Einleitung
Im bisherigen Verlauf meines Studiums, sowie meiner gesamten Schulzeit, waren die Möglichkeiten zur praktischen Beschäftigung nur sehr selten und ich mußte sie mir immer unter den "freiwilligen" Fächer- oder Seminarangeboten suchen.
Gelegenheit, mich mit meiner Person, meiner individuellen
Lebenssituation und den daraus erwachsenden Problemen, besonders bezogen auf mein jeweiliges Lebensumfeld zu beschäftigen, wurde mir kaum geboten. Institutionen wie Schule und Universität lähmen uns oft in unserer Kreativität und in unserem Aktionismus, was im
schlimmsten Fall zu Hoffnungs- und Perspektivlosigkeit führen kann.
Um dem entgegenzuwirken, müßten kreative, schöpferische
Handlungsmöglichkeiten, die nicht zum Institutionsalltag
gehören, wieder neu entdeckt werden. Theater ist für mich solch eine Möglichkeit.
In den Seminaren zum "Brüchigen Habitus"(1) bekam ich die Gelegenheit, mich zusammen mit einigen KommilitonInnen über unterschiedliche Konfliktsituationen anhand des Forumtheaters auszutauschen und
gemeinsam mit ihnen nach Handlungsalternativen zu suchen.
Mich hat diese aktive Art und Weise der Auseinandersetzung sofort fasziniert und die Aufführung in der Universität Hannover war für mich eine interessante Erfahrung und hat mir großen Spaß gemacht.
Ich war sehr überrascht, wie schnell das Publikum bereit war, in die Szenen zu intervenieren und nach Alternativen zu suchen, indem sie selbst spielerisch die Rolle des Unterdrückten einnahmen.
[...]
_______
(1) Ein Kooperationsprojekt der Universitäten Hannover und Hamburg angeleitet von
Dietlinde Gipser und Margret Bülow-Schramm.
Inhaltsverzeichnis
0.)Einleitung
I.) Entwicklung der Theatertechniken Augusto Boals im biographischen Zusammenhang
II.)DieTheatertechniken Augusto Boals
2.1 Das Zeitungstheater
2.2 Das Unsichtbare Theater
2.3 Das Statuentheater
2.4 Das Forumtheater
III.) Das Theater der Unterdrückten in Europa
3.1 Der Polizist im Kopf
IV.) Augusto Boal und Paulo Freire
V.)Möglichkeiten zur Anwendung des Theaters der Unterdrückten in der Schule
VI.)ZurBedeutung der Förderung der Körper- und Sinneswahrnehmung in der Schule
6.1 Übungen zur Körper- und Sinneswahrnehmung innerhalb des Theaters der Unterdrückten
VII.) Annäherung an das Workshopthema "Gewalt"
7.1 Begriffsbestimmung von "Aggression" und "Gewalt"
7.2 Die Gewaltdiskussion in den Medien
7.2.1 Führt liberale Erziehung zu gewalttätigen Jugendlichen ?
7.3 Vom Schwinden der Polizisten im Kopf
7.4 Gewalt in der Schule
VIII.) Der Workshop
8.1 Die Entwicklung des Workshops
8.2 Die Vorbereitung eines Workshops
8.3 Der Verlauf eines Workshops
8.3.1 Kennenlernphase
8.3.1.1 Phantomimeübungen
8.3.1.2 Postkartenvorstellung
8.3.2 Erste Auseinandersetzung mit dem Thema Gewalt
8.3.3 Sinneswahrnehmung
8.3.3.1 Das Mumpfspiel
8.3.4 Körperwahrnehmung
8.3.4.1 Hypnoseübung
8.3.4.2 Spiegelübung
Exkurs: Wie wichtig ist es für Jugend- liche, ihre Gefühle offen zu zeigen ?
8.3.5 Übungen zum Thema Gefühle
8.3.5.1 Gefühle steigern
8.3.6 TOC-Übung
8.3.7 Stärke-Übung - eeja-iehca
8.3.8 Übung zum Thema Gewalt: das Elefantenspiel
8.3.9 Rollenspiel: erste Übung zum szenischen Spiel
8.3.10 Tigersprung
8.3.11 Körperwahrnehmung: Musik-Stop
8.3.12 Übung zum Thema Gewalt: Der Außenseiter
8.3.13 Übung zum Thema Gefühle II
8.3.14 TOC-Übung II
8.3.15 Körperwahrnehmung: der Stuhl
8.3.16 Übung zum Thema Gewalt: Über den Tisch laufen
8.3.17 Körperwahrnehmung: Phantasiereise
8.3.18 Sinneswahrnehmung: Statuen blind nachstellen
8.3.19 Statuentheater
8.3.20 Forumtheater zu bekannten Szenen
8.3.21 Übung zum Thema Gewalt: Elfchen-Gedichte
8.3.22 Stärke-Übung - eeja-ieca
8.3.23 Forumtheater zu eigenen Situationen
8.3.24 Abschlußreflektion
8.3.25 Tigersprung
Exkurs: Die Rolle des Jokers und seine Übertragung auf den Workshop
8.4 Statuentheater mit vorgegebenen Situationen zum Thema Gewalt
8.5 Forumtheater zu selbstentwickelten Szenen
IX.) Schlußbemerkung
X.) Literaturverzeichnis
XI.Anhang
11.1 Inhaltsverzeichnis des Videos
11.2 Kurzbeschreibung von Übungen, neben den schon erwähnten aus aus unseren Workshops
0.) Einleitung
Im bisherigen Verlauf meines Studiums, sowie meiner gesamten Schulzeit, waren die Möglichkeiten zur prakti- schen Beschäftigung nur sehr selten und ich mußte sie mir immer unter den "freiwilligen" Fächer- oder Seminarangeboten suchen.
Gelegenheit, mich mit meiner Person, meiner individuel- len Lebenssituation und den daraus erwachsenden Problemen, besonders bezogen auf mein jeweiliges Lebensumfeld zu beschäftigen, wurde mir kaum gebo- ten.
