mit der inneren und äußeren Welt erhalten ist. Bewusstsein ist in diesem Sinne graduell entlang einem Kontinuum zwischen Wachheit, Schlaf und Koma. Weiter benutzen wir den Begriff Bewusstsein, um inneres Erleben zu bezeichnen. Bewusstsein steht dann für den Inhalt unserer inneren Wahr- nehmung von einem Augenblick zum anderen. Drittens wird Bewusstsein mit Geist gleichgesetzt oder als Bezeichnung für die Erfahrung der menschlichen Existenz gebraucht. Es beinhaltet kollektive und individuelle Wertvorstellun- gen, Wünsche, Ängste, [sic] und Hoffnungen und bestimmt unsere individuel- le und kollektive Identität (Kammerer, 2006, S.274).
Dieser theologisch-philosophisch geprägte Ansatz macht es dem Leser möglich, sich unter dem Begriff Bewusstsein etwas vorstellen zu können. Kammerer lässt durch seine Definition die doch eher abstrakte Wortbedeutung des Bewusstseins etwas greifbarer werden.
Zimmermann bleibt bei der Erklärung von Bewusstsein und Bewusstseinsstörung auf einer schulmedizinischen Ebene und zitiert in seiner Dissertation (1988, S.39) dazu L. Dettli (1961). Dieser folgert, dass mit der Bezeichnung „Bewusstseinsstö- rung“ im medizinischen Sprachgebrauch tatsächlich meist nicht das Bewusstsein im Sinne der Philosophie, sondern die Störung des normalen Wachzustandes im biolo- gischen Sinne gemeint sei.
Diese Sichtweise von Bewusstsein findet man neben dem medizinischen Sektor auch häufig im allgemeinen Sprachgebrauch wieder.
Da man sich aufgrund der zahlreichen verschiedenen Blickwinkel auf keine einheitli- che Definition einigte, entstanden die sog. Bewusstseins-Kriterien (ebd., S.54). Von R. Werth (1983) stammt das Kriterium „Reaktion“: Nach der Verarbeitung des aufgenommenen Reizes aus der Umwelt erfolgt die Reaktion auf den Reiz durch die betreffende Person entweder verbal oder durch andere Varianten der Verhaltensäußerung, wie z.B. Gestik oder Mimik (ebd.).
R. Jung (1980) nennt als weiteres Kriterium „die objektive Registrierung hirnelektrischer Vorgänge“ (ebd.), die vor allem bei nicht ansprechbaren Patienten, Wachkomapatienten oder beim Locked-in Syndrom3 Verwendung findet.
Die Bewusstseinskriterien stellen zusammengefasst Reaktionen des Bewusstlosen auf äußere Reize dar, die verbal, in Form von nichtsprachlichem körperlichem Ver- halten oder durch EEG-Ableitungen deutlich werden können. Das zweite Kriterium sollte allerdings kritisch betrachtet werden, da unspezifische körperliche Abwehrre- aktionen auf Schmerzreize auch dann noch beobachtet werden können, wenn die allgemeine Sinneswahrnehmung bereits durch eine geringe Anästhesietiefe ausge- schaltet ist (Zimmermann, 1988, S.63f.; Spahn, Gilliard & Gardaz, 2001, S.230). Inwiefern dann noch von Bewusstsein gesprochen werden kann, ist fraglich. Die Möglichkeit der bildgebenden Verfahren über EEG-Ableitungen liefern in dieser Hinsicht verlässlichere Daten, da genau nachvollzogen werden kann, auf welchen Hirnebenen Reize verschiedener sensorischer Qualitäten verarbeitet werden (Lip- pert-Grüner, 2002, S.38f.).
Analog zur Bestimmung des Bewusstseins wird die Bewusstlosigkeit anhand der Reaktion auf äußere Reize beurteilt (Zimmermann, 1988, S.63). Da aus medizinischer Sicht Bewusstsein meist über den Grad der Vigilanz bestimmt wird, versteht man unter Bewusstlosigkeit einen schlafähnlichen Zustand mit dem Unterschied zur nichtvorhandenen Erweckbarkeit (ebd., S.62). Im Sprachgebrauch wird Bewusstlosigkeit häufig mit dem Begriff „Koma“ gleichgesetzt (ebd.).
