Die Arbeit beschreibt wie und warum kulturelle Bildung (Musik, Kunst, Theater usw.) sich förderlich für den Erwerb interkultureller Kompetenzen auswirken kann. In einem Vergleich von schulischen und außerschulischen kulturellen Lernorten wird ein Spannungsfeld sichtbar, welches sich zwischen den beiden kulturell unterschiedlichen Organisationssystemen ergibt. Bei beiden Akteuren wurden hierfür tendenzielle Beschreibungen kultureller Dimensionen sowie strukturell abhängige Kompetenzpotentiale eruiert und gegenübergestellt.
Vorliegende Arbeit richtet sich an Bildungsakteure, Kulturschaffende und in diesen Feldern politisch Verantwortliche. Sie regt zur Selbstreflexion an und versucht den Perspektivenwechsel in die jeweils andere Organisationskultur.
Gliederung
Abstract
Vorwort
Einleitung
1. Kontext- & Umfeldverortung
2. Begriffsdefinitionen und Aufbau der Untersuchung
1. Gegenstand, Hintergrund und Daten
1.1 Fragestellung und Themenverortung
1.2 Entwicklungen und Begründung interkultureller Bildung
1.2.1 Geschichtlicher Abriss
1.2.2 Bedeutungswandel des Begriffs „Multikulturelle Gesellschaft“
1.2.3 Identitätskonstruktionen zwischen Multi- und Transkulturalität
1.2.4 Leitkultur(en) in der Bundesrepublik
1.2.5 Genese und Konzept interkulturellen Lernens in Deutschland
1.3 Interkulturelles Lernen braucht Spannungsfelder
1.4 Interkulturelle Bildung als Querschnittsaufgabe
1.4.1 Zuständigkeiten im Kooperativen Kultur- & Bildungsföderalismus
1.4.2 Vorschulzeit
1.4.3 Schulische Bildung
1.4.4 Außerschulische Angebote
1.4.5 Ausbau von ganztägigen Lernorten
1.5 Qualitätsmerkmale interkulturellen Lernens
2. Kulturelle Bildung schafft Lernräume interkultureller Kompetenzen
2.1 Kulturell-Ästhetische Bildung
2.1.1 Pädagogische Wendung
2.2 in der Bundesrepublik Deutschland
2.2.1 Orte kultureller Bildung
2.2.2 Aufgabenverortung der Kulturpädagogik
2.2.3 Kulturelle Bildung ist eine Querschnittsaufgabe
2.2.4 Evaluationsmöglichkeiten von Kompetenzerwerb
2.3 im interkulturellen Kontext
2.3.1 Inszenierung von Spannungszuständen
2.3.2 Grenzen kultureller Bildungsarbeit
2.4 ist Lernen im 3. Raum
2.4.1 Raummodelle als Orientierungssysteme
2.4.2 Dritte Räume sind metakulturelle Sinnräume
2.4.3 Transkultureller Ansatz im Dritten Raum
2.4.4 Zwischen symbolischen und tatsächlichen Orten
2.4.5 Zusammenfassende Thesen
2.5 Beispiele von Einrichtungen und Projekten
3. Empirische Untersuchung
3.1 Zielsetzung, Gegenstand und Methode der Untersuchung
3.1.1 Ziel der Forschungsarbeit
3.1.2 Begründung des Gegenstands
3.1.3 Empirischer Ansatz
3.2 Experten-Interview
3.3 standardisierte Fragebögen
3.4 Vergleich der Akteure hinsichtlich der Kulturdimensionen
3.4.1 Machtdistanz
3.4.2 Universalisierung / Individualisierung
3.4.3 Unsicherheitsvermeidung (Angst)
3.4.4 Maskulinität / Femininität (Emotionalität)
3.4.5 Langzeitorientierung
3.5 Ergebnisse Interkultureller Kompetenzstufen
3.5.1 Interkulturelle Kompetenz als ständiger Prozess
3.5.2 Pendelbewegungen interkultureller Phasen
3.5.3 interkulturelle Fähigkeitsbereiche
3.5.4 Vergleich der Akteure
3.5.5 Resümee
4. Ausblick
4.1 Zwischen Homogenisierung und Etablierung einer Diversitätskultur
4.1.1 Warum in die Ferne schweifen, wenn das Fremde liegt so nah?
4.1.2 Aus- & Weiterbildung für Multiplikatoren/innen
4.2 Das Spannungsfeld der Akteure als Chance für Kooperation
Literatur
Glossar:
Interviewnachweis
„Zwischen den Dingen
existiert auch etwas Atmosphärisches,
etwas schwer zu beschreibendes.
Hier wird das Hinschauen zum Forschen,
das Forschen zur Kunst...“
Adalbert Stifter[1]
Vorwort
Die vorliegende Arbeit greift diesen, von Adalbert Stifter bereits vor über 200 Jahren begriffenen „Zwischenraum“, wieder auf. Im Spagat zwischen Forschung und Kunst entstand im Verlauf der Arbeit durch die Vielfalt der unterschiedlichen, pädagogischen Ansätze und Wertvorstellungen der Befragten auch bei mir selbst ein Spannungsfeld. So war es auch für mich oftmals eine Kunst den roten Faden nicht zu verlieren und das Ziel im Auge zu behalten.
Für den in diesem Prozess erlebten Parcours der Widersprüche und ästhetischen Sinnsuche möchte ich mich bei den Menschen bedanken, die mir das dafür nötige Spannungsfeld inszeniert haben: Den beteiligten LehrerInnen und Schulleitungen sowie den VertreterInnen aus dem Bereich der außerschulischen Bildungsarbeit, die meine Arbeit durch Ihre Interviewbereitschaft und durch die Rücksendung der Fragebögen unterstützt haben.
Zahlreiche Personen haben mich auf ihre Weise während meiner Masterarbeit unterstützt. Ich möchte mich an dieser Stelle bei ihnen bedanken. Mein besonderer Dank gehört der Betreuerin meiner Arbeit, Frau Dr. Maria Hallitzky, die mir stets geholfen hat. Fachliche Unterstützung erhielt ich auch von Frau Dr. Christiane Hartnack, in Form nützlicher Ratschläge zum methodischen Aufbau.
Zum Schluss möchte ich die Personen erwähnen, die mir stets zur Seite standen und ohne deren Unterstützung und Geduld eine solche langatmige Arbeit bestimmt nicht hätte zustande kommen können. Vor allem meiner Frau Daniela, die selbst parallel ihr 2. Staatsexamen als Lehrerin machte, mir immer wieder praktische Ratschläge geben konnte und Zugänge zum Lernort „Schule“ aufzeigte. Widmen möchte ich die Arbeit meinem kleinen Sohn Leon.
Passau, im Oktober 2006
Andreas Dittlmann
„Die Rahmenbedingungen, unter denen Texte entstehen,
werden im weiteren Sinne durch den Kulturraum
geprägt, zu dem ein Autor gehört bzw. für den
er schreibt, sowie durch die Kontakte, d.h. den sozial-
gesellschaftlichen Bereich, im bzw. für den ein Text produziert wird.“
Ingo Warnke[2]
Einleitung
1. Kontext- & Umfeldverortung
Die thematische Verortung der vorliegenden Arbeit stütze ich auf verschiedene Bereiche aus meinem privaten und beruflichen Lebensumfeld. Die bereits in der Vorbereitung der Forschungsfrage entstandene Interdisziplinarität begründet einen großen Teil meiner Affinität hierzu. Ich erlaube mir etwas zurück zu blicken: Mit 16 Jahren habe ich mich das erste Mal bewusst mit kulturellen Widersprüchlichkeiten und verschiedenen Denkmustern auseinandergesetzt. Ich gründete damals mit Freunden einen Verein als Zusammenschluss verschiedener Szenen und Subkulturen – in meiner Heimat am Dreiländereck D-CZ-A. Im Verlauf der ersten Jahre in der Entstehungsgeschichte der „United Scene Group (USG)“ musste ich lernen, mit teils massiven Widerständen, Ängsten und „Vorsichtsmaßnahmen“ aus den Reihen der in Niederbayern politisch besonders laut agierenden „Traditionalisten“ umzugehen. Die Unterstützung für das Öffnen der kulturellen Grenzen und Blockaden sowie das Interesse an „kultureller Vielfalt“ war jedoch in zumindest gleicher Dimension (latent) vorhanden. Die hierfür verantwortlichen, unter Punkt 1.2 noch näher dargestellten, gesellschaftlichen Transformationsprozesse setzten ohnehin bereits Jahre zuvor ein und haben die Gesellschaft auch in der ländlich geprägten Grenzregion verändert. Dies fand vielfach unbewusst statt, in einigen Fällen jedoch auch staatlich unterstützt: Um im internationalen Vergleich konkurrenzfähig zu bleiben, wurden v. a. verschiedene, politisch formulierte Maßnahmen gestartet, strukturschwache Gegenden nachhaltig in ihren Identitäten zu festigen und die Bevölkerung gleichzeitig auf die unvermeidbaren Veränderungsprozesse vorzubereiten. Die Europäische Union fördert beispielsweise aus verschiedenen Programmen inter- und transnationale Projekte. Im Rahmen eines aus dem EU-Programm INTERREG geförderten Vorhabens mit dem Titel „junge impulse d-cz“[3], nimmt heute auch die USG die Rolle eines entwicklungspolitischen Akteurs ein. Ziel ist die Verbesserung interkultureller Kompetenzen im D-CZ Grenzraum. Die nachhaltige und auf andere Regionen übertragbare Verankerung von kultureller Bildungsarbeit (Kunst, Musik, Theater usw.) in die Moderation und Koordination von interkulturellen Regionalentwicklungsprozessen war und ist dabei ein wichtiger Schritt, welcher gefolgt wird durch strategische Überlegungen und konkrete Maßnahmen: Wesentliche Bereiche des Projektes sind hierbei die Fortbildung von Multiplikatoren/innen zu interkulturell denkenden und arbeitenden Kulturpädagogen/innen sowie die koordinierte Zusammenarbeit der unterschiedlichen Akteure aus Schule, außerschulischer Bildung und Kulturarbeit in Niederbayern an der D-CZ Grenzregion. Anhand von Modellvorhaben (Musik-Workshops, Literaturwettbewerbe, Foto-Onlineportale usw.) erhalten die Kooperationen verschiedener Einrichtungen reale, experimentelle Formen und bieten konkrete Erfahrungsmöglichkeiten. Die Auseinandersetzung mit den dadurch geschaffenen neuen Lernorten führte mich und das Team der USG unweigerlich zur Suche nach der „idealen“ interkulturellen Lernumgebung. Vorliegende Arbeit geht dieser Fragestellung im ersten Teil theoretisch nach. Ein weiterer Faktor im Rahmen der wissenschaftlichen Auseinandersetzung war die im Verlauf meiner Tätigkeit bei der USG entstandene Annahme, bei den verschiedenen Akteuren unterschiedliche, kulturelle Orientierungssysteme vorzufinden. Es wurde vermutet, dass sich diese jeweils auf ihre spezielle Art auf den interkulturellen Kompetenzerwerb auswirken. Die im Rahmen dieser Forschungsarbeit durchgeführte Evaluation der interkulturellen Lernorte kultureller Bildung hinsichtlich ihrer jeweiligen Potentiale bietet hier einen ersten Überblick über strukturelle und soziokulturelle Rahmenbedingungen. Es wurde hierfür eine Einteilung in schulische und außerschulische Akteure vorgenommen. Die Beschäftigung mit diversen, teils gegensätzlichen, theoretischen Konzepten sorgte im Hinblick auf die empirische Arbeit für eine nötige Distanz. Eine derartige Außenperspektive auf das deutsche Bildungssystem konnte auch durch das Schreiben der Masterthesis an der österreichischen Donau-Universität Krems eingenommen werden.