Institutionen wie Schule und Universität lähmen uns oft in unserer Kreativität und in unserem Aktionismus, was im schlimmsten Fall zu Hoffnungs- und Perspektivlosigkeit führen kann.
Um dem entgegenzuwirken, müßten kreative, schöpferi- sche Handlungsmöglichkeiten, die nicht zum Instituti- onsalltag gehören, wieder neu entdeckt werden. Theater ist für mich solch eine Möglichkeit.
In den Seminaren zum "Brüchigen Habitus"1 bekam ich die Gelegenheit, mich zusammen mit einigen Kom- mili-tonInnen über unterschiedliche Konfliktsituationen anhand des Forumtheaters auszutauschen und gemeinsam mit ihnen nach Handlungsalternativen zu su- chen.
Mich hat diese aktive Art und Weise der Auseinander- setzung sofort fasziniert und die Aufführung in der Uni- versität Hannover war für mich eine interessante Erfah- rung und hat mir großen Spaß gemacht.
Ich war sehr überrascht, wie schnell das Publikum bereit war, in die Szenen zu intervenieren und nach Alternati- ven zu suchen, indem sie selbst spielerisch die Rolle des Unterdrückten einnahmen.
Das Theater der Unterdrückten ist geprägt von Be- ziehungen zwischen Menschen, nicht vom Bühnenbild. Es fordert heraus und soll helfen, entfremdete Verhaltensweisen und unechte Gefühle zu überwinden und so die Wirklichkeit mit anderen Augen zu durchleuchten und Widersprüche zu erkennen.
Aus der Faszination für diese Theatertechnik von Au- gusto Boal heraus nahm ich dann an einem Workshop in Münster teil, wo die Boalschen Methoden auf das The- ma "Umgang mit dem Fremden" angewandt wurden.
Im Verlaufe dieses Seminars habe ich auch die anderen Techniken des Theaters der Unterdrückten kennen- gelernt, wobei ich deren Verbindung mit einem Thema sehr spannend fand.
Die Workshopleiter Elisabeth-Maria Mars und Rainer Bungenstock von der Arbeitsstelle Weltbilder in Münster verstanden es, den Workshop so interessant und mit- reißend zu gestalten, daß mich der Wunsch nicht mehr losließ, selber einmal die Boalschen Methoden zu die- sem Thema an andere weiterzugeben.
So stellte ich gemeinsam mit einer Kommilitonin ein Programm für einen Workshop zum Thema "Der Um- gang mit dem Fremden" zusammen, den wir Studen- tInnen an unserem Fachbereich anboten.
Der Workshop hat sowohl uns als auch den Teilnehme- rinnen großen Spaß gemacht und brachte interessante Ergebnisse.2
Angeregt durch ein Seminar bei Loek Grobben beim Bildungsverein Hannover, einen weiteren Workshop in Münster und zahlreiche Seminare an der Universität kam ich mit einer anderen Kommilitonin auf die Idee, ein Konzept für einen zweitägigen Workshop an Schulen zu entwickeln.
Meine Tutorentätigkeit bei einer Hospitationsgruppe in einer Hauptschulklasse in Langenhagen bot sich für einen ersten Versuch an, weil ich die SchülerInnen hier schon kennen-gelernt hatte.
So kam es im März 96 zum ersten "Theaterworkshop nach Augusto Boals Statuen- und Forumtheater zum Thema Gewalt und Rassismus".
Später haben wir das Thema in "Gewalt" umbenannt, weil uns Rassismus als zu eingeschränkt und vorurteils- behaftet erschien.
Dieser Workshop hat uns so viel Spaß gemacht, daß wir die Arbeit daran fortsetzen wollten und ich auf die Idee kam, meine Examensarbeit darüber zu schreiben.
Augusto Boal"wurde mit der von ihm entwickelten Theaterform eines alternativen demokratischen Mitspiel- theaters, das darauf abzielt, den Zuschauer aus seiner Passivität zu befreien und zum Handelnden zu machen, wohl zum bekanntesten Theatermacher Lateinameri- kas."3
Er hat mit seinen Theatertechniken fortgesetzt, was Brecht mit seinem episch-dialektischen Theater be- gonnen hatte. Eine Aufhebung des klassischen, autoritä- ren Theaters, an dem die ZuschauerInnen nur als passi- ve Objekte beteiligt waren.
Ich werde im ersten Kapitel zunächst die Entwicklung seiner Theatertechniken mit dem Leben Augusto Boals in Verbindung setzen, um dann im zweiten Kapitel die klassischen Techniken im einzelnen zu erläutern.
Auf die neuen Techniken werde ich nur kurz im dritten Kapitel im Zusammenhang mit den veränderten Bedin- gungen im westlichen Europa eingehen, da sie in unse- rem Workshop auch nur indirekt Beachtung finden.
Gerade bezüglich Schule erschien es mir nun im vier- ten Kapitel wichtig, Parallelen zum didaktischen Kon- zept der Pädagogik der Unterdrückten von Paulo Freire zu ziehen, bevor ich dann im fünften Kapitel auf die Möglichkeiten des Einsatzes der Boalschen Techni- ken in der Schule eingehe.
Im sechsten Kapitel werde ich dann begründen, wa- rum die Übungen zur Förderung der Körper- und Sin- neswahrnehmung innerhalb unseres Workshops einen so großen Stellenwert einnehmen.
An das Workshopthema "Gewalt" werde ich mich dann im siebten Kapitel anhand einiger vielleicht wahllos er- scheinender Gedanken annähern.
Es kann hierbei natürlich nicht meine Intention sein, ei- nen vollständigen Überblick über die öffentliche Diskus- sion zu dieser Thematik zu geben.
Ich will lediglich neben der Definition von Aggression und Gewalt Erklärungszusammenhänge für die Gewalt von Jugendlichen aufzeigen, an denen unsere Theater- arbeit präventiv ansetzen könnte.