Es existieren verschiedene Verfahren (z.B. „Glasgow Coma Scale“) zur Klassifizie- rung des komatösen Zustandes, die hier jedoch nicht weiter diskutiert werden sollen.
Aufgrund der Schwierigkeit vor allem den Zustand des Bewusstseins genau zu be- schreiben, beziehen sich die folgenden Abschnitte auf keine alleingültige Definition. Die Begriffserklärung von Kammerer wird durch ihren subjektiven Ansatz dem Ver- ständnis des Kapitels 2.6 und maßgeblich dem der Ergebnisse des praktischen Teils dienen.
In den direkt anschließenden Punkten wird vermehrt auf die Möglichkeit, Bewusstsein “bildlich“ darzustellen, eingegangen.
2.5.2 Hinweise auf Bewusstsein durch akustisch evozierte Potentiale
Entsprechend des Bewusstseinskriteriums von R. Jung wird in diesem Kapitel Be- wusstsein als die Veränderungen hirnelekrischer Impulse verstanden. Die Darstellung dieser Impulse erfolgt über sog. evozierte Potentiale, die eine Vari- ante der EEG-Untersuchung darstellen (Lippert-Grüner, 2002, S.39). Das Gehirn liefert dabei eine spezifische Antwort auf einen definierten sensorischen (akustisch, visuell, olfaktorisch oder somatosensorisch) Reiz aus der Umwelt (Schwender & Daunderer, 2003, S.34). Diese Antwort wird in Form von Potentialen unterschiedli- cher Latenz an der Kopfhaut durch Elektroden abgeleitet. Je nach Geschwindigkeit unterscheidet man frühe, mittlere und späte Potentiale (ebd., S.35). Zur Bestimmung der Narkosetiefe bzw. des Bewusstseins eignen sich akustisch evozierte Potentiale (AEP), da durch diese die Narkosewirkung umfassend darge- stellt werden kann - vom Ohr als Sinnesorgan bis hin zu den Wahrnehmungs-, Be- wusstseins- und Gedächtnisebenen des Gehirns (ebd., S. 34). Zudem korreliert die akustische Wahrnehmung mit der Erinnerungs- und Wiedergabefähigkeit von Pati- enten bezüglich Ereignisse während der Narkose (Schwender & Daunderer, 2001, S. 236). AEP werden von außen in Form von Klickreizen dargeboten.
Früh ankommende Potentiale stammen von der peripheren Hörbahn und dem Hirn- stamm und werden als „brainstem auditory evoked potential“ (BAEP) bezeichnet. Mittlere Potentiale, kurz MLAEP (engl. für: mid-latency auditory evoked potential), entstehen im „primären akustischen Kortex und sind Ausdruck der primären kortika- len Verarbeitung akustischer Informationen“ (Schwender & Daunderer, 2003, S. 35). Die LLAEP (engl. für: late-latency auditory evoked potential) legen die emotionale Bewertung im frontalen Kortex und somit die höchste Stufe der kognitiven Verarbei- tung der aufgenommenen Informationen dar.
Die Ableitung akustischer Potentiale mittlerer Latenz kann unter anderem dazu genutzt werden, den Grad der intraoperativen Wachheit zu bestimmen (Schwender & Daunderer, 2001). Da Anästhetika dosisabhängig die Länge der Amplituden der MLAEPs verändern, kann aufgrund der Ableitung der Potentiale darauf geschlossen werden, wie tief der Patient narkotisiert ist (ebd., S.237). Diese Beeinflussung der Amplituden konnte
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2: Aufsteigende Hörbahn
und Akustisch Evozierte Potentiale Thornton et al. in einer Studie von 1984 bei volatilen (gasförmigen) Anästhetika nachweisen (ebd.). Bei Anästhetika mit vornehmlich analgetischer oder anamnestischer Wirkung, wie beispielsweise verschiedene Benzodiazepine und Ketamin, zeigte sich jedoch keine Beeinflussung der MLAEPs.
In einer späteren Studie verglichen Thornton und Newton (1989) Veränderungen der MLAEPs während Operationen mit der Erinnerungsfähigkeit der Patienten nach dem Eingriff (Schwender & Daunderer, 2001, S. 237). Den Patienten wurden dazu wäh- rend der Narkose Informationen anhand von Fragen und deren Beantwortung (durch die Forscher) dargeboten, die anschließend im wachen Zustand abgefragt wurden. Aus den Ergebnissen konnte eindeutig eine Korrelation zwischen der Länge der MLAEPs und der Erinnerungsfähigkeit der Patienten während der Narkose nachge- wiesen werden (je weniger Veränderung der MLAEPs, desto mehr Erinnerungsfä- higkeit).