2. Begriffsdefinitionen und Aufbau der Untersuchung
Begriffe aus dem Alltagsleben, die auf komplexe Sachverhalte verweisen, eignen sich nicht ohne weiteres für wissenschaftliche Kommunikation. Eine Präzisierung von Worten wie „Bildung“, „Spannungsfeld“ oder auch „Kultur“ lässt sich nicht einfach durch eine Nominaldefinition erreichen. Formulierungen wie „Kultur ist die Gesamtheit aller Lebensäußerungen von Menschen“ würden zu kurz greifen. So gibt es hunderte weitere verschiedene Definitionen dieser Art. Betrachtet man diese genauer, so verbergen sich dahinter implizit kategoriale Bestimmungen. Für unterschiedliche Kontexte gibt es demzufolge verschiedene Definitionen, die jeweils erklärt werden müssen, damit Missverständnisse in der Kommunikation vermindert werden können.
„Interkulturelle Kompetenzentwicklung im institutionellen Spannungsfeld kultureller Bildungsarbeit in der BRD“. Bereits der Titel dieser Arbeit schafft Unsicherheiten, Missverständnisse und Fehlinterpretationen. Gleichzeitig symbolisiert er genau dadurch die große Schwierigkeit, die mit der Thematik verbunden ist. Die Kombination der Begriffe „Kultur“, „Interkultur“ und „Bildung“ ist wohl wie kaum ein anderes Themenfeld in ihrer Bedeutung abhängig von unzähligen Faktoren, Sinnbildern und Kontexten. In den nächsten Schritten werde ich auf den gemeinten Definitionszusammenhang intensiv eingehen und die einzelnen Begriffe in ihrer Abhängigkeit zueinander näher erläutern.
Kleiner und großer Kulturbegriff
Etwas holzschnittartig unterscheidet Zacharias den Kulturbegriff in vier Typen[4], die auch in der Bearbeitung meines Themas ihre Verwendung finden:
- Kultur ist Kunst, Musik, Poesie oder philosophische Theorie. Damit ist ein Kulturkonzept gemeint, das bis tief in die 70er Jahre – und stellenweise bis heute – eine große Rolle in der Kultur- und Bildungspolitik spielt. (nach Hofstede: „Kultur Eins“[5]) Kulturelle Bildungsarbeit bedient sich inhaltlich diesem „kleinen“ Kulturbegriff und arbeitet mit verschiedenen Formen der Theater-, Kunst-, Musik- oder Museumspädagogik usw.
- Kultur ist die Lebensweise, wie der Mensch lebt und arbeitet. Dies ist der ethnologische „große“ Kulturbegriff. (nach Hofstede: „Kultur Zwei“[6])
- Kultur als human gestaltete Lebensweise ist ein normatives Konzept von Kultur, welches Lebensweise nicht ungewertet hinnimmt, wie sie nun einmal ist, sondern das Ansprüche wie beispielsweise die „Menschenwürde“ einklagt. (Dynamischer Kulturbegriff)
- Von diesem Punkt leitet sich der vierte Typus ab: Demzufolge wird Kultur zur symbolisch verhandelten Sphäre der Werte und Normen in der Gesellschaft. Dieses Kulturkonzept ist in der Soziologie weit verbreitet. Wenn zwei, in diesem Sinne verstandene Kulturen zusammentreffen, werden Unterschiede und Gemeinsamkeiten der jeweils ausgehandelten Werte- und Normensysteme erkennbar. Das dadurch entstehende Dazwischen wird als „Interkulturell“ bezeichnet. Um mit interkulturellen Situationen angemessen umgehen zu können, werden verschiedene Kompetenzen benötigt, auf die ich später noch eingehen werde.
Kulturelle Bildung
Wichtig für das Grundverständnis vorliegender Arbeit ist es, den letztgenannten Begriff „Interkulturelle Bildungsarbeit“ von dem der „Kulturellen Bildungsarbeit“ eindeutig abzugrenzen. Kulturelle Bildung bezieht sich auf die Auseinandersetzung mit kulturellen Werten und Normen durch künstlerisch-ästhetische Formen wie Kunst, Musik, Theater, Literatur usw. Zacharias definiert die speziellen Lernformen dieser Gegenstandbereiche folgendermaßen:
- Die beiden Begriffe „Bildung“ und „Kultur“ sind trotz der weitgehend ähnlichen Ausrichtung und gemeinsamen Semantik nicht identisch: Bildung kann als subjektive Seite von Kultur und Kultur als objektive Seite von (je individuell vorhandener) Bildung verstanden werden.
- Kulturelle Bildung erzeugt durch künstlerische Mittel ästhetisches Lernen. Daher unterscheidet sie sich von anderen Bildungsansätzen inhaltlich.
- Kulturelle Bildung im ethnologischen Sinne fokussiert die Lebenswelten der Kinder und Jugendlichen und hebt sie mit Mitteln der Kunst, Musik, Theaterarbeit usw. auf eine Metaebene um sie reflektierbar zu machen.[7]
Interkulturelle Bildung
Unumgänglich sind beim Zusammentreffen unterschiedlicher Kulturen (großer Kulturbegriff) auch Spannungen verbunden, welche Herausforderungen nicht nur an Politik, Bildung und Kulturarbeit stellen, sondern letztlich von jedem einzelnen Menschen besondere Kompetenzen für das Zusammenleben abverlangen. Diese so genannten Interkulturellen Kompetenzen können erworben werden.
Kulturelle Bildungs- und Kulturarbeit im interkulturellen Kontext braucht alle vier genannten Kulturkonzepte:
- Das ethnologische Kulturkonzept, um den jeweiligen sozialen (und kulturellen) Hintergrund der beteiligten Menschen zu verstehen.
- Das kunstbezogene Kulturkonzept, weil hiermit das Spezifikum des Arbeitsfeldes der kulturellen Bildungsarbeit dargelegt wird.
- Das engagierte normative Kulturkonzept, da dadurch die Zielfrage pädagogischen Handelns thematisiert und formuliert wird,
- und das soziologische Kulturkonzept, durch das die besonderen gesellschaftlichen Wirkungen von Kulturarbeit, nämlich die symbolische Verhandlung von Normen und Werten erfasst wird.
Wissenschaftlicher Stil der Arbeit
Während des Schreibens der Master-Thesis verfolgte ich das Ziel, verschiedene „Ästhetiken“ innerhalb der Form, des stilistischen Ausdrucks und der thematischen Gliederung anzuwenden. Es ist als ein kleiner Versuch gedacht, die von Galtung[8] definierten unterschiedlichen Wissenschaftsstile innerhalb des Schreibens zu verbinden. Die damit verbundene Absicht stilistische Grenzen zu überdenken, ermöglichte mir ein prozesshaftes Bearbeiten der Fragestellung nach sachsonischem Vorbild. Die Arbeit habe ich jedoch nach teutonischer Manier in einen theoretischen, einen empirischen und einen vergleichenden Ausblick gegliedert und die kritische Frage: „Wie leitet sich das ab?“ wurde in allen Kapiteln stets beantwortet.