Weiter will ich neben der Kritik an dem Umgang der Medien mit dem Thema "Gewalt" noch meinen pädago- gischen Ansatz eines liberalen, emanzipatorischen Unterrichts verdeutlichen und verteidigen, den ich nicht nur im Umgang mit gewaltbereiten Jugendlichen vertre- te. Abschließend werde ich im siebten Kapitel dann noch einige Bedingungen aufzählen, die m. E. eine ge- waltfreie Schule erfüllen müßte.
Im achten Kapitel, dem praktischen Teil, werde ich dann exemplarisch den Verlauf eines Workshops be- schreiben. Ich habe der Arbeit ein Videoband beigefügt, um zu zeigen, wie die beschriebenen Übungen in der Praxis gelaufen sind und um aufzuzeigen, wie die unter- schiedlichen SchülerInnen drei verschiedener Schul- formen darauf angesprochen haben.
Im Anhang sind schließlich das Inhaltsverzeichnis des Videobandes und eine Kurzbeschreibung der Übungen, die wir in den übrigen Workshops durchführten und die nicht im achten Kapitel aufgeführt sind, zu finden.
Für Paulo Freire ist die Erziehung das wichtigste In- strument zur Schaffung eines entfremdeten Bewußt- seins.
Den Kindern wird ihre natürliche Neugier aberzogen und sie lernen, sich im Interesse der Eltern zu beherrschen, bis diese Beherrschung schließlich über das Unterbe- wußtsein verinnerlicht wird und den Charakter der Tu- gend annimmt, des "Polizisten im Kopf". 4
Der Schüler erfährt in der Institution Schule ständig die Bestätigung seiner Unfähigkeit, Bedeutungslosigkeit, Abhängigkeit, so daß er schließlich den Mythos seiner natürlichen Unterlegenheit verinnerlicht.
Durch die Verschleierung der Unterdrückung und Ent- fremdung können die Jugendlichen in ihrem Bewußtsein kein Repertoire an alternativen Möglichkeiten entwickeln. Weil sie es nie anders gelernt haben, fliehen sie vor der befreienden Erkenntnis, daß das Enthüllen ihrer Fremd- und Selbsttäuschung schmerzhaft ist und Angst erzeugt.
Hier setzt die problemorientierte Erziehung nach Freire an, welche auch die Grundlage des Theaters der Unter- drückten darstellt und so auch pädagogische und didak- tische Grundlage für unseren Workshop ist.
Lernen bedeutet für Freire, die eigene Lebenssituation als Problem bewußt wahrzunehmen und diese Proble- me durch Aktion und Reflexion lösen zu lernen.
Bewußt wahrnehmen bedeutet eine Enthüllung der Rea- lität, eine Kenntnis über die Zusammenhänge des ge- sellschaftlichen Lebens.
Der Mensch soll sich als Subjekt seines Lebens und seines Handelns erkennen, so daß er anfängt, über sich selbst zu bestimmen und sich kollektiv für seine Interes- sen zu engagieren.
In diesen konkreten Lebenssituationen und Erfahrungs- bereichen stehen sich LehrerInnen und SchülerInnen dialogisch gegenüber.
Anstatt zu manipulieren, sollen sich beide Seiten dabei helfen, ihre wahren Bedürfnisse und gemeinsamen Inte- ressen zu erkennen.
Hierfür muß der Lehrer die pädagogische Grundsituati- on des an die "Bankiers-Methode" 5 gewöhnten Schü- lers berücksichtigen.
In einem permanenten Lernprozeß muß der Lehrer oder die Lehrerin den SchülerInnen helfen, sich als Unter- drückte zu erkennen, damit diese zu einem aktiven Selbstbewußtsein kommen können.
Dies ist natürlich in einem zweitägigen Theaterworkshop kaum möglich.
Aber vielleicht kann er für die SchülerInnen der erste Schritt auf einem Weg zu einem neuen Selbstbewußt- sein sein durch die Erkenntnis, daß ihr Leben nicht eine Aneinanderreihung von unveränderbaren (Gewalt-) Si- tua-tionen darstellt, die es auszuhalten gilt, quasi als Zu- schauer im Theater.
Wenn sie vielmehr begreifen, daß jeder von uns die Fä- higkeit und meist auch die Möglichkeit hat, seine Le- benssituation und deren Umstände aktiv handelnd zu verändern, dann ist das vielleicht utopischste Ziel unse- res Workshops erreicht.
I.) Entwicklung der Theatertechniken Augusto Boals im biographischen Zu- sammenhang
Augusto Boal, geboren 1931 in Rio de Janeiro, gilt als der Brecht Lateinamerikas. Er entwickelte schon früh ein Interesse für das Theater und schrieb schon 1950 mit knapp 20 Jahren gesellschaftskritische Stücke für das damalige "Black Experimental Theatre" in Rio und Sao Paulo.
Dennoch studierte er von 1953 bis 1955 an der Colum- bia-University in New York Industriechemie, wobei er aber dort neben diesem Studium auch mehrere Kurse in Drama und Regie belegte.
Nach seinem Studium kehrte er zurück nach Brasilien und übernahm hier 1956 die künstlerische Leitung des Teatro de Arena in Sao Paulo, das sich mit seiner Hilfe von einer Studiobühne zum Volkstheater und Kulturzent- rum entwickelte.
Augusto Boal schrieb in dieser Zeit Agitationsstücke, die beim Volk gut ankamen. Die politischen und damit auch die sozialen Verhältnisse veranlaßten Boal und sein
Ensemble "nicht mehr nur noch die Studenten und Intellektuellen Sao Paulos an[zu]sprechen, sondern auch die Bewohner der favelas, die Fischer und Landarbeiter." 6
Ende der 50er Jahre litt vor allem die Landbevölkerung an Unterernährung, die Säuglingssterblichkeit lag bei 10%.
40% der erwachsenen Bevölkerung waren Analphabe- ten, und damit nicht wahlberechtigt. Die Mehrheit der Bevölkerung wurde von einer Minderheit ausgebeutet.
