Franz Kafka. Der Prozeß. Zwei Lesarten.
Martin Walser untersucht in seiner Dissertation „Beschreibung einer Form“ unter anderem Franz Kafkas Romanfragment „Der Prozeß“. Er beginnt seine Betrachtung, indem er behauptet, daß „je vollkommener die Dichtung ist, desto weniger verweist sie auf den Dichter.“
Martin Walser stellt an sich den Anspruch, Kafkas Romanfragmente frei von biographischen Bezügen, also nur den Text an sich und seine Eigenheiten zu analysieren, um damit einen neuen Blickwinkel auf Franz Kafkas Texte verfügbar zu machen. Er betreibt in seiner Dissertation keine poetische Werkbetrachtung, sondern untersucht einzig und allein die Machart desselben. Er nennt, zählt, vergleicht und analysiert Kafkas drei Romanfragmente, als schaute er auf eine geometrische Zeichnung, deren geheimnisvolles Muster er entschlüsseln wollte. Manfred Schmeling nannte Martin Walser einmal einen Kafka-Exegeten der sensibleren Art.
Inhaltsverzeichnis
1. Einführung
2. Hauptteil
2.1 Figuren
2.2 Josef K
3. Schlußbemerkungen
4. Literaturverzeichnis
1. Einführung
Martin Walser untersucht in seiner Dissertation „Beschreibung einer Form“ unter anderem Franz Kafkas Romanfragment „Der Prozeß“. Er beginnt seine Betrachtung, indem er behauptet, daß „je vollkommener die Dichtung ist, desto weniger verweist sie auf den Dichter.“[1]
Martin Walser hat seine Doktorarbeit in sechs Kapitel mit Unterkapiteln sowie ein Nachwort gegliedert. Sie erschien erstmals als Buchausgabe im Carl Hanser Verlag München 1961. Der Schlußtext „Kafkas Stil und Sterben“ erschien 1991 in der Zeitschrift „Die Zeit“ und wurde in die Taschenbuchausgabe des Suhrkamp Verlags aufgenommen. Dieser Schlußtext, ebenfalls von ihm verfaßt, handelt von seiner Begegnung mit Dora Diamant, der Frau, die zuletzt an Kafkas Seite weilte.[2]
Martin Walser stellt an sich den Anspruch, Kafkas Romanfragmente frei von biographischen Bezügen, also nur den Text an sich und seine Eigenheiten zu analysieren, um damit einen neuen Blickwinkel auf Franz Kafkas Texte verfügbar zu machen. Er betreibt in seiner Dissertation keine poetische Werkbetrachtung, sondern untersucht einzig und allein die Machart desselben.[3] Er nennt, zählt, vergleicht und analysiert Kafkas drei Romanfragmente, als schaute er auf eine geometrische Zeichnung, deren geheimnisvolles Muster er entschlüsseln wollte. Manfred Schmeling nannte Martin Walser einmal einen Kafka-Exegeten der sensibleren Art.[4]
2. Hauptteil
2.1 Figuren
Ein zentrales Thema von Martin Walsers Untersuchungen sind die Figuren. Ihnen hat er sein gesamtes drittes Kapitel gewidmet, und auch im weiteren Verlauf kommt er immer wieder auf sie zurück.
Das Kapitel „Die Funktionalität der Figuren als ihre Charakteristik“ beginnt er folgendermaßen: „Die Menschen, auf die der Held in Kafkas Dichtung trifft, die wir mit ihm und durch ihn sehen, sind, das fällt sofort auf, nicht ‚wahr’ im psychologischen Sinne, sie sind nicht ‚wirklich’ im empirischen, nicht ‚menschlich’ im anthropologischen und nicht ‚natürlich’ im biologischen Sinne.“[5] Die Figuren, auf die der Hauptheld Josef K. im Prozeß trifft, werden von ihm selbst beschrieben und geschildert. Damit sie auftreten können, damit sie überhaupt existieren können und der Leser ihnen begegnen kann, muß Josef K. ihnen begegnen.[6] Doch dadurch kann der Leser nur das wahrnehmen, was Josef K. wahrnimmt. Der Leser sieht die Figuren, und nicht nur sie, stets durch Josef K. Es handelt sich also um eine sehr subjektive Wahrnehmung, die begrenzt ist durch das Denken, Fühlen und Handeln Josef K.s.
