Über sieben Millionen Kinder leben in Brasilien auf der Straße. Diese hohe Zahl macht es notwendig, sich mit dem Straßenkinderproblem auseinanderzusetzen. Informiert zu sein ist die Voraussetzung dafür, an einer Lösung des Problems mitzuwirken.
Ein Weg, sich diesem Problembereich anzunähern, ist der über die Kinder- und Jugendliteratur. Dort findet die Straßenkinderthematik auf verschiedene Arten Eingang. Bedauerlicherweise ist das Interesse der Öffentlichkeit daran eher verhalten. Das zeigt sich z.B. in einem Rückgang der diesbezüglichen Buchproduktion, obwohl doch gerade diese Bücher eine „Nähe zu den Dingen“ vermitteln, aus der nach Koch „ein Werte- und Solidaritätsgefühl und, wenn es gut geht, die Motivation und der Wille zum Handeln“ erwachsen können. Dritte-Welt-Literatur bietet außerdem die Chance, eine allgemeine Aufklärung in Form eines realistischen Abbildes des „faszinierenden, aber auch deprimierenden“ Landes Brasilien zu geben, denn „[z]u den zahlreichen Peinlichkeiten, die der moderne Massentourismus für uns bereithält, zählt sicherlich die Verkitschung Brasiliens zu einem tropischen Paradies voller fröhlicher und tanzender Menschen und unvergleichlich erotischen Mulattinnen.“6
Ziel dieser Arbeit ist es, die beiden Bücher „Kinder im Dunkeln“ von Júlio Emílio Braz und „Isabel. Ein Straßenkind in Rio“ von Mecka Lind zu analysieren und zu untersuchen, ob das Straßenkinderproblem angemessen dargestellt wird. Besondere Berücksichtigung gebührt bei sämtlichen Untersuchungen der Autorenintention sowie der Frage, was die Bücher beim Leser bewirken sollen. In diesem Zusammenhang scheint es sinnvoll, auch die Biographie und die Lebensumstände der Schriftsteller in Betracht zu ziehen.
Interessant sind gerade diese beiden Bücher, weil das Straßenkinderproblem aus ganz unterschiedlichen Perspektiven geschildert wird: Júlio Emílio Braz ist selbst Brasilianer, während Mecka Lind Europäerin ist. Der Frage, ob und wie sich aus diesem Umstand Unterschiede ergeben, soll ebenfalls nachgegangen werden.
INHALTSVERZEICHNIS
1. VORWORT
2. DER BEGRIFF DRITTE WELT – VERSUCH EINER DEFINITION
3. BRASILIEN – HINTERGRUNDINFORMATIONEN
3.1. Die Geschichte Brasiliens
3.1.1. Die Kolonialzeit
3.1.2. Der Weg zur Unabhängigkeit – Brasilien als Königreich
3.1.3. Brasilien als Kaiserreich und die Regentenzeit
3.1.4. Brasilien wird Republik
3.1.5. Diktatur, Demokratie und Militärdiktatur
3.1.6. 80er und 90er Jahre
3.1.7. Das neue Jahrtausend
3.2. Wirtschaft
3.3. Gesellschaft
3.4. Ökologie
3.5. Religionen
3.6. Kulturelle Feste
4. ZUR STRASSENKINDERPROBLEMATIK
4.1. Straßenkinder – Versuch einer Definition
4.2. Gründe für ein Leben auf der Straße und Herkunft vieler Straßenkinder
4.3. Die Situation der Straßenkinder
4.3.1. Gruppenbildung
4.3.2. Kinderarbeit
4.3.3. Mädchen auf der Straße
4.3.4. Drogenkonsum
4.3.5. Kriminalität
4.3.6. Todesschwadronen
4.3.7. Staatliche Erziehungsheime
4.3.8. Bildung
4.3.9. Ansehen der Kinder in der Öffentlichkeit
5. LÖSUNGSANSÄTZE
5.1. Konventionen über die Rechte der Kinder
5.2. Hilfsorganisationen
5.3. Ausblick
6. KINDER – UND JUGENDLITERATUR
6.1. Das problemorientierte Kinder- und Jugendbuch
6.2. Dritte Welt als Thema im Kinder- und Jugendbuch
6.3. Merkmale guter Kinder- und Jugendliteratur aus dem Bereich Dritte Welt
7. JÚLIO EMÍLIO BRAZ: KINDER IM DUNKELN
7.1. Biographie des Autors
7.2. Inhaltliche Zusammenfassung
7.3. Realitätsgehalt
7.4. Ursachendarstellung
7.5. Zukunftsperspektiven
7.6. Äußere Gestaltung
7.7. Stilanalyse
7.7.1. Aufbau und Spannungsverlauf
7.7.2. Erzählperspektive
7.7.3. Zeitgestaltung
7.7.4. Figurenkonstellation
7.7.5. Sprache
7.7.6. Adressatenbezug
8. MECKA LIND: ISABEL. EIN STRASSENKIND IN RIO
8.1. Biographie der Autorin
8.2. Inhaltliche Zusammenfassung
8.3. Realitätsgehalt
8.4. Ursachendarstellung
8.5. Zukunftsperspektiven
8.6. Äußere Gestaltung
8.7. Stilanalyse
8.7.1 Aufbau und Spannungsverlauf
8.7.2. Erzählperspektive
8.7.3. Zeitgestaltung
8.7.4. Figurenkonstellation
8.7.5. Sprache
8.7.6. Adressatenbezug
9. VERGLEICH
9.1. Inhaltlicher- und stilistischer Vergleich
9.2. Vergleich der äußerlichen Gestaltung
9.3. Rezeptionsästhetischer Vergleich
9.4. Qualitätsvergleich für den Bereich Dritte-Welt-Literatur
10. SCHLUSSBETRACHTUNG
11. LITERATURVERZEICHNIS
12. ANHANG
1. VORWORT
Über sieben Millionen Kinder leben in Brasilien auf der Straße.[1] Diese hohe Zahl macht es notwendig, sich mit dem Straßenkinderproblem auseinanderzusetzen. Informiert zu sein ist die Voraussetzung dafür, an einer Lösung des Problems mitzuwirken.
Ein Weg, sich diesem Problembereich anzunähern, ist der über die Kinder- und Jugendliteratur. Dort findet die Straßenkinderthematik auf verschiedene Arten Eingang. Bedauerlicherweise ist das Interesse der Öffentlichkeit daran eher verhalten. Das zeigt sich z.B. in einem Rückgang der diesbezüglichen Buchproduktion,[2] obwohl doch gerade diese Bücher eine „Nähe zu den Dingen“[3] vermitteln, aus der nach Koch „ein Werte- und Solidaritätsgefühl und, wenn es gut geht, die Motivation und der Wille zum Handeln“[4] erwachsen können. Dritte-Welt-Literatur bietet außerdem die Chance, eine allgemeine Aufklärung in Form eines realistischen Abbildes des „faszinierenden, aber auch deprimierenden“[5] Landes Brasilien zu geben, denn „[z]u den zahlreichen Peinlichkeiten, die der moderne Massentourismus für uns bereithält, zählt sicherlich die Verkitschung Brasiliens zu einem tropischen Paradies voller fröhlicher und tanzender Menschen und unvergleichlich erotischen Mulattinnen.“[6]
Ziel dieser Arbeit ist es, die beiden Bücher „Kinder im Dunkeln“ von Júlio Emílio Braz und „Isabel. Ein Straßenkind in Rio“ von Mecka Lind zu analysieren und zu untersuchen, ob das Straßenkinderproblem angemessen dargestellt wird.
Besondere Berücksichtigung gebührt bei sämtlichen Untersuchungen der Autorenintention sowie der Frage, was die Bücher beim Leser bewirken sollen. In diesem Zusammenhang scheint es sinnvoll, auch die Biographie und die Lebensumstände der Schriftsteller in Betracht zu ziehen.
Interessant sind gerade diese beiden Bücher, weil das Straßenkinderproblem aus ganz unterschiedlichen Perspektiven geschildert wird: Júlio Emílio Braz ist selbst Brasilianer, während Mecka Lind Europäerin ist. Der Frage, ob und wie sich aus diesem Umstand Unterschiede ergeben, soll ebenfalls nachgegangen werden.
Die vorliegende Arbeit ist folgendermaßen aufgebaut: Es scheint sinnvoll, im zweiten Kapitel zunächst den problematischen Begriff Dritte Welt zu definieren und ihn näher zu bestimmen.
Um später diskutieren zu können, ob die Darstellungen der oben genannten Bücher realistisch sind, werden im dritten Kapitel Hintergrundinformationen über Brasilien gegeben. Berücksichtigung findet hier die geschichtliche und heutige Situation Brasiliens in politischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Hinsicht. Außerdem werden dem Leser Informationen über Ökologie, Bevölkerung und soziale Aspekte des heutigen Brasiliens gegeben. Erwähnung finden auch afro-brasilianische Religionen und kulturelle Feste.
Im vierten Kapitel wird das Straßenkinderproblem in Brasilien dargestellt. Nach einem Versuch, den Begriff Straßenkind zu definieren, wird auf die Herkunft vieler Straßenkinder und auf die Gründe für den Weg auf die Straße eingegangen. Anschließend wird eine Situationsbeschreibung der Kinder auf der Straße unter verschiedenen Gesichtspunkten gegeben.