Aus diesem Grund verließ die Gruppe ihr Theaterge- bäude, um auf Marktplätzen, in Kirchen und im Zirkus Volkstheater, Theater für das Volk, zu spielen. "Theater ist für das Volk, wenn es die Welt aus der Perspektive des Volkes sieht, das heißt, in unaufhörli- chem Wandel begriffen, mit allen Widersprüchen, wenn es die Wege zur Befreiung des Menschen zeigt." 7
Neben dem Agit-Prop Theater spielte das Teatro de Arena hauptsächlich Stücke mit aufklärerischer Absicht, die Hintergründe und Entstehungs-zusammenhänge ak- tueller politischer Ereignisse beleuchteten. Hierfür muß- te Augusto Boal den Spielplan des Teatro de Arena verändern.
Er löste sich von den bisher bevorzugten nordamerika- nischen und europäischen Stücken und begann, Stücke brasilianischer Autoren aufzuführen.
In dieser Phase entstanden sogenannte "Nucleos", Kerngruppen, bestehend aus SchauspielerInnen des Teatro de Arena und Laien, die auch im Hinterland Brasiliens spielten und sogar neue Stücke schrieben und inszenierten, in Zusammenarbeit mit den dort lebenden Arbeitern und Bauern. Auf diese Weise wurde ein großer Teil der Bevölkerung angesprochen.
1956 gliederte man dem Teatro de Arena eine Schau- spieler-Innenausbildung (Laboratorio da Interpreta- cao) und eine Dramatikerwerkstatt (Semenario de Dramaturgia) an. So wurden Stücke über die brasiliani- schen Verhältnisse geschrie-ben und SchauspielerIn- nen ausgebildet, die so sprachen wie die Mehrheit der Bevölkerung Brasiliens. Gespielt wurde auf einer Bühne inmitten der ZuschauerInnen.
Die ZuschauerInnen sollten sich und ihre Lebenssituati- on auf der Bühne wiedererkennen, es sollte ihre Realität aus der Perspektive der Schauspieler-Innen gezeigt werden.
In dieser Zeit entstanden aus der Einsicht, daß auch Bevormundung Unterdrückung ist, verschiedene Volks- theatertechniken, die den Zuschauer stärker in das Ge- schehen auf der Bühne einbezogen.
So entstand "die Simultane Dramaturgie, eine Vorstu- fe des Forumtheaters, bei der der dargestellte Konflikt nach Vorschlägen der ZuschauerInnen von den Schau- spieler-Innen zu Ende geführt wird."8
"1967 wurde bei der Premiere von Arena conta Zum- bi, der bekanntesten Musikcollage des Teatro de Arena, der Joker 9 (coringa) eingeführt, durch den eine noch stärkere Annäherung an das Publikum erreicht werden sollte."10
Augusto Boals Beteiligung am Teatro de Arena ist in die Theatergeschichte eingegangen. Neben Arena Conta Zumbi schrieb und inszenierte er hier auch "Tiranden- tis".
Durch einen Staatsstreich mit dem Sturz des Präsiden- ten Goulart im April 1964 und die sich anschließende militärischen Rechtsdiktatur (1964-1968) unter Castel Branco veränderte sich die politische Lage in Brasilien. Die Volkskulturzentren wurden verboten, die Gewerk- schaften abgeschafft und die Führer der Bauernligen und Studenten-verbände verhaftet und zum Teil ermor- det.11
Boal und seinem Ensemble war es nun nicht mehr mög- lich, ihre Stücke frei aufzuführen. Sie waren gezwungen, auf die Klassiker der internationalen Theaterliteratur zu- rückzugreifen, die zum Teil allerdings auch noch eine brisante Aktualität bewiesen.
So wurde Augusto Boal während der zweiten Militärdik- tatur 1971 ohne konkreten Anlaß in Sao Paulo verhaftet und gefoltert.
"Nach dreimonatiger Haft kam er aufgrund internationa- ler Proteste wieder frei. Im Juni 1971 verließ Boal Brasi- lien und ging ins Exil nach Argentinien."12
Bis zur Ausreise aus Brasilien entstanden folgende Volks-theaterformen: das Propagandatheater, das di- daktische Theater, Folklore, Collage und das Zeitungstheater.
In Argentinien entwickelte er dann das Unsichtbare Theater, da es auch hier nicht möglich war, sich öffent- lich kritisch zu äußern.
1973 nahm er während eines mehrmonatigen Aufenthal- tes in Peru an einem Alphabetisierungsprojekt teil, das am Bildungsprojekt Paulo Freires13 orientiert war.
"Im Anschluß an dieses Projekt versuchte Boal eine Theorie des Volkstheaters aufzustellen. Der Begriff Theater der Unterdrückten tauchte zum ersten Mal in einem Bericht über die Alphabetisierungskampag- ne auf." 14
In diesem Zusammenhang entwickelt er hier auch das Statuentheater und schließlich das Forumtheater: "In einer Szene, die mit Hilfe der Simultanen Drama- turgie zu Ende geführt werden sollte, konnte der Lö- sungsvorschlag nicht zur Zufriedenheit der Zuschauer ausgeführt werden.
Nach einer langen, ergebnislosen Diskussion und vie- len Spielvarianten, versuchte schließlich eine Zu- schauerin selbst die Lösung zu improvisieren.
Das Forumtheater, die originärste Methode Augusto Boals, war geboren." 15
Zurück in Argentinien entstanden seine wichtigsten Schriften, die ihn berühmt machten: Theorie und Praxis des Theaters der Unterdrückten und die auch in Deutschland veröffentlichte Sammlung von Übungen und Spielen.
Als sich die politische Situation auch in Argentinien ver- schlechterte, verließ Boal 1976 Südamerika und ging nach Portugal, wo er einen Lehrauftrag am Konservato- rium für Theater in Lissabon annahm.
"Doch bereits nach kurzem Aufenthalt wurden die Gel- der für die Kulturarbeit Boals gekürzt. Außerdem war sein weiterer Aufenthalt an die Bedingung geknüpft, die brasilianische Staatsbürgerschaft abzulegen.
1978 zog Boal daraus die Konsequenz, verließ Portugal und übernahm einen Lehrstuhl an der Sorbonne in Pa- ris."16
1979 gründete er in Paris das Centre d`etuide et de dif- fusion des techniques actives d`expression (CEDI- TADE), das Zentrum zum Studium und zur Verbreitung aktiver Ausdrucksformen.