Aufbau
Der theoretische Teil setzt sich zusammen aus zwei Bereichen: Zuerst werde ich die Grundfragestellungen und theoretischen Ausgangslagen interkulturellen Lernens und das damit verknüpfte Ziel interkultureller Kompetenzsteigerung darstellen. Einem kurzen geschichtlichen Abriss interkultureller Bildung in der Bundesrepublik folgen eine Verortung der verschiedenen Lernorte und eine Auseinandersetzung der damit zusammenhängenden qualitativen Merkmale. In der zweiten Hälfte des Theorieteils blicke ich auf die Erfahrungswelt der kulturellen Bildung mit ihren Lernräumen für den interkulturellen Kompetenzerwerb.
Der empirische Teil der Arbeit beinhaltet die Analyse der erhobenen Daten und stellt die Untersuchungsergebnisse dar. Als Erhebungsverfahren habe ich qualitative Interviews mit LehrerInnen auf der einen Seite und VertreterInnen der außerschulischen kulturellen Lernorte auf der anderen gewählt. Zusätzlich habe ich in selbiger Zweiteilung Fragebögen versandt und ausgewertet. Diese sollen die in den Interviews erzielten beispielhaft dargestellten Thesen untermauern. Die Ergebnisdarstellung ist jedoch dennoch in keinem Fall repräsentativ und erhebt keinen Anspruch auf eine tatsächliche Beschreibung der Unternehmenskulturen im Bildungssystem der BRD. Hierfür ist die Menge der erhobenen Daten nicht ausreichend. Durch die Befragung wird lediglich eine erste Einschätzung unternommen und die Vorgehensweise im Hinblick auf eine größere Studie ausgelotet.
Die Ergebnisse sind anhand von bereits im Vorfeld definierten Indikatoren in zwei Ergebnisbereiche gegliedert:
- Erstens wird eine Tendenz von Kulturdimensionen in den beiden Lernorten festgestellt.
- Zweitens kategorisiere ich die festgestellten strukturell bedingten Kompetenzpotentiale der Handelnden.
Es geht also um einen Vergleich der Akteure für interkulturelle Kompetenzvermittlung. Die Situationsanalyse zeigt die jeweiligen Chancen und Potentiale.
Der vergleichende Ausblick setzt sich im ersten Schritt mit der Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse und den Schlussfolgerungen auseinander. Dabei wird ein Bezug zwischen den verschiedenen Aspekten hergestellt. Im zweiten Schritt wird der Versuch unternommen, Empfehlungen für eine erfolgreiche Zusammenarbeit und Vernetzung der Akteure im Sinne eines diversitätsorientierten Spannungsmanagements zu geben.
1. Gegenstand, Hintergrund und Daten
1.1 Fragestellung und Themenverortung
Ausgehend von der Tatsache einer gesteigerten gesellschaftlichen Heterogenität, des zunehmenden Aufeinandertreffens unterschiedlicher Traditionen und Werte in den verschiedenen gesellschaftlichen Praxisfeldern wird eine Bereicherung der kulturellen Vielfalt auch eine Vielzahl von gesellschaftspolitischen Herausforderungen insbesondere für die nachfolgende Generation mit sich bringen. Die beschleunigten Prozesse der kulturellen Globalisierung und das Entstehen multikultureller Gesellschaften durch internationale Migrationsbewegungen drängen die bildungspolitischen Akteure auf ein theoretisch-konzeptionelles Durchdringen der neuen Anforderungen. Auch die europäische Einigung, die nicht nur die Wirtschafts-, sondern auch die Kulturregionen einander näher rücken lässt und außerdem gemeinsame Anstrengungen zur Zukunftssicherung unausweichlich machen, gehören in die Aufzählung der wesentlichen Entwicklungslinien.
Angesichts dieser fortschreitenden Pluralisierung rücken Konzepte interkulturellen Lernens verstärkt auf die Agenda bundes- und landesweiter Bildungsausschüsse und Entwicklungsorganisationen. In der aktuellen Stellungnahme des Bundesjugendkuratoriums (BJK) zu Migration, Integration und Jugendhilfe ist zu lesen, dass die deutsche Gesellschaft bereits jetzt multiethnisch und interkulturell geprägt ist, was für die Zukunft noch stärker gelten wird.[9] Die ExpertInnen verweisen auf aktuelle Studien, die von einem Drittel junger Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland ausgehen. In den großen Städten Westdeutschlands wird bei den 15jährigen sogar ein Anteil von bis zu 40 % errechnet. Nach Schätzung des BJK muss künftig der Integrationspolitik eine hohe Priorität eingeräumt werden. Allerdings wird sie erst allmählich als zentrale jugend-, bildungs- und kulturpolitische Querschnittsaufgabe erkannt.[10] Nach Auffassung des BJK ist Integration ein wechselseitiger Prozess zwischen der Mehrheitsgesellschaft und der zugewanderten Bevölkerung: „Zentrale Orientierungen sind hierfür die Anerkennung der kulturellen Vielfalt und das Ziel eines gleichberechtigten Miteinanders heterogener Bevölkerungsgruppen auf der Grundlage des in Deutschland geltenden Rechts einschließlich der Verfassung.“[11]
Um dieser theoretischen Willensbekundung nach Diversitätskultur nachzukommen, braucht es ein möglichst breit angelegtes Bildungsverständnis. Historisch gesehen baut das Konzept Bildung in der BRD auf der Ideologie einer bundes- & landeskulturellen Leitkultur auf. Ich werde dies unter Punkt 1.2.5 noch weiter ausführen. Zusammenfassend lässt sich aber schon jetzt festhalten: Interkulturelle Kompetenzvermittlung stellt, von dieser traditionellen Grundlage heraus betrachtet, keinen wesentlichen Bereich des Lernens in der Bundesrepublik dar. Da sich partikulare Kulturgebundenheit und prinzipielle Offenheit für interkulturelle Situationen jedoch grundsätzlich nicht ausschließen sondern wechselseitig bedingen, bekommt Pädagogik dennoch eine Legitimation interkulturelle Bildungsarbeit zu leisten.[12]
Sowohl der im September 2005 zum Thema „Bildung, Betreuung und Erziehung vor und neben der Schule“ veröffentlichte zwölfte Kinder- & Jugendbericht[13] als auch der im Juni 2006 erschienene 1. Deutsche Bildungsbericht[14] unterstreichen die bereits in PISA festgestellte Tatsache, dass Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund im Vergleich zu ihren deutschen Altersgenossen wesentlich geringere Bildungschancen haben, was sich u.a. an den niedrigeren Schulabschlüssen oder einem schlechteren Leistungsniveau in sprachlichen und mathematischen Fächern ablesen lässt. Im Februar 2006 wurde aus diesem Grund eine UN-Inspektion des deutschen Bildungssystems durchgeführt. Vernor Muñoz, UN-Sonderbeauftragter für Menschenrechte, bestätigte Deutschland im internationalen Vergleich eine empfindliche Schieflage.[15] In den daraufhin erschienenen Stellungnahmen unterstreicht die Bundesregierung in diesem Zusammenhang die Forderung nach einem weiten Bildungsverständnis. Der kulturellen Bildung wird dabei ein, für die Herausbildung sozialer und kreativer Kompetenzfelder, hoher Stellenwert zugewiesen: „Die kulturell bezogenen Lern- und Erlebnisorte vermitteln einen vielfältigen Erwerb entsprechender Kompetenzen (instrumentell, kulturell, sozial, personal). Die jeweiligen kulturellen Inhalte und Angebote stellen für Kinder und Jugendliche eine Bandbreite von Handlungsmöglichkeiten, Lebenskonzepten und Lebensmodellen sowie Antworten auf Fragen nach Welterklärung und Lebenssinn zur Verfügung. Die gemeinsame Erfahrung fördert das Gemeinschafts- und Zugehörigkeitsgefühl.“[16] Einen entscheidenden Beitrag kann also insbesondere „kulturelle Bildung“ leisten in der nachhaltigen Ausbildung interkultureller Kompetenz, die vom gleichwertigen Gegenüber des „Anderen“ und „Fremden“ ausgeht und auch bereit ist, die Bedeutung eigener Werte und Traditionen in Anbetracht der vorhandenen kulturellen Vielfalt zu reflektieren, ohne sie aufzugeben.
Ein weiterer zentraler Aspekt meiner Überlegungen wird im untenstehenden Zitat aus Gero Fischer deutlich dargestellt. Interkulturelles Lernen kann demnach niemals lediglich Aufgabe und Funktion von Schulbildung sein. Vielmehr handelt es sich um einen Anspruch, der gesamtgesellschaftlich zu verfolgen ist: „Interkulturelle Erziehung ist (…) Erziehung zur internationalen Verständigung, vor der eigenen Haustür. Dies meint die Durchbrechung der monokulturellen Ausrichtung des Bildungswesens ebenso wie der Kulturpolitik. Interkulturelle und integrative Arbeit ist notwendigerweise konfliktorisch und kann nur zu einem Teil pädagogisch, d.h. in der Schule geschehen. Sie kann nur erfolgreich sein, wenn Pädagogik und Gesellschaftspolitik dieselben Ziele verfolgen.“[17]
Für die angestrebte, flächendeckende interkulturelle Kompetenzvermittlung ist daher das Zusammenspiel der verschiedenen kulturellen Bildungsakteure notwendig, da sich nur dadurch ein für Kompetenzerwerb notwendiges, prozessmoderierendes Netzwerk für Lernszenarien „spannen“ und entwickeln kann. Vor dem Hintergrund der Anfang 2006 verstärkt stattgefundenen Föderalismusdiskussion in der Zuständigkeitsverteilung von Bildungs-, Kultur- & Migrationspolitik zwischen Bund und Ländern sollte auch die Ebene der kulturellen Identitätsdefinitionen in die Matrix dieser Überlegungen miteinbezogen werden.