Im fünften Kapitel folgen einige Informationen über Ansätze zur Lösung des Problems.
Auf Kinder- und Jugendliteratur bezieht sich das sechste Kapitel. An dieser Stelle wird über problemorientierte Kinder- und Jugendbücher informiert. Die Dritte Welt als Thema im Kinder- und Jugendbuch und die Merkmale für gute Literatur mit diesem Schwerpunkt werden besonders berücksichtigt.
Im siebten und achten Kapitel werden die beiden Bücher „Kinder im Dunkeln“ von Júlio Emílio Braz und „Isabel. Ein Straßenkind in Rio“ von Mecka Lind getrennt voneinander analysiert: Nach Informationen über die Biographie des Autors wird eine kurze inhaltliche Zusammenfassung des Buches gegeben. Anschließend wird unter Bezugnahme auf die Kapitel drei bis fünf der Realitätsgehalt des Buches geprüft. Darauf folgend wird die Ursachendarstellung im Buch untersucht. Auch die Darstellung der Zukunftsperspektiven wird auf ihre Angemessenheit hin analysiert.
Nach der Bewertung der inhaltlichen Aspekte wird zunächst auf die äußere Gestaltung, in der anschließenden Stilanalyse auf den Aufbau und den Spannungsverlauf, die Erzählerperspektive, die Zeitgestaltung, die Figurenkonstellation, die Sprache sowie den Adressatenbezug eingegangen.
Ob und wie diese Bücher ihr angestrebtes Ziel erreichen, soll im abschließenden Vergleich beider Bücher deutlich werden.
2. DER BEGRIFF DRITTE WELT – VERSUCH EINER DEFINITION
Immer wieder anzutreffende Vorbehalte, der Begriff ‚Dritte Welt’ sei abschätzig und diskriminierend, entbehren zumindest begriffsgeschichtlich jeglicher Grundlage.[7]
Zu verorten ist seine Herkunft im Kontext des Ost-West-Gegensatzes. 1949 trat er erstmals in Frankreich im Zusammenhang mit dem innenpolitischen Versuch auf, eine von der kommunistischen Partei unabhängige Oppositionspolitik gegenüber den regierenden rechten Parteien zu entwickeln. In den 50er Jahren auf die internationale Ebene übertragen, diente der Ausdruck zur Bezeichnung derjenigen Länder, die einen dritten Weg der Blockfreiheit zwischen Kapitalismus und Sozialismus anstrebten[8] und war keineswegs abwertend gemeint. Erst in den 60er Jahren wurde der Begriff durch seine entwicklungspolitische Bedeutung überlagert, da die Unterschiede in der wirtschaftlichen Entwicklung für die internationalen Beziehungen an Bedeutung gewannen: In der Folge wurde die Bezeichnung ‚Dritte Welt’ auf alle Entwicklungsländer der Welt ausgedehnt.[9]
Gemeinsam haben diese Staaten die schlechte Wirtschaftslage und die Armut eines Großteils der Bevölkerung. Ihre Entwicklungspotentiale, menschlichen Ressourcen und die politischen Systeme sind hingegen sehr unterschiedlich, so dass es sich um eine heterogene Gruppe handelt.[10]
Zum Zweck einer besseren Verwirklichung der Ziele internationaler Entwicklungsarbeit, vor allem auf Grund zunehmender Unterschiede zwischen den Ländern im letzten Jahrzehnt, wurde die Bildung von Untergruppen der Dritte-Welt-Länder notwendig:[11] Nahezu alle Länder sind Mitglied der ‚Gruppe der 77’: Diese wurde 1967 in Algier gegründet und galt als das wichtigste und umfassendste Koordinationsorgan der Entwicklungsländer.[12] 2005 zählt sie bereits 132 Mitglieder.[13]
Fast 80% der Entwicklungsländer gehören zusätzlich der ‚Bewegung der Blockfreien’ an, welche in den 70er Jahren versuchte, den von der ‚Gruppe der 77’ artikulierten Forderungen nach einer neuen Weltwirtschaftsordnung Nachdruck zu verleihen.[14]
Als Kriterium für Blockfreiheit definierten sie die Unabhängigkeit von Sozialismus und Kapitalismus, die Nichtbeteiligung an Militärbündnissen mit Großmächten sowie Widerstand gegen Kolonialismus, Imperialismus, Rassismus einschließlich Apartheid und gegen Fremdherrschaft. Die Zahl der Mitglieder steigt kontinuierlich an,[15] 113 Staaten gehörten ihr 2004 an.[16]
Beide politischen Organisationen betonen, dass eine zu starke Ausdifferenzierung nach anderen als politischen Kriterien ihre Solidarität und Stärke untergraben könne. Es gibt allerdings auch andere, konkurrierende Untergruppen, die sich nach anderen Kriterien zusammengefunden haben.
Eine Konkurrenz mit anderen Untergruppen besteht. Diese wurden nach verschiedensten Merkmalen gebildet: der Verfügungsgewalt über die Ressource Erdöl (OPEC); Länder mit dem niedrigsten Bruttoinlandsprodukt (LLDCs); Länder, die besonders unter den Erdölpreissteigerungen, den Dürrekatastrophen und der wirtschaftlichen Rezession zu leiden haben (MSAC); geographisch benachteiligte Länder (Inseln, Binnenländer); EU-Assoziierte Länder (AKP-Staaten) und diejenigen Länder, welche ihren Entwicklungsstand steigern konnten (Schwellenländer/NIC).[17]
Trotz Heterogenität und Differenzierung hat sich der Begriff ‚Dritte Welt’ durchgesetzt und bewährt. Für eine Beibehaltung des Ausdrucks spricht, dass es keinen allgemein akzeptierten Ersatzbegriff gibt und Bezeichnungen wie ‚der Süden’ oder die ‚Peripetie’ nicht weniger undifferenziert sind. Zudem wird er auch von den so bezeichneten Ländern akzeptiert und gebraucht.
Sofern man beachtet, dass der Begriff ‚Dritte Welt’ ein Sammelbegriff für die zusammengeschlossenen Länder ist und keine Einheit oder eigene Welt bezeichnet, kann er als nützlich beibehalten werden.[18]
Dementsprechend definieren Nohlen/Nuscheler den Begriff folgendermaßen:
Die Dritte Welt besteht aus Entwicklungsländern, die sich im Selbstverständnis, „Opfer und Ohnmächtige der Weltwirtschaft“ zu sein (nach Neyerere), zur Durchsetzung ihrer wirtschaftlichen und politischen Ziele gegenüber den Industrieländern in der „Gruppe der 77“ zusammengeschlossen haben.[19]
Entscheidend für diese Definition sind das gemeinsame Merkmal der wirtschaftlichen Unterentwicklung sowie das politische Selbstverständnis und „der Versuch, durch die Organisation von kollektiver Gegenmacht der Drittklassigkeit im internationalen System zu entgehen.“[20]
In diesem neutralen Sinne wird der Begriff Dritte Welt in den folgenden Ausführungen verwendet.
3. BRASILIEN – HINTERGRUNDINFORMATIONEN
3.1. Die Geschichte Brasiliens
3.1.1. Die Kolonialzeit
Nachdem der südamerikanische Kontinent von Kolumbus 1492 entdeckt worden war, wurde er 1494 nach dem Vertrag von Tordesillas zwischen Portugal und Spanien aufgeteilt. Wer Brasilien genau entdeckte, ist umstritten. Offiziell nahm der portugiesische Entdecker Admiral Pedro Alvarez Cabral im Jahr 1500 das spätere Brasilien für sein Land in Besitz.[21] Nach der Zerteilung der Küstengebiete in zwölf Bereiche,[22] leitete Portugal 1532 die Besiedlung der Region ein.[23] Die Landflächen kamen den Angehörigen des portugiesischen Adels und Mittelstandes zu.[24]
Vizekönige regierten das Land zu der Zeit. Die Stadt Bahía wurde 1549 zur Hauptstadt über alle Capitanias der Kolonie Brasilien erklärt und wurde Sitz der kolonialen Zentralregierung. 1696 wurde im Land um Rio de Janeiro Gold gefunden. Aus diesem Grund wurde das wirtschaftliche Zentrum Brasiliens in den Süden des Landes verlegt und 1763 Rio de Janeiro zur Hauptstadt ernannt.[25]
Ende des 18. Jahrhunderts kam es zu ersten Aufständen gegen die portugiesische Herrschaft. Einer dieser Aufstände war die ‚Inconfidência Mineira’ in Minas Gerais. Ihr Anführer Tiradentes wurde 1792 hingerichtet.[26]
3.1.2. Der Weg zur Unabhängigkeit – Brasilien als Königreich
Der Weg Brasiliens in Richtung Unabhängigkeit beginnt eigenartigerweise mit der Flucht des portugiesischen Prinzregenten Dom João VI. vor der Besatzungsarmee Napoleons I. nach Rio de Janeiro im Jahr 1807. Dadurch wurde die wirtschaftliche und politische Emanzipation Brasiliens vorangetrieben:[27] Der Freihandel mit den befreundeten Staaten wurde begünstigt und das Verbot zum Aufbau eigener Manufakturen aufgehoben.[28] Der Status Brasiliens änderte sich damit von dem einer abhängigen Kolonie zum gleichberechtigten Bestandteil des Mutterlandes.[29] Eine Vereinigung zu einem gemeinsamen Königreich und somit das Ende der mehr als dreihundertjährigen Kolonialgeschichte fand 1815 auf dem Wiener Kongress statt.
