Die vorliegende Arbeit setzt sich mit den Ängsten von Kindern und Jugendlichen am Beispiel einer Schülerbefragung an einer Grund- und Hauptschule auseinander. Um den Begriff „Angst“ besser fassen zu können, wird er aus verschiedenen Kontexten betrachtet. Die Arbeit befasst sich dabei mit den verschiedenen Erscheinungsformen, den möglichen Ursachen und den unterschiedlichen Methoden zur Bewältigung von Angst. Die wichtige gesellschaftliche Bedeutung dieser Emotion zeigt sich in epidemiologischen Daten aus der Medizin und der Sozial- sowie Erziehungswissenschaft. Der theoretische Teil diskutiert dabei inhaltlich primär die Ängste von Schülerinnen und Schülern, da sich einschlägiges Angsterleben auffällig in der Schule und in schulischer Gewalt äußert. Nach dem theoretischen Abriss werden die Methode des Fragebogens erläutert sowie die Ergebnisse einer Schülerbefragung an der Grund- und Hauptschule Benediktbeuern analysiert und den bisherigen Daten gegenübergestellt. Inhaltlich werden Unterschiede und Übereinstimmungen herausgearbeitet und es wird zwischen Jahrgangsstufen, geschlechtsspezifischen Erscheinungen sowie psychosomatischen Beschwerden unterschieden. Anhand der Daten ergeben sich Folgerungen für die Soziale Arbeit, die bereits ihren Einzug in die Schule, in Form von Schulsozialarbeit und der Sozialpädagogischen Schule, gefunden hat. F. Dostojewski sagt, „Angst ist der Fluch des Menschen“. Als Schlussfolgerung ergibt sich jedoch, dass die häufig auftretenden Ängste in ihrer schwerwiegenden Belastung für Kinder und Jugendliche gleichzeitig auch eine Warnung an die Gesellschaft sind. Sie geben die Chance, um an der Verbesserung der Lebensqualität, ihrer Sozial- und Leistungsstruktur und an der gesellschaftlichen Stellung der Familie zu arbeiten.
Inhaltsverzeichnis
Zusammenfassung
1. Einleitung
2. Zugänge zum Begriff „Angst“
2.1 Psychologischer Kontext
2.2 Soziologischer Kontext Kontinuität und Wandel in der Gesellschaft
2.3 Angst im politischen und wirtschaftlichen Kontext
2.4 Epidemiologie der Ängste
2.5 Angst im Wandel der Zeit
2.5.1 Angsterleben im Mittelalter
2.6 Zusammenfassung
3. Angst bei Kindern und Jugendlichen heute
3.1 Angst als ein Problem unserer Gesellschaft? – Darstellung der aktuellen politischen und wirtschaftlichen Situation
3.2 Verteilungsformen von Angst bei Heranwachsenden
3.3 Auftretenswahrscheinlichkeit von Angst in Beziehung zum Geschlecht
3.4 Einflussfaktoren der Erwachsenen auf Kinderängste
3.5 Zusammenfassung
4. Angst nach dem ICD-10 in Bezug auf die klinische Kinderpsychologie
4.1 Differenzierung angemessene und unangemessene Angst
4.2 Darstellung des ICD-10
4.2.1 Somatoforme Störungen F45
4.2.2 Emotionale Störung des Kindesalters F93
4.3 Zusammenfassung
5. Angst als Lebensbegleiter im Lebensfeld Schule
5.1 Beeinträchtigung durch Erziehungsberechtigte
5.2 Beeinträchtigung durch Lehrerinnen und Lehrer
5.3 Einwirkungen durch Peer- Groups
5.4 Schulische Gewalt
5.4.1 Was ist schulische Gewalt?
5.4.2 Unterschiede im Gewaltvorkommen – Geschlecht, Alter und Schulform
5.4.3 Beziehung zwischen Opfer und Täter
5.4.4 Ursachen für schulische Gewalt
5.5 Aktuelles Geschehen im Zusammenhang mit Schule
5.6 Zusammenfassung
6. Zusammenfassung der Hypothesen
7. Erläuterung der Methode zur Angsterfassung
7.1 Fragestellung und Ziele
7.2 Erhebungsinstrument und Durchführung der Befragung
7.2.1 Grundauszählung und Stichprobenauswahl
7.3 Die Befragung im ländlichen Raum
7.4 Zusammenfassung
8. Darstellung der Ergebnisse von Angst bei Schülern und Schülerinnen
8.1 Statistische Daten zur Person
8.2 Die Ängste der Schülerinnen und Schüler an der Grundschule und Hauptschule im Vergleich
8.2.1 Schulspezifische Ängste
8.2.2 Signifikante generelle und situationsspezifische Ängste
8.2.3 Soziale Ängste - Angst und Selbstbewusstsein
8.2.4 Der Übergang in den Beruf als Angstfaktor – Die achten Klassen im Vergleich
8.2.5 Psychosomatische Ängste
8.2.6 Angst vor Gewalt im Schulkontext
8.2.7 Mädchenspezifische Auswertung
8.3 Interpretation und Schlussfolgerung
9. Aufgaben der sozialen Arbeit
9.1 Die soziale Arbeit in Auseinandersetzung mit Angst und ihrer Bewältigung
9.1.1 Angstbewältigung in und mit der Familie
9.2 Angstbewältigung im schulischen Kontext im Sinn der Schulsozialarbeit
9.2.1 Aufgaben hinsichtlich der Schule und der Lehrenden
9.2.2 Bewältigung durch Befähigung von Gleichaltrigen und Peer- Groups
9.3 Perspektiven einer Gewalt hemmenden Pädagogik
9.3.1 Prävention in Korrelation von Familie, Bildungsarbeit und Schule
9.3.2 Prävention und Intervention in der Schule
9.3.3 (Peer-) Mediation und Sozialtraining
9.4 Zusammenfassung
10. Schlusswort: Angst, ein Phänomen mit Zukunft
ZUSAMMENFASSUNG
Wovor haben Schülerinnen und Schüler Angst?
Eine Schülerbefragung an einer Grund- und Hauptschule und die Folgerungen für die Soziale Arbeit
Die vorliegende Arbeit setzt sich mit den Ängsten von Kindern und Jugendlichen am Beispiel einer Schülerbefragung an einer Grund- und Hauptschule auseinander.
Um den Begriff „Angst“ besser fassen zu können, wird er aus verschiedenen Kontexten betrachtet. Die Arbeit befasst sich dabei mit den verschiedenen Erscheinungsformen, den möglichen Ursachen und den unterschiedlichen Methoden zur Bewältigung von Angst. Die wichtige gesellschaftliche Bedeutung dieser Emotion zeigt sich in epidemiologischen Daten aus der Medizin und der Sozial- sowie Erziehungswissenschaft.
Der theoretische Teil diskutiert dabei inhaltlich primär die Ängste von Schülerinnen und Schülern, da sich einschlägiges Angsterleben auffällig in der Schule und in schulischer Gewalt äußert.
Nach dem theoretischen Abriss werden die Methode des Fragebogens erläutert sowie die Ergebnisse einer Schülerbefragung an der Grund- und Hauptschule Benediktbeuern analysiert und den bisherigen Daten gegenübergestellt. Inhaltlich werden Unterschiede und Übereinstimmungen herausgearbeitet und es wird zwischen Jahrgangsstufen, geschlechtsspezifischen Erscheinungen sowie psychosomatischen Beschwerden unterschieden.
Anhand der Daten ergeben sich Folgerungen für die Soziale Arbeit, die bereits ihren Einzug in die Schule, in Form von Schulsozialarbeit und der Sozialpädagogischen Schule, gefunden hat.
F. Dostojewski sagt, „Angst ist der Fluch des Menschen“. Als Schlussfolgerung ergibt sich jedoch, dass die häufig auftretenden Ängste in ihrer schwerwiegenden Belastung für Kinder und Jugendliche gleichzeitig auch eine Warnung an die Gesellschaft sind. Sie geben die Chance, um an der Verbesserung der Lebensqualität, ihrer Sozial- und Leistungsstruktur und an der gesellschaftlichen Stellung der Familie zu arbeiten.
1. Einleitung
Angst vor Monstern unter dem Bett, Angst davor, dass es Spinat zum Mittagessen geben könnte, Angst das Christkind zu verpassen, Angst davor alleine in die Schule gehen zu müssen, Angst nicht das neueste Handy zu haben…
- Sind dies wirklich die Ängste der Heranwachsenden?