"Erstmals war eine qualitativ neue Möglichkeit zur Verbreitung der Methoden des Theaters der Unter- drückten gegeben.
Die Theatermethoden Boals sollten systematisch in einen kulturpolitischen Zusammenhang gestellt wer- den." 17
Nach einer Umstrukturierung 1985 nannte sich das Zent- rum fortan CTO, centre du Theatre de l`Opprimé - Augusto Boal.
1986 legte Augusto Boal die Leitung des Zentrums in Paris nieder und arbeitet seitdem wieder in Brasilien. Der Schriftsteller, Leiter der CTO, Vizepräsident der Na- tionalen Menschenrechtskomisson und seit 1993 Stadt- parlamentsabgeordneter der linksintellektuellen Arbei- terpartei PT in Rio, für die er sich schon 1989 zusam-
men mit dem CTO Rio mit unsichtbaren Theateraktionen am Wahlkampf beteiligte, sagte 1993 in einem Interview bezogen auf seine politische Karriere:
"Ich will nicht nur Politik, sondern auch weiterhin The- ater machen. Zwar machen auch Staatspräsidenten tagtäglich Theater, aber keines, womit sie die Nation retten könnten.
Ich bin Stadtparlamentsabgeordneter geworden und Theatermann geblieben, weil ich glaube, Politik mit Theater verändern zu können. Meine Originalität als Politiker besteht darin, daß ich mit legislativem Thea- ter arbeite." 18
Mit Hilfe des legislativen Theaters bekommt das Volk die Möglichkeit, über Boal direkt in die Politik einzugrei- fen.
Hierfür organisiert er mit seiner Theatergruppe überall in Brasilien Forumtheateraufführungen zu politischen The- men.
Die sich hierbei entstehenden Ergebnisse bringt Boal in seiner Funktion als Politiker z.B. in Form von Gesetzes- vorschlägen in das Parlament ein.
Als Ratsmitglied der Millionenstadt Rio de Janeiro wen- det er seit 1992 diese neue Form seines Theaters an.
II. Die Theatertechniken Augusto Boals
Ich werde nun im folgenden die vier in Europa bekann- testen Techniken vorstellen: Das Zeitungs-, das Un- sichtbare-, das Statuen- und das Forumtheater. Mit den letzten beiden haben wir auch im Workshop gearbeitet, auf sie werde ich später noch gesondert an Beispielen eingehen.
In der Reihenfolge, in der ich die einzelnen Methoden aufführe, sind sie auch entstanden.
2.1 Das Zeitungstheater
"Ziel des Zeitungstheaters ist es, die sogenannte Objektivität des Journalismus zu decouvrieren: Richtig lesen lehren und ler- nen." 19
Von der Unmöglichkeit, über ein Ereignis objektiv zu be- richten, ist schon oft und viel geschrieben worden.
Diese Scheinobjektivität, wie sie von den Medien aber
oft vertreten wird, als gezielte Manipulation aufzudecken, ist u.a. Aufgabe des Zeitungstheaters.
Das Zeitungstheater wurde als erste Form des Thea- ters der Unterdrückten von der Gruppe Núcleo de Teat- ro de Arena de Sào Paulo entwickelt, deren künstleri- scher Leiter Augusto Boal von 1956-1971 war.
Es bildete Ende der 60er Jahre den Beginn der Entwicklung zu seinem Konzept des Theaters der Unter- drückten.
Beim Zeitungstheater geht es darum, sich mit Meldun- gen und Artikeln in Zeitungen, Werbung, politischen Re- den, Schulbüchern, Statistiken etc. auseinanderzuset- zen, sie zu reflektieren und in allgemein- gesellschaftlichen Zusammenhängen zu begreifen. "Das Zeitungstheater stellt die Realität der Fakten wieder her, in dem es die einzelne Meldung aus dem
Zeitungskontext herauslöst, sie ohne verzerrende Wirkung direkt vor den Zuschauer stellt." 20
Mit Hilfe von 11 verschiedenen Lesetechniken wird die Realität der Fakten wiederhergestellt, indem die einzel- ne Meldung aus dem Zeitungskontext herausgelöst und ohne verzerrende Wirkung präsentiert wird.21 Die Mani- pulierbarkeit der Sprache wird durch die Sprache ent- larvt. Hierbei können Halbwahrheiten, Falschmeldungen oder Manipulationen zutage treten. Die 11 Techniken sind:
1. Einfaches Lesen:
Eine Meldung wird aus dem Kontext herausgelöst und kommentarlos vorgelesen. Durch Assoziationen können die Zu-hörerInnen neue Zusammenhänge erkennen.
2. Vervollständigendes Lesen:
Eine Meldung wird durch fehlende Hintergrundinformati- onen ergänzt und bekommt so u.U. eine ganz neue Be- deutung.
3. Gekoppeltes Lesen:
Sich widersprechende Meldungen werden nacheinander vorgelesen und bekommen so einen neuen Sinnzusam- menhang.
4. Rhythmisches Lesen:
Eine Meldung wird rhythmisch vorgetragen, wodurch neue Assoziationen zum Text geweckt werden.
5. Untermaltes Lesen:
Durch ungewöhnliche Untermalung, z.B. Werbeslogans, werden Meldungen verstärkt oder ironisiert dargestellt.
6. Pantomimisches Lesen:
Die Aussage einer Meldung wird durch pantomimische Gebärden ergänzt, unterstützt, hervorgehoben oder kon- trastiert.
7. Improvisierendes Lesen:
Eine Meldung wird szenisch umgesetzt, wobei ver- schiedene Ausdrucksvarianten eingesetzt werden kön- nen. So kann z.B. der Aussagegehalt völlig verfremdet werden.
8. Historisches Lesen:
Aktuelle Meldungen werden mit der Vergangenheit, bzw. mit ihrer geschichtlichen Entwicklung in Beziehung ge- setzt.
9. Konkretisierendes Lesen:
Anstelle von Wörtern wird eine sinnlich faßbare Form gewählt (z.B. Bilder, Statistiken).