Prinzregent João VI. zögerte die Rückkehr nach Portugal trotz endgültiger Niederlage der Franzosen immer wieder hinaus. Wachsende Unruhen im Mutterland zwangen ihn schließlich 1821 zur Abreise. Das portugiesische Ständeparlament hatte ihn aber in dem erfolglosen Versuch, die durch die Gleichstellung Brasiliens verlorenen wirtschaftlichen Privilegien zurück zu gewinnen, bereits weitgehend entmachtet.[30]
3.1.3. Brasilien als Kaiserreich und die Regentenzeit
Der zum Statthalter eingesetzte Dom Pedro (Sohn von João) erklärte 1822 die staatliche Unabhängigkeit Brasiliens und ließ sich als Pedro I. zum Kaiser ausrufen.[31] Zuerst standen noch portugiesische Truppen im Land, eigene brasilianische Streitkräfte waren erst im Aufbau. Es gelang den Brasilianern, die Portugiesen bis Ende 1823 aus dem Land zu drängen.[32] Eine eigene Währung (1810) und Verfassung (1824) sowie ein eigenes Parlament (1826) sicherten Brasilien den politischen Status eines autonomen Staates zu.[33]
Pedro I. wurde den hohen Erwartungen, die die Brasilianer in ihn gesetzt hatten, nicht gerecht. Der Kaiser dankte 1831 zugunsten seines fünfjährigen Sohnes ab.[34]
Das Parlament setzte übergangsweise einen dreiköpfigen Regentschaftsrat ein. Einige Reformen wurden in dieser Zeit durchgesetzt: Mehr Autonomie für die Provinzen in der Gesetzgebung und Steuererhebung und schließlich die Einsetzung eines einzigen Regenten, der an die Stelle des Regentschaftsrates treten und gewählt werden sollte.[35] 1840 wurde Pedro II. vorzeitig für mündig erklärt und zum Kaiser von Brasilien gekrönt.[36]
3.1.4. Brasilien wird Republik
Ein Militärputsch, der von der Landesaristokratie unterstützt wurde, beendete 1889 das brasilianische Kaiserreich.[37] Gründe für die Absetzung Pedros II. waren die entschädigungslose Freilassung aller Sklaven (1888), antimonarchische Strömungen in der Kirche und im republikanisch orientierten Militär sowie das Fehlen eines männlichen Thronfolgers.[38]
Die erste brasilianische föderative Republik mit dem Leitspruch ‚Ordnung und Fortschritt’, der heute auf der brasilianischen Flagge steht, wurde 1891 von Manuel Deodoro da Fonseca zur neuen Staatsform der Vereinigten Staaten von Brasilien erklärt.[39]
Nach anfänglicher Militärherrschaft (bis 1894) lösten sich bei der Besetzung des Präsidentenamtes die Gouverneure der politisch- und wirtschaftlich mächtigsten Bundesstaaten ab. Der Präsident blieb aber auf die Mitwirkung der Gouverneure angewiesen (‚Politik der Gouverneure’).[40]
3.1.5. Diktatur, Demokratie und Militärdiktatur
Auf Grund wirtschaftlicher Probleme brach 1930 eine Revolution aus:[41] Ihr Anführer, Getúlio Vargas, kam an die Macht und gründete ein diktatorisches Regime.[42] Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges zwang das Militär den Diktator Vargas im Zuge der in Lateinamerika entstandenen demokratischen Bewegung zum Rücktritt.[43] In den folgenden fünf Jahren initiierte Präsident General Eurico Gaspar Dutra eine demokratische Struktur. Dann wählte das Volk Vargas erneut zum Präsidenten. 1954 veranlasste die Opposition seinen Rücktritt.[44]
Vargas’ Nachfolger war Juscelino Kubitschek. Er bemühte sich ab 1955 mit dem Aufbau der Regierungshauptstadt Brasília um die Binnenkolonisation Brasiliens und seine Industrialisierung. Sein Nachfolger Jânio Quadros strebte in seinem Wahlprogramm eine wirtschaftspolitische Stabilisierungspolitik an; militärischer Widerstand verursachte sein Scheitern.[45] Nach wenigen Monaten im Amt trat er zurück, sein Nachfolger wurde der bisherige Vize-Präsident João Goular, der in seiner bis 1964 andauernden Regierungszeit auf die Verstaatlichung von Erdölraffinerien und eine Landreform hinarbeitete, allerdings ebenfalls auf Grund fehlender Unterstützung von Seiten des Volkes scheiterte.
Eine durch beachtliche Staatsausgaben bedingte Eskalation sozialer Konflikte führte 1964 zur Machtübernahme durch das Militär.[46] Branco wurde Diktator und verbot alle Parteien. Alle wichtigen Stellen im Staat wurden von den Militärs bekleidet. Erst 1979 wurden Parteien wieder zugelassen. Ab 1985 gab es in Brasilien wieder eine Demokratie.[47]
3.1.6. 80er und 90er Jahre
Die 21jährige Militärherrschaft endete mit der Präsidentschaftswahl von Tancredo Neves.[48] Nach seinem baldigen Tod übernahm José Sarney das Amt. Seine Verfassungsinterpretation wurde vom Militär unterstützt, was einen politischen Neubeginn erschwerte, da ein Bruch mit den ehemaligen politischen Trägergruppen somit verhindert und die personelle Erneuerung des Staatsapparates verlangsamt wurde.
1984 wurde eine Kampagne für die Wiedereinführung der Direktwahlen des Präsidenten eingeleitet und gesellschaftlich in hohem Maße unterstützt, scheiterte aber dennoch. Die PMDB (Demokratische Bewegung Brasiliens) als stärkste derzeitige Oppositionspartei strebte eine Verhandlungslösung mit den Militärs an, die in einer Absprache über Formen und Grenzen des Übergangsprozesses endete. Eine Wiederanknüpfung an das alte Parteiensystem wurde nicht erreicht.[49]
1988 wurde eine neue Verfassung verabschiedet.
Ende 1989 übernahm F. Collor de Mello das Amt des Präsidenten und setzte sich mit lediglich zeitweiligem Gelingen für einen wirtschaftlichen Aufschwung ein.[50] Das angestrebte Vorgehen gegen die Korruption scheiterte, da ihm selbst 1992 diesbezügliche Vorwürfe gemacht wurden.[51] Seine Stellung als Präsident übernahm sein Stellvertreter Franco I. 1993 konnte die brasilianische Bevölkerung über die Staatsform entscheiden. Die Wahl fiel auf die Republik.[52]
Im Zuge der Währungsreform des Stabilisierungsprogramms wurde 1994 der Real als Währungseinheit eingesetzt.[53]
F. H. Cardoso trat 1994 das Präsidentschaftsamt an und führte den 1991 begonnenen Privatisierungsprozess in Form von einer Auflockerung des Staatsmonopols bei Telekommunikation, Erdölförderung und Energieerzeugung weiter. Innenpolitisch problematisch blieben Menschenrechtsverletzungen, eine fällige Agrarreform sowie eine Vereinfachung des Verwaltungsapparates.[54]
3.1.7. Das neue Jahrtausend
Im Oktober 2002 übernahm der Sozialist Luiz Inácio Lula da Silvia als Gründer der Arbeiterpartei und ehemaliger Gewerkschaftsführer nach einer Stichwahl das Amt des Staatspräsidenten. Seitdem konnte sich die Wirtschaft wieder erholen.[55]
Mit verschiedenen Programmen versucht die Regierung, der Armut entgegenzusteuern. Lula ist darüber hinaus bestrebt, Brasilien ein eigenes, verhältnismäßig unabhängiges politisches Profil zu verleihen, indem er sich gleichermaßen von der nordamerikanischen Politik wie von derjenigen des sozialistisch orientierten venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez distanziert.[56]
Die brasilianische Politik leidet darunter, dass die Parteien schwach sind und Koalitionen unter ihnen nie lange halten. Auch Bestechlichkeit und Vetternwirtschaft stellen ein großes Problem dar, das die öffentliche Verwaltung nahezu lahm legt. Sogar der Präsident, der sich im Volk großer Beliebtheit erfreuen kann, wurde 2005 der Korruption bezichtigt.