Zum einen sind hier also die Schulen angesprochen, in welchen neben kognitiver Wissensvermittlung auch vielfältige Kompetenzen der nachfolgenden Generation gefördert werden. Daneben sehe ich vor allem auch außerschulische Lernorte wie beispielsweise Bibliotheken, Theater, Musikschulen sowie (Jugend-)Kulturzentren als hervorragende Betätigungsfelder, die gegenseitiges Kennen lernen und wechselseitige Akzeptanz ermöglichen sowie zur Stärkung einer Verbundenheit bis zur Entwicklung gemeinsamer Vorstellungen des Zusammenlebens in einer kulturell und ethnisch vielfältigen Gesellschaft beitragen.
Eine Kooperation dieser Akteure wird ganz entscheidend davon geprägt sein, inwieweit die jeweiligen Partner die Grund-Prinzipien ihres Handelns beibehalten (können). Hier stoßen durchaus unterschiedliche „Systemlogiken“ zusammen, treffen unterschiedliche Vorstellungen von Prozesssteuerung, von staatlicher Kontrolle und Regulierung und pädagogischen Ansätzen aufeinander. Es geht mir daher in dieser Arbeit darum, die Akteure in Hinblick auf ihre „Unternehmenskulturen“ zu untersuchen, um insbesondere die jeweils angelegten Bildungswirkungen weiterhin zu ermöglichen und „unternehmenskulturell“ kompatible Kooperationsformen zu entwickeln.
Meine Hypothese liegt darin, dass durch unterschiedliche Entwicklungsprozesse der beiden Lernorte (Schule und außerschulische, kulturelle Bildungsarbeit) auch voneinander divergierende kulturelle Gruppenkulturen entstanden sind: Die vermuteten Unterschiede in den Kulturdimensionen nach Hofstede von LehrerInnen bzw. des „Schulkörpers“ einerseits und die der MitarbeiterInnen aus der außerschulischen Bildungs- & Kulturarbeit andererseits, würden auch verschiedene Potentiale für interkulturelles Lernen erkennbar machen. In einer Kooperation und Zusammenarbeit – wie von Fischer gefordert - könnte diese Diversität insbesondere in Anbetracht des gemeinsamen Bildungsziels „interkulturelles Lernen“ als Chance genutzt werden. Für die Kooperation dieser zwei, durch unterschiedliche kulturelle Orientierungssysteme geprägte Akteure, sind dann wiederum interkulturelle Kompetenzen nötig, die sich in der Matrix des Bennett-Phasenmodells (s. Punkt 3.5) finden lassen. Einen gegenseitigen Zugang könnte auch hier die kulturelle Bildungsarbeit darstellen. Sowohl in der Schule als auch im außerschulischen Lernfeld gibt es Musik, Kunst und ästhetische Lernformen. Dieser „kleine gemeinsame Nenner“ bietet zudem Zugänge in die noch später unter Punkt 2.4.2 näher dargestellten „metakulturellen Räume“ und schafft Übergänge zu sowohl inter- als auch transkulturellen Situationen.
Trotz der in den anschließenden Kapiteln dargestellten theoretischen Modelle und Lernstrategien gibt die vorliegende Arbeit keine immer funktionierenden Lösungen oder „Allheilmittel“ für Interkulturellen Kompetenzerwerb vor. Sie zeigt jedoch die Ressourcen und Grenzen kultureller Bildungsarbeit auf. Dem Leser aus diesem Feld bietet sich ferner die Möglichkeit eines Perspektivenwechsels, weil unterschiedliche Zielsetzungen interkulturellen Lernens aufgezeigt werden.
1.2 Entwicklungen und Begründung interkultureller Bildung
Die Notwendigkeit für Interkulturelle Bildung resultiert aus den bereits angesprochenen drei gesellschaftlichen Veränderungsprozessen, welche die Lebensrealität in Deutschland zu Gunsten einer kulturell vielfältigeren Nation verändert haben:
- Die internationale Migration führt(e) zu einer Vermischung ethnischer Milieus (migrationsbedingte Multikulturalität), welche in vormodernen Gesellschaften ebenso wie die Stände sehr klar voneinander getrennt waren.[18]
- Der europäische Einigungsprozess (inklusive der Wiedervereinigung Deutschlands) führt zu einem Transformationsprozess hinsichtlich der Wirkung von kulturpolitischen Grenzen und nationalstaatlicher Schutzmechanismen. Der Abgrenzungstendenz gegenüber steht ein wachsender „imperialer Kultur- & Wirtschaftsraum“[19] mit transnationaler Verflechtungsabsicht.
- Einflüsse der Globalisierung führen zu subkulturellen Szenen und „glokalisierten“[20] Veränderungsprozessen und sprengen dadurch das vormals homogenisierte kulturelle Orientierungssystem der christlich-abendländisch geprägten Nationalstaatlichkeit der Bundesrepublik.
Die Entwicklung von Konzepten einer Interkulturellen Bildung erfolgte in den drei Bereichen zeitlich teilweise parallel und war in ihrer Bedeutung von gesellschaftlichen Ereignissen und politischen Kontexten abhängig. Daher macht es Sinn, an dieser Stelle einen kurzen geschichtlichen Rückblick einzuschieben und auf die Bedeutungszusammenhänge der Begriffe „Multikulturalität“, „Identität“ und „Leitkultur“ einzugehen.
1.2.1 Geschichtlicher Abriss
Kontakte zwischen Kulturen und Begegnungen zu „Fremden“ gab es schon immer: Da sich bestimmte Verhaltensweisen und „Umgangsformen“ mit dem „Anderen“ tief in die kulturellen Orientierungssysteme der Europäer verwurzelt haben, erscheint es mir unumgänglich den geschichtlichen Rückblick sehr früh anzusetzen. Die im 15. Jahrhundert beginnenden so genannten Entdeckungsreisen, die industrielle Revolution und die aggressive und völkermordende Kolonialpolitik mündeten im 19. Jahrhundert in einen Europäischen Imperialismus. Die Mächte und entstandenen Nationalstaaten erhoben ihre Kultur zum Maß aller Dinge und degradierten die unterworfenen Menschen. Darwins Evolutionstheorie war hierfür die wissenschaftliche Untermauerung dieser kulturellen Anmaßung. Die zeitgleich entstehenden Völkerkundemuseen sind noch heute vielerorts Ausdruck und Multiplikator der eurozentristischen Perspektive.[21]
Innerhalb der vormodernen Europäischen Gesellschaften waren interkulturelle Begegnungen durch die klare Trennung der verschiedenen ethnischen Milieus und Stände eher gelegentlicher Natur. Als Ende des 18. Jahrhunderts das System der öffentlichen Schulen die Einzelunterweisung als pädagogisches Instrument ablöste, wurde auch die Idee der Nationalstaatenbildung durch eine gewisse kulturelle und sprachliche Homogenisierung realisierbar. Sprachlich-kulturelle Vielfalt wurde zum bildungspolitischen und pädagogischen Feindbild für die nationalstaatliche Identitätsbildung erklärt.