Martin Walser setzt sich unter anderem mit folgenden Figuren auseinander: Parallelfiguren, Begleiter und Frauen. Die Parallelfigur zu Josef K. im „Prozeß“ ist für ihn Kaufmann Block. Soweit, daß Block wie K. einen Gerichtsprozeß laufen hat und sie beide den gleichen Anwalt, den Advokaten Huld, sowie seine Bedienstete Leni zur Geliebten haben, stimmen die Parallelitäten überein. Doch handelt es sich hier nicht eher um eine oberflächliche Parallelität? Was haben K. und Block außer dem Genannten noch miteinander gemein? Josef K. ist Bankbeamter, Kaufmann Block war eigenständiger Kaufmann. Josef K.s Prozeß währte zum Zeitpunkt des Aufeinandertreffens mit Block nicht einmal ein Jahr, Blocks Prozeß dagegen bereits fünf. Kaufmann Block wohnt in einem Verschlag im Haus des Advokaten, seit dieser ihn vertritt. Josef K. wohnt in einer Pension. Josef K. arbeitet weiter in der Bank. Nicht zu leugnen ist natürlich, daß die Figur des Kaufmanns auf Josef K. hin angelegt ist und sein Verhalten gegenüber seinem Prozeß näher beleuchtet.
So könnte man ohne weiteres Kaufmann Block in die Reihe der Figuren stellen, die für Josef K. erst dann interessant werden, wenn er glaubt, aus ihnen einen Nutzen für sich und den Verlauf seines Prozesses ziehen zu können.[7]
Die Begleiter sind für Martin Walser „daraufhin angelegt, den jeweiligen Helden, dem sie beigegeben sind, von sich selbst, von seinem Ziel abzubringen.“[8] Das Auftauchen der drei untergeordneten Bankbeamten Rabensteiner, Kullich und Kaminer bei der morgendlichen „Verhaftung“ habe auch ich als seltsam und verwirrend empfunden. Es gab keinen Grund, der ihr Auftauchen gerechtfertigt hätte. In dieser Szene erfüllen sie einzig und allein den Zweck, Josef K.s Aufmerksamkeit abzulenken. Und so „erinnerte sich K. daß er das Weggehn des Aufsehers und der Wächter gar nicht bemerkt hatte, der Aufseher hatte ihm die drei Beamten verdeckt und nun wieder die Beamten den Aufseher.“[9] Doch lenken sie durch ihr Auftauchen auch gleichzeitig die Aufmerksamkeit des Lesers vom Kern der Szene, von der Verhaftung K.s ab, indem sie sich zusätzlich in die Flut der auftretenden Personen einreihen, und agieren, obwohl sie für das eigentliche Geschehen völlig überflüssig und bedeutungslos sind. So wird der Leser gemeinsam mit Josef K. in eine Verwirrung gestürzt, bei der man nicht weiß, wer verwirrter zurückgelassen wird, Josef K. oder der Leser.
Fräulein Bürstner, die Frau des Gerichtsdieners und Leni sind die drei Frauen, auf die Martin Walser eingeht. Alle drei sieht er als einflußreiche Frauen, an die sich Josef K. klammert, um sich Trümpfe zu verschaffen.[10] Und auch Josef K. selbst sagt von sich: „Ich werbe Helferinnen, dachte er fast verwundert, zuerst Fräulein Bürstner, dann die Frau des Gerichtsdieners und endlich diese kleine Pflegerin, die ein unbegreifliches Bedürfnis nach mir zu haben scheint.“[11] Aber welche Trümpfe verschaffen ihm diese Frauen? Zum einen geben sie ihm das Gefühl, nicht allein dazustehen in seinem Kampf gegen das Gericht, doch gleichzeitig stehen sie ihm nur begrenzt zur Verfügung oder weisen ihn ab.[12] Angesichts des Kapitels „Gespräch mit Frau Grubach / Dann Fräulein Bürstner“ und des Fragments „B.’s Freundin“ einen biographischen Bezug zu leugnen, wie Martin Walser es tut, ist ignorant.
