Wenn man über amerikanische Kultur spricht, kommt man eigentlich gar nicht umhin, an das amerikanische Musical zu denken. Musikwissenschaftler sind sich einig, daß das Musical eine Form der Unterhaltung ist, wie sie nur in Amerika entstehen konnte und empfinden das Musical sozusagen als ur-amerikanisch. Dies bezieht sich einerseits auf den Entstehungsort, den Broadway in New York, und andererseits auf die Wesensart des Musicals an sich.
Im "Schmelziegel" Amerika haben sich von je her die verschiedensten Kulturen vermischt. Im kulturellen Bereich, gerade auch im Bereich der Musik, hat diese Verschmelzung stets zu neuen Gattungen geführt. Auch das Musical ist ein Produkt unterschiedlichster musikalischer Einflüsse. So wird im Einzelnen auf die Balladenoper, die Burleske, die Extravaganza, die Minstrel-Show, das Vaudeville, die Revue, die Operette und den Jazz eingegangen werden, um die Ursprünge des "verschmolzenen Produkts", des Musicals, zu erläutern. Das "Frontier Heritage" wie auch die protestantische Arbeitsethik, der "American Dream", bilden den Rahmen zum Verständnis dieser neuen Gattung.
Inhaltsverzeichnis
1. Einführung
2. Der "Schmelztiegel" oder die "American Pizza"
2.1. Die Vorgeschichte der Musikelemente aus denen sich das Musical zusammensetzt
Balladenoper
Burleske
Extravaganza
Minstrel-Show
Vaudeville
Revue
Operette
Jazz
2.2. Das "verschmolzene" Produkt
Bühne
Künstler
Komponisten
Musik
Thema
3. Das Erbe des "Frontier Myth"
4. Protestantische Arbeitsethik, der "American Dream" und das Musical
5. Schlußbemerkung
6. Bibliographie
1. Einführung
Wenn man über amerikanische Kultur spricht, kommt man eigentlich gar nicht umhin an das amerikanische Musical zu denken. Musikwissenschaftler sind sich einig, daß das Musical eine Form der Unterhaltung ist wie sie nur in Amerika entstehen konnte und empfinden das Musical sozusagen als ur-amerikanisch. So wird es oft auch das amerikanische Musical genannt. Was nun genau bedeutet dies? Es scheint zwei Ansätze zu geben, die leicht miteinander vermischt werden, aber durchaus nicht identisch sind.
Zunächst bezeichnet dieses Attribut das Entstehungsland. Bei diesem Ansatz wird jedoch meistens gleich darauf verwiesen, daß das Musical in New York - und um noch genauer zu sein - am Broadway entstand. So bezeichnet Kortus das Musical als "ein Kind der New Yorker Unterhaltungs- und Kulturlandschaft, des 'Broadway'."[1] Und Schmidt-Joss erläutert dies ausführlich: "Nur in New York konnte das Musical entstehen. Die Theaterlandschaft des Broadway [...] waren seine unabdingbaren Voraussetzungen."[2]
Ein anderer Ansatz bezieht sich auf die Wesensart des Musicals als eine typisch amerikanische. So behauptet Kortus: "Das Musical will bewußt amerikanisch sein."[3] und Everett Helm bezeichnet das Musical als "eine ausgesprochen amerikanische Form des Musiktheaters und [...] einer der originellsten Beiträge der Neuen Welt zur Musik des 20. Jahrhunderts."[4] Über die Versuche, das Musical der Alten Welt näherzubringen schlußfolgert Albrecht Goebel: "Das Musical schien offensichtlich eine amerikanische Erscheinung zu sein und zu bleiben, [...]."[5]
Die spezielle Wesensart der Amerikaner, amerikanische Werte und Vorlieben ermög-lichten erst die Entstehung des Musicals. Die spezifischen Begebenheiten in Amerika und speziell in New York am Broadway trugen ihren Teil dazu bei. Als Ergebnis eines für Amerika anscheinend typischen Entwicklungsprozesses spiegelt das Musical die amerika-nische Mentalität und Kultur. Es scheint eine ganze Reihe von typisch amerikanischen Merkmalen und Werten in sich zu vereinigen. In der folgenden Hausarbeit werde ich versuchen, diesen Zusammenhang näher zu untersuchen.
Auch wenn sich im folgenden die verschiedenen Punkte unter 2. immer wieder vermischen habe ich dennoch versucht eine Unterscheidung vorzunehmen.