Als vor etwa 140 Jahren der Arbeitskräftebedarf der boomenden Wirtschaft im gerade gegründeten Deutschen Reich vor allem durch das Anwerben von Menschen aus den polnischen Gebieten Preußens gedeckt wurde, mussten die Kinder der Zugewanderten Deutsch lernen und durften nur an deutschen Schulen unterrichtet werden; eine polnische Alphabetisierung wurde bekämpft und verboten. Die Rassenlehre und die stattgefundenen „ethnischen Säuberungen“ während der nationalsozialistischen Epoche bedeuteten das vorläufige Ende jeglicher politisch motivierter, interkultureller Anstrengung. Mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurden in der Zeit von 1945 bis 1950 etwa 12 Millionen Flüchtlinge und Vertriebene von der Bundesrepublik Deutschland aufgenommen. 1955 schloss die Bundesrepublik ihre erste Anwerbevereinbarung (mit Italien).[22] Weitere Abkommen mit Portugal, Jugoslawien, Spanien, der Türkei und Griechenland folgten. Als später die Phase der Familienzusammenführung begann und die Kinder der angeworbenen Arbeitskräfte in die Schule kamen, reagierte der Staat und die „Ausländerpädagogik“ entstand. 1964 beschloss die Kultusministerkonferenz (KMK) die allgemeine Schulpflicht für Kinder ausländischer Arbeitnehmer, welche in den Jahren 1976 und 1979 durch die KMK-Beschlüsse „Unterricht für Kinder ausländischer Arbeitnehmer“ konzeptionelle Grundlagen erhalten.[23]
In den frühen achtziger Jahren gab es zwar auch immer wieder Diskussionen über das „Gastarbeiterproblem“, die „zu vielen Ausländer“ und „Fremdenfeindlichkeit“, aber sie wurden doch eher als gesellschaftliches Randproblem begriffen, mit denen sich kirchliche Kreise, SozialarbeiterInnen und SozialwissenschaftlerInnen beschäftigten. Dies änderte sich Mitte der achtziger Jahre mit der KMK-Empfehlung „Kultur und ausländische Mitbürger“[24]. Sie war als Anregung zum Dialog über kulturelle Werte und Interessen gedacht. Die Deutsche Einigung schob jedoch dieses Thema erst einmal wieder auf der Agenda nach hinten, bis es durch die fremdenfeindlichen Übergriffe und Gewalttaten in Solingen, Mölln, Hoyerswerda, Rostock usw. eine drängende Aktualität bekam. Zudem führte in diesem Zeitraum auch die starke Zuwanderung aus den Staaten des ehemaligen Ostblocks zu intensiven, gesellschaftlichen Debatten über die veränderte multikulturelle Wirklichkeit, die den Kern des bisherigen Selbstverständnisses der bundesrepublikanischen Gesellschaft berührten. Die Erklärung der Kultusminister zur Ausländerfeindlichkeit vom 10./11.11.1991, sowie die Saarbrücker Erklärung der Kultusministerkonferenz zu Toleranz und Solidarität vom 9.10.1992 kennzeichnen diese Diskussion.[25] Seit 1954 gab es rund 31 Millionen Zuwanderer in die Bundesrepublik. 22 Millionen Menschen haben im gleichen Zeitraum das Land verlassen. Am Ende des Jahres 2003 lebten insgesamt 7,33 Millionen Menschen mit einer ausländischen Staatsangehörigkeit in Deutschland.[26] Die Auseinandersetzung über Zuwanderung und die multikulturelle Gesellschaft nehmen inzwischen einen zentralen Platz in der öffentlichen Diskussion ein. Das ist aber in erster Linie nicht Ausdruck einer veränderten Wirklichkeit, sondern eines überfälligen Wahrnehmungswechsels. Dass wir in einer Einwanderungsgesellschaft leben, wird seit dem reformierten Staatsbürgerschaftsrecht und dem Zuwanderungsgesetz (2002) von allen politischen Kräften mit Ausnahme der extremen Rechten anerkannt. In der Analyse kulturell divergierender Akteure in der BRD müssen auch die politisch unterschiedlichen Rahmenbedingungen und Kontexte berücksichtigt werden. Ein wesentlich „anders“ geprägtes Gebiet scheint hier unumgänglich noch kurz angesprochen zu werden: Die frühere DDR hat historisch gesehen eine völlig andere Entwicklung interkultureller Bildungsarbeit erlebt als die alten Bundesländer. Hier ist lange Jahre eine vollständig andere Politik verfolgt worden, woraus sich im Vergleich zu Westdeutschland einige gravierende, strukturelle Unterschiede in der Gesellschaftskultur ergeben. So wurden die ohnehin wenigen Ausländer in der DDR von den Einheimischen bewusst isoliert. Es gab daher wenig Kontaktmöglichkeit, wenngleich das Interesse am „Anderen“ vielfach vorhanden war. Allgemein ist im Hinblick auf die in dieser Arbeit bearbeitete Thematik festzuhalten: Die alten und die neuen Länder der Bundesrepublik Deutschland haben systembedingt unterschiedliche Erfahrungen im Umgang mit Fremden.[27]
1.2.2 Bedeutungswandel des Begriffs „Multikulturelle Gesellschaft“
Die Koexistenz verschiedener kulturell geprägter, kollektiv codierter Identitäten wird in der Soziologie als Multikulturalität bezeichnet.[28] Als solche gibt es multikulturelle Gesellschaften schon lange. Die großen Reiche wie das Römische, das Osmanische oder das Habsburger waren bis zu ihrer Auflösung Anfang des 19. beziehungsweise des 20. Jahrhunderts davon ebenso geprägt wie viele kleine Territorialherrschaften.[29] Die Dimension der nationalen Zugehörigkeit ist jedoch immer ein wesentlicher Bestandteil einer auf Sicherheit basierenden Wertegemeinschaft, so wie sie auch Deutschland repräsentiert. Daher gehört sie für viele ihrer Bürger zum existenziellen Fundament. Multikulturalität sucht daher in allen Bereichen sehr schnell nach Lösungen für eine Organisation des Nebeneinanders – vor allem dann, wenn sich Raumgrenzen berühren bzw. Überschneidungssituationen Alltag werden. Territoriumsverwaltung ist verbunden mit emotional gelenkten Handlungen, weil sie Auswirkungen auf individuellen Wohlstand und Sicherheit hat. Sie greift damit unmittelbar in den Wertekodex der Kollektivgemeinschaft ein und spiegelt eine Urangst der Menschheit wider: Verlust durch Veränderung. Ende der 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts wurde von Einwandererorganisationen in Westdeutschland eine Debatte zum „Einwanderungsland“ begonnen. Insbesondere nach der moralisch-geistigen Wende von 1983 zeichnete sich recht bald ab, dass entsprechende Forderungen, wie etwa die nach Erleichterung für den Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit oder die nach Wahlrecht der Migranten, keine politische (und auch nach demokratischen Grundsätzen gelenkte, gesellschaftliche) Mehrheit finden würden. Auf dieser Basis war es auch möglich, im Jahr 1983 ein Rückkehrhilfegesetz zu verabschieden, welches eine größere Anzahl von angeworbenen Arbeitnehmern zur „freiwilligen Rückkehr“ zu bewegen versuchte. Das Vorhaben scheiterte, wurde jedoch von den Migranten als deutliche Botschaft verstanden, welche zu einem gravierenden Stimmungswandel führte. Der Begriff „Multikulturelle Gesellschaft“ wurde daher in Folge als politischer Tarnbegriff verwendet und als inoffizielles Synonym zum Begriff Einwanderungsland geprägt.
Fast etwas paradox erscheint es, dass der in dieser Zeit geprägte Begriff „Multikulturalismus“ eine direkte Adaption aus dem klassischen Einwanderungsland Kanada ist. Bereits im Jahr 1971 hat der damalige Premierminister Trudeau Multikulturalismus als Staatsideologie vorgeschlagen. Mit dem 1988 verabschiedeten „Multiculturalism Act“ erhielt diese dann auch einen rechtlichen Rahmen. Wichtig im Vergleich zu bundesrepublikanischen Verhältnissen ist dabei, dass die politische Grundlage des Multikulturalismus das Selbstverständnis eines Einwanderungslandes ist. Multikulturalismus ohne Einwanderungskonzept und –selbstverständnis wie damals in der Bundesrepublik propagiert, führte zu einer Spannbreite von Meinungen, zu einer ideologischen Aufladung des Begriffs und letztlich in die oben dargestellte Sackgasse der labelisierenden In- & Ausländertheorie. Zudem gab es neben den ernsthaften Auseinandersetzungen über Regelungen und Probleme des multikulturellen Zusammenlebens auch folkloristische „Multikultur-Auffassungen“, die in den multiethnischen Veränderungen und der kulturellen Pluralität der Bundesrepublik lediglich die Seite der Bereichung durch die fremdartigen Kulturen sahen und die von Romantisierung, Idealisierung und Idyllisierung geprägt waren.[30]
Bevölkerung im Alter von 25 Jahren 2005 nach Migrationshintergrund und Migrationstypen (in %)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthaltenAbbildung 1[31]
Heute weist fast ein Fünftel der deutschen Bevölkerung individuelle oder familiäre Zuwanderungserfahrung auf. Die Population mit Migrationshintergrund ist somit nahezu doppelt so groß wie die nach dem Kriterium der Staatsangehörigkeit ermittelte ausländische Bevölkerung. Noch höher ist der Anteil bei den Kindern und Jugendlichen im bildungsrelevanten Alter (unter 25 Jahre); er liegt bei 27% der gleichaltrigen Bevölkerung. Insbesondere die Tatsache, dass mehr als zwei Drittel der Gesamtpopulation mit Migrationshintergrund und gut ein Drittel der unter 25-Jährigen der 1. Zuwanderergeneration angehören und somit Quereinsteiger ins deutsche Bildungssystem sind, macht deutlich, dass interkulturelle Förderung auf allen Stufen des Bildungswesens für alle Beteiligten einen zentralen Stellenwert haben muss.