„Der autobiographische Anlaß des Romans, seine Beziehungen zur Lebenswelt Kafkas wurden von der Forschung immer wieder herausgestellt. Am 12. Juli 1914, einen Monat vor Beginn der Niederschrift, kam es im Hotel „Askanischer Hof“ in Berlin zwischen ihm und seiner Verlobten Felice Bauer im Beisein von drei Zeugen zu einer Aussprache, die mit der Entlobung endete. [...] Im Roman erinnert die Gestalt des Fräulein Bürstner (F. B.) an Felice Bauer und die Freundin, Fräulein Montag, an Grete Bloch.“[13]
Auch vermißte ich die Untersuchung der außerdem auftretenden Frauen, wie z. B. K.s Geliebte Elsa, die Pensionsinhaberin Frau Grubach und nicht zu vergessen die kichernden Mädchen vor der Tür des Malers Titorelli.
2.2 Josef K.
Hat Josef K. jemanden, der voll und ganz auf seiner Seite steht, der ihn versteht, dem er sich anvertrauen kann, der ihm zuhört? Nein.[14] Nicht einmal er selbst kann sich gänzlich verstehen, er ist ein Mensch, der oft von Selbstzweifeln zerfressen wird.
Josef K. steht dem Gericht gegenüber, einer „Welt der organisierten Un- oder Scheinordnung“.[15] Dieses Gericht nun ist kein solches, wie wir es heute kennen. Es existiert in Dachböden, beschäftigt Maler und Geistliche, ist seltsam omnipräsent und seit seiner Verhaftung nicht mehr aus K.s Privatleben zu entfernen. Dieser sonderbare Charakter des Gerichts hat mich bei der Lektüre des Prozeß’ verwirrt, da er sich so sehr von dem uns bekannten Charakter des Gerichtswesens unterscheidet. Eine Hilfe zum besseren Verständnis dieses Kafka-Gerichts bietet Karl Erich Grözinger mit seinem Buch „Kafka und die Kabbala“.
[...]
[1] Walser, Martin: Beschreibung einer Form. Versuch über Kafka. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1992. S. 9.
[2] „Ich wußte von ihr nur, daß sie bis zuletzt bei Kafka gewesen war.“ Ebd. S. 131.
[3] „Wir können die Werte der poetischen Existenz dieser Werke nicht als solche in eine Untersuchung hineinbringen, wenn wir deren „Machart“ auseinanderlegen wollen.“ Ebd. S. 44-45.
[4] Schmeling, Manfred: Dein Zeug zählt zu den Klassikern. Kafkas Geltung und literarische Wirkung als ‚Klassiker der Moderne’. S. 16.
[5] Walser, Martin: Beschreibung einer Form. Versuch über Kafka. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1992. S. 44.
[6] „Seine Figuren zeichnen sich durch ihre Geschaffenheit aus. Sie werden durch den Helden geschildert. Der Held muß also überall dabei sein, er muß den Figuren begegnen, daß sie erscheinen können.“ Ebd. S. 71.
[7] „ [...]; sobald [er] aber [sieht], daß der Kaufmann [...] für [ihn] wertvoll werden könn[te] durch die Ehrfahrung, die [er] gesammelt [hat], ändert sich [sein] Verhalten.“ Ebd. S. 46.
[8] Ebd. S. 49-50.
[9] Kafka, Franz: Der Proceß. Roman. Frankfurt am Main: Fischer 1994. S. 25.
[10] Walser, Martin: Beschreibung einer Form. Versuch über Kafka. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1992. S. 54.
[11] Kafka, Franz: Der Proceß. Roman. Frankfurt am Main: Fischer 1994. S. 114.
[12] „ ‚Fräulein Bürstner will mir offenbar die persönliche Aussprache um die ich sie gebeten habe, nicht bewilligen.’ ‚Das ist es’, sagte Fräulein Montag [...]“ Ebd. S. 250.
[13] Schlingmann, Carsten: Literaturwissen. Franz Kafka. Stuttgart: Philipp Reclam jun. 1995.
S. 38 – 39.
[14] „Bei Kafka ist eine Partei der jeweilige Held, der [...] immer allein ist.“ Walser, Martin: Beschreibung einer Form. Versuch über Kafka. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1992. S. 72.
[15] Ebd.
- Citar trabajo
- Anja Elstner (Autor), 2000, Franz Kafka, Der Prozeß - Zwei Lesarten, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/69172
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