Fest steht, jedes menschliche Wesen erlebt bereits als Kind Angst und wird diese Emotion nicht mehr vergessen, sondern ein Leben lang davon begleitet werden. Man kann auf unterschiedliche Art trauern und auf vielfältige Art Wut verspüren, aber Angst ist ein Gefühl, dass sich bei jedem Menschen auf die gleiche Weise äußert: eine beklemmende Spannung, die sich auf die Brust legt, man glaubt kaum atmen zu können und der Kloß im Hals wird immer dicker …
In dem Glauben zu wissen, was der Emotionszustand Angst ist und welche unterschiedlichen Ursachen ihn bei Kindern und Jugendlichen auslösen, lässt er sich aufgrund seiner Vielschichtigkeit nicht leicht in eine Thematik drängen.
Stellen die Ursachen gleichzeitig allgemeine Probleme der Gesellschaft dar und welche Auswirkungen hat dies auf die Häufigkeit von Angst in der Bevölkerung und vor allem bei Kindern und Jugendlichen?
Als Einstieg soll Angst deswegen aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet werden. Nachdem sie sich durch alle Altersstufen, Gesellschaftsschichten, Kulturen und vor allem durch die komplette Entwicklungsgeschichte des Menschen zieht, stellt sich die Frage, wo sich konkrete Unterschiede im Auftreten von Angst feststellen lassen.
Da sich Ängste jeglicher Art zu einer diagnostizierten Angststörung entwickeln können, werden die Angsterkrankungen nach dem ICD-10 erläutert. Epidemiologische Daten zur Erkrankung bei Heranwachsenden bekräftigen, wie gefährdet junge Menschen in unserer Gesellschaft sind.
Eine spezifizierte Angststörung, wie die Schulangst, die konkret auf die Schule gerichtet ist, und die Schulphobie, das zentrale Symptom der Trennungsangst, wirken sich negativ auf den Lernerfolg und das soziale Auftreten der Schülerinnen und Schüler aus. Die Schule als Institution ist ein Ort der Orientierung und sozialer Lernprozesse. In der Schule lernen Kinder und Jugendliche nicht nur elementare Dinge wie lesen, schreiben und rechnen, sondern auch soziales Verhalten. Schule hat für die Heranwachsenden meist jedoch einen ausgeprägten negativen Aspekt. Sie assoziieren mit ihr Leistung, Druck und Stress. Zu den eigenen Anforderungen und denen der Eltern und Lehrkörper kommen psychische Belastungen hinzu, welche von Schülerinnen und Schülern bewältigt werden müssen.
Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich deswegen damit, inwieweit schulische und außerschulische Faktoren Angst bei den Heranwachsenden hervorrufen können. Wovor haben Kinder und Jugendliche, speziell an der Schule Angst?
Die Angst als Lebensbegleiter in der Schule ist ein wichtiger Aspekt, weswegen die Einflussfaktoren der Schule und deren Auswirkungen auf die Schülerinnen und Schüler erläutert werden. Es soll deutlich gemacht werden, welcher Vielzahl an Überforderungsmöglichkeiten im Hinblick auf Aufgaben, Leistungen, Erwartungen und Belastungen Schulgänger ausgesetzt sind. Das heutige Schulsystem ist so organisiert, dass das Erreichen oder Verfehlen von Lernzielen als Leistung oder Versagen definiert wird.
Ein innerhalb des letzten Jahrzehntes dabei zu beobachtendes brisantes Thema ist die offensichtlich neue Intensität und Häufigkeit von schulischer Gewalt. Durch Medienberichterstattungen in die öffentliche Diskussion und damit auch in das Interesse der wissenschaftlichen Forschung gerückt stellt sich die Frage, ob die Gewalt an Schulen wirklich erst in den letzten Jahren zugenommen hat. Sind dabei nur die Opfer extremen Ängsten ausgesetzt, oder haben die Täterinnen und Täter große Ängste, die sie durch Aggression zum Ausdruck bringen? In welcher Beziehung dabei Erziehungsträger, gesellschaftliche Prozesse oder Wertewandel stehen, soll erläutert werden.
Der zweite Teil der vorliegenden Arbeit setzt sich mit Ängsten auseinander, die mittels Fragebogen empirisch erfasst wurden. Befragte sind 126 Schülerinnen und Schüler der Grund- und Hauptschule Benediktbeuern. Dabei werden Vergleiche zum theoretischen Teil gezogen, Besonderheiten an der befragten Schule herausgearbeitet und mögliche Schlussfolgerungen formuliert. Welche Auswirkungen haben die Ängste von Heranwachsenden auf die Soziale Arbeit und inwieweit besteht Handlungsbedarf?
Ausschlaggebend dafür, über die Angst bei Kindern zu schreiben, war mein Jahrespraktikum in einer psychiatrischen Rehabilitationseinrichtung. Zu sehen, welche Auswirkungen Ängste auf ein normales Leben haben können, war erschreckend. Jedoch erkennen zu müssen, wie frühzeitig diese Ängste bereits auf Heranwachsende Einfluss nehmen, war schockierend.
Die angeblichen Ängste von Kindern und Jugendlichen sind keineswegs so oberflächlich wie zu Beginn geschildert. Angst zu haben ist ein so beklemmendes Gefühl, das einen Menschen tief in seinem Innersten berührt und ihn auch dauerhaft schädigen kann.
Ich möchte darauf aufmerksam machen, dass die „neue Generation“ Schutz, Verständnis und Hilfe benötigt und dass es an der Gesellschaft, den Erziehungsberechtigten und den Schulen liegt Kinder zu selbstbewussten Menschen mit einem gesunden Selbstwertgefühl zu erziehen, um eine gefestigte Zukunft für sie schaffen zu können.
2. Zugänge zum Begriff „Angst“
„Angst ist ein biochemischer Prozess im Körper, bei dem das Nebennierenmark innerhalb weniger Sekunden eine Botenstoffmischung aus 80% Adrenalin und 20% Noradrenalin ausschüttet. Die Hormone wirken auf unseren Sympathikus, einen Teil unseres Nervensystems, den wir nicht beeinflussen können. Es kommt zu einer kurzfristigen Bereitstellung von Energie, durch die wir entweder verbessert reagieren können, oder aber bei überwältigender Angst blockiert werden“ (Düsenberg, Svantje 2005: Moderne Säbelzahntiger, In: ZKSA 2. Quartal (2005) H 8763, 6).
Angst ist eine Emotion, die jedoch mehr ist als ihr biochemischer Vorgang beschreibt.
Im Folgenden wird sie deswegen in verschiedenen Kontexten betrachtet werden.
2.1 Psychologischer Kontext
Angst ist ein unangenehm empfundener, eine bestimmte Bedrohung oder Gefahr signalisierender emotionaler Gefühlszustand. Erhält u.U. Krankheitswert, wenn sie ohne erkennbaren Grund bzw. inf. inadäquater Reize ausgelöst und empfunden wird. Angst kann in unterschiedlichen Schweregraden auftreten und ist in der Regel begleitet von physischen und von psychischen Symptomen wie Unsicherheit, Unruhe, Erregung (evtl. Panik), Bewusstseins-, Denk-oder Wahrnehmungsstörungen, Anstieg von Puls- oder Atemfrequenz, verstärkte Darm- und Blasentätigkeit, Übelkeit, Zittern, Schweißausbrüche. Angst kann u.a. als Furcht im Sinne einer Reaktion auf eine reale Bedrohung, i.R. neurotischer Störungen (z.B. bei Phobie bzw. Angstneurose) oder als sog. frei flottierende (ohne reale Auslöser) vorkommen (Psyrembel 1998, 77). Angst tritt auf mit dem zentralen Motiv der Vermeidung bzw. Abwehr einer Gefahr.
Die ersten psychologischen Erklärungsversuche für die Entstehung von Emotionen und damit auch für die Angst stammen von Sigmund Freud, weswegen seine Theorie näher erläutert werden soll. Für Freud ist Angst eine intensive emotionale Reaktion, die durch die vorbewusste Wahrnehmung eines Konfliktes entsteht, der dabei ist, ins Bewusstsein aufzusteigen. Angst fungiert als Warnsignal[1].