Brasilien erhält jedes Jahr 376 Millionen US-Dollar Entwicklungshilfe, die hauptsächlich aus Japan und den EU-Ländern stammen.[57]
3.2. Wirtschaft
Die brasilianische Kolonie wurde wirtschaftlich hauptsächlich durch die Weltmarktnachfrage nach den inländischen Rohstoffen bestimmt, von der sie abhängig war:[58] Im 16. Jahrhundert ging es dabei vorwiegend um Brasílholz, seit dem 17. Jahrhundert um Zuckerrohr im Nordosten, im 18. Jahrhundert um Gold und Edelsteine in Minas Gerais und seit dem 19. Jahrhundert um Kaffee in São Paulo und Paraná; die jeweilige Herkunftsregion der Rohstoffe erfreute sich naturgemäß eines wirtschaftlichen Aufstiegs und gewissen Wohlstandes.[59]
Technologie und Kapital bestimmen den brasilianischen Industrialisierungsprozess maßgeblich. Während der Antrieb der industriellen Entwicklung und die Angliederung an die globale Führungstechnologie als vorteilhaft zu bewerten sind, gelten eine hohe Abhängigkeit vom Ausland, die hohe Verschuldung sowie die unzureichende Absprache des Produktsortiments mit den Bedürfnissen der Mehrheitsbevölkerung als nachteilig (‚abhängige Industrialisierung’).[60]
Entscheidende Veränderungen prägten die industrielle und landwirtschaftliche Wirtschaftsstruktur Brasiliens von 1950 bis 1989: Während der Beitrag des Industriesektors anfangs nur ein Viertel der gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung ausmachte, steigerte er sich Ende der 80er Jahre auf über 40%. Dagegen verminderte sich der Beitrag der Landwirtschaft von 24% (1950) auf 10% (1990).[61] Die vergleichsweise hohe Teilhabe des Dienstleistungssektors von mehr als 50% am Bruttoinlandsprodukt verminderte sich kurzfristig auf bis zu 42% (1980), stieg während der 80er Jahre aber wieder auf 46% an.
Die Entwicklung der sektoralen Produktionsverhältnisse lässt sich aus dem Zusammenhang vom Bruttoinlandsprodukt-Anteil zum Erwerbstätigenanteil eines Sektors erkennen: 1970 erwirtschafteten 33% der im Dienstleistungssektor beschäftigten 44% des Bruttoinlandsproduktes, zu Beginn der 90er Jahre waren bereits 54% der Berufstätigen in diesem Bereich tätig, wobei die gesamtwirtschaftliche Wertschöpfung lediglich die Hälfte betrug.[62] Der Dienstleistungssektor gilt hinsichtlich des Entwicklungsstandes Brasiliens als unangemessen. Weniger produktive Aktivitäten und verdeckte Arbeitslosigkeit sind die Folge.[63]
Mit der Industrialisierung geht eine Krise in der Landwirtschaft einher:[64] Die Umstände werden für Landwirtschaft, die den eigenen Bedarf decken soll, immer ungünstiger,[65] die Landflucht weitet sich aus.[66]
Im Wesentlichen beeinflusst wurde die heutige wirtschaftliche Situation Brasiliens durch das Wirtschaftswunder der Jahre von 1968 bis 1973,[67] in denen dem Land unter der 20jährigen Militärherrschaft durch forcierte Industrialisierung der Übergang zum Entwicklungs- und Schwellenland gelang.[68]
Ein großes Problem stellt die zeitgleich kontinuierlich ansteigende Auslandsverschuldung dar: Der Begleichung der Schulden samt deren Zinsen dienten 80% der Exporterlöse.
Durch zusätzliche wirtschaftliche Belastungen in Form der beiden Ölschocks von 1973 und 1979 musste Brasilien 1982 seine Zahlungsunfähigkeit erklären.[69]
José Sarney, der 1985 an die Macht kam, war mit seinem ‚Plano Cruzado’ genannten Sparprogramm von 1986 zunächst erfolgreich, erreichte allerdings weder einen Aufschwung der Wirtschaft noch eine dauerhafte Minderung der Inflation.
Die Politik grundlegender Wirtschaftsreformen seines Nachfolgers Fernando Collor de Mello scheiterte aufgrund einer nicht ausreichenden parlamentarischen Basis.[70]
Franco I. wurde 1994 Staatsoberhaupt und leitete im Rahmen seines Stabilisierungsprogramms mit der Einführung des Reals als Zahlungseinheit eine Währungsreform ein,[71] die zur Beseitigung der Inflation führte.[72]
Luiz Inácio Lula Silvia, der 2002 an die Macht kam, strebt an, Brasilien zu einer für den internationalen Wettbewerb fähigen Industrie zu verhelfen. Zu diesem Zweck will er die 260 Millionen US-Dollar Schulden Brasiliens begleichen. Darüber hinaus beabsichtigt er, der Inflation entgegenzuwirken. Zu diesem Zweck hat er ohne Rücksicht auf wachsende Arbeitslosigkeit und Armut den Zinssatz auf 25,5% erhöht. Außerdem setzt Lula sich für die Durchsetzung eines Programms ein, welches den gesetzlich festgelegten Kündigungsschutz aufhebt sowie Lohnkürzungen und die Abschaffung von Sozialleistungen beinhaltet. Steuererleichterungen für Unternehmen und eine Reform des brasilianischen Rentensystems sind ebenfalls vorgesehen.[73]
3.3. Gesellschaft
Brasilien gilt als das bevölkerungsreichste Land in Südamerika,[74] die Landessprache ist Portugiesisch. Seit 1950 hat sich die Einwohnerzahl nahezu verdreifacht, 2003 zählt es 178 470 000 Bewohner,[75] wovon über 50% jünger als 20 Jahre alt sind.[76] Jährlich werden in Brasilien 3 502 Kinder geboren, die Sterblichkeitsrate beläuft sich allerdings auf 33%.
Der Bevölkerungsanstieg Brasiliens weist drei Hauptphasen auf:
1) Die Sklaveneinfuhr in der Kolonialzeit, im unabhängigen Brasilien und bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts;
2) Die europäische Einwanderung zwischen 1840 und etwa 1950;
3) Die hohe natürliche Zuwachsrate.[77]
Die Einwanderungszahlen sind seit dem Jahr 1963 rückläufig. Mit 20 Einwohnern je Kilometer ist die durchschnittliche Bevölkerungsdichte niedrig, die Verteilung jedoch unregelmäßig:[78] Etwa 90% der Bevölkerung leben auf einem Drittel der Landesfläche in den küstennahen Ballungsgebieten.[79] Zwischen 1960 und 2001 nahm der Anteil der Stadtbevölkerung durch den Zulauf in die wirtschaftlich entwickelten Regionen von 45% auf 81% zu.[80] Ein starkes Anwachsen der sozial problematischen Elendsviertel (Favelas) in den Großstädten sowie auf der Straße lebende Kinder waren die Folge. Die kleine wirtschaftlich starke Oberschicht und die besitzlose Masse werden durch eine vergleichsweise schmale Mittelschicht getrennt. Im Hinblick auf das anteilmäßige Verhältnis von den Gesellschaftsschichten kann von einer sozialen Ungleichheit gesprochen werden. Die meisten voll industrialisierten Gesellschaften können als wesentlich einheitlicher bezeichnet werden.[81]
Statistischen Angaben zufolge setzt sich die Bevölkerung zu ungefähr 54% aus Weißen, zu 40% aus Mischlingen (Cafusos, Mestizen, Mulatten), zu 5% aus Schwarzen, zu 0,5% aus Asiaten und zu 0,2% aus Indianern zusammen. Eine klare Abtrennung ethnischer Grenzen ist allerdings nicht möglich. Die ursprüngliche Bevölkerung Brasiliens, die ca. 200 000 - 250 000 Indianer, die verstreut in kleinen Gruppen leben, ist in ihrer Existenz bedroht.[82] Zwar sichert Art. 231 der brasilianischen Verfassung von 1988 den Indianern ihre kulturelle Eigenständigkeit und ihr traditionell besiedeltes Land zu, eine Realisierung ist bei ansteigender Raumnutzungskonkurrenz mit mächtigeren Gruppen wie den Großgrundbesitzern jedoch kaum durchzusetzen.[83]
Der hohe Anteil an Schwarzen und afro-brasilianischen Mischlingen an der brasilianischen Bevölkerung hat seine Ursache in der Einfuhr von Sklaven aus Schwarzafrika, die 1538 begann. Eine Aufarbeitung dieses Aspektes der brasilianischen Geschichte fällt vor allem deshalb schwer, weil diesbezügliche Dokumente einer symbolischen Vernichtungsmaßnahme zum Opfer fielen. Man weiß aber, dass der Sklave als entrechtetes Eigentum des jeweiligen Käufers galt und sein Tagesverlauf bis in die Intimsphäre streng vorgeschrieben war. Quälereien und körperliche Züchtigungen zählten zur Tagesordnung. Zu den Folgen gehört einerseits eine relativ hohe Selbstmordrate, andererseits eine sich vor allem im 17. und 18. Jahrhundert formierende Widerstandsbewegung geflohener Sklaven in Wehrdörfern.
Die Befreiung erfolgte schrittweise: Ab 1850 durch den Druck Großbritanniens und in den 70er Jahren mit der Befreiung der über siebzigjährigen und neugeborenen Sklaven. Darüber hinaus bestand eine Möglichkeit zum eigenen Freikauf. 1888 und somit nahezu 80 Jahre später als in anderen lateinamerikanischen Staaten wurde die Sklaverei in Brasilien abgeschafft.[84]
Indes hat sich die Vorstellung, dass in erster Linie die Hautfarbe über die Zugehörigkeit zu einer gesellschaftlichen Schicht entscheidet, bis heute gehalten, obwohl die ‚Rassen’trennung 1951 offiziell aufgehoben wurde.[85]
Seit 1960 sind in Brasilien statistisch belegbare Fortschritte in Gesundheit, Ernährung, Bildung und Wasserversorgung zu verzeichnen; allerdings handelt es sich hierbei lediglich um Durchschnittswerte,[86] die nicht darüber hinwegtäuschen dürfen, welche Zustände in einigen Teilen Brasiliens leider immer noch herrschen: Im Nordosten des Landes lebt ein Fünftel der Bevölkerung in extremer Armut: Als Kleinbauern bspw. scheitern die vor Mittellosigkeit, Dürre und Hunger Geflüchteten vor allem auf Grund der ungerechten Landverteilung und der Vernachlässigung der Gegend. Durch die Besetzung brachliegender Flächen entstehen gewaltsame Konflikte mit den Großgrundbesitzern.