Daraus kann geschlossen werden, dass bei der Verwendung verschiedener Benzo- diazepine und Ketamin, die im Gegensatz zu volatile Anästhetika die MLAEPs wenig bis gar nicht beeinflussen, die Verarbeitung der akustischen Reize mindestens bis zum primären akustischen Kortex aufrechterhalten bleibt und sich viele Patienten sich an die akustischen Informationen während der Narkose erinnern können. Nach R. Jung wäre somit das Bewusstseinskriterium durch die Veränderung hirn- elektrischer Impulse erfüllt.
Welche Faktoren die akustische Wahrnehmung zusätzlich beeinflussen, wird im nächsten Kapitel vorgestellt.
2.5.3 Beeinflussung der akustischen Wahrnehmung
Frühe akustische Potentiale auf der Ebene des Hirnstamms (BAEP) lassen sich durch Narkotika wenig bis gar nicht beeinflussen (Schwender & Daunderer, 2003, S. 35). Demnach erreichen trotz Anästhesie fortlaufend akustische Reize und Informationen das Gehirn, mindestens bis zum Hirnstamm (ebd.).
Die MLAEPs lassen sich durch allgemeinanästhetische Verfahren weitgehend do- sisabhängig zu unterdrücken. Somit wird es möglich, die Informationsverarbeitung auf dem primären Kortex zu unterbinden. Allerdings zeigten Thornton et al. in einer weiteren Studie, dass die Potentiale mittlerer Latenz nicht nur von der Menge des Analgetikums, sondern auch durch Schmerzreize verändert werden können. Ein operierender Chirurg setzte nozizeptive Reize in Form von Hautschnitten, etc., was zu einer Zunahme der MLAEP-Amplituden des Patienten führte (ebd.).
Kommen analgosedierend wirkende Präparate wie Opioide oder Benzodiazepine zum Einsatz, kann weitgehend keine Beeinflussung der mittleren Potenziale, unab- hängig von der verabreichten Dosis, erreicht werden (Schwender & Daunderer, 2003, S. 35). Nach Schwender & Daunderer (2001, S.237) beweise diese praktisch unbeeinträchtigte Ableitbarkeit der akustisch evozierten Potentiale mittlerer Latenz die nahezu ungestörte Reizverarbeitung, mindestens bis auf die Ebene der primären kortikalen Repräsentation.
Auch hier tritt das Opioid Ketamin wieder negativ in Erscheinung, da unter dessen Anwendung am häufigsten alptraumähnliche Bewusstseinszustände und Wachepi- soden verzeichnet wurden (Schwender & Daunderer, 2003, S. 35). Im Hinblick auf die Zunahme der MLAEPs, verursacht durch nozizeptive Reize, muss berücksichtigt werden, dass Ketamin nur eine analgetische Basiswirkung besitzt (Wengert et al, 1989, S.24). Vor allen Dingen vor therapeutischen und pflegerischen Maßnahmen ist eine zusätzliche Verabreichung von Analgetika meist erforderlich (Wengert et al., 1989, S.24). Geschieht dies nicht, muss man (vor allem als Therapeut und Pfleger) davon ausgehen, dass die akustische Reizverarbeitung des Patienten durch die angewandten Maßnahmen zunimmt. Als weiteren Aspekt ist anzuführen, dass die Unterdrückung der allgemeinen Wahrnehmung und der akustischen Informations- verarbeitung bei dieser Substanz noch geringer zu sein scheint als bei alternativen Präparaten (Schwender & Daunderer, 2003, S.35f.). Beide Faktoren lassen die be- gründete Vermutung aufkommen, dass Ketamin die Entstehung von oneiroiden Erlebnisformen zu begünstigen scheint (ebd.).
Das Phänomen der oneiroiden Erlebnisform wird im Anschluss beschrieben.