Er erklärte die Entstehung der Angst mit der tiefenpsychologischen Theorie der Psychoanalyse[2]. Grundsätzlich lehrt die Psychoanalyse die eigenen Gefühle zu verstehen. Der Mensch thematisiert meist erst die Gefühle, vor denen er am wenigsten Angst hat. Er definiert die Gefühle, die ihn am geringsten schwächen.
Nach Freud gibt es drei Persönlichkeitsinstanzen:
- Es: Instanz der Triebe, Wünsche und Bedürfnisse, die dem Lustprinzip gehorcht und immer auf ein bestimmtes Objekt oder Ziel gerichtet ist und vom Zerstörungstrieb begleitet wird
- Ich: Instanz des bewussten Lebens, die die bewusste Auseinandersetzung mit der Realität leistet und gleichzeitig Anpassungs- und Selbsterhaltungsorgan des Menschen ist und Es mit seinen Wünschen und Über-Ich mit den Normen im Gleichgewicht hält
- Über-Ich: umfasst Wert- und Normvorstellungen und moralische Prinzipien und führt das Verhalten und Handeln des Ich im Sinne der geltenden Moral.
Das Wechselspiel der Instanzen bildet die Dynamik der Persönlichkeit aus.
Freud erklärt mit seinem strukturellen Konfliktmodell das Entstehen neurotischer Ängste. Wenn es dem Ich nicht gelingt, zwischen den Forderungen von Es und Über- Ich zu vermitteln und dabei eine der beiden Instanzen unterliegt, kommt es zum Konflikt mit einer Ich- Schwäche. Angst ist die Reaktion des Ich auf eine bevorstehende Bedrohung und Merkmal für unerfüllte Wünsche und tritt wegen der Unbewusstheit des Konfliktes auf.
Freud unterscheidet zwischen drei daraus evtl. entstehenden Grundformen von Ängsten.
- Real-Angst: tritt dann auf, wenn eine Bestrafung der Triebwünsche durch die Umwelt droht
- Moralische Angst: wenn die Triebwünsche gegen übermächtige Gebote und Verbote des Über-Ich verstoßen (Schuldgefühle, Gewissensbisse)
- Neurotische Angst: wenn das Ich Angst hat, von der Stärke des Triebanspruches aus dem Es überwältigt oder zerstört zu werden
Alle drei Ängste regen das Ich an Schutzmaßnahmen, sog. Abwehrmechanismen, auszubilden, um das seelische Gleichgewicht zu erhalten. Es existieren neun verschiedene Abwehrmechanismen, die bei jedem Menschen unbewusst ablaufen. Es würde jedoch vom Thema ableiten diese hier aufzuführen.
Prinzipiell ist zu sagen, dass bei dem Prozess der Abwehr meist mehrere Mechanismen gleichzeitig angewandt werden.
Freud ist ebenso der Ansicht, dass das Ich allmählich lernt Angst zu erzeugen, wenn eine Gefahrensituation droht oder entsteht. Diese sog. Signalangst ist eine abgeschwächte Form der Angst und hilft dem Ich dank der Wirkung des Lustprinzips bei der Kontrolle des Es in Gefahrensituationen[3].
Eine weitere Theorie zur Erklärung von Angst ist die Lerntheorie, die auch Beobachtungslernen oder Lernen am Modell genannt wird und deren zentrale Aussagen im Verlauf der Arbeit noch relevant sein werden.
„Mit Lernen am Modell meint man den Prozess, bei dem eine Person (=Beobachter) Verhaltensweisen erwirbt, die sie bei einer anderen Person (=Model) beobachtet hat“(Hobmair 1996, 134). Eine wesentliche Feststellung dieser Theorie ist, dass alles, auch Ängste, erlernt und deswegen auch wieder verlernt werden kann. Eine Person beobachtet eine andere Person bei einer Handlung und wird dieses Verhalten in einer ähnlichen Situation nachahmen, wenn diese Handlung durch Belohnung oder Erfolg verstärkt wurde. Bei einer negativen Verstärkung, also einer Bestrafung wird sie das beobachtete Verhalten aller Wahrscheinlichkeit nach nicht übernehmen. Das klassische Experiment des Beobachtungslernens stammt von Albert Bandura. Kinder, die beobachteten, wie Erwachsene eine Plastikpuppe schlugen, zeigten im weiteren Verlauf ähnliche Verhaltensweisen, während Kinder, die die Aggression nicht mitverfolgten, kaum aggressive Verhaltensmuster zeigten. Das Lernen am Modell hat den höchsten Einfluss, wenn das Verhalten des Modells verstärkt wurde, oder aber das Modell eine positive Rolle im Leben des Beobachters einnimmt, wie beispielsweise die Eltern oder aber gute Freunde. Deswegen können sich Ängste von Eltern auch auf Kinder übertragen. Hat z.B. eine Mutter große Angst vor Spinnen und wird dabei von der Tochter beobachtet, wird diese möglicherweise diese Angst übernehmen[4].
Deswegen wirkt auch häufiger Medienkonsum mit aggressivem Inhalt stark beeinflussend auf Kinder. Es ist erwiesen, dass dargestellte Szenen Kinder vollkommen überfordern können und Gewalttätigkeiten im Fernsehen die Gewaltbereitschaft bei Kindern und Jugendlichen erhöhen[5]. Aggression kann durch die Beobachtung anderer, die sich aggressiv verhalten, oder aber durch Gewaltverherrlichung im Umfeld und in den Medien erlernt werden.
Ebenso erlernt werden kann eine ängstliche und wenig selbstsichere Grundeinstellung mit wenig Selbstwertgefühl und einer geringen Selbstwirksamkeitserwartung. Letztere bezeichnet die individuelle Überzeugung in einer bestimmten Situation die angemessene Leistung erbringen zu können und beeinflusst die Wahrnehmung, Motivation und Leistung. Die Beurteilung der eigenen Selbstwirksamkeitserwartung hängt von der Beobachtung der Leistung anderer, von der Beobachtung eigener emotionaler Zustände vor oder während einer Aufgabe und von der Überzeugung, die wir von anderen oder uns selbst übernommen haben, ab[6].
Auch geschlechtsspezifische Rollen werden erlernt. Die als „männliche“ und „weibliche“ Verhalten bezeichneten Stereotypen werden durch Lerntheorien mit Belohnung und Bestrafung in den Familien und Medien anerzogen, d.h. dass Mädchen für etwas bestraft werden, das einem „mädchentypischen“ Verhalten nicht entspricht und stattdessen für typische Verhaltensweisen belohnt werden. Ebenso verhält sich das bei den Jungen[7]. Traut man Mädchen nach wie vor weniger zu als Jungen, werden Mädchen diese Unsicherheit auch übernehmen und in ihrer Erziehung wieder weitergeben. „Die Selbstwirksamkeitserwartung liegt bei den Schülern etwas höher als bei den Schülerinnen“ (Hurrelmann 2003, 51).
Ängste, die aus den unterschiedlichsten Gründen entstehen, können aus ihrem angemessenen Rahmen herausfallen und zu Angststörungen werden, die therapeutisch und medikamentös behandelt werden müssen.
Ihre Entstehung ist ab der mittleren Kindheit interessant. In diesem Entwicklungsabschnitt vollziehen sich mit Eintritt in die Schule wichtige Veränderungen, die aus den Bereichen Schule, Kontakt mit Gleichaltrigen, Einfluss von Lehrenden und neuen Informationen entstehen. Zwar üben die Eltern weiterhin den größten Einfluss auf ihre Kinder aus, aber die Beeinflussung der Kinder ist vielfältiger.
2.2 Soziologischer Kontext- Kontinuität und Wandel in der Gesellschaft
„Soziologie bezeichnet die Gesellschaftslehre, eine Wissenschaft von Formen des menschlichen Zusammenlebens und den daraus hervorgerufenen Verhaltensweisen“ (Wahring 1982, 601).
Ängste von Kindern und Jugendlichen aus der Sicht der Soziologie zu betrachten bedeutet erst einmal darzustellen, wie das Leben von Heranwachsenden in Deutschland momentan gestaltet ist.
Die heutigen Gesellschaftssysteme zeichnen sich in ihrer sozialen Zusammensetzung dadurch aus, dass sich die Lebenslagen und Lebensverhältnisse der Menschen pluralisiert und individualisiert haben. Die hohe steigende und anhaltende Arbeitslosigkeit und ungleiche Lebensverhältnisse stellen jedoch das Bild einer entstandartisierenden, individualisierenden und modernen Gesellschaft in Frage.