1.2.3 Identitätskonstruktionen zwischen Multi- und Transkulturalität
Die soeben dargestellte multikulturelle Situationsbeschreibung der Bundesrepublik basiert jedoch auf der klassischen Betrachtungsperspektive des deutschen Inländers. Diese Perspektive wiederum erhält ihre Legitimation durch eine kollektive Identitätskonstruktion, die es im Hinblick auf die festgestellte transformierte Situation zu überdenken gilt. Identität, und vor allem der theoretischen Konstruktion von Identität in der BRD muss im Kontext von Migration und kultureller Globalisierung mehr Beachtung zuteil werden, als dies bis dato der Fall ist.[32]
Personale und soziale Identität
„Identität ist die Quelle von Sinn und Erfahrung für die Menschen“[33] formuliert es Castells. „Identität ist [dabei] ein offener Prozess des Aushandelns zwischen dem Selbstbild, das der Einzelne von sich entwirft, und dem Bild, das sich seine sozialen Handlungspartner in wechselnden Zusammenhängen von ihm machen.“[34] Dabei ist zu differenzieren zwischen personaler und sozialer Identität. Personale Identität meint, dass der Sinn, den eine Person für sich kreiert an Werten und Merkmalen orientiert ist, die sie für sich innerhalb kollektiv konstruierter Orientierungssysteme internalisiert hat. Diese Werte und Merkmale dienen der Person dazu, ihr Leben zu gestalten und sich damit in Einklang zu bringen. Eine Person kann ihr Leben dann z.B. nach internalisierten religiösen oder individualistischen Zielsetzungen ausrichten. Soziale Identität meint, dass eine Person ihr Leben auch an Kriterien ausrichtet, die dazu dienen, dass der Einzelne in einer sozialen Gemeinschaft leben kann. Bilden viele Menschen in einer Gemeinschaft anhand der Ausrichtung dieser für viele wichtigen Lebensaspekte ihre Identität aus, entsteht eine sinnstiftende soziale Identität, die einen wichtigen Beitrag für den Zusammenhalt in einer Gemeinschaft leistet.[35] „Die Bildung sozialer Identität ist so verstanden „ein Prozess der Sinnkonstruktion auf der Grundlage eines kulturellen Attributes oder einer entsprechenden Reihe von kulturellen Attributen, denen gegenüber anderen Quellen von Sinn Priorität zugesprochen wird.“[36]
Identitätsbildung vollzieht sich im Zuge der Globalisierung und der Migrationsbewegungen in einem Spannungsfeld diversitätskultureller Einflüsse. Insbesondere im Rahmen kultureller Globalisierung und Migration sind die kulturellen Attribute innerhalb einer Gesellschaft so vielfältig, dass es sowohl auf personaler als auch auf sozialer Ebene zur Herausbildung pluraler bzw. „hybrider“ Identitäten kommen kann. Der Prozess der Identitätsbildung und -entwicklung wird sowohl im personalen als auch im sozialen Bereich schwieriger und komplexer. Identität wird zur „Quelle von Spannung und Widerspruch.“[37] Genau hier liegen die Chancen und Gefahren kultureller Vielfalt in einer globalisierten Welt, was im Folgenden kurz umrissen wird. Ein Kulturverständnis, welches Ethnizität fokussiert, wird gegenwärtig nicht mehr als „zukunftsfähige Grundlage für eine konstruktive Gestaltung des Zusammenlebens von Menschen unterschiedlicher kultureller Herkunft beziehungsweise Orientierung oder für eine entsprechende Kulturarbeit [und Bildungsarbeit, Anm. des Verfassers]“[38] betrachtet.
Transkulturelle Konzeption von Identität als Ausweg
Für die Menschen in einer globalisierten Welt bildet die Basis von individueller (und ästhetischer, siehe Punkt 2.1.2) Sinnkonstruktion eine „primäre Identität, die über Zeit und Raum hinweg selbsterhaltend ist.“[39] Dabei sind „Uneindeutigkeiten, Offenheit, Widerspruch und Ambivalenz (...) auszuhalten.“[40] Gelingt dies, so kann auch die Bildung sozialer Identität in einer pluralen Gemeinschaft gelingen, denn nur in diesem Fall kann sich „die Fähigkeit zur Empathie mit anderen Identitäten, Distanz zu den jeweils übernommenen eigenen Rollen und Toleranz gegenüber den Uneindeutigkeiten“[41] entwickeln. Genau hier liegen die Chancen kultureller Globalisierung, kann sich im Sinne des oben beschriebenen offenen Aushandlungsprozesses eine lebendige, plurale, gemeinschaftsfördernde, den Einzelnen anerkennende und integrierende Gesellschaft entwickeln.
Die zunehmende Mobilität und Pluralisierung lassen Identitätskonstruktionen widersprüchlich erscheinen und verleihen ihr beim Versuch einer Selbstpositionierung in einem immer komplexeren Beziehungsgeflecht eine Art „Patch-work-Charakter“[42]. Diese „plurale Identität“ ist in der Selbstdarstellung und im sozialen Handeln eine Quelle von Spannungen, da Identität – stärker als Rollen, die Menschen immer schon wahrnehmen – ein Element von Sinnproduktion ist.[43] Kulturelle Globalisierungsprozesse und kulturelle Hybridbildung haben diese Entwicklungen zu weniger festen Identitäten wesentlich beeinflusst, da diese Vermischungen ihre Bindung an feste kulturelle Bezugspunkte relativiert und teilweise löst. Zudem ist in Deutschland der gesellschaftliche Zwang, sich für die eine oder andere Kultur entscheiden zu müssen, durch die veränderten „sozialen Mischungen“ geringer geworden. Eine solche Situation befördert die Herausbildung eines transkulturellen Bewusstseins, in welchem also gleichzeitig mehrere kulturelle Orientierungssysteme wirken und Zwischenräume (interkulturelle Räume) durch Überlappungen abgelöst werden.[44] Das Fördern und Stabilisieren solcher transkultureller Kompetenzen in der Bevölkerung bedient sich Ritualen und Symbolen, die immer wiederkehrend die Gemeinsamkeiten betonen, Impulse geben und Zusammenleben traditionell verankern.
Als Beispiel für ein hierfür nötiges Zusammenwirken der verschiedenen gesellschaftlichen Akteure gilt die in Deutschland durchgeführte UEFA-Weltmeisterschaft in diesem Jahr. Sowohl Schulen, die Berichterstattung in den Medien als auch politische Diskussionen oder Kulturveranstaltungen zogen an einem Strang und unterstrichen die Notwendigkeit und Chancen kultureller Vielfalt für das Gelingen (bzw. den ökonomischen und werbewirksamen Erfolg) der Weltmeisterschaft. Auch innerhalb der Spiele war diese Pluralität vorhanden: Die meisten der angetretenen Fußballmannschaften waren durch die multiethnische Besetzung globalisierte Vertreter der jeweiligen Länder und damit also in gewisser Weise nichts anderes als transkulturelle Kollektivgruppen. Nationale Symbole haben damit eine kulturell vielfältigere Bedeutung erlangt. Trikots, Fahnen oder auch gewisse Fangesänge waren für Spieler und Zuschauer gleichermaßen verpflichtende Zeichen der Zusammengehörigkeit, wirkten homogenisierend und mussten sich gleichzeitig aber auch an die Realität einer kulturellen Diversität innerhalb der Spieler und Fangemeinden anpassen.
Die Wahrnehmung der von einer Vielzahl von Medienmonopolisten gleichzeitig kommunizierten Botschaft „Die Welt zu Gast bei Freunden“ hat in Teilen der Bevölkerung das vorhandene Vakuum innerhalb des multikulturellen Einwanderungslandes Deutschland (zumindest vorübergehend) füllen können. Die im Slogan versteckte Sicherheit vor dem jeweils Fremden war ein geschickter Weg der Werbestrategen, jeden damit anzusprechen aber individuell benötigte Grenzen durch Freiraum für Eigeninterpretation einbaubar zu halten. Vielleicht sind hier Parallelen zum Begriff „Gastarbeiter“ vorhanden. Denn durch das Wort „Gast“ war auch damals bereits die Anwesenheit des „Anderen“ auf Zeit beschränkt. Ein bestimmtes Verhalten wurde im Gegensatz dazu während der WM gleichzeitig ebenfalls eingefordert, nämlich Freund zu sein! Ob diese Aufforderung tatsächlich von jedem Bundesbürger einheitlich verstanden wurde, kann ich nicht beantworten. Zumindest bei derjenigen Bevölkerungsschicht, die sich Karten für die Stadien leisten konnte, kann von einem tendenziell homogenen Verständnis ausgegangen werden. Die Mehrdeutigkeit des Slogans und seine interkulturelle Interpretation wäre jedoch eine eigene Untersuchung wert.
Solange es immer wieder die Möglichkeit und „Rituale“ der Neudefinition gesellschaftlicher Identitäten in dieser Form gibt, hat der Nationalstaat wohl keine ernstzunehmende Konkurrenz und kann gleichzeitig die akzeptierte Diversitätsgrenze schrittweise erweitern. „Verschüttet geglaubte Nationalgefühle kommen wieder zum Ausbruch, wenn die „eigene“ Nationalmannschaft auf dem Platz steht.“[45]
Was das Beispiel deutlich zum Ausdruck bringt, ist die enorme Gestaltungskraft kultureller Großereignisse (z.B. das in Medien kommunizierte Zusammenspiel von Spielen, Musik, Kunst, Festen usw.), die sehr gut bestimmen (konstruieren) können, welche Vielfalt in eine Einheit integriert werden darf und wo die Grenzen zum „Anderen“ liegen. Identitäten sind somit in konstruierten Kulturen verankert. Sie sind geprägt vom Ort, der Herkunft, der sozialen Lage, den Alltagserfahrungen, den kulturellen Zusammenhängen und durch inszenierte Variablen der Bildungs- und Kulturarbeit.