2. Der "Schmelztiegel" oder die "American Pizza"
Zu Beginn dieses Jahrhunderts war Amerika ein typisches Einwandererland. Nationalitäten aus aller Welt treffen aufeinander. Kulturen reiben sich aneinander. Oder ver-schmelzen. Je nachdem, ob eine Synthese möglich ist oder die Gegensätze unüberbrück-bar scheinen, entstehen neue Formen des sozialen oder kulturellen Lebens. Speziell in New York, welches lange Zeit als Hafen für Neuankömmlinge aus der Alten Welt fun-giert, tritt der Verschmelzungseffekt bzw. das Nebeneinander der Gegensätze deutlich zu Tage.
Musik hat schon immer besonders feinfühlig auf neue Einflüsse reagiert. Als Afrikaner nach Amerika versklavt wurden, veränderte sich ihre Musik. Auf diese Weise - und wahrscheinlich nur auf diese Weise - konnten Musikformen wie Blues oder Jazz entstehen. So ist es nicht verwunderlich wenn Kortus über den Jazz von dem "in Amerika originären Musikelement"[6] spricht. Jazz ist nicht nur als das Haupt-Musikelement im Musical hervorzuheben, sondern ganz besonders auch als ein optimales Beispiel von Verschmelzung im Bereich der Musik. Auch das Musical ist das Ergebnis eines Verschmelzungsprozesses vieler verschiedenen Einflüsse. Auch wenn Schmidt-Joss z.B. nicht spezifisch auf die unterschiedliche Herkunft der Einflüsse hinweist, wird dies später in der näheren Erörterung dennoch deutlich werden:
Wie fast alle Kunstformen, die in Amerika entstanden und gewachsen sind, ist auch das Musical eine Mischform: das Produkt der Verschmelzung vieler traditioneller Elemente unter spezifisch amerikanischen Voraussetzungen und Bedingungen. Operetten und Oper, Balladen und Spottlieder, Revuen und Varietés, Minstrel Shows und Vaudeville, Ballett und Extravaganza, Schlager und Jazz haben Anteil daran. Jedes einzelne Stück des Genres zeichnet sich durch einen besonderen Mischungsgrad der Elemente dieser Ausgangsformen aus.[7]
Das Musical hat von all diesen Musikelementen ein wenig. Um zu verstehen, warum diese Mischung so amerikanisch ist, muß man sich die einzelnen Elemente selbst ansehen.
2.1. Die Vorgeschichte der Musikelemente aus denen sich das Musical zusammensetzt
Balladenoper
Die Balladenoper: 1728 wurde in London die "Beggar's Opera" uraufgeführt und damit das Genre der Balladenoper geschaffen. Im Gegensatz zu den Opern italienischen Stils, waren die Hauptpersonen nunmehr Bettler, Diebe, Dirnen und Zuhälter und nicht mehr Edelleute und Götter. Die Musik bediente sich volkstümlicher Balladen und bekannter Melodien. So wurden "populäre Motive und Melodien mit zum Teil eindeutig folkloristischem Charakter in parodistischer Absicht als Bühnenmusik eingesetzt und damit in eine städtische Volksmusik umgeschmolzen."[8] Als die "Beggar's Opera" 1751 in New York aufgeführt wurde fand sie großen Zuspruch und "setzte Maßstäbe für volkstümliches musikalisches Theater."[9] Obwohl die Balladenoper ursprünglich ein englisches Produkt ist, trifft sie in Amerika auf einen sehr empfänglichen Geist. Die Benutzung von volkstümlichen Motiven und Melodien statt des Kunstliedes und die Darstellung von "kleinen" Leuten statt der Aristokratie-Verehrung in einem Theaterambiente entspricht der demokratischen Gesinnung der frisch-eingewanderten Amerikaner. In England wurde 1737 ein Zensurgestz erlassen welches satirische Theaterbelustigungen grundsätzlich verbot und somit die Balladenoper in England von der Bühne fegte. In Amerika entstanden Anfang des 20. Jahrhunderts Musik-Kommödien in einem der Balladenoper ähnlichem Stil, die sich gegen die Operetten-Importe aus Europa auflehnten. Die Amerikaner, oder besser gesagt die amerikanische Musik setzte nationale Akzente. Letztendlich hat der "moderne amerikanische Pop-Song, der späteren Musical-Komponisten als Material diente, [...] hier seinen Ursprung."[10]
Burleske
Die Burleske: Ursprünglich waren "Burlesque Operas" literarische Travestien mit Musik (Anfang des 19. Jhdts.). Wie jedoch Schmidt-Joss treffend bemerkt, glichen sich "alle Theater- und Show-Business-Formen, die [...] in Amerika gepflegt wurden" den "Bedingungen der Neuen Welt an und entwickelten Charakeristika, die sie deutlich von ihren [europäischen] Vorbildern unterschied."[11] So veränderte sich das Bild der Burleske in Amerika. Zunächst wurden aktuelle Komik und populäre Songs wichtiger als die literarische Vorlage; später sank die Burleske auf das Niveau einer Striptease-Show, als nur noch auf die Sex-Wirkung der "Girl"-Truppe gesetzt wurde. Zwischen diesen beiden Schritten gelangte die Burleske in die "Nähe des Musicals"[12]. In den "Mulligan-Plays" (1879) wurden nunmehr nicht historische oder literarische Motive parodiert, sondern zeitgenössische Themen behandelt und das "New Yorker Kleinbürgertum [erschien zum erstenmal] mit all seinen Vorzügen und Gebrechen auf einer Theaterbühne."[13] Die "Mulligan-Plays" wurden als "Beginn der amerikanischen Komödie" gefeiert. Den Höhepunkt erlebte die amerikanische Theaterform Burleske 1891 mit "Trip to Chinatown". In den losen Handlungsstrang wurden Songs, die Amerika im Sturm eroberten, und unterhaltsame oder witzige Episoden eingeflochten. Zeitgenössische Parodien, New Yorker Kleinbürgertum auf der Bühne verkörpert, eingängige Melodien und eine Handlung, die durch unterhaltsame Episoden und Songs aufgefüllt wird: der Schritt zum Musical war nicht mehr weit.