2.6 Die oneiroide Erlebnisform
Die Bezeichnung Oneiroid wurde im deutschsprachigen Raum das erste Mal 1924 von Mayer-Gross im Zusammenhang mit bestimmten psychopathologischen Erscheinungen genannt (Schmidt-Degenhard, 2003, S.27). Um eine umfassende Beschreibung dieses Phänomens zu generieren, analysierte er verschiedenste Erlebnisberichte von Patienten und grenzte die oneiroide Erlebnisform von psychischen Erkrankungen wie z.B. der Schizophrenie ab (Mayer-Gross, 1924).
Durch szenenartige und phantastische Ausprägung ähnlich wie beim Traum wurde der Ausdruck Oneiroid von oneiros (griech. Traum, Traumbild) ausgewählt (Mayer- Gross, 1924, S.11). Die oneiroide Erlebnisform stellt einen besonderen Zustand des Bewusstseins dar, indem der Patient weder als typisch bewusstlos (vgl. Kapitel 2.5.1) gilt, noch die Fähigkeit besitzt, seine Umwelt real wahrzunehmen (Schmidt-Degenhard, 1992, S.1ff.).
Peters beschreibt die oneiroide Erlebnisform folgendermaßen:
Traumartiger Zustand bei getrübtem Bewusstsein, bei dem phantastische Innenerlebnisse vorherrschen, die eine besondere Reichhaltigkeit, z. T. mit Sinnestäuschungen und flüchtig-traumhaften Wahngebilden, besitzen (SchmidtDegenhard, 1992, S. 2, zit. n. Peters, o. J.)
Betroffene befinden sich in einer Zwischenstufe zwischen wach und bewusstlos bzw. zwischen Wachsein und Traum, in der sie jedoch in der Lage sind Außenreize aufzunehmen (Schmidt-Degenhard, 2003, S.30). Diese Informationen aus der Um- welt werden verwendet und in das Geschehen einer Traumwelt mit eingebaut (Schmidt-Degenhard, 2003, S.30; 1992, S.89, 105). Die Traumgebilde haben einen halluzinatorischen Charakter, da sie für die Betroffenen eine nichtanzweifelbare Realität besitzen (Schmidt-Degenhard, 1992, S.217, 221f.). Sie müssen aber den- noch von Halluzinationen als Ausprägung psychiatrischen Erkrankungen abgegrenzt werden, da Oneiroide „rein imaginative Phänomene [sind], die zu ihrem Zustande- kommen keiner zusätzlichen, sie erst konstituierenden, materialen Voraussetzungen in Form unterschiedlichster Sinnestäuschungen bedürfen“ (ebd., S.48f.). Die Ähn- lichkeit zum Traum besteht durch eine Sinnhaftigkeit und geschlossene, sowie logi- sche Abfolge der jeweiligen Thematik (Schmidt-Degenhard, 2003, S.27). Anders als beim Traum ist es jedoch nicht möglich, sich durch das Bewusstsein um die Imagi- nation des Traumes davon zu distanzieren, sondern der Traum wird zur einzigen Wirklichkeit (Schmidt-Degenhard, 1992, S.221f.).
Zur Prävalenz von Oneiroiden innerhalb der Analgosedierung gibt es unterschiedli- che Aussagen. Wird z.B. Ketamin als Monosubstanz verwendet, kommt es laut Em- rich et al. (1989, S.29) in bis zu 80% der Fälle zur Traumentwicklung und in ca. 40% der Fälle zu Unruhezuständen. Durch die Kombination eines Benzodiazepins spricht die Forschungsgruppe um Emrich zwar von einer Senkung des Auftretens von O- neiroiden, macht aber keine genaueren Angaben. Auch Wengert et al. konstatieren, dass durch den Zusatz von Benzodiazepinen „in aller Regel mit solchen unange- nehmen traumähnlichen Erlebnissen des Patienten nicht gerechnet werden braucht“ (1989, S.10), vermeiden es aber, einen Prozentsatz anzugeben. Im Gegensatz dazu nennt Kammerer (2006, S.171f.) zwei größere Untersuchungen, bei denen das Vor- kommen typischer Oneiroide bei der ersten Befragung bei 37% (25 von 68 Patien- ten) und bei der zweiten bei 96% (24 von 25 Patienten) lag. Allerdings macht er keine Angaben dazu, welche Medikamente zur Analgosedierung eingesetzt wurden. Einen besonderen Stellenwert bei der Entstehung der oneiroiden Erlebnisform nimmt das Guillain-Barrè-Syndrom ein. Hier spricht Kammerer von einer Prävalenz von 95% der Fälle (ebd., S.172), da bei dieser Erkrankung gerade die körperlichen Bedingungen, die unter anderem für die Entstehung von Oneiroiden verantwortlich sind, stark ausgeprägt sein können.