1.2.4 Leitkultur(en) in der Bundesrepublik
Im Herbst 2000 entzündete sich nach der Äußerung des damaligen CDU-Fraktionsführers Friedrich Merz eine intensive politische Kontroverse über den Sinn oder Unsinn einer deutschen (beziehungsweise europäischen) „Leitkultur“ als Grundlage gelingender Integration. Diese Debatte verlief sich recht schnell wieder als die Reform des Staatsbürgerschaftsrechts umgesetzt wurde.[46] Ende 2005 wurde die bundesrepublikanische Debatte jedoch durch den Bundestagspräsidenten Norbert Lammert nochmals aufgegriffen. Da durch die Leitkulturdiskussion auch die Richtung interkultureller Arbeit mitbestimmt wird, soll sie auch hier einen Platz bekommen, jedoch aus einer globalen Perspektive heraus betrachtet.
Imperiale Leitkultur
Herfried Münkler geht in einem kurzen Essay Anfang 2006 auf die Bedeutung von Leitkulturen ein und definiert den Gebrauch von solchen zur politischen Integration als ein genuin imperiales Projekt, durch welches vor allem die Peripherieeliten an Schulen und Universitäten aber auch in Kultureinrichtungen von der Leitkultur geprägt werden. Im Unterschied zur Nationalisierung sieht er dieses Konzept deutlich toleranter an, da es von einer kulturellen Pluralität innerhalb der Gemeinschaft ausgeht.[47] Wenn man die Diskussion über „Leitkultur“ aus dieser Perspektive heraus betrachtet, stellt sich die Frage, welche Imperien denn heute bereits über dieses Konzept Einfluss auf die Gesellschaft nehmen. Es sind, neben den Staatengemeinschaften (z.B. die EU) auch die miteinander konkurrierenden Leitkulturen die in zunehmendem Maße von Wirtschafts- und Kapitalmächten gesteuert werden. Der Zugriff der imperialen Leitkulturen durch ökonomische Mächte wird demnach immer umfassender und stärker. Im letzten Jahrhundert haben beispielsweise Musik und Filme sowie der über sie transportierte Lebensstil eine zentrale Rolle eingenommen. Sie führen nicht nur zu einer leitkulturellen Prägung der Eliten, sondern ergreifen die Massen und bringen sie zumindest mit Versatzstücken der Leitkultur in Berührung. Vor allem Jugendliche orientieren sich unter diesen Umständen an der imperialen Leitkultur, und das wiederum lässt bei Konservativen und Traditionalisten die Befürchtung aufkeimen, dass es über kurz oder lang zu einer Aufzehrung der autochthonen Kultur durch imperiale Leitkulturen kommen werde. Deswegen wird auch der Widerstand dagegen radikaler oder eine regionale Anpassung unumgänglich. Ein demzufolge stattfindendes Einhergehen von Globalisierung mit „Lokalisierung“ und „Regionalisierung“ beschreibt der englische Soziologe Roland Robertson[48] mit dem Wortspiel „Glokalisierung“, das inzwischen vielfach aufgegriffen und benutzt wird. Akteure, die eine imperialistische Leitkultur vorgeben wie beispielsweise MTV, gehen bewusst die Gratwanderung zwischen Homogenisierung und Vielfalt: So erreicht der weltweit agierende Musiksender, der heuer sein 25jähriges Bestehen feiert, seine deutschen Zuschauer mit einem speziellen länderspezifischen Programm, in welches nicht nur deutsche Stars und Hits eingebunden werden, sondern auch deutsche Kulturstandards (Werte- und Normen) Berücksichtigung finden. Daran gekoppelt findet eine Hybridisierung in Form einer Vermischung mit verschiedenen anderen Stilen, Formen und Traditionen zu einer „globalen Melange“ statt. Im „World Culture Report 2000“ der UNESCO bildet das Verständnis vom Entstehen und der Entwicklung von Kultur durch den ständigen kulturellen Austausch den Ausgangspunkt der Untersuchung der gegenwärtigen kulturellen Situation. Danach besteht „die Welt nicht aus einem Mosaik der Kulturen, sondern ist ein sich ständig wandelnder Fluss der Kulturen, dessen verschiedene Strömungen sich dauerhaft mischen.“[49] Ich füge weitergehend hinzu: Feste Felsen aus tief verwurzelten Werten und Normen bilden in dieser Metapher die Orte, an denen sich die Strömung bricht, bereichert aber auch eine Gefahr darstellt.
Leitkultur im Sinne eines transkulturellen „Ethos“
Für interkulturelle Verständigungsprozesse ist es meiner Ansicht nach aus genau diesen Gegebenheiten heraus notwendig, eine ethische „Leitkultur“ aufzubauen, die in der Lage ist, Verstehensgrenzen zu überschreiten und damit Transkulturalität als Inhalt hat. Die wechselseitige Anerkennung der Individuen eröffnet die Möglichkeit, die Vielfalt potentieller Identitäten zu realisieren. Dies bedarf einer Moral, die eine Anerkennung zwischen den Identitäten begründet, die auf homogenisierende Identitätskonstruktionen verzichtet und auf Kooperation auch in den Fällen zielt, in denen die fremde Identität weder vertraut ist noch verstanden wird. Die Existenz vielfältiger Identitäten verändert den Sinn von Identität selbst, da es nicht mehr nur um die Darstellung und Sicherung eines bestimmten ethischen Orientierungsrahmens, sondern um die Akzeptanz einer gleichberechtigten Koexistenz unterschiedlicher, identitätsbildender Lebenszusammenhänge geht. Franz Hamburger formuliert es etwas eindringlicher: „Über die Gestaltungsansprüche in verschiedenen Kulturen kann man sich kommunikativ verständigen, nicht jedoch über die Vorenthaltung von Gleichberechtigung, über Dominanz und Diskriminierung.“[50]
Als bedeutender Impuls, interkulturelle Maßnahmen anzumahnen und entsprechende Rahmenbedingungen für ein offenes, vorurteilsfreies, zivilisiertes und auf gegenseitiger Achtung beruhendes Miteinander einzufordern, liefert aktuell die von der Generalversammlung der UNESCO 2005 beschlossene Konvention zur kulturellen Vielfalt.[51] Dieses „Übereinkommen zum Schutz und zur Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen“ verpflichtet weltweit zur Einhaltung von folgenden Leitzielen: Teilhabe, Respekt vor der Vielfalt der Kulturen, Solidarität mit anderen Ländern.
Inzwischen scheint man auf dem Weg zu einem Konsens in der Richtung zu sein, dass die Zuerkennung gleicher Rechte, ungeachtet unterschiedlicher kultureller Orientierungen, pädagogisch unterstützt werden soll. Es handelt sich hierbei zweifellos um einen politischen Aushandlungsprozess, der in eine aktive Bewusstseinsveränderung hinsichtlich der gesellschaftlichen Normen und Werte mündet und damit nach einer pädagogischen Umsetzung verlangt. „Interkulturelle Bildung muss damit immer auch politische Bildung sein.“[52]
1.2.5 Genese und Konzept interkulturellen Lernens in Deutschland
Eine derartige Leitkultur mit transkulturellem Ethos zu etablieren, kann – ähnlich wie die Werbebotschaft der oben genannten Fußballweltmeisterschaft - ebenfalls nur im Zusammenspiel verschiedener Akteure gelingen zu können. „Interkulturelle Bildung“ erscheint hier ein geeigneter Weg zu sein. Allerdings hat dieser Begriff bereits unterschiedliche Ausprägungen erhalten.
Geschichte eines Paradigmenwechsels
Wolfgang Nieke teilt die Herausbildung verschiedener Zielorientierungen interkultureller Bildung in 5 Phasen ein, wobei er jedoch keine zeitlich exakt bestimmten Grenzen ziehen und auch keinen evolutionstheoretischen Ansatz verfolgen will.[53] Die verschiedenen Positionen bestehen vielmehr neben- und miteinander „als konkurrierende oder in neuen synergetischen Konzepten aufgehende Denk- und Handlungsmuster.“[54]
a) Defizitansatz/Ausländerpädagogik:
Um soziale Benachteiligungen aufzufangen, werden ab Beginn der 70er Jahre viele und ausführliche Studien zu Maßnahmen für Ausländerkinder durchgeführt. Die v. a. in der Schule praktizierte aber auch im außerschulischen Kontext als Grundlage verwendete Ausländerpädagogik ist nur für die ausländischen Kinder gedacht und hat einen eher defizitären Ansatz: Die Immigrantenkinder müssen Deutsch lernen, was wiederum die Fremdsprachendidaktik auf den Plan ruft, bis erkannt wird, dass eine Zweitsprachendidaktik das richtige Instrument ist. Eine Berücksichtigung der Lebenswelt der Migrantenkinder findet nicht statt. Die besonderen Fähigkeiten der ausländischen Kinder (Kulturträger, Mehrsprachigkeit, Bewältigung ihrer Situation und die damit verbundene Kreativität) werden übersehen. So nennt Glumpler[55] unter Anderem folgende Probleme:
- Unrichtige Aussagen von Pädagogen
- Informationsreduktion über Herkunftskulturen auf folkloristische oder touristische Aspekte
- Unbeabsichtigte Betonung kultureller und rassistischer Differenzen
- Wohlwollend-unreflektierte Stigmatisierung zum „bemitleidenswerten Fremden“[56]
„Die Ausländerpädagogik reflektiert den politischen Umgang mit den ausländischen Arbeitnehmern. Sie orientiert sich am Rotationsprinzip und der Doppelstrategie Integration in Deutschland und Re-Integration (muttersprachlicher Ergänzungsunterricht) im Heimatland.“[57]
b) Kritik an der Ausländerpädagogik
Ende der 70er Jahre wird das Konzept der Ausländerpädagogik zunehmend kritisiert. Die zentralen Vorwürfe sind: Pädagogisierung gesellschaftlicher Probleme, Defizitorientierung der ausländischen Kinder und geforderte einseitige Anpassungsleistung.[58]
Gleichzeitig entwickelt sich ein stärkeres Selbstbewusstsein auf Seiten der Immigranten. Viele haben mit der Zeit erkannt, dass eine Rückkehr in ihr Heimatland zunehmend unrealistisch geworden ist und ihre in Deutschland geborenen Kinder hier zu Hause sind - und nicht etwa in der Türkei oder in Spanien. Sie fordern eine stärkere Berücksichtigung ihrer Herkunft und Migrationssituation (Zweisprachigkeit als Stärke) und entsprechende Förder- und Entfaltungsmöglichkeiten.
c) Interkulturelle Erziehung in der multikulturellen Gesellschaft
Die ersten Konzepte zur interkulturellen Bildung und Erziehung erscheinen Anfang der 80er Jahre. Der Begriff „interkulturelles Lernen“ ist nicht bewusst konstruiert worden, sondern aus bildungspolitischen Notwendigkeiten in Abgrenzung zur Ausländerpädagogik entstanden.