Welche Auswirkungen hat dies auf die Familie als Lebensform und welche Ängste werden dadurch möglicherweise ausgelöst?
Die Familie heute hat viele Gesichter: Eltern mit ein, zwei oder mehreren Kindern, Alleinerziehende, Mehrgenerationenhaushalte, homosexuelle Paare mit Kindern, „Patchwork-Familien“, in denen die Eltern neue Beziehungen eingegangen sind und evtl. neue Kinder mit in die Familie bringen, und binationale Familien. Das Bild der „Rama- Familie“ von „Mann, Frau, zwei Kinder, Hund, Haus, Garten“ hat sich gewandelt und zeigt zugleich eine erstaunliche demographische Stabilität, denn die Daten der letzten Jahre haben sich kaum merklich verändert. Für Menschen ab dem dreißigsten Lebensjahr ist die häufigste Form des Zusammenlebens immer noch die Ehe. Bis zum vierzehnten Lebensjahr wachsen die Kinder überwiegend bei beiden Elternteilen auf (86% im Westen und 87% im Osten)[8].
Ein Drittel der Ehen werden wieder geschieden und gleichzeitig bringen immer mehr unverheiratete Frauen Kinder zur Welt, weshalb die Zahl der Alleinerziehenden weiter zugenommen hat.
Grundsätzlich steigt die Zahl der Kinder, die bei Alleinerziehenden aufwachsen, stetig an. Im Jahr 1998 wurden 16% der Heranwachsenden von nur einem Elternteil großgezogen[9].
Man kann mutmaßen, dass Einzelkinder trotz besserer finanzieller Stellung oftmals die Benachteiligten sind. Ihnen fehlt der Austausch mit Geschwistern und somit die Möglichkeit, bestimmte soziale Fertigkeiten frühzeitig zu erlernen. Sie kennen keine Geschwisterrivalitäten und müssen sich nicht mit anderen Kindern der Familie ständig auseinander setzen. Ihre Chancen, das Akzeptieren von konkurrierenden Interessen, das Teilen der elterlichen Zuwendung und das Zugestehen von Kompromissen zu erlernen, sind begrenzt. Bereits im Kindergarten kommen völlig neue Erfahrungen auf diese Kinder zu und verhärten sich noch einmal im konkurrierenden Schulalltag. Die sog. „Einzelkinder“ müssen sich vermutlich auch vermehrt mit Ängsten abfinden, da die Eltern um ihr einziges Kind evtl. mehr Angst haben und diese Angst dem Kind unbewusst vermittelt wird.
In einer Gesellschaft, die Arbeit als höchstes Gut bezeichnet, sinkt die Zeit, die mit Kindern verbracht werden kann. Weniger Kommunikation und Austausch von Erlebnissen, Sorgen und Ängsten kann zu einer Vereinsamung der Kinder und Jugendlichen führen, die mit ihrem Leben überfordert sind.
In einer Zeit des Umbruchs mit unzähligen Angeboten des Konsum- und Medienmarktes, der schulischen und beruflichen Herausforderung im Hinblick auf die Bedeutung des Bildungszuwachses brauchen Kinder und Jugendliche besonders viel Halt und Stabilität. Die Gesellschaft erwartet, dass die Familien selbst in der Lage sind, die vielfältigen Erziehungs- und Sozialisationsaufgaben bewältigen zu können, ohne die Möglichkeit, die dafür nötigen Kompetenzen auch zu erwerben. Können die Personensorgeberechtigten dieses Gefühl der Sicherheit und die Wert- und Normensysteme nicht vermitteln, stehen die Heranwachsenden einer Welt im Überfluss mit unzähligen, verwirrenden und oft grenzwertigen Möglichkeiten gegenüber.
Nachdem die familiären Gefüge nicht mehr so stabil sind und jeder darauf bedacht ist, seinen individuellen Lebensweg einzuschlagen, ist dies ein möglicher Angstauslöser bei Kindern und Jugendlichen. Von Heranwachsenden wird viel erwartet und gefordert, es gilt sie nicht unter diesem stetigen Druck in Ängste flüchten zu lassen.
2.3 Ängste im politischen und wirtschaftlichen Kontext
Deutschland durchlebt eine Veränderung der Lebenslagen und einen demographischen Wandel[10]. Als Stichpunkte seien Globalisierung, Aktienmärkte, stagnierende Weltwirtschaft, Gewinndenken, Zusammenbruch der sozialen Sicherungssysteme einschließlich der Alterssicherung und die Aufrechterhaltung eines gewohnten Lebensstandards genannt. Der drastische Rückgang der Geburtenentwicklung, die damit verbundene abnehmende Zahl der Jüngeren und die drastisch zunehmende Zahl der älteren Generation werden zu extremen Veränderungen in der langfristigen Verteilung von Nutzen und Lasten öffentlicher Leistungen im Generationenverlauf führen. Die Pluralisierung von Lebensformen und Überlagerungen von Geschlecht, Religion, Bildung, Alter, Migration und Schicht führen zu Verwirrungen aller Generationen.
In den Vordergrund müsste eine stärkere politische Gestaltung und Absicherung der sozialen Infrastruktur für Familien, Kinder und Jugendliche stehen, vor allem verbunden mit einem Ausbau von sozialen Dienstleistungen und Hilfen zur Unterstützung der eigenen Ressourcen.
Die Bundesregierung bemüht sich in der Familienpolitik um eine Verringerung der Familienarmut und eine Entlastung für Familien im unteren Einkommensbereich.
Durch die Familienleistungen wie Kindergeld, Erziehungsgeld, Unterhaltsvorschuss und BAföG, konnte die Einkommensarmut von Alleinerziehenden um 15% gesenkt werden. Das Kindergeld für das erste und zweite Kind wurde um 42 Euro erhöht. Insgesamt wurden Familien um 5,8 Mrd. Euro steuerlich entlastet. Der Bund fördert gleichzeitig mit 1,5 Mrd. Euro die schnelle Erweiterung einer Betreuungs- und Bildungsinfrastruktur für Kinder, um Eltern die Möglichkeit zu geben erwerbstätig zu bleiben und Kindern den Bildungseinstieg zu erleichtern. Am 1. Januar 2005 wurde das Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt eingeführt. Es unterstützt Familien mit geringem Einkommen mit einem Kinderzuschlag von monatlich bis zu 140 Euro pro Kind. Durch die Sozialhilfereform erhalten seit diesem Zeitpunkt zudem alle bedürftigen Alleinerziehenden einen Mehrbedarfszuschlag. Dies gilt erstmals für 70.000 Alleinerziehende mit einem Kind ab 7 Jahren und knapp 10.000 Alleinerziehende mit mehreren Kindern, auch für den Fall, dass sie überwiegend Grundsicherung für Arbeitssuchende erhalten[11].
In Bezug auf die Bildungspolitik hat die Bundesregierung mittlerweile die Mittel für Bildung und Forschung seit 1998 um 37,5 % bzw. um 2,72 Mrd. Euro auf rund 10 Mrd. Euro erhöht (2005). Der Bund investiert rund 4 Mrd. Euro in den Auf- und Ausbau von Ganztagsschulen. Die Zahl der BAföG-Empfänger stieg von 341.000 im Jahre 1998 auf 505.000 im Jahr 2003. Der Nationale Pakt für Ausbildung und Fachkräftenachwuchs in Deutschland hilft allen jungen Menschen eine berufliche Perspektive zu eröffnen, d.h. wenn sie den Anforderungen der Gesellschaft „genügen“[12].
Ängste haben politisch und wirtschaftlich gesehen eine ganz neue Dimension erreicht. Angst ist kein Tabuthema mehr, über das niemand sprechen möchte, vielmehr werden die Sorgen und Befürchtungen der Bevölkerung öffentlich präsentiert. Dass die Ängste von Kindern und Jugendlichen dabei immer weiter an Bedeutung gewinnen, belegen die zahlreichen Studien und Bildungslektüren, die meist sogar in den Medien dargestellt werden. Dass die heranwachsende Generation erheblich gefährdet ist, erläutern die epidemiologischen Daten.