Im anschließenden Kapitel wird erklärt werden, wie es genau zur Entwicklung von Oneiroiden kommt.
2.6.1 Entstehung von Oneiroiden
Schmidt-Degenhard (1992, S.3, 2003, S.27) weist daraufhin, dass die oneiroide Erlebnisform keine typische Ätiologie besitzt, sondern als unspezifisches Syndrom auftritt. Prinzipiell kann man jedoch eine grobe Einteilung in zwei Gruppen vorneh- men. In der einen Gruppe tritt die oneiroide Erlebnisform im Zusammenhang mit endogenen Psychosen auf und findet dort verschiedenste Ausprägungen (ebd., S.30). Die Patienten der zweiten Gruppe sind nicht psychisch erkrankt, sondern befinden sich in einer Extremsituation äußerster körperlicher existenzieller Bedro- hung (ebd.). Zu solchen schweren Erkrankungen zählen laut Kammerer (2006, S. 173) komatöse Zustände, Guillain-Barré-Syndrom, Locked-In-Syndrom, traumati- sche, postoperative und Wochenbettpsychosen, schwere Verbrennungen, Impfreak- tionen, Hirnverletzungen, Hungerzustände, Langzeitbeatmung, Enzephalitis und Polymyelitis.
Der Entstehung eines Oneiroids liegt dabei immer eine Beeinträchtigung bzw. Ver- änderung des Bewusstseins zu Grunde und ist somit auch Voraussetzung für die Entwicklung der Wahnvorstellungen (Schmidt-Degenhard, 1992, S.41, 49). Hier lässt sich die Brücke zur Intensivtherapie und zu analgosedierten Patienten schla- gen, da wie in Kapitel 2.4.1 beschrieben, die Aufgabe eines Sedativums in der Aus- schaltung des Bewusstseins besteht. Allerdings wurde in Kapitel 2.5 gezeigt, dass man in keinem Fall von einer Ausschaltung, sondern eher von einer Herabsetzung, also somit von einer Beeinträchtigung des Bewusstseins sprechen kann. Aufgrund dieser Beeinträchtigung ist der Betreffende nicht mehr in der Lage, aufgenommene Umwelteindrücke richtig zu verarbeiten und zu einer persönlichen Sinnhaftigkeit zusammenzufügen (ebd., S.105). Man könnte sagen, er ist dazu gezwungen geistig passiv zu sein, was wiederum zu einem Zerfall des Bewusstseins führen kann (ebd.).
Um den Bewusstseinszerfall aufzuhalten, wird nun eine eigene innere Welt aufge- baut, in der auch Geschehnisse aus der direkten Umgebung mit aufgenommen und verarbeitet werden, sofern sie sinnvoll in die innere Erlebniswelt hineinpassen.
Sie werden aber nicht mehr im eigentlichen Sinne wahrgenommen, da sie sofort eine imaginativ bestimmte Umdeutung mit dem Ziel einer phantastischen Transformation ihres Gestaltgefüges erfahren (ebd.).
Somit erreicht die Außenwelt die Person zwar teilweise, jedoch kann nicht von der Wirklichkeit gesprochen werden, denn der Betreffende verbaut die aufgenommenen Informationen in seiner individuelle Traumwelt mit der Bereitschaft „Teile der wahr- genommenen Realität zur Ganzheit einer Szene zu gestalten, die selbst aus der Realität herausfällt“ (Mayer-Gross, 1924, S.74). Es kommt zu einem Übertreten des Betroffenen heraus aus der Wirklichkeit hinein in das innere Traumerleben. Die Traumwelt fungiert dabei als Ersatz der eigentlichen Realität, in der die Betroffenen als Akteure in die Geschehnisse mit eingebunden sind (ebd., S.65, 88).