Körperliche und geistige Unterentwicklung sowie eine Verminderung der durchschnittlichen Körpergröße und eine geringe Lebenserwartung sind Folgen der vorherrschenden Mangelernährung. Zur Mineralsalzaufnahme essen Einheimische Erdboden.
Für Krankenhäuser, Schulen, Straßen, Wasserspeicher, Lebensmittellager und Silos sind die finanziellen Mittel nicht ausreichend. Zu den Folgen gehören eine schlechte Infrastruktur und mangelhafte hygienische Bedingungen.[87] Ab dem siebten Lebensjahr besteht eine achtjährige allgemeine Schulpflicht, die Analphabetenquote beträgt allerdings immer noch 15%. Es gibt 900 Hochschulen, darunter 100 Universitäten.[88]
3.4. Ökologie
Flora und Fauna Brasiliens sind sehr vielfältig; wissenschaftlichen Schätzungen zufolge sind 30% aller tierischen und pflanzlichen Spezies in Brasilien beheimatet. Der größte Teil des sich über eine Fläche von ca. 6 915 000 m² erstreckenden Amazonasgebietes gehört zu Brasilien.[89]
Zur Gewinnung von Ackerland (u.a.) wurden bisher 42% der vor der Kolonisation vorhandenen tropischen Regen- und Feuchtwälder Brasiliens unwiederbringlich zerstört.[90] Dieses Verfahren ist allerdings fragwürdig,[91] da die gerodeten Flächen für die Landwirtschaft nur einen geringen Wert haben: Große Landesteile Brasiliens sind für landwirtschaftliche Nutzung ökologisch nicht oder nur eingeschränkt geeignet: 98,5% der Böden haben sich durch das tropisch-immerfeuchte Klima zu tiefgründig verwitterten Rotlehmböden entwickelt. Sauer und aus kaolinitischem Ton bestehend, sind sie nährstoffarm und weisen lediglich geringfügige Mineralien- und Humusanteile mit wenig Nährstoff-Speicherfähigkeit auf, so dass der Einsatz von Kunstdünger zu keiner Ertragssteigerung führt. Viele Maßnahmen, die in anderen Ländern zu einer effizienteren Landwirtschaft geführt haben, sind für brasilianische Böden nicht geeignet.
Wenn der Rodung des Regenwaldes nicht Einhalt geboten wird, wird er 2020 auf 10% seiner ursprünglichen Größe zusammengeschrumpft sein.[92]
Die Vernichtung der tropischen Regenwälder ist ein besonders eindringliches Beispiel für die Vergeudung natürlicher Ressourcen,[93] aber auch im großstädtisch-industriellen Bereich haben die Umweltprobleme zugenommen: Die Luft ist von Schadstoffen belastet, Wasser und Boden leiden unter den Emissionen der Industrie und der Kraftfahrzeuge bei hoher Verkehrsdichte, Dreckwasser und Müll werden nicht umweltgerecht entsorgt:[94] Weniger als 60% der Bevölkerung verfügen über einen Anschluss an die Kanalisation, mehr als 90% des Wassers, das in die Kanalisation eingespeist wird, wird ungeklärt abgeleitet. Städtischer Müll wird lediglich zu 3% ordnungsgemäß entsorgt, der Rest wird auf Erddeponien gelagert, in Flüsse oder ins Meer befördert.[95]
Das bekannteste Beispiel für Umweltzerstörung im Industrialisierungs- und Verstädterungsprozess war in der ersten Hälfte der 80er Jahre die Industriestadt Cubatão mit ihren zahlreichen Petrochemiebetrieben, der Düngemittelindustrie und der Eisen- und Stahlbranche.[96] Im so genannten ‚Tal des Todes’ wiesen 44% der Arbeiter Lungenkrankheiten, 19% schwerwiegende nervöse Störungen und 81% auf Grund von Bleivergiftungen ein verändertes Blutbild auf. Die Säuglingssterblichkeit war 1982 über fünfmal so hoch wie im brasilianischen Landesdurchschnitt.[97] In einigen Fällen kamen die Kinder mit Missbildungen wie fehlender oder lediglich teilweise entwickelter Gehirnmasse auf die Welt.[98]
Staatliche Maßnahmen, die den Umweltproblemen entgegenwirken sollten, wurden lange Zeit – wenn überhaupt – nur zögerlich eingeleitet.[99] Der Staat macht für die Vernichtung des Regenwaldes illegale Landnahmen verantwortlich.[100]
Der Kongress lehnte 1972 den Entwurf eines Umweltschutzgesetzes der Militärregierung mit der Begründung ab, er könne das wirtschaftliche Wachstum behindern. Die bundeseinheitliche Gesetzesgrundlage von 1980 berücksichtigte erstmals ökologische Aspekte im Bereich der Stadtentwicklung und Industrialisierung. Eine praktische Umsetzung wurde durch einflussreiche Gegner allerdings verhindert. Erst im Zuge der Redemokratisierung wurde vermehrt über Umweltfragen diskutiert. In Art. 225 der Verfassung von 1988 sind das „Grundrecht auf eine Umwelt im ökologischen Gleichgewicht“[101] sowie gesetzliche Regelungen des Natur- und Umweltschutzes festgehalten, und es wird auf Möglichkeiten zur Beseitigung der bestehenden Umweltprobleme verwiesen. Artikel 225, § 4 erklärt den Amazonaswald zum ‚nationalen Erbe’, dessen Nutzung Umwelt erhaltend zu gestalten ist.
Erreicht wurde mit den bestehenden Umweltauflagen lediglich eine Verzögerung der Vernichtung.[102]
2001 sank vor der Küste Rio de Janeiros die größte Ölbohrinsel der Welt und verursachte gravierende Umweltschäden. Die Verantwortung für dieses Ereignis wird den häufig beklagten Sicherheitsstandards brasilianischer Staatsunternehmen zugewiesen.[103]
Als Lebensraum für viele Pflanzen- und Tierarten und Mitregulierer des Weltklimas ist das Ökosystem Brasiliens von globaler Bedeutung.[104] Auf Grund seiner Größe wurden die sich anbahnenden ökologischen Katastrophen lange Zeit nicht ernst genommen.[105]
Von der derzeitigen Regierung ist ein langfristiger Strukturwandel in der Amazonasregion eingeleitet worden. Zunächst soll der Raubbau gestoppt werden.
Umfragen in Brasilien zeigen, dass auch ein gewachsenes Umweltbewusstsein innerhalb der Bevölkerung besteht.[106]
3.5. Religionen
Mit einer zu 89% katholischen Bevölkerung ist Brasilien das größte katholische Land der Welt.[107] 1980 stattete Papst Johannes Paul II. Brasilien einen Besuch ab. Am 2. Juli widmete er sich den Bewohnern des Elendsviertels Vidigal.[108]
Anteilig groß ist auch die Anzahl von Anhängern afro-brasilianischer Kulte.[109] Es gelang den in die Sklaverei verschleppten Afrikanern trotz Unterdrückung Teile ihrer Kulte und Religionen zu bewahren. Mit dem Begriff ‚afro-brasilianische Religionen’ werden unter geographisch-genetischen Gesichtspunkten mehrere Untergruppierungen zusammengefasst, wobei durch die Herausbildung zahlreicher Mischformen keine exakten Trennungslinien gezogen werden können. Sozioökonomisch als „Unterschichtenreligion“[110] eingeordnet,[111] werden sie als eine im Bewusstsein von „kranken, unterernährten, elenden, rückständigen, demoralisierten und frustrierten Individuen“ typische, ihrem sozialen und intellektuellen Niveau entsprechende Verhaltensweise bezeichnet.[112] Als Beispiel möchte ich die macumba, die als Religion der Opfer von Verstädterung und Industrialisierung gilt, kurz näher darstellen:[113] Gute und böse Geister, die Macht der Seelen Verstorbener und die Seelenwanderung bilden wesentliche Elemente dieses Glaubens. Als höchste religiöse Erfahrung gilt der physische Kontakt mit den Gottheiten. Religiöse Feiern werden meist in Straßenkleidung abgehalten. Die Tänze der Geister und Verzauberten weisen einen spontanen, lebhaften Charakter auf. Im Rahmen von Besitzergreifungen werden Götter und Geister in ihren Medien sichtbar. Sie heilen und beantworten ihnen gestellte Fragen. Weissagungen sind mit Muscheln, aber auch mit zerkleinerten Zwiebeln möglich.[114]
Nach dem Ende ihrer Verfolgung haben die afro-brasilianischen Religionen auch bei den Hellhäutigen Gefallen gefunden[115] und verbreiten sich zunehmend.[116]
Viele der modernen Gläubigen setzen sich aus der vorhandenen und verfügbaren Auswahl ihre individuelle Religion zusammen.