10. Pointiertes Lesen:
Eine Meldung wird im Stil eines anders Genres reprodu- ziert oder kommentiert und dadurch dessen wahre Be- deutung enthüllt.
11. Kontext Lesen:
Um die Hochstilisierung unwichtiger Details einer Mel- dung von den Medien zu relativieren, wird sie durch Hin- ter-grundinformationen wieder in ihren sozialen Kontext gesetzt.
Die Lesevorschläge sind nicht starr voneinander abge- grenzt zu begreifen, wodurch es den TeilnehmerInnen des Zeitungstheaters frei steht, weitere Techniken zu entwickeln, bzw. durch Kombination die erwünschte Wir- kung zu erzielen.
2.2 Unsichtbares Theater
In der Fußgängerzone einer großen Stadt sitzt ein Obdachloser und bettelt um Geld.
Ein älterer Herr kommt vorbei und erbost sich mit den typischen Argumenten lauthals über den Obdachlo- sen. Er soll sich doch gefälligst Arbeit suchen und hier nicht so herrumsitzen.
Zwei Skinheads kommen dazu, beschimpfen den Obdachlosen und bedrängen ihn. Es kommt zu hitzi- gen Diskussionen der Passanten über Obdachlose und die soziale Situation im Land.
Zunächst erscheint die geschilderte Situation alltäglich, aber der Schein trügt: der Obdachlose, der alte Herr, die Skinheads und auch einige der Passanten sind Schau- spielerInnen.
Hier wird Unsichtbares Theater gespielt, eine Thea- termethode, die Augusto Boal zu einer Zeit in Argenti- nien entwickelte, als die politischen Bedingungen ein öffentliches Theaterspielen nicht ermöglichten.
Unsichtbares Theater braucht keine feste Bühne, findet in der Öffentlichkeit statt. Auf öffentlichen Plätzen, in der U-Bahn, in Kneipen usw.; dort, wo viele Menschen hin- kommen. Die Öffentlichkeit wird von der Theatergruppe zur Bühne gemacht.
Dabei sucht sich die Gruppe ein aktuelles, brisantes Thema aus, bei dem sie annimmt, daß es die Zuschau- erInnen betrifft.
Die Gruppe spielt eine einstudierte Szene, die real wir- ken muß, so daß den ZuschauerInnen nicht bewußt wird, daß sie an einer Theateraufführung beteiligt sind. Durch seine Unsichtbarkeit wird bei dieser Methode die Trennung zwischen SchauspielerInnen und Zuschaue- rInnen aufgehoben.
"Sie wissen nicht, daß sie Zuschauer sind, und sind daher, gleichzeitig, auch Akteure. Sie agieren gleich- berechtigt mit den Schauspielern." 22
Unsichtbares Theater will aufmerksam machen und zur Diskussion anregen.
Unsichtbares Theater muß bis ins Detail geplant sein und die SchauspielerInnen sollten auf alle Eventualitä- ten vorbereitet sein.
Der Ablauf vollzieht sich in zwei Phasen:
In der ersten Phase spielen die SchauspielerInnen die Szene und schüren den Konflikt.
Nachdem sie dann die Szenerie verlassen haben, ver- suchen weitere TeilnehmerInnen der Gruppe, die Diskussionen anzuregen und fortzuführen.
Wenn eine fruchtbare Diskussion entsteht und der Kon- flikt sich in den Köpfen der Menschen festgesetzt hat, gilt Unsichtbares Theater als erfolgreich.
Dies ist aber nur schwer nachzuweisen, deswegen be- kommt die Gruppe nur selten ein Feedback, genauso wie sie auch ohne den Applaus vom Publikum auskom- men muß.
Wenn der politische Anspruch einer Gruppe ist, diejeni- gen Menschen auf Unterdrückungssituationen hinzuwei- sen, die nicht ins Theater kommen und sie darauf auf- merksam zu machen, dann sehe ich das Unsichtbare Theater als eine gute Möglichkeit an, diese Menschen zu erreichen.
Beim Unsichtbaren Theater kann wohl kaum von einem gleichwertigen Verhältnis SchauspielerIn-ZuschauerIn gesprochen werden.
Der Schauspieler ist dem Zuschauer durch sein Wissen um die fingierte Situation voraus und er kann sich auf die Situation vorbereiten.
Der Zuschauer hingegen weiß nicht, daß eine Reaktion von ihm beobachtet wird und er bekommt keine Gele- genheit, sich auf diese Situation vorzubereiten.
2.3 Das Statuentheater
"In der gesprochenen Sprache ist jedes Wort mit einer allgemeinen Denotation und gleichzeitig mit einer individuellen Konnotation besetzt. Auch wer an eine radikale Veränderung denkt, hat doch gleichzeitig seine persönliche Vorstellung (Konnotation) von ihr. Das Statuentheater macht genau diese persönliche Vorstellung für die anderen sichtbar und be- greifbar." 23
Beim in Peru entstandenen Statuen- oder Bilderthea- ter werden abstrakte oder konkrete Begriffe durch eine Statue dargestellt.
Mit dieser Statue kann die Gruppe eine Unterdrü- ckungssituation darstellen, welche sie durch nonverbale erstarrte Positionen ausdrückt, die aus einem Hand- lungsablauf heraus erarbeitet sein können.
Das Statuentheater "kann Gedanken sichtbar machen,
wozu gesprochene Sprache nicht in der Lage ist." 24
Die Arbeit an der Statue kann nun in mehreren Schritten erfolgen:
Wenn nicht vorher bekannt, müssen die nicht an der Sta- tue beteiligten zunächst herausfinden, welche Situation hier dar-gestellt wird. Sie müssen erst beschreiben, was sie sehen und sollen erst dann interpretieren.
Um die Situation zu verdeutlichen, gibt es die Möglich- keit, jeden an der Statue beteiligten einen Satz sagen zu lassen ("eine Art 'Selbstdoppeln oder innerer Mono- log"25 ).