Bei der Entstehung der oneiroiden Erlebnisform spielt neben der existentiellen Grenzsituation und der Bewusstseinsveränderung noch der Aspekt der Bewegungs- unfähigkeit eine wichtige Rolle (Schmidt-Degenhard, 1992, S.213), die bei analgo- sedierten Patienten bekanntermaßen vorherrscht. Zum einen wird dem Patienten dadurch (sowie auch durch die Intubation) die Möglichkeit genommen sich auszu- drücken und zu kommunizieren. Kommunikation ist jedoch ein ganz wesentliches Bedürfnis, was bei Nichtvorhandensein gewissermaßen zur Isolation des Betroffe- nen führt. Zum anderen verlieren die Patienten ihre motorische Selbstbestimmung und sind damit jeglichen (pflegerisch-therapeutischen) Situationen schutzlos ausge- liefert.
Weiterhin ist Bewegung Teil des Erlebens und Verhaltens, wodurch Menschen wiederum in der Lage sind ihre Umwelt wahrzunehmen und sie in einen sinnhaften Kontext einzuordnen (ebd.).
Schmidt-Degenhard (1992, S.213) schließt daraus folgendes:
Die durch die Bewegungsunfähigkeit hochgradige Einschränkung der Realitätserfahrung scheint geradezu regelhaft eine intrasubjektive Verschiebung des Erlebniswertes von Innen- und Außenwelt zu begünstigen, in deren Folge imaginäre Gestalten und Geschehnisse den Erlebniswert des AußenWirklichen annehmen können.
Zusammengefasst lässt sich die Entstehung oneiroider Erlebnisformen bei analgosedierten Patienten anhand dreier Faktoren erklären:
1. Zustand existentieller körperlicher Bedrohung
2. Veränderter Bewusstseinszustand infolge der Sedierung
3. Verlust des Erlebens und des Reagierens auf die Umwelt durch Bewe- gungsunfähigkeit Nachfolgend wird darauf eingegangen werden, wie sich die Inhalte der oneiroiden Traumwelten gestalten.
2.6.2 Inhalte der Traumwelten
Vor dem Hintergrund der gerade genannten drei Faktoren, insbesondere der exis- tentiellen körperlichen Bedrohung, wird verständlich, dass die oneiroiden Traumwel- ten hauptsächlich von Bedrohung, Schrecken und Angst bis hin zur Todesangst gekennzeichnet sind (Kammerer 2006; Schmidt-Degenhard, 1992). Diese angstbe- setzte Grundstimmung des Oneiroids stellt eine Art Verbindung zur realen Situation des Betroffenen her, der durch die schwere körperliche Erkrankung massiv bedroht ist und oft mit dem Tode ringt (Schmidt-Degenhard, 2003, S.28f.). Schmidt- Degenhard spricht in diesem Zusammenhang von Geschehensabläufen, die die innerseelischen Auseinandersetzungen der Schwerkranken mit ihrer durch ihre Er- krankung bestimmten Lebenssituation widerspiegeln würden (2003, S29). Der Be- troffene befindet sich in einer überaus belastenden Grenzsituation, die schon für Außenstehende kaum begreifbar wird und die für den Patienten selbst kaum zu ertragen ist. Die Entstehung des Oneiroids wird demnach als „psychodynamisch verstehbarer Versuch der leidenden Person, eine real unerträgliche Situation zu bewältigen“ (Schmidt-Degenhard, 1992, S.228) angesehen.
Kammerer stellt Ergebnisse einer Studie von Anbeh (2000) vor, in der Langzeitbe- atmete zu ihren oneiroidalen Erlebnissen befragt wurden (2006, S.176f.). Die Traumwelten handelten, in jeweils unterschiedlicher Gewichtung, unter anderem von Bedrohungs- und Angstsituationen, von Belastungs- und Entlastungsfaktoren (z.B. Behandlungsteam) einer Intensivstation, von Träumen über den Kampf des Überle- bens, sowie Sterben und Tod, von der Beatmungssituation sowie von Unfreiheit und Orientierungslosigkeit. Häufig sind in den Oneiroiden diese thematischen Inhalte eng mit dem biographischen Hintergrund des Patienten verknüpft (Schmidt- Degenhard 1992, 2003). Nicht nur bekannte Situationen oder Orte, sondern insbe- sondere Menschen aus dem engeren Umfeld kommen gehäuft in den Traumwelten vor. Bemerkenswert dabei ist, dass sich ausnahmslos alle Personen mit oneiroiden Erlebnissen an jedes noch so kleinste Detail der Traumszenarien erinnern können (Mayer-Gross, 1924; Schmidt-Degenhard 1992, 2003; Kammerer, 2006). Dieses unauslöschliche Detailwissen wird in der genannten Literatur auch als Hypermnesie bezeichnet.