Zahlreiche in Kunst, Musik, Literatur, Film und Fernsehen aufgenommene Symbole sind auf die Geschichte und Kultur afro-brasilianischer Kulte zurückzuführen. Vornehmlich durch die Verbindung von Ritualen mit Rhythmen erfolgte eine entscheidende Beeinflussung der brasilianischen Musik.[117]
3.6. Kulturelle Feste
Einen besonderen Stellenwert hat der Karneval in Rio de Janeiro. Sein Höhepunkt ist ein zweitägiger Umzug, auf den sich Sambaschulen während eines ganzen Jahres vorbereiten. Seit den 80er Jahren findet die von drei- bis sechstausend Menschen besuchte Veranstaltung im ‚Sambódromo’, einem zu diesem Zweck errichteten Karnevalsstadion, statt. Touristen bestätigen die internationale Beliebtheit der Veranstaltung, wobei die Abstimmung auf die Bedürfnisse der Fernsehübertragung kritisiert wird.[118]
Auch an Silvester dominiert in Rio de Janeiro die Samba-Musik. Mehrere Tonnen Feuerwerkskörper werden für ein ausgiebiges Feuerwerk eingesetzt und leiten für Bewohner und Touristen die Silvesterfeier ein. Für den Autoverkehr sind die Küstenstraßen gesperrt. Mehrheitlich weiß gekleidete Menschen opfern der Wasserkönigin ‚Iemanja’ Gaben für Glück im folgenden Jahr.[119]
4. ZUR STRASSENKINDERPROBLEMATIK
4.1. Straßenkinder – Versuch einer Definition
Eine angemessene Begriffsbestimmung ist problematisch, weil unterschiedliche Merkmale berücksichtigt werden können.[120] Deswegen sollen zunächst die Gruppierungen, deren Angehörige als Straßenkinder bezeichnet werden können, aufgezählt werden, um abschließend eine Definition vorzunehmen, die hinreichend differenziert ist.
Ein weltweit etabliertes[121] und einheitliches Verständnis und Vokabular bietet das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (UNICEF) an: ‚Auf der Straße arbeitende Kinder’[122] stellen etwa 30% aller Straßenkinder dar.[123] Sie verbringen regelmäßig Zeit im Haus ihrer Eltern. Auf der Straße schlafen die Drei- bis Zehnjährigen lediglich zeitweise, auf Grund eines weiten Heimweges und im Hinblick auf Arbeiten, die am frühen Morgen besonders lukrativ sind, z.B. dem Zeitungsverkauf. Betteln, Prostitution und Diebstahl sind weitere Beispiele für Arbeiten auf der Straße. Bezahlte Gewaltanwendung sehen sie ebenfalls als Arbeit an. Sie wollen sich von den ‚auf der Straße lebenden Kindern’ abheben,[124] wobei die Übergänge nicht klar abzugrenzen sind.[125] Ebenfalls auf der Straße arbeitend, allerdings auch bereit, Gewalttaten „bis hin zum bestellten Mord“[126] auszuführen, ist der bereits kurz erwähnte und im Folgenden beschriebene Typus von auf der Straße lebenden Kindern: Ihre Präsenz auf der Straße mit seltenem Kontakt zum Elternhaus lässt sich durch ihre Vergangenheit begründen: Oft sind sie von Misshandlungen geprägt und weisen physische und psychosoziale Defizite auf.
‚In staatlichen Erziehungsheimen festgehaltene Kinder’ sowie ‚Kinder militärischer Konflikte’ vervollständigen die Klassifizierung.[127]
Eine differenziertere Untergliederung stellt Eliezer Henrique Dias in seinem Buch „Straßenkinder in Brasilien“ dar: Arbeitende Straßenkinder mit fortwährendem Kontakt zur Familie gehen täglich auf die Straße und haben bestimmte Aufgaben wie die Organisation von Lebensmitteln zu erfüllen. Ihre Eltern sind arbeitslos oder lediglich zeitweilig beschäftigt und bestrafen ihre Kinder bei nicht erbrachter Leistung häufig.
Ein weniger stark ausgeprägter Kontakt zur Familie kennzeichnet eine weitere Gruppe und ist auf unklare familieninterne Beziehungsstrukturen zurückzuführen, bspw. allein erziehende Mütter mit Kindern mehrerer Männer. Da ihre Angehörigen ihnen wenig Interesse entgegenbringen, verbringen die Kinder zunehmend Zeit auf der Straße.[128]
Im internationalen Vergleich nimmt Brasilien den vierten Platz hinsichtlich innerfamiliärer Gewalt ein.[129] Viele Kinder, die vor gewalttätigen Eltern geflohen sind, leben ebenfalls auf der Straße. Einige von ihnen wurden auch von ihren Eltern ausgesetzt und empfinden ihre Selbstständigkeit als Selbstbestätigung.
‚Straßenräuber und Drogenbanden’ sind größtenteils älter als 14 Jahre. Für sie stellen Überfälle und das Dealen lukrative Arbeitsmöglichkeiten dar.
Auf den Gruppierungen beruhende Annäherungen an eine Definition des Begriffs ‚Straßenkind’ erweisen sich auf Grund nicht möglicher Abgrenzungen trotz hoher Differenzierung als in geringem Maße hilfreich.[130] Der Versuch einer umfassenden Definition der deutschen Bundesregierung scheint der Komplexität des Phänomens annähernd gerecht zu werden:
Der Begriff ‚Straßenkind’ beschreibt diffuse und komplexe Situationen: Kinder, die ausschließlich auf der Straße leben und keine familiären Bindungen mehr haben, aber auch Kinder, die nur noch gelegentlich die Schule besuchen, Beiträge zum Lebensunterhalt ihrer Familien mit Gelegenheitsarbeiten auf der Straße suchen, aber noch überwiegend zu Hause schlafen.[131]
Die bisher unberücksichtigten Lebensumstände werden in den folgenden Kapiteln beschrieben.
4.2. Gründe für ein Leben auf der Straße und Herkunft vieler Straßenkinder
Allgemein betrachtet ist die Ursache für die Straßenkinder-Problematik die sozioökonomische Geschichte Brasiliens: Bereits als erste Folge der graduellen Abschaffung der Sklaverei lebten Kinder auf der Straße,[132] da ihre Eltern zunächst weiterhin beschäftigt blieben. Von den Plantagenbesitzern als nutzlose Esser angesehen, mussten sie eigenverantwortlich für ihr Überleben sorgen. Auch aus der endgültigen Abschaffung der Sklaverei[133] resultierte keine Umverteilung der bestehenden Besitz- und Machtverhältnisse. Verstärkt wurde die Verarmung der Gesellschaft durch besondere politische Umstände, Wirtschaftskrisen, das hohe Bevölkerungswachstum und ökologische Gesichtspunkte[134] (vgl. auch Kap. 3.1.-3.4).
Die wachsende Armut führt zur Auflösung des Familienzusammenhaltes.[135] Einige Kinder verlassen ihre Familie auf Grund von Alkoholismus und Gewaltanwendung ihrer Eltern freiwillig[136] und sehen ihre Flucht als „letzte[n] Ausweg aus dem Familienterror“[137] an. Das Kind erwarten harte Strafen, wenn es ihm nicht gelingt, Geld nach Hause zu bringen, das die Familie für ihren Lebensunterhalt dringend benötigt. Aus Angst verzögert das Kind seine Rückkehr und findet zunehmend Anschluss an andere Straßenkinder.[138] Oft fangen Kinder auch an, auf der Straße zu leben, weil sie Familienangehörige nachahmen.[139]
Auch der Arbeitsmarkt begünstigt ein Straßenleben von Kindern: Für die Mehrheit brasilianischer Fabriken sowie Hausangestellte beschäftigende Mittel- und Oberschicht-Familien gilt Kinderlosigkeit als Haupteinstellungskriterium.[140]
Besonders problematisch ist diese Tatsache hinsichtlich der geringen Verbreitung von Verhütungsmitteln und der Illegalität der Abtreibung in Brasilien. Somit bekommen viele Frauen Kinder, die sie nicht haben wollen und gehen häufig dazu über, diese möglichst bald loszuwerden.[141]
Straßenkinder entstammen in der Regel Familien, die am Existenzminimum leben: Verbreitete Arbeitslosigkeit[142] nötigt Familien zu einem Leben in Favelas,[143] den „Elendsvierteln der Millionenstädte“.[144] Bei den stetig wachsenden Favelas[145] handelt es sich um Slums an der Peripherie der großen Städte. Die Bewohner siedeln sich auf privaten oder öffentlichen Grundstücken an, ehe sie diese meist illegal in Besitz nehmen.[146] Allgemein als ‚Schmarotzer’ bezeichnet und diskriminiert[147] verwenden die „falelados“[148] für den Bau ihrer Unterkunft alle auffindbaren Materialien wie Kartons, Plastikfolie, gebrauchte Bretter, Lehmziegel, Wellblech und Baumaterialreste. Infrastrukturelle Vorrichtungen, sanitäre und hygienische Ausstattungen sowie eine organisierte öffentliche Ent- und Versorgung fehlen.[149] Die oft sieben bis neun Mitglieder zählende Familie lebt größtenteils in einer Behausung, die aus einem 10-12 m² großen Raum besteht.[150] Eine Privatsphäre gibt es nicht. Streitereien und Messerstechereien sowie Alkoholismus gehören zum Alltag innerhalb der Familie.[151]
Wer die von den herrschenden Drogenhändlern aufgestellten Verhaltensregeln nicht einhält, muss damit rechnen, ermordet zu werden.[152]
Die beschriebenen Verhältnisse veranlassen die Kinder, ihre Familie zu verlassen und zumindest zeitweise auf der Straße zu leben (vgl. auch Kap. 4.1.).