Im nächsten Schritt kann das Bild von der Gruppe nun solange verändert werden, bis ein Realbild entstanden ist, welches
"als kollektive Vorstellung der Realität akzeptiert wird
und nach Auffassung aller die plastische Umsetzung des Themas ist." 26
Ist dieses Realbild gefunden, wird gemeinsam ein Ideal - oder Utopiebild geschaffen, aus dem die Un- terdrückung verschwunden ist und das den Wunschvor- stellungen der Gruppe entspricht.
Die Suche vom Realbild zum Idealbild ist der eigentli- che erzieherische und befreiende Aspekt dieser Thea- terarbeit.
Die Veränderung der Statue erfolgt nonverbal. Jeder der an der Statue nicht beteiligten kann diese modifizie- ren, indem er oder sie sich die einzelnen Elemente bzw. Personen der Statue bis hin zum Gesichtsausdruck nach eigener Vorstellung zurechtformt.
"Im Statuentheater gehen wir vom statischen zum be-
wegten Bild über: Wir erstellen ein Ausgangsbild und bringen dann Bewegung ins Bildgeschehen, wir dy- namisieren es und gelangen so vom realen Aus- gangsbild zu dem in der Realität erstrebten Bild." 27
Nun kann noch der Übergang vom Real- zum Ideal- bild nachvollzogen werden.
Hierfür können von den an der Statue beteiligten Perso- nen zeitlupenförmige oder ruckartige28 Bewegungen von einem Bild zum anderen durchgeführt werden, um so Übergangsbilder entstehen zu lassen.
Es gibt auch die Möglichkeit, daß eine zweite Gruppe mitwirkt, und so Real- und Idealbild gegenübergestellt werden.
Die Arbeit am Statuentheater "soll in raschem Tempo vor sich gehen, damit die Mitwirkenden nicht erst in Worten denken und diese dann in Bilder übersetzen - sie sollen vielmehr spontan in Bildern denken." 29
Ich werde anhand von Beispielen, die während des Workshops entstanden sind30, später noch genauer auf die Arbeit mit dem Statuentheater eingehen, das dort einen zentralen Stellenwert einnimmt.
2.4 Das Forumtheater
"In bestimmten afrikanischen Ländern messen die Leute die Ta- lente eines Sängers an dem Ausmaß, in dem es ihm gelingt, sein Publikum zum Mitsingen zu bewegen. Das sollte auch guten Fo- rum-Schauspielern als Maßstab dienen."31
Beim Forumtheater sollen die ZuschauerInnen zu Pro- tatgonistInnen werden und in die theatralischen Hand- lungen der SchauspielerInnen mit einbezogen werden. Hierfür wird von der Gruppe eine kurze Szene32 zu einer konkreten, realen Unterdrückungssituation erarbeitet.
Diese verläuft nach folgendem Muster: Eine Person wird zum Opfer von Unterdrückung und die Szene bricht auf dem Höhepunkt der Unterdrückung ab.
"Die entwickelte Szene kann realistisch, aber auch symbolisch sein (z.B. kann "Angst" thematisiert wer- den entweder durch konkrete Personen, die anderen Angst einjagen, oder "Ängste" können personifiziert dargestellt werden)."33
Es können alle zur Verfügung stehenden Hilfsmittel (z.B. Requisiten, Musik...) verwendet werden, sofern sie nicht den Inhalt verzerren oder von ihm ablenken.
Das Anti-Modell muß so aufgebaut sein, daß die dar- gestellte Lösung des Problems unbefriedigend ist bzw. es keine Lösung gibt.
Diese muß von den Zuschauspielern 34 gefunden wer- den.
Hierfür wird die Szene vor einem Publikum, einem Fo- rum, zunächst einmal vorgespielt, um die Problematik vorzustellen und eine Identifikation mit der unterdrückten Person aufzubauen.
Es ist wichtig, daß von den SchauspielerInnen keine Lösungen vorgegeben werden.
"Die unterdrückende Situation soll so dargestellt wer-
den, daß sie für die Zuschauer unerträglich wird." 35
"Im Forumtheater werden keine Ideen suggeriert. Der Zuschauer erhält vielmehr die Gelegenheit, eigene Ideen kritisch zu überprüfen und sie versuchsweise in di e Praxis
- die Theaterpraxis - umzusetzen." 36
Nachdem der Joker37 die Spielregeln erklärt hat, wird die Szene ein zweites Mal aufgeführt.
Nun kann ein beliebiger Schauspieler "STOP!" rufen und eine der Personen in der Szene ersetzen und ande- re Verhaltens-weisen ausprobieren.
Es gibt auch die Möglichkeit, daß das Publikum sich in kleinen Gruppen vorab berät, in welcher Situation sie in- tervenieren könnten.
Danach gibt ein Zuschauspieler genau an, in welcher Situation er in die Szene einsteigen will und seine Hand- lungsalternative ausprobieren möchte.
Der Vorteil ist hier sicher, daß die Intervention vorher schon einmal diskutiert und durchdacht wurde, aber auf der anderen Seite geht dem Forumtheater meiner Meinung nach viel von seiner Dynamik und Spontaneität ver- loren, wenn die Szene vorab besprochen wird.
Nach meiner Erfahrung ist es am sinnvollsten, eine un- terdrückte Person auszuwechseln. Wird der Unterdrü- cker ausgewechselt, kommt es meist nur zu unrealisti- schen Lösungsvorschlägen.
Es kann aber eine interessante Erfahrung für den Zu- schauspieler sein, einmal die für ihn vielleicht fremden Verhaltensweisen eines Unterdrückers kennenzulernen und darüber zu reflektieren.
Das Einwechseln geschieht meist mehrmals; solange die ZuschauerInnen Interventionen wünschen und sich ZuschauspielerInnen dafür finden, sollte an der Szene weitergespielt werden.
Die ZuschauerInnen entscheiden schließlich über den besten Lösungsvorschlag im Sinne einer realistischen Handlungsalternative.
Nach Augusto Boal soll im Zuschauspieler der Wunsch geweckt werden, in der realen Situation umzusetzen, was er oder sie beim Forumtheater probt.38
Das Theater wird so zur Probe für die Wirklichkeit. Die entworfenen Handlungsstrategien sollen in der Zukunft in die Realität umgesetzt werden.