Abschließend ist zu bemerken, dass die oneiroide Erlebnisform trotz ihres meist negativ-bedrohlichen Charakters eine Form der Verarbeitung des somatischen Aus- nahmezustandes darstellt, die nicht als pathologisch angesehen werden darf, son- dern dem Betroffenen einen Bewältigungsmechanismus verschafft (Schmidt- Degenhard, 2003, S.30f.). Allerdings befindet sich der Patient dadurch nahezu pau- senlos in einer angsterfüllten, Gefahr drohenden Welt, die zusätzlich durch ver- schiedene äußere Faktoren beeinflusst werden kann (vgl. Kapitel 2.5.4). Dies sollte vor allem dem pflegerischen und therapeutischen Personal bewusst sein, bevor sie am analgosedierten Intensivpatienten arbeiten.
Wie die physiotherapeutischen Interventionen bei intensivpflichtigen Verbrennungspatienten aussehen, wird im nächsten Abschnitt vorgestellt.
2.7 Physiotherapeutische Interventionen bei brandverletzten Intensivpatienten
Grundsätzlich bestehen physiotherapeutische Maßnahmen bei schwer brandverletz- ten Intensivpatienten aus passiven oder - wenn möglich - aktiven Bewegungsübun- gen, Atemtherapie und Lagerung. Alle drei Behandlungsgebiete beschreiben pro- phylaktische Maßnahmen und werden sowohl beim sedierten als auch beim wachen Patienten angewandt. Die Atemtherapie beugt durch Sektretolyse und Atemvertie- fung der Gefahr der Pneumonie vor (Krause-Wloch, 2004, S.50). In der Akutphase können durch eine adäquate Lagerung mehrere Therapieziele wie Pneumonie-, Dekubitus-, Ödem- und Kontrakturprophylaxe abgedeckt werden (Krause-Wloch, 2004, S.49). In der Regel wird die Lagerung alle zwei bis drei Stunden hauptsächlich durch das Pflegepersonal, aber auch durch die Physiotherapeuten verändert.
Auf die einzelne Durchführung der Atemtherapie und Lagerung soll hier jedoch nicht weiter eingegangen werden. Der Schwerpunkt dieser Arbeit liegt auf der physiotherapeutischen Kontrakturprophylaxe im Sinne des Durchbewegens.
Nach Cotta, Heipertz, Hüter-Becker und Rompe (1990, S.60) sind Kontrakturen „aktiv und passiv nicht ausgleichbare Einschränkungen der Beweglichkeit eines Gelenkes“. Um den Grundstein für eine spätere erfolgreiche Rehabilitation zu legen, ist es daher wichtig so früh wie möglich mit der Bewegung der einzelnen Gelenke des Patienten zu beginnen (Steinbreithner & Bergmann, 1984, S.636). Bei Verbrennungspatienten nimmt die Kontrakturprophylaxe einen sehr wichtigen Stellenwert ein, da vor allem durch die Narbenbildung teilweise sehr starke Bewe- gungseinschränkungen der betroffenen Gelenke entstehen (Krause-Wloch, 2004, S.50ff.). Weitere Ursachen für die Entwicklung von Kontrakturen können z.B. Schrumpfung des Kapsel-Band-Apparats sowie Muskelverkürzungen „durch Nicht- gebrauch in anhaltender Zwangsstellung ... mit Annäherung von Muskelursprung und -ansatz“ (Cotta et al., 1990, S.61) sein. Durch Sedierung und Relaxation des Patienten ist generell keine aktive Bewegung möglich, wodurch auch für nicht ver- letzte Gelenke das Risiko einer Kontraktur besteht und somit die Kontrakturprophy- laxe an allen Gelenken indiziert ist (Kloster & Ebelt-Paprotny, 1996, S.11).
[...]
- Citation du texte
- BSc Physiotherapy Maike Wolf (Auteur), 2006, Oneiroide Erlebnisformen bei Schwerstbrandverletzten in Bezug auf eine physiotherapeutische Intervention, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/69537
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