4.3. Die Situation der Straßenkinder
Als Ort der Gehaltssicherung, des Konsums, womöglich auch als Schlafstelle und Ort der Freizeitgestaltung[153] birgt die Straße zahlreiche Risiken für die Kinder: Beziehungen, aus denen sich Übereinkünfte und Abkommen entwickeln, sind notorisch zerbrechlich; der Kontakt zu einflussreichen Straßenkindern fordert Aufopferung und Einbußen; auch eine gesicherte Gehaltsquelle ist schwer oder gar nicht zu finden.
In erster Linie durch die Gewalt des „Herr[en] des Ortes“[154] unterdrückt und ausgebeutet unterliegt das Straßenkind der Feindseligkeit anderer Straßenkinder, staatlicher Gewalt, Hausbesitzern und den Händlern der umliegenden Kaufhäuser. Letztere lassen durch Beschwerden bei der städtischen Verwaltung die Straßenkinder vertreiben, weil Kunden durch Streitigkeiten, Überfälle oder Diebstähle der Straßenkinder abgeschreckt werden.[155]
Durch stete Auseinandersetzungen dieser Art wird den Kindern ihr Rang innerhalb der Gesellschaft bewusst.[156]
Das Leben auf der Straße ist gefährlich: Mangelnde Aufmerksamkeit kann tödliche Folgen haben; falsches Vertrauen ebenfalls.[157]
Als Verteidigungs- und Angriffswaffe dient häufig ein in Papier oder Beuteln eingewickeltes Eisenrohr. Außerdem führen nicht wenige 38er Revolver mit sich.[158]
Ihre Quartiere bauen die Straßenkinder aus Materialien wie Decken, Schaumstoffmatratzen, Plastikplanen, Holzkisten und Kartons direkt am Gehweg oder sie verbringen die Nacht unter Bänken im Park, in Hütten auf freiem Feld, in leer stehenden Häusern, bei Kanal- oder in U-Bahn-Schächten, in Treppenaufgängen von Stundenhotels, auf dem Dach öffentlicher Toiletten oder vor Kirchen und anderen öffentlichen Gebäuden mit überdachten Eingängen.[159]
Ein Großteil der Straßenkinder leidet unter Parasiten und Durchfallerkrankungen. Zurückzuführen auf unregelmäßige und qualitativ minderwertige Mahlzeiten sowie ungenügende Hygiene führt dieser Zustand besonders hinsichtlich der noch nicht abgeschlossenen Entwicklung der Kinder zu vielfältigen Mangelerscheinungen.[160] Die hohe Geburtenrate ist ebenso kennzeichnend für Brasilien wie die starke Säuglingssterblichkeit vor Vollendung des ersten Lebensjahres. Resultierend erleben viele Mütter ihre Kinder als austauschbar.[161]
4.3.1. Gruppenbildung
Allein auf sich gestellt haben Straßenkinder eine geringe Überlebenschance. Daher bilden sie Gruppen,[162] die ihnen Schutz vor Gefahren wie anderen Jugendbanden, Polizeikontrollen und Todesschwadronen bieten.[163]
Das Kind fühlt sich innerhalb der Gruppe geborgen und betrachtet sie als Familienersatz.[164] Solidarität erlebt es besonders bei Differenzen mit anderen Banden wie Diebstählen oder der Verteidigung von Arbeitsplätzen und Schlafstellen. Eine möglichst sichere Schlafstelle wird jeden Tag erneut innerhalb der Innenstadt ausfindig gemacht.[165] Das geringe Selbstwertgefühl der Kinder relativiert sich innerhalb der Gruppe; ein selbstbewusstes Auftreten gegenüber ihrem Umfeld wird begünstigt.[166] Üblicherweise erfolgt die Aufnahme neuer Mitglieder über gruppeninterne Empfehlungen; der Empfehlende übernimmt für das neue Mitglied auch die Verantwortung.[167]
Verhaltensgrundsätze und -regeln ordnen das Zusammenleben, bei Missachtung dieser Regeln droht Bestrafung:[168] Vertrauen herrscht in der Gruppe allerdings meist nicht vor. Die Gruppe ist hierarchisch aufgebaut: Vertrauen bezüglich der gerechten Aufteilung von Diebesgut sowie rechtliche Anzeigen und Gewaltanwendung gelten als tabu.
Wer über die besten Fähigkeiten zur Überlebenssicherung und Erfahrungen mit Überfällen verfügt, führt die Gruppe an. Kontakte zu Hehlern sowie andere Aufgabenbereiche[169] werden den meist älteren oder erwachsenen[170] Anführern zugestanden. Die Instabilität seiner Führungsposition[171] lässt sich auf die gesamte Gruppe übertragen: Von einer hohen Fluktuation geprägt, verfügen die meisten Mitglieder über Erfahrungen mit verschiedenen Gruppen.[172]
4.3.2. Kinderarbeit
Kinderarbeit ist Ausdruck einer verkehrten Welt. Kinder arbeiten, Erwachsene sind arbeitslos. Kinder gehören in die Schule und Erwachsene brauchen Arbeit. Kinderarbeit muss ein Weltthema werden.[173]
Auf Grund einer vermutlich hohen Dunkelziffer ist die statistische Erfassung von Kinderarbeit problematisch.[174]
Die Verfassung von 1988 verbietet die Arbeit von Kindern unter 14 Jahren,[175] die Umsetzung des Verbotes gestaltet sich allerdings als schwierig, weil Kinderarbeit für viele Familien die einzig mögliche Art des Gelderwerbs darstellt.[176] Auffällig ist die steigende Zahl von arbeitenden Straßenkindern unter fünf Jahren.[177]
Auf die Sicherung ihrer familiären Existenz[178] legen brasilianische Straßenkinder großen Wert und tragen entsprechend zu ihrer Erhaltung bei.[179] In einigen Fällen leben Familien einzig vom Gehalt ihrer Kinder,[180] da Erwachsene weniger Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben.[181] Bei Tätigkeiten wie dem Betteln bspw. wirkt sich die Unschuld der Kinder förderlich aus.[182]
[...]
[1] vgl. http://www.brasilien.de/volk/bevoelkerung/kinder.asp, 5.12.05.
[2] vgl. Koch, 129 in: Koch/Kupsch (Hrsg.) 2001.
[3] vgl. ebd; 131.
[4] vgl. ebd; 133.
[5] ebd; 7.
[6] Wöhlcke 1991, 7.
[7] vgl. Nohlen (Hrsg.) 2002, 195.
[8] vgl. Nohlen/Nuscheler 1993, 17.
[9] vgl. Nohlen (Hrsg.) 2002, 195.
[10] vgl. Nohlen/Nuscheler 1993, 14f.
[11] vgl. Nohlen (Hrsg.) 2002, 195.
[12] vgl. Nohlen/Nuscheler 1993, 22.
[13] vgl. http://www.g77.org/main/gen_info_1.htm, 9.10.2005.
[14] vgl. Nohlen/Nuscheler 1993, 22.
[15] vgl. Nohlen (Hrsg.) 2002, 118f.
[16] vgl. http://www.nam.gov.za/media/040816nam.htm, 9.10.2005.
[17] vgl. Nohlen (Hrsg.) 2002, 195.
[18] vgl. Nohlen/Nuscheler 1993, 30.
[19] Nohlen/Nuscheler 1993, 30.
[20] vgl. Nohlen/Nuscheler 1993, 30.
[21] vgl. Sangmeister in: Nohlen/Nuscheler (Hrsg.) 1992, 223.
[22] vgl. Harenberg 1994, 410.
[23] vgl. Die Zeit 2005, 369.
[24] vgl. Wöhlcke 1991, 20.
[25] vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Geschichte_Brasiliens, 20.10.2005.
[26] vgl. ebd; 20.10.2005.
[27] vgl. Sangmeister in: Nohlen/Nuscheler (Hrsg.) 1992, 223.
[28] vgl. Wöhlcke 1991, 27.
[29] vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Geschichte_Brasiliens, 20.10.2005.
[30] vgl. Sangmeister in: Nohlen/Nuscheler (Hrsg.) 1992, 224.
[31] vgl. ebd; 224.
[32] vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Geschichte_Brasiliens, 20.10.2005.
[33] vgl. Sangmeister in: Nohlen/Nuscheler (Hrsg.) 1992, 224.
[34] vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Geschichte_Brasiliens, 20.10.2005.
[35] vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Geschichte_Brasiliens, 20.10.2005.
[36] vgl. ebd; 20.10.2005.
[37] vgl. Sangmeister in: Nohlen/Nuscheler (Hrsg.) 1992, 224.
[38] vgl. Nohlen (Hrsg.) 2002, 129.
[39] vgl. Wöhlcke 1991, 29.
[40] vgl. Sangmeister in: Nohlen/Nuscheler (Hrsg.) 1992, 222.
[41] vgl. ebd; 226f.
[42] vgl. Harenberg 1994, 410.
[43] vgl. Nohlen (Hrsg.) 2002, 129.
[44] vgl. Die Zeit 2005, 370.
[45] vgl. Sangmeister in: Nohlen/Nuscheler (Hrsg.) 1992, 232.