2.4 Epidemiologie der Ängste
Die Epidemiologie der psychischen Störungen und Verhaltensauffälligkeiten der Zielgruppe Kinder und Jugendliche spielt sowohl unter den präventiven als auch unter den Gesichtspunkten der Versorgung eine Rolle mit erheblicher Relevanz, da ein nicht geringer Teil der Heranwachsenden von psychischen Auffälligkeiten und Erkrankungen betroffen ist. Das Auftreten psychischer Störungen im Alter bis 18 Jahren liegt bei einer „Prävalenzrate zwischen 10% und 20%, in Deutschland bei ca. 18% auf recht hohem, stabilem Niveau[13]“ In Bezug auf das Kindes- und Jugendalter gehören dabei Angststörungen zu den häufigsten psychiatrischen Erkrankungen. „Eine epidemiologische Untersuchung von neun bis dreizehnjährigen Kindern ergab, dass Angststörungen mit einer Prävalenzrate von 5,7%[14] die häufigsten Diagnosen sind.“ Meist stehen psychosoziale Störungen, in Verbindung mit psychosomatischen Erkrankungen, an denen insgesamt etwa 12-15%[15] aller Kinder und Jugendliche leiden und die im Verlauf der empirischen Arbeit wieder aufgegriffen werden.
Betrachtet man die globalen Angsterkrankungen zusammen mit dem Aspekt Schule, so zeigt sich, dass 5,1% der Kinder und Jugendlichen von emotionalen Problemen wie häufigen Sorgen, Unglücklichsein, Nervosität in neuen Situationen und vielen Ängsten so intensiv betroffen sind, dass sie als auffällig und weitere 4,8% als grenzwertig eingestuft werden müssen. Die oftmals allgemeine Auffassung, dass Mädchen psychisch labiler sind als Jungen, kann hier bestätigt werden, da es sich bei den Betroffenen in der Mehrzahl um Mädchen und hier besonders um Schülerinnen handelt. Während 8% der Mädchen schwerwiegende emotionale Probleme haben und zusätzlich 6,8% grenzwertig sind, fallen die Jungen mit nur 2,1% schwerwiegend und 2,6% grenzwertig auf[16].
Die höchste Erkrankungsrate bei Angststörungen liegt auffälligerweise zwischen dem sechsten und dem zwölften Lebensjahr In diesem Alter verändern sich allein mit dem Eintritt in die Schule die Lebensumstände von Kindern. Sie werden mit sehr viel Neuem konfrontiert und müssen lernen, ihren Platz in der Gesellschaft einzunehmen und sich zu behaupten. Diese Veränderungen können verunsichern und Angst machen, womit sich der früheste Erkrankungsbeginn bei Kindern mit spezifischen Phobien nachvollziehen lässt. Im fortschreitenden Alter kommen Trennungsangststörungen (7,5 Jahre), generalisierte Angststörungen des Kindesalters (8,8 Jahre) und soziale Phobien (10,8 Jahre) hinzu. Ist vor Beginn der Pubertät das Verhältnis zwischen Mädchen und Jungen noch relativ ausgeglichen, haben Mädchen nach der Pubertät ein doppelt so hohes Erkrankungsrisiko wie die Jungen[17].
Meist stehen psychosoziale Störungen in Verbindung mit psychosomatischen Erkrankungen, an denen insgesamt etwa 12-15%[18] aller Kinder und Jugendlichen leiden und die im Verlauf der empirischen Arbeit wieder aufgegriffen werden.
Laut dem Jugendgesundheitssurvey zählen zu den psychosomatischen Gesundheitsbeschwerden nicht nur körperlich Symptome wie Kopfschmerzen, Rückenschmerzen, Bauchschmerzen, Schlafstörungen, Appetitlosigkeit, Schwindel und Müdigkeit, sondern auch psychische Symptome wie Gereiztheit, Nervosität, Ängstlichkeit und allgemeines Unwohlsein. Treten diese Symptome ohne organische Ursachen auf, kann von psychosomatischen Beschwerden gesprochen werden[19].
Auch bei psychosomatischen Erkrankungen treten Mädchen häufiger in Erscheinung als Jungen. Vermutlich weil sich Mädchen generell eher trauen Schmerzen oder Angst anzugeben als Jungen.
Psychosomatische Beschwerden treten bei Jungen und Mädchen in Form von häufigen Kopfschmerzen, Magen- und Rückenschmerzen sowie Schlafstörungen vor allem in Beziehung mit erhöhtem schulischem Leistungsdruck und einem negativ bewerteten Schulklima auf[20]. Viele Studien weisen darauf hin, dass ein schwaches Selbstwertgefühl, somatische oder psychische Emotionalstörungen in engem Zusammenhang mit schulischem Versagen stehen können[21].
Im Vorgriff auf den Bereich der empirischen Arbeit soll die Epidemiologie der Ängste kurz unter den Gesichtspunkten der Jugendforschung in Deutschland betrachtet werden. Als Grundlage gilt vorzugsweise die derzeit aktuellste Jugendstudie[22].
Für Jugendliche nimmt die Familie mit 70% der gesamten Jugend und sogar 75% der Mädchen einen besonders hohen Stellenwert ein. Ängste, dass der Familie etwas zustoßen könnte, sind deswegen besonders groß.
Im Hinblick auf den Aufbau des Selbstwertgefühls ist die Schule von großer Relevanz. Die Schule begleitet die Heranwachsenden über einen längeren Zeitraum und nimmt deswegen viel Einfluss auf die Entwicklung, wobei gleichzeitig ein enormer Leistungsdruck ausgeübt wird. Bei Konfliktsituationen in der Familie stehen Schulleistungen an erster Stelle, was mitunter auch ein Grund ist, weswegen nur ein Drittel der Schüler und Schülerinnen gern oder sehr gern zur Schule gehen. Aufgrund der wirtschaftlichen Situation verschlechtert sich die Lage für schlechter qualifizierte Jugendliche. Schulleistungen und Abschlüsse sind vor allem für das spätere Erlangen einer Ausbildungs- oder Arbeitsstelle relevant. Schüler und Schülerinnen mit dem niedrigsten Bildungsniveau, der Hauptschule, zeigen sich deswegen auffallend ängstlich. Nur 37% glauben später erwerbstätig sein zu können, 14% befürchten arbeitslos zu sein, 44% haben Hoffnung auf eine Berufsausbildung. Die Differenz zu Schulabgängern des Gymnasiums liegt bei 46%.
Die Einstellung Jugendlicher, bezüglich der in der Shell Studie ausgewählten gesellschaftlichen Problemen, macht deutlich, dass die durchschnittliche Angst vor Terroranschlägen (70,5%), dem sinkenden Wirtschaftswachstum (66%) und vor einem Krieg in Europa (59%) besonders groß ist. Im Vergleich mit den psychosomatischen und psychischen Störungen bestätigt sich auch hier, dass weibliche Jugendliche gegenüber ihren männlichen Altersgenossen in allen Bereichen vermehrt Ängste zeigen.
Nach Auffassung vieler Erwachsener interessieren sich die Jugendlichen weder für gesellschaftliche Fragen noch für Politik. Doch die Präsenz der Ängste zeigt deutlich, dass sie sich sehr wohl mit globalen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Problemen auseinander setzen[23].
2.5 Angst im Wandel der Zeit
Aus historischer Sicht betrachtet ist Angst ein der ältesten Emotionen der Menschheitsgeschichte. Sie geht auf die Frühzeit unserer Entwicklungsgeschichte zurück und stellt einen wesentlichen Schutzmechanismus dar.
Seit Beginn der Menschheit galt es als überlebensnotwendig, bei drohenden Gefahren oder Angriffen den Körper in Alarmbereitschaft zu versetzen und zu reagieren. Durch die Angst und die dabei ausgeschütteten Hormone waren die Menschen in der Lage, auf gefährliche Gegner, wie den Säbelzahntiger, zu reagieren und ihr Leben zu retten. Im Laufe der Evolution hat sich das Lebensumfeld der Menschen verändert. Die Bedrohung durch den Säbelzahntiger ist der Bedrohung durch den Straßenverkehr gewichen.
Die Veränderung von Lebensumständen führt automatisch zu einer Veränderung von Ängsten, wobei die Grundzüge der Angst gleich bleiben. Was am Verhalten kleiner Kinder wie auch bei den Menschenaffen unseren Vorfahren, gut zu beobachten ist, wie Angst und Verunsicherung das Lernen blockieren können. In ungewohnten und somit bedrohlichen Situationen für das kleine Kind suchen sie einen sicheren Ort, wie z.B. den Schoß der Mutter und ziehen ihren Arm über sich, um sich zu verstecken. Haben sie keine Angst mehr nehmen sie wieder Kontakt mit der Umwelt auf[24].