Extravaganza
Die Extravaganza: Die Extravaganza ist ein Zufallsprodukt, wie es wohl nur in Amerika entstehen konnte. Als im Jahre 1866 die New Yorker Academy of Music abbrannte und ein französisches Ballett sich seiner Auftrittsmöglichkeit beraubt sah, hatten der Produzent des Melodrams "The Black Crook", W.Weatly, und der Produzent des französischen Balletts, H.C.Jarret, die Idee, ein gemeinsames Riesenspektakel auf die Bühne zubringen:
Märchenfiguren aus dem Repertoire aller Herren Länder, erotisch aufreizende Songs [...], artistische Sketchs, ein hundertköpfiges Ballett in Netzstrümpfen und durchsichtigen Gaze-Kostümen, gold- und flitterüberladene Dekorationen und Texte mit zahlreichen Zweideutigkeiten.[14]
Es ist fraglich, ob sich in Europa die Spontanität, Experimentierfreude und Risikobereitschaft an sich Artfremdes zu einer Mega-Show zu vereinen, in der auf künstlerische Qualität zugunsten publikumswirksamer Quantität verzichtet wird, gefunden hätte. Und selbst wenn jemand dieses Wagnis eingegangen wäre, bliebe immer noch zweifelhaft, ob dieses Spektakel derart begeistert aufgenommen worden wäre wie "The Black Crook" in Amerika. Die Freude der Amerikaner an Superlativen wurde nach der Erbauung des Hippodrome Theatre am Broadway (1905) exessiv ausgeschlachtet. Das Hippodrome faßte 5200 Zuschauer und hatte auf einer 35 Meter tiefen Bühne zwei Zirkusarenen und ein Wasserbecken. In diesem Riesentheater konnten außer Dressurakten mit hunderten von Tieren auch Autorennen, Luftschlachten, Sandstürme, Tornados und Erdbeben inszeniert werden. Die Ära der Extravaganza ging mit der Wirtschaftskrise 1929 dem Ende entgegen. Die Aufwendigkeit der Extravaganza, ihre ausgefallenen Bühnenbilder und ihre extravaganten Attraktionen flossen in das Musical ein.
[...]
[1] Günter Kortus, "My fair lady", in Schriftenreihe über musikalische Bühnenwerke: Die Oper (Berlin-Lichenfelde: 1977), hier S. 5. Weitere Zitate hieraus mit Nennung des Autors und der Seitenzahl.
[2] Siegfried Schmidt-Joss, Das Musical (München: 1965), hier S. 15.
Weitere Zitate hieraus mit Nennung des Autors und der Seitenzahl.
[3] Kortus: 6.
[4] Everett Helm, "Vom Wesen des amerikanischen Musicals", in Theater und Drama in Amerika, hg. von Edgar Lohner und Rudolf Haas (Berlin: 1978), S.127-135, hier S. 127.
[5] Albrecht Goebel, "My fair lady im Musikunterricht", in Musik und Bildung, Jg. 13 (1981), S. 378-386, hier S. 378.
[6] Kortus: 6.
[7] Schmidt-Joss: 14.
[8] Schmidt-Joss: 34.
[9] Kortus: 10.
[10] Schmidt-Joss: 35.
[11] Schmidt-Joss: 36.
[12] Schmidt-Joss: 37.
[13] Schmidt-Joss: 37.
[14] Schmidt-Joss: 35.
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