[46] vgl. Harenberg 1994, 410.
[47] vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Brasilien, 20.10.2005.
[48] vgl. Harenberg 1994, 410.
[49] vgl. Sangmeister in Nohlen/Nuscheler (Hrsg.) 1992, 224ff.
[50] vgl. Die Zeit 2005, 370.
[51] vgl. Harenberg 1994, 410.
[52] vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Brasilien, 20.10.2005.
[53] vgl. Die Zeit 2005, 370.
[54] vgl. ebd; 370.
[55] vgl. ebd; 370.
[56] vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Brasilien, 20.10.2005.
[57] vgl. ebd; 20.10.2005.
[58] vgl. Sangmeister in Nohlen/Nuscheler (Hrsg.) 1992, 223f.
[59] vgl. Nohlen (Hrsg.) 2002, 128f.
[60] vgl. Wöhlcke 1991, 78.
[61] vgl. Sangmeister in: Nohlen/Nuscheler (Hrsg.) 1995, 240.
[62] vgl. Sangmeister in: Briesemeister u.a; (Hrsg.) 1994, 267f.
[63] vgl. Wöhlcke 1991, 78.
[64] Wöhlcke 1991, 87.
[65] vgl. Wöhlcke, 87f.
[66] Wöhlcke 1991, 87.
[67] Sangmeister in: Nohlen/Nuscheler (Hrsg.) 1995, 235.
[68] vgl. Nohlen (Hrsg.) 2002, 128.
[69] vgl. Sangmeister in: Briesemeister u.a; (Hrsg.) 1994, 324.
[70] vgl. Nohlen (Hrsg.) 2002, 132.
[71] vgl. Die Zeit 2005, 370.
[72] vgl. Nohlen (Hrsg.) 2002, 132.
[73] vgl. http://www.wsws.org/de/2003/jan2003/lula-j30.shtml, 13.01.2006.
[74] vgl. Die Zeit 2005, 366.
[75] vgl. UNICEF 2005, 162.
[76] vgl. Nohlen (Hrsg.) 2002, 128.
[77] vgl. Sangmeister in: Briesemeister u.a., (Hrsg.) 1994, 231.
[78] vgl. Die Zeit 2005, 366.
[79] vgl. Nohlen (Hrsg.) 2002, 128.
[80] vgl. Wöhlke1994, 23f.
[81] vgl. Sangmeister in: Briesemeister u.a; (Hrsg.) 1994, 157-160.
[82] vgl. Die Zeit 2005, 366.
[83] vgl. Sangmeister in Nohlen/Nuscheler (Hrsg.) 1992, 222.
[84] vgl. Wöhlcke 1991, 22-25.
[85] vgl. Sangmeister in Nohlen/Nuscheler (Hrsg.) 1992, 223; Wöhlcke 1991, 23f.
[86] vgl. Sangmeister in Nohlen/Nuscheler (Hrsg.) 1992, 260ff.
[87] vgl. Strobl 1994, 29f.
[88] vgl. Die Zeit 2005, 366.
[89] vgl. http://www.brasilianische-botschaft.de/umwelt/index.html, 10.11.2005.
[90] vgl. Strahm 1985, 73.
[91] vgl. ebd; 71.
[92] vgl. Nohlen (Hrsg.) 2002, 131.
[93] vgl. Kohlhepp in: Briesemeister u.a; (Hrsg.) 1994, 94f.
[94] vgl. ebd; 98.
[95] vgl. Sangmeister in: Nohlen/Nuscheler (Hrsg.) 1995, 251.
[96] vgl. Kohlhepp in: Briesemeister u.a; (Hrsg.) 1994, 99.
[97] vgl. Sangmeister in: Nohlen/Nuscheler (Hrsg.) 1995, 249.
[98] vgl. ebd; 249.
[99] vgl. Sangmeister in: Nohlen/Nuscheler (Hrsg.) 1995, 251.
[99] vgl. ebd; 251.
[100] vgl. Nohlen (Hrsg.) 2002, 131.
[101] Sangmeister in: Nohlen/Nuscheler (Hrsg.) 1995, 251.
[102] vgl. Sangmeister in: Nohlen/Nuscheler (Hrsg.) 1995, 251.
[103] vgl. Nohlen (Hrsg.) 2002, 131.
[104] vgl. http://www.bmz.de/de/laender/regionen/lateinamerika/index.html, 3.10.2005.
[105] vgl. Sangmeister in: Nohlen/Nuscheler (Hrsg.) 1995, 249.
[106] vgl. www.brasilianische-botschaft.de/umwelt/c1_umwe.html, 10.11.2005.
[107] vgl. Nohlen (Hrsg.) 2002, 128.
[108] vgl. http://www.vatican.va/edocs/DEU0129/_P11.HTM, 2006, 9.01.2006.
[109] vgl. Nohlen (Hrsg.) 2002, 128.
[110] Wöhlcke 1991, 91.
[111] vgl. Armbruster in: Briesemeister u.a; (Hrsg.) 1994, 481-491.
[112] vgl. Wöhlcke1994, 163.
[113] vgl. Armbruster in: Briesemeister u.a; (Hrsg.) 1994, 481-491.
[114] vgl. Wöhlke 1994, 160-163.
[115] vgl. Armbruster in: Briesemeister u.a; (Hrsg.) 1994, 490.
[116] vgl. Wöhlcke 1994, 155.
[117] vgl. Armbruster in: Briesemeister u.a; (Hrsg.) 1994, 490f.
[118] vgl. http://www.brasilien.de/ReiseService/karneval/riokarneval.asp, 5.01.2005.
[119] vgl. http://netzeitung.de/vermischtes/375339.html, 5.01.2006.
[120] vgl. Dias 1996, 29.
[121] vgl. Adick in: Adick (Hrsg.) 1998, 11.
[122] vgl. von Dücker 1992, 50f.
[123] vgl. http://tdh.de, 15.11.2005.
[124] vgl. von Dücker 1992, 51.
[125] vgl. http://tdh.de, 15.11.2005.
[126] von Dücker 1992, 52.
[127] vgl. von Dücker 1992, 5.
[128] vgl. Dias 1996, 29f.
[129] vgl. Strobel 1994, 50.
[130] vgl. Dias 1996, 31f.
[131] Dias 1996, 31.
[132] vgl. Dias 1996, 28.
[133] vgl. ebd; 12.
[134] vgl. ebd; 28.
[135] vgl. Adick in: Adick (Hrsg.) 1998, 169; http://tdh.de, 15.11.2005.
[136] vgl. http://tdh.de, 15.11.2005.
[137] Strobel 1994, 22.
[138] vgl. von Dücker 1992, 64.
[139] vgl. Pollmann 1985, 8.
[140] vgl. ebd; 15.
[141] vgl. Strobel 1994, 50.
[142] vgl. ebd; 47.
[143] vgl. Dias 1996, 34.
[144] Dias 1996, 47.
[145] vgl. Kohlhepp in: Briesemeister u.a; (Hrsg.) 1994, 61, 64.
[146] vgl. ebd; 61f; Strobel 1994, 46.
[147] vgl. Strobel 1994, 47.
[148] Strobel 1994, 47.
[149] vgl. Kohlhepp in: Briesemeister u.a; (Hrsg.) 1994, 62.
[150] vgl. Dias 1996, 35.
[151] vgl. Strobel 1994, 46f.
[152] vgl. Dias 1996, 35.
[153] vgl. Pollmann 1985, 10.
[154] Pollmann 1985, 11.
[155] vgl. Pollmann 1985, 13.
[156] vgl. ebd; 10.
[157] vgl. ebd; 19; Strobel 1994, 39, 43f.
[158] vgl. Pollmann 1985, 1.
[159] vgl. Strobel 1994, 15f.
[160] vgl. von Dücker 1992, 65.
[161] vgl. Strobel 1994, 50.
[162] vgl. Dias 1996, 39.
[163] vgl. http://tdh.de, 15.11.2005.
[164] vgl. Dias 1996, 39; von Dücker 1992, 76; http://tdh.de, 15.11.2005.
[165] vgl. Dias 1996, 39f.
[166] vgl. http://tdh.de, 15.11.2005.
[167] vgl. Dias 1996, 39; von Dücker 1992, 77.
[168] vgl. von Dücker 1992, 76; Pollmann 1985, 15-18.
[169] vgl. Pollmann 1985, 16.
[170] vgl. von Dücker 1992, 76.
[171] vgl. Pollmann 1985, 17.
[172] vgl. Dias 1996, 39; von Dücker 1992, 76.
[173] vgl. Bundesregierung 1995, 6.
[174] vgl. ebd; 1995, 6.
[175] vgl. Dias 1996, 37.
[176] vgl. Pollmann 1985, 7.
[177] vgl. von Dücker 1992, 60.
[178] vgl. Pollmann 1985, 5.
[179] vgl. von Dücker 1992, 64.
[180] vgl. Dias 1996, 37.
[181] vgl. von Dücker 1992, 64.
[182] vgl. Pollmann 1985, 7, 10.
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- Karoline Hartmann (Author), 2006, J. E. Braz: 'Kinder im Dunkeln' - M. Lind: 'Isabel, Ein Straßenkind in Rio' - Eine vergleichende Analyse zum Thema 'Straßenkinder in Brasilien', Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/68676
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