"Aber in der Zukunft müssen wir uns der Probe erin-
nern. In unserer schnellebigen Zeit hat es das Ver- gessen im Zweifelsfall eiliger." 39
Auf die Frage, inwieweit mir dieser Anspruch als realis- tisch erscheint, werde ich später anhand verschiedener Szenen aus einem Workshop noch eingehen.
III.) Das Theater der Unterdrückten in Eu- ropa
"Lateinamerika ist ein blutdurchtränkter Kontinent. Dort ist das Theater der Unterdrückten entstanden. Hier in Europa gibt es solche Greuel nicht, nicht mehr. Aber das heißt noch lange nicht, daß es nicht auch in Europa Unterdrückte und Unterdrücker gibt. Und wenn es Unterdrückung gibt, so gibt es auch die Notwendigkeit eines Theaters der Unterdrückten- und das meint: eines40
Befreiung."
Die Entwicklung des Theaters der Unterdrückten in Eu- ropa begann 1979, als Boal in Paris in Zusammenarbeit mit dem Theaterkritiker Emile Copfermann ein Thea- terzentrum gründete, das später zum schon erwähnten CTO wurde.41
Die beschriebenen Techniken des Theaters der Unter- drückten können mit ihren ursprünglichen Zielen42 nicht einfach auf Europa übertragen werden.
Hier ist die Unterdrückung nicht so leicht durchschaubar, läuft subtiler und eher auf der psychischen Ebene ab und muß daher nach Boal auch subtiler bekämpft wer- den.43
Zwar gibt es auch hier Themen wie Arbeitslosigkeit und die Gewalt gegen Minderheiten, aber sie sind nicht das zentrale Problem: Aus den bewaffneten Polizisten und Soldaten auf den Straßen Lateinamerikas werden verin- nerlichte Probleme wie Beziehungslosigkeit der Men- schen, Isolation, Einsamkeit, Lebensangst, Probleme der Konsumgesellschaft, die das Individuum bedrohen oder es, schließlich, gar zerrütten.44
[...]
1 Ein Kooperationsprojekt der Universitäten Hannover und Hamburg angeleitet von Dietlinde Gipser und Margret Bülow-Schramm.
2 Zu finden in der Diplomarbeit "Das Theater der Unterdrückten in der Bildungsar- beit" von Anja Werner.
3 Neuroth, Simone: Augusto Borals Theater der Unterdrückten..., S.9.
4 Siehe auch Kap.3.1.
5 Siehe auch Kap.4.
6 Neuroth, Simone: Augusto Boals Theater der Unterdrückten..., S.53.
7 Boal, Augusto: Theater der Unterdrückten, S.17.
8 Neuroth, Simone: Augusto Boals Theater der Unterdrückten..., S.54.
9 Zur besonderen Rolle des Jokers, die ich in den Workshops einnahm, werde ich noch gesondert in Kap.8 eingehen.
10 Neuroth, Simone: Augusto Boals..., S.55.
11 Vgl. Thorau, Henry: Das Theater des Augusto Boal..., S.5f.
12 Neuroth, Simone: Augusto Boals Theater der Unterdrückten..., S.55.
13 Siehe auch Kap.5.
14 Neuroth, Simone: Augusto Boals Theater der Unterdrückten, S.56.
15 Ebd.
16 Ebd.
17 Neuroth, Simone: Augusto Boals Theater der Unterdrückten..., S.49.
18 Interview mit Augusto Boal im Berliner Tagesspiegel vom 14.10.93. In: Spiel- Räume, S.49.
19 Boal, Augusto: Theater der Unterdrückten, S.29.
20 Ebd., S.29.
21 Vgl.Boal, Augusto: Theater der Unterdrückten, S.29.
22 Boal, Augusto: Theater der Unterdrückten, S. 35.
23 Boal, Augusto: Theater der Unterdrückten, S.55.
24 Ebd.
25 Feldhendler, Daniel: Psychodrama und Theater der Unterdrückten, S.37.
26 Boal, Augusto: Theater der Unterdrückten, S.53.
27 Ebd., S.241.
28 Siehe Toc-Übung, Kap. 8.3.6 und 8.3.14.
29 Boal, Augusto: Theater der Unterdrückten, S.71.
30 Siehe Kap.8.4.
31 Boal, Augusto: Forum-Theater. Zweifel und Gewißheit. in: Spiel-Räume, S.41.
32 Neuerdings auch "Anti-Modell" genannt.
33 Gipser, Dietlinde: Das Forumtheater. Spielend Wege des Handelns entwerfen und wählen. In: Datta, Asit: Lehrspiele Lernspiele, S.127.
34 Von Boal entwickelter Begriff für die Zusachauer beim Forumtheater, die jeder- zeit die Möglichkeit haben, zum Schauspieler zu werden.
35 Feldhendler, Daniel: Psychodrama und Theater der Unterdrückten, S.47.
36 Boal, Augusto: Theater der Unterdrückten, S.57/58.
37 Zur Rolle des Jokers siehe Kap.8.
38 Vgl. Boal, Augusto: Theater der Unterdrückten, S.58.
39 Frey, Barbara: Wie weit reicht unser Atem ? in: Gebraucht das Theater, S.247.
40 Boal, Augusto: Theater der Unterdrückten, S.68.
41 Siehe auch Kap.2.
42 Das Zeitungstheater mit seiner Enthüllung der Verschleierung der Nachrich- tenpräsentation der Medien; des Unsichtbaren Theaters als Reaktion auf Auf- führungsverbote und das Forum u. Statuentheater als Übungsfeld für den Um- gang mit konkreten Unterdrückungssituationen.
43 Vgl. Boal, Augusto: Theater der Unterdrückten, S.68.
44 Ebd., S.165.
- Quote paper
- Holger Döding (Author), 1997, Das 'Theater der Unterdrückten' in der Schule am Beispiel eines Theaterworkshops zum Thema 'Gewalt', Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/68
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