Zu früheren Zeiten wurde die Furcht der Kinder als Mittel zur Erziehung missbraucht, Mit schwerwiegenden angedrohten Sanktionen sollten die Kinder zu folg- und sittsamen Menschen erzogen werden. Um diese Drohungen zu intensivieren wurden bereits im 18. Jahrhundert Lehrbücher für Erwachsene zur Erziehung ihrer Kinder geschrieben. Mit aller Härte wurde dabei gegen die Heranwachsenden vorgegangen, ohne sich darüber Gedanken zu machen, welche Ängste sie dadurch bei ihren Zöglingen auslösten. Sie jagten den Kindern beispielsweise Angst ein, in dem ihnen gedroht wurde welche unter Umständen tödlichen Schläge ihr Ungehorsam haben könnte[25].
Eine ähnliche grausame Vorgehensweise der Erziehung waren die Märchen, die ursprünglich als Lektüre für Erwachsene gedacht waren. Erst später dienten sie der Unterhaltung der Kinder[26]. Märchen drücken die ureigenen Ängste der Kinder aus. Sie etikettieren die Personen und ihr Handeln, differenzieren in Gut und Böse und sind oftmals grausame Modelle zur Lebensbewältigung. Mit den Märchen sollen Kindern moralische und soziale Werte vermittelt und sie somit zu besserem Verhalten erzogen werden. Während diese Geschichten die Kinder durch Angst und Einschüchterung auf den rechten Weg leiten sollten, gibt es inzwischen die Variante der Mut machenden Märchen. Sie unterstützen die Entwicklung zur selbstbewussten Persönlichkeit. Sie vermitteln den Kindern nicht aufzugeben, den Mut nicht zu verlieren und keine Angst haben zu müssen, denn sie sind stark[27].
2.5.1 Angsterleben im Mittelalter
Da es Ängste zu allen Zeiten gab und sie sich je nach Zeitalter verändert haben, ist es sinnvoll sie im folgenden Verlauf genauer zu betrachten.
Die Menschen, die im frühen bis späten Mittelalter, also vor etwa 500 bis 1500 Jahren lebten, waren nicht mehr oder weniger ängstlich, als die Menschen es heute sind. Nur bezogen sich die Ängste in früherer Zeit vermehrt auf die existentiellen Grundlagen und das allgemeine Überleben sowie auf ihr Seelenheil und unerklärliche Naturereignisse.
Die Menschen zur damaligen Zeit waren sehr arm, etwa vergleichbar mit den Menschen in den heutigen ärmsten Ländern der Welt[28]. Dennoch wurde die Armut anders empfunden, da die übrigen Menschen bis auf wenige Ausnahmen ebenso arm waren. Die Angst in Armut leben zu müssen war eine andere als heute, da sie nicht mit Schande einherging.
Der mittelalterliche Mensch fürchtete sich vor den Ungläubigen. Damit waren Moslems, Juden und Heiden gemeint, vor denen den Kindern große Angst gemacht wurde. Man erzählte ihnen, wenn sie nicht artig seien oder nachts noch nach draußen gingen, würden sie von den Zigeunern geholt werden, die bekanntlich kleine Kindern fräßen.
Seuchen, wie die Pest oder auch Schwarzer Tod genannt flößten den Menschen eine ganz andere Angst ein, als es heute bei einer Grippeepidemie der Fall ist[29].
Die Ängste der Kindern und Jugendlichen unterschieden sich im Mittelalter kaum von den Ängsten der Erwachsenen. Sie galten bereits viel früher als erwachsen und teilten somit die Ängste der Eltern oder der Lehnsherren. Die heutige Gesellschaft versucht den Kindern Existenzängste zu ersparen und schließt sie aus ihren Ängsten scheinbar aus. Ängste von Heranwachsenden wurden vor allem dadurch geprägt, dass sie sehr schnell für sich selbst verantwortlich und ihre Arbeit lebensnotwendig für den Unterhalt der Familie waren. Sie waren einem völlig anderen Druck ausgesetzt, als das unter Leistungs- und Versagensängsten geprägte heutige Kind.
Nach mittelalterlicher Auffassung bilden sieben Jahre und ihr Vielfaches die Stufen der einzelnen Lebensalter aus[30].
Auf die erste Phase, die „infantia“, von der Geburt bis zum Alter von sieben Jahren folgt die Knaben- beziehungsweise Mädchenzeit, die „pueritia“, die bei Jungen mit vierzehn Jahren, bei Mädchen hingegen bereits mit zwölf Jahren endet. Anschließend folgt die Phase der Jugendzeit, die „adolescentia“, die sich bis zum Erwachsenenalter erstreckt. Im Alter von Sieben endet die Kindheit und die Eltern, wenn sie keine Leibeigenen oder abhängigen Bauern waren trafen die Berufsentscheidung für das männliche Kind. Das Kind trat aus der familiären Erziehung in die Erziehung außerhalb der Familie ein, indem es sich von seinen Eltern lossagte und beim Lehrherrn als „Eigentum“ bis zum Ende der Lehrzeit verblieb. Mädchen blieben durchaus auch zu Hause, um sich auf ihre Pflichten als künftige Haus- und Ehefrauen vorzubereiten. Die Angst vor dem Neuen und die Angst davor, nicht mehr im Schutz der Familie zu leben war ein alltägliches Erleben, das die Kinder aller Gesellschaftsschichten durchleben mussten.
Auch in der Bildung und Erziehung gibt es gravierende Unterschiede.
Während das Kind seinen Eltern, Lehrern und Lehnsherren bedingungslos zu gehorchen hatte und die körperliche Züchtigung ein gebräuchliches Mittel der Erziehung war um Kindern schändliche Worte und Taten auszutreiben, werden Schläge in der Erziehung sogar bestraft[31]. Die Eltern sind durch Gesetze verpflichtet, für das minderjährige Kind zu dessen Wohl zu sorgen und bei der Pflege und Erziehung zu selbstständigem und verantwortungsbewusstem Handeln die Fähigkeiten und Bedürfnisse des Kindes zu berücksichtigen. In den Zeiten des Fortschritts und der Kinderforschung wird das Kind als eine Persönlichkeit angesehen, die Zeit zur Entwicklung, Nachsicht und Schutz benötigt[32].
Heute haben Menschen Angst davor ihr wertvolles, letztendlich aber lebensunwichtiges Hab und Gut zu verlieren oder in Armut und ohne Arbeit leben zu müssen. Der moderne Mensch unserer Zeit misst sein Ansehen anhand seiner Güter. Wie schon der Werbeslogan einer Versicherung sagt „mein Haus, mein Auto, mein Boot, meine Frau“ orientiert sich der Wert eines Menschen im Ansehen anderer oft nach seinem Besitz. Selbst Kinder und Jugendliche haben Angst in die Schule zu gehen, wenn sie nicht die neuesten Markenklamotten tragen und suchen sich Freunde danach aus, wer das aktuellste Handy hat. Der Materialismus des 20. und 21. Jahrhunderts hat praktisch zu ganz neuen Ängsten geführt, die in früherer Zeit gar kein Thema waren.
2.6 Zusammenfassung
Angst ist ein subjektiv erlebter Aspekt und deswegen schwer objektiv zu definieren. Alle Definitionen und inhaltlichen Darstellungen genügen der Anforderungen der jeweiligen Themenbereiche, können jedoch das Phänomen Angst seinem Erlebnisaspekt nach nur ungenau hinreichend erklären. Fasst man die vorliegenden Erkenntnisse zusammen, dann lässt sich feststellen, dass Angst von jeher ein Thema war, das die Menschen in allen Bereichen beschäftigt und belastet, aber auch fasziniert hat.
Wie sich die Zeiten verändert haben, so haben sich auch die soziologischen und politischen sowie die epidemiologischen Umstände verändert und mit ihnen auch die Ängste der Menschen.
Die Veränderung der Ängste zeugt von dem ausgeprägten Wunsch zu überleben und sich auf Gefahren der neuen Zeit rechtzeitig einzustellen. Während die Furcht des steinzeitlichen und des mittelalterlichen Menschen noch aus Unwissenheit, Aberglauben und vor Bedrohungen durch wilde Tiere und Seuchen geboren wurde, haben wir heute Angst vor dem, was wir uns erklären, aber nicht aufhalten können, wie z.B. einen Tsunami.