- Interkulturelles Lernen orientiert sich auf einen beiderseitigen Lernprozess zwischen Personen unterschiedlicher Kulturen, bei dem alle Beteiligten gleichberechtigt gefordert sind.
- Diese Gleichberechtigung fördert eine Neubewertung (nicht nur) außereuropäischer Kulturen.
- Gemeinsamkeiten und Unterschiede der verschiedenen Gruppen werden anerkannt.
- Interkulturelle Bildung und Erziehung sucht den Dialog und bedarf eines Perspektivwechsels.
Aber auch folgende Aspekte begründeten den Paradigmenwechsel:
- Interkulturelles Lernen ist auch eine Gegenreaktion zur wachsenden Ausländerfeindlichkeit.
- Die zunehmende Einsicht, dass die BRD ein Einwanderungsland ist, eine interkulturelle Erziehung benötigt wird und auch weiterhin Menschen nach Deutschland kommen werden.
- Ein zunehmendes Bewusstsein von kultureller Eigendynamik und der verstärkten Tendenz zur Entstehung von Milieus und Subkulturen.[59]
[...]
[1] Berlinger, 2005, S. 35.
[2] Warnke, Ingo: Recht und Schrift. Zum rekursiven Bedingungsverhältnis von Literalität und juridischemm Diskurs, 1997, S. 223-238. http://www.prowitec.rwth-aachen.de/p-publikationen/band-pdf/band3/band3_warnke.pdf (15.07.2006).
[3] Projektträger der genannten Interreg-Maßnahme war die United Scene Group e.V. – Verband für (inter)kulturelle Bildung http://www.united-scene-group.net (23.01.2006).
[4] Vgl. Zacharias, 2001, S.132.
[5] Hofstede, 1993, S. 19.
[6] Hofstede, 1993, S. 19.
[7] Vgl. Zacharias, 2001, S.132.
[8] Vgl. Galtung, 2003.
Galtung behauptet in seiner Untersuchung, es gebe in der zeitgenössischen Sozialwissenschaft (der ursprüngliche Aufsatz wurde allerdings vor ca. 20 Jahren geschrieben, als es so etwas wie das Internet in allgemeiner Verwendung noch nicht gab) vier dominante Stile, die sowohl die Theorie- und Begriffsbildung, als auch das kommunikative und argumentative Verhalten von Wissenschaftern bestimmten: den „sachsonischen“, „teutonischen“, „gallischen“ und „nipponischen“ Stil.
[9] Vgl. BJK, 2005, S. 56.
[10] Vgl. BJK, 2005, S. 56.
[11] BJK, 2005, S. 2. Das Bundesjugendkuratorium berät (nach § 83, Abs. 2 SBG VIII / KJHG) die Bundesregierung in grundsätzlichen Fragen und Querschnittsangelegenheiten der Jugendhilfe. Die 15 Mitglieder dieses Sachverständigengremiums werden jeweils für eine Legislaturperiode vom Bundesjugendministerium berufen.
[12] Vgl. Sternecker/Treuheit, 1994, S. 36f.
[13] §84 des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (SGB III) legt fest, dass die Bundesregierung in jeder Legislaturperiode dem Deutschen Bundestag und dem Bundesrat einen Bericht über die Lage junger Menschen und die Bestrebungen und Leistungen der Kinder- & Jugendhilfe vorlegt. Neben der Bestandsaufnahme und Analyse sollen die Berichte Vorschläge zur Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe erhalten.
[14] Vgl. Konsortium Bildungsberichterstattung, 2006.
[15] Vgl. Bundespressekonferenz am 21.02.06 mit dem UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Bildung Prof. Dr. Vernor Munoz. http://www.gew.de/Binaries/Binary15928/20060221_Bundespressekonferenz_Munoz_deutsch.pdf (23.02.2006).
[16] Vgl. BMFSFJ, 2005, S. 154.
[17] Fischer, 1991, S. 272.
[18] Vgl. Auernheimer, 1996b, S.17.
[19] Münkler, 2006, S. 1f.
[20] Robertson, 1998, S. 192-220.
[21] Franz, Monika: Fundamente europäischer Identität, http://www.km.bayern.de/blz/report/03_04/5.html (23.07.2006).
[22] Münz/Ulrich, 2000, S.23-57.
[23] http://www.kmk.org/index00.htm (23.07.2006).
[24] KMK, http://www.kmk.org/index00.htm (23.07.2006).
[25] KMK, http://www.kmk.org/index00.htm (23.07.2006).
[26] Vgl. Beauftragte der Bundesregierung für Migration, 2004. http://www.integrationsbeauftragte.de/download/Migrationsgeschehen_2004.pdf (03.07.2006).
[27] Vgl. Broszinsky-Schwabe, 1990.
[28] Vgl. Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft, 2004, S. 24.
[29] Ackermann/Müller, 2002. So lautete der Titel des letzten Habsburger Herrschers „Kaiser von Österreich, apostolischer König von Ungarn, König von Böhmen, von Dalmatien, Kroatien, Slawonien, Galizien, Lodomereien, und Illyrien; König von Jerusalem; Erzherzog von Toskana und Krakau; Herzog von Lothringen, von Salzburg, Steyer, Kärnten, Krain und der Bukowina; Großfürst von Siebenbürgen, Markgraf von Mähren; Herzog von Ober- und Niederschlesien, von Modena, Parma, Piacenza und Guastella…“ Zu den 2047 Vorfahren des Erzherzogs Franz Ferdinand gehörten 1486 Deutsche, 124 Franzosen, 196 Italiener, 89 Spanier, 52 Polen, 47 Dänen, 20 Engländer sowie viele andere Nationalitäten. (Anderson, 1996, S. 28, 220)
[30] Vgl. Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft, 2004, S. 24.
[31] Quelle: Konsortium Bildungsberichterstattung, 2006, S. 142.
[32] Beispielsweise: Negt, Oskar (Kindheit und Schule in einer Welt der Umbrüche, Göttingen, Neuaufl. 2002, S. 235-246) nennt fünf gesellschaftliche Schlüsselqualifikationen für die Herausforderung „einer Welt der Umbrüche“: Identitätskompetenz, technologische Kompetenz, Gerechtigkeitskompetenz, ökologische Kompetenz und historische Kompetenz.
[33] Castells, 2002, S. 8.
[34] Meyer, 2002, S. 41.
[35] Vgl. Meyer, 2002, S. 40f.
[36] Meyer, 2002, S. 41.
[37] Meyer, 2002, S. 41.
[38] Meyer, 2002, S. 190.
[39] Castells, 2002, S. 9.
[40] Meyer, 2002, S. 42.
[41] Meyer, 2002, S. 43.
[42] Mead, 1968.
[43] Vgl. Röbke/Wagner, 2003, S. 33.
[44] Vgl. Röbke/Wagner, 2003, S. 33.
[45] Röbke/Wagner, 2003, S. 16.
[46] Vgl. Röbke/Wagner, 2003, S. 16.
[47] Vgl. Münkler, 2006, S. 1-2.
[48] Vgl. Robertson, 1998, S. 192-220.
[49] UNESCO, 2000, S. 45.
[50] Hamburger, 1996, S. 104.
[51] Vgl. UNESCO, http://www.unesco.de/c_bibliothek/konvention_kulturelle_vielfalt.pdf (10.08.2006).
[52] Auernheimer, 2000, S. 18.
[53] Vgl. Nieke, 2000, S. 17ff.
[54] Hallitzky, Maria: Skript der Vorlesung „Einführung in die Kulturwissenschaft und die Interkulturelle Kommunikation“, 2005. http://www.inkup.uni-passau.de (22.02.2006).
[55] vgl. Glumpler, 1996a, S. 20-57.
[56] vgl. Glumpler, 1996a, S. 20-57.
[57] Auernheimer, 1996b, S. 37.
[58] Vgl. Nieke, 2000, S. 17ff.
[59] Vgl. Nieke, 2000, S. 17ff.
- Citar trabajo
- MA Andreas Dittlmann (Autor), 2006, Interkultureller Kompetenzerwerb im institutionellen Spannungsfeld kultureller Bildungsarbeit der Bundesrepublik Deutschland, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/69316
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