Seit jeher sind die Ängste von Kindern genauso vorhanden wie die der Erwachsenen. Aber erst in den 80er Jahren wurde das Kind auch als aktive und lernende Persönlichkeit angesehen und von seinem ersten Lebenstag an als ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft verstanden und in die Kindheitsforschung[33] integriert.
Der lerntheoretische Aspekt mit der Beeinflussung durch Bezugspersonen, Peers und Medien nimmt eine entscheidende Funktion bei der Entstehung von Ängsten bei Kindern und Jugendlichen ein, ebenso die sich rasant verändernden gesellschaftlichen Bedingungen. Man darf nicht vergessen, dass trotz der Leistungsgesellschaft Heranwachsende heutzutage mehr Kinder und Jugendliche sein dürfen, als dies zu früheren Zeiten der Fall war. Es wurde erkannt, dass die Phase des Heranwachsens Freiräume und weniger Zwänge benötigt. Sie müssen keine existentiellen Ängste mehr haben, ihr Aufwachsen ist weitestgehend gesichert. Ihr Leben ist wesentlich besser, sicherer und entspannter als das der Kinder im Mittelalter. Deswegen stimmt es besonders nachdenklich, dass Ängste bei den Heranwachsenden stark zugenommen haben. Psychische Auffälligkeiten und psychosomatische Beschwerden haben ebenfalls einen weit verbreiteten Einfluss. Wie sich gesellschaftliche Ängste von Kindern und Jugendlichen unter den gegebenen Umständen spezifizieren und äußern, wird nun näher erläutert.
3. Angst bei Kindern und Jugendlichen heute
Angst ist kein Tabuthema mehr, vielmehr machen zahlreiche Statistiken darauf aufmerksam, dass die Ängste auf dem Vormarsch sind und in Deutschland stetig steigen. Die R+V Studie des Infocenter der „Versicherung und Vorsorge Gesellschaft“ ist eine von vielen, die repräsentative Langzeitstudien zu den Ängsten der deutschen Bevölkerung durchgeführt hat. Sie begann 1991 und nun werden jedes Jahr neue Ergebnisse präsentiert. Somit orientiert sich die Studie am Zeitgeschehen und ist in der Lage aussagekräftige Ergebnisse zu erzielen. 1994 wurden erstmals auch die Ängste von Kindern und Jugendlichen untersucht. Im zweijährigen Rhythmus wird diese Studie regelmäßig erneuert. Dadurch erlaubt sie Aussagen über Veränderungen im Angstspektrum der Kinder. Die Daten zu Kinderängsten wurden zuletzt 2003 erhoben. Die Repräsentativität der Ergebnisse ist mit einer Wahrscheinlichkeit von 95% gegeben.
3.1 Angst als ein Problem unserer Gesellschaft? – Allgemeine Darstellung der aktuellen Situation
„Ängste haben Hochkonjunktur“ lautete eine Schlagzeile im Münchner Merkur vom 9. September 2005[34]. Die Ängste der Deutschen hätten ein Rekordhoch erzielt; jeder zweite blicke mit großer Angst in die Zukunft. Globalisierung, Aktienmärkte, stagnierende Weltwirtschaft, Gewinndenken, Zusammenbruch der sozialen Sicherungssysteme einschließlich der Alterssicherung und die Aufrechterhaltung eines gewohnten Lebensstandards überhäufen die deutsche Bevölkerung mit schlechten Nachrichten und lassen sie verunsichert zurück.
Höchstwerte erreichen dabei vor allem wirtschaftliche Themen, wie die Angst vor steigenden Preisen, einem weiteren Rückgang der Wirtschaft und Arbeitslosigkeit. Die neuesten Zahlen zeigen, dass sich 72%[35] der Bürger und Bürgerinnen vor einem weiteren Anstieg der Lebenshaltungskosten fürchten, dicht gefolgt von der Angst vor einer Verschlechterung der Wirtschaftslage mit 70%.
Aufgrund der derzeitig hohen Arbeitslosenquote von 11,5%[36] ist die Angst der Bundesbürger vor dem Verlust ihrer Arbeitsplätze besonders hoch, mangelnde Ausbildungsplätze tun ihr übriges um Arbeitseinsteiger zu ängstigen. Die Angst vor der hohen Arbeitslosenquote in Deutschland ist so hoch wie nie zuvor. Mit 68% liegt sie damit noch 3% vor der Angst, den eigenen Arbeitsplatz zu verlieren.
Auffallend ist, dass sich der Einzelne zunehmend persönlich von der Konjunkturkrise und sozialen Einschnitten betroffen fühlt.
Etwa zwei Drittel der Bundesbürger haben wenig Vertrauen in die Politik. Die fehlende Bürgernähe der Politiker zeigt sich in Unsicherheiten bei Bürgerbefragungen. Mit 64% liegt die Angst vor fehlender Bürgernähe damit auf dem gleichen Platz, wie die Angst vor einer schweren Erkrankung der eigenen Person oder eines Familienmitgliedes.
Eine weitere Nullrunde für Rentner und Rentnerinnen und die steigenden Lebenserhaltungskosten schüren die Angst, im Alter ein Pflegefall zu werden. Zusätzlich verunsichern die stetig steigenden Krankenkassenbeiträge und die immensen Kosten, die im Falle einer Erkrankung auf einen zukommen würden, die Bevölkerung sehr. Mit 62% liegt die Angst somit noch weit über dem Durchschnitt.
Auch 15 Jahre nach der Wiedervereinigung verspüren die Bürger und Bürgerinnen der neuen Bundesländer immer noch mehr Angst, allerdings holen die Westdeutschen auf. Seit 2005 ist die Kluft zwischen West und Ost auf 3% gesunken. Dies ist der geringste Abstand seit Beginn der Langzeitstudie 1991.
Vermehrten Medienberichte von Sexualmorden an zahlreichen Kindern prägen das Angstverhalten der Deutschen und ihrer Kinder. Felix M., Jessica Popp, Denise, Levke, Angelina, Maria Juhl, Sonja und Tom, Peggy Knobloch und Tobias sind nur einige wenige, die in Erinnerung geblieben sind, nachdem sie spurlos verschwunden und Tage später tot und sexuell missbraucht wieder aufgefunden wurden. Nicht einmal auf Schulwegen sind die Heranwachsenden sicher. Die Tatsache dass z.B. verurteilte pädophile Straftäter nach ihrer Entlassung weitere Schandtaten an Kindern begehen können beunruhigt Eltern und Kinder gleichermaßen.
Die Medien berichten im Zusammenhang mit der Schule ebenfalls immer häufiger über steigende Angst bei Kinder und Jugendlichen. Dafür sind nicht nur die schlechten deutschen Ergebnisse der letzten „Pisa- Studie“, sondern auch die scheinbare Zunahme von Gewalt und Mobbing an Schulen.
Welche Ängste belasten die Heranwachsenden unter ausführlicher Beobachtung?
3.2 Verteilungsformen von Angst bei Heranwachsenden
Die Ergebnisse der R+V Studie sind erschreckend, nimmt die Welt der Erwachsenen doch allgemein an, dass eine Kindheit in Deutschland eine ohne Sorgen ist. Kinder fürchten sich jedoch nicht nur vor Dingen wie dem schwarzen Mann, sondern sie teilen die Ängste ihrer Umwelt und Mitmenschen.[37]
Die Umfrage ergab, dass 57% der Befragten Angst vor einem Schicksalsschlag in der Familie haben. Mehr als die Hälfte der Kinder und Jugendlichen fürchtet sich davor, dass jemand in der Familie erkranken, einen Unfall haben oder sterben könnte. Damit ist die Angst zum Jahr 2001 etwas angestiegen. Eine Familie vermittelt Geborgenheit und Sicherheit. Je enger und verständnisvoller die Bindung zwischen Jugendlichen und Eltern ist, desto weniger Angst und desto mehr Selbstwertgefühl haben die Jugendlichen. Deswegen ist die Sicherheit und Stabilität einer Familie so wichtig für die Entwicklung der Heranwachsenden.
An zweiter Stelle steht mit 50% die Angst, Opfer eines Sittlichkeitsverbrechens zu werden, wovor sich vor allem die Mädchen fürchten. Hier wird ganz deutlich, dass bereits Kinder durch Medienberichte und Gespräche der Eltern beim Abendessen beeinflusst werden. Die Sexualmorde an Kindern wie Peggy, Pascal sowie Tom und Sonja im Jahr 2003 sind in bleibender Erinnerung geblieben und prägen die Ängste von Eltern und Kindern gleichermaßen.
Die Angst vor einem Krieg mit deutscher Beteiligung stieg in den Jahren 2001 bis 2003 aufgrund des Irakkonfliktes vom sechsten auf den dritten Platz an. Für beinahe die Hälfte der Befragten hat dieses Ereignis durch die ausführliche Berichterstattung der Medien an Bedeutung gewonnen. Mit 48% liegt diese Furcht noch ein Prozent vor einer eigenen schweren Erkrankung oder dem eigenen Tod.
40% der befragten Kinder fürchten sich davor, dass die Eltern sich trennen oder scheiden lassen könnten, was eng mit der Angst um die Familie und Veränderungen in diesem Kontext zusammenhängt.
Nach Rita Jakil, Pressesprecherin des R+V Infocenters[38] steigen die Ängste von Kindern seit dem Jahr 1995 stetig an. Schuld daran seien die steigenden Scheidungsraten und die Konjunkturflaute.
Ebenfalls im oberen Bereich der auftretenden Ängste bei Kindern und Teenagern liegen
Umweltverschmutzung und der Gewalt der Eltern ausgesetzt zu sein. Die 32% dieser Kinder müssen schon einschlägige Gewalterfahrungen gemacht haben, denn ein psychisch stabiles Kind, das eine emotional intakte Beziehung zu seinen Eltern hat, muss sich nicht vor Schlägen fürchten, da seine Eltern nicht zu diesen Mitteln greifen würden.
Die Angst vor Arbeitslosigkeit und Geldnot in der Familie stieg auf 30% an und liegt nun auf dem viertletzten Platz, wobei ältere Kinder deutlich mehr Angst davor haben, als die 6- bis 8-jährigen. Dies lässt sich auf ein besseres Verständnis der Jugendlichen für die wirtschaftliche Situation zurückführen.
Angst vor schlechten Noten in der Schule haben nur 26%. Insgesamt steigt die Angst vor schlechten Zensuren stetig mit dem Alter an.
Auf dem letzten Platz liegt die Furcht vor Problemen mit Ausländern mit gerade einmal 14%, was beweist, dass Kinder und Teenager noch nicht so von Vorurteilen geprägt und wesentlich toleranter sind.
Da Mädchen bei allen befragten Ängsten mit höheren Tendenzen abgeschnitten haben, wird der Bezug zwischen Geschlecht und Angst genauer betrachtet.
3.3 Auftretenswahrscheinlichkeit von Angst in Beziehung zum Geschlecht
Dass es geschlechtsspezifische Unterschiede im Angsterleben gibt, wurde bereits in mehreren Punkten dargestellt. Frauen und Mädchen sind nicht nur vom medizinisch- epidemiologischen Standpunkt aus gesehen tatsächlich häufiger von Ängsten betroffen als Männer und Jungen. Auch die R+V Studie macht sehr deutlich, dass die Ängste der Mädchen weit höher liegen, als die der Jungen, welche nur in der Frage nach einem materiellen Verlust (z.B. Fahrrad) mehr Furcht zeigen[39].
Die Frage, die sich stellt, ist weshalb signifikante geschlechtliche Differenzen im Angsterleben von Kindern und Jugendlichen bestehen.
Dazu sollte die Entwicklung der Sozialisation beider Geschlechter genauer betrachtet werden. Wie in „Angst unter historischen Aspekten“ bereits erläutert wurde, waren Frauen von Beginn der Menschheitsgeschichte an benachteiligt. Mitte des 18. Jahrhunderts wurde in wissenschaftlichen Schriften noch die Ansicht vertreten, dass das Wesen der Frau oder des Mädchens sich durch Kindlichkeit, Emotionalität und Schwäche auszeichne, die Frau somit das „schwache Geschlecht“ darstellt[40].
1977 erschien das Buch „Wir werden nicht als Mädchen geboren, wir werden dazu gemacht[41]“. Darin klagt die Autorin die Gesellschaft an, durch falsche Wertevorstellungen den Mann zum „Norm-Menschen“ gemacht und die Frau an diesem Maßstab gemessen zu haben. Mädchen und Frauen seien für Haushalt und Kinder zuständig und dafür da, dem Mann das Leben so angenehm wie möglich zu machen. Andere Qualitäten oder geistige Fähigkeiten wurden einer Frau nicht zugesprochen.
[...]
[1] Vgl. Zimbardo, 1995: Psychologie. S.489
[2] Vgl. Hobmair, 1996: Psychologie. S.162f, 379f
[3] Vgl. Elhardt, 1978: Tiefenpsychologie. S.40
[4] Vgl. Zimbardo u.a., 1999: Psychologie. S.232f
[5] a.a.O. S.233
[6] a.a.O. S. 543
[7] Vgl. Glaser u.a, 2004: Handbuch Gender und Erziehungswissenschaft. 350f
[8] 11. Kinder- und Jugendbericht des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. S.123
[9] ebd
[10] 11. Kinder- und Jugendbericht des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. S.12
[11] Vgl. 2. Armuts- und Reichtumsbericht. URL: www.bmgs.bund.de/download/broschueren/A333.pdf
[12] ebd.
[13] Vgl. Hurrelmann, 2003: Jugendgesundheitssurvey. S. 20
[14] Vgl. Herpertz-Dahlmann, 2003: Entwicklungspsychiatrie. Biopsychologische Grundlagen und die Entwicklung psychischer Störungen. S. 594
[15] Vgl. Public Health 2003. S. 637
[16] Vgl. Hurrelmann, 2003: Jugendgesundheitssurvey. S. 59
[17] Vgl. Herpertz-Dahlmann, 2003: Entwicklungspsychiatrie… S.594
[18] Vgl. Public Health 2003. S. 637
[19] Vgl. Hurrelmann, 2003: Jugendgesundheitssurvey. S.41
[20] Vgl. Hurrelmann, 2002: Geschlecht, Gesundheit und Krankheit. S. 184
[21] Vgl. Hurrelmann u.a., 2003: 14. Shell Jugendstudie. S.68
23 Hurrelmann u.a. , 2002: 14. Shell Jugendstudie
[23] Vgl. Hurrelmann u.a., 2003: 14. Shell Jugendstudie. S.58, S.68, S.72-75, S.120f
[24] Vgl. Bächer, Korinna. 2005: Schisshasen und Wagehälse. In: ZKSA 2. Quartal (2005) H 8763, 13
[25] Vgl. Rutschky, 2001: Schwarze Pädagogik. S.14
[26] EMG, deutsche Märchengesellschaft
[27] Vgl. Hörspiel, 2004: Märchen machen Mut. 10 Märchen die Kinder stark machen
[28] Vgl. Duby, 1996: Unseren Ängsten auf der Spur, vom Mittelalter bis zum Jahr 2000. S.24, 49, 77, 121
[29] a.a.O. S. 79-95
[30] Vgl. Schmid, Sandra: Richtlinien zur Kindheit: URL: www.sbg.ac.at/ges/people vom 23.08.2005
[31] Beck-Texte, 2002: Familienrecht. Elterliche Sorge. §1666 S.94
[32] a.a.O. S.88
[33] Honig, Michael: „Perspektiven frühpädagogischer Forschung“ URL: www.uni-trier.de vom 03.09.2005
[34] Münchner Merkur vom 9. Sept. 2005. Wirtschaftsteil
[35] Langzeitstudie des R+V Infocenters„Ängste der Deutschen“ URL: www.ruv.de vom 07.08.2005
[36] Bundesagentur für Arbeit in Nürnberg. Information vom 1. Sept. 2005
[37] Alle Zahlenangaben beruhen auf der angegebenen Langzeitstudie des R+V Infocenters
[38] Siehe R+V Studie zu Kinderängsten im Jahr 2003, Kurzfassung S. 2
[39] Siehe R+V Studie zu Kinderängsten im Jahr 2003
[40] Vgl. Hurrelmann, 2002: Geschlecht, Gesundheit und Krankheit. S.121
[41] Vgl. Scheu, 1978: Wir werden nicht als Mädchen geboren, wir werden dazu gemacht. S. 8-10
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- Sandra Köhler (Autor:in), 2005, Wovor haben Schülerinnen und Schüler Angst? Eine Schülerbefragung an einer Grund- und Hauptschule und die Folgerungen für die Soziale Arbeit, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/69401
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