Im ersten Teil sollen die Lebensumstände der Vaganten und gesellschaftlichen Realitäten des 18. Jahrhunderts dargestellt werden. Der zweite Teil soll methodisch den Quellentyp Gauner – und Diebesliste vorstellen und somit auch die Möglichkeiten, die das Interpretieren dieser Quellenform bietet. Im dritten Teil wird die Entstehungsgeschichte der Listen nachgezeichnet, um ihre Entwicklung und systematische Perfektionierung nachvollziehen zu können. Der vierte Teil wird die Quelle sowohl inhaltlich vom Aufbau her untersuchen. Ich lege Wert auf die Darstellung des Aufbaus, da es sich um ein sehr heterogenes Quellenmaterial handelt. Andreas Blauert und Eva Wiebel aber auch Katrin Lange haben eine idealtypische Einordnung der Fahndungsakten in Steckbriefe, Diebeslisten und Aktenmäßigen Geschichten vorgenommen.
Gliederung
1. Einleitung
2. Gauner und Diebe im 18. Jahrhundert
2.1 Gauner – und Diebeslisten als Quellentypus
2.2 Zur Entwicklungsgeschichte von Gauner – und Diebeslisten
3. Quellenanalyse des Hildburghauser Protokolls
4. Schlussbetrachtung
5. Quellen – und Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Das 18. Jahrhundert: Ein Jahrhundert der Diebe, Gauner, Vagabunden und Landstreicher? Das Jahrhundert der „Armen Leute“?
„Vielfältig sind die Etiketten, die dem 18. Jahrhundert beigelegt werden: Das Zeitalter der Vernunft, die Epoche des Ancien Régime, die Welt des Rokoko, die Spätzeit der Höfischen Kultur, das letzte Saeculum der alteuropäischen Adelskultur, der Aufgang bürgerlicher Kultur. Die geistige und soziale Vielfalt eines Jahrhunderts charakterisieren diese Bezeichnungen jeweils aus einem speziellen Blickwinkel. Von der Perspektive aber, der auch die „Ordnungen des kleinen Lebens“ historischer Gegenstand sind, ist dieses Jahrhundert ebenso eine Zeit der Bettler und Gauner.“[1]
Das schrieb Ernst Schubert 1977 in seinem Aufsatz zu Bettlern und Gaunern im Hochstift Bamberg des 18. Jahrhunderts.
Aus welchem Grund nun sollte es auch das Jahrhundert der Bettler sein? Armut und Bettel sind keine spezifischen Eigenschaften dieses Zeitalters, aber ihre gesellschaftlichen Perzeptionen veränderten sich. War die mittelalterliche Armenfürsorge als „Caritas“ noch gottgefälliges Werk und Ausdruck der christlichen Nächstenliebe, so wurde die Armenfürsorge in der frühen Neuzeit zur staatlichen Aufgabe.[2]
Der frühmoderne Staat war geprägt von der Verfestigung des ständischen Systems und der absolutistischen Ordnungspolitik, die heute als Konzept der Sozialdisziplinierung bekannt ist.[3]
Diese Politik war Ausdruck der absolutistischen Herrschaftsauffassung und hatte die Generierung eines homogenen, disziplinierten Untertanenverbandes zum Ziel. Realisiert werden sollte dieses Ziel vor allem auf der normativen Ebene, also durch Gesetze und Verordnungen, die sowohl von Kirche als auch vom Staat erlassen wurden und das tägliche Leben der Menschen umfassend regelten.[4] Abgrenzen wollte sich der Staat gegen die nicht zu den nützlichen Ständen gehörenden Menschen, dem „herrenlosen Gesindel“, dass die Gesellschaft „belastete“. Zu diesen außerständischen Menschen zählten soziale Randgruppen wie Zigeuner und Juden, aber auch all diejenigen die nicht sesshaft waren, wie Bettler, Diebe und Vaganten, die so genannten Gauner.
Die Thematik Räuber und Diebe inspirierte nicht nur Künstler und Literaten des 19. Jahrhunderts. Auch die Wissenschaft hat sich der Materie auf vielfältige Art genähert. Hat das 19. Jahrhundert den Räuber als „Zorro der deutschen Lande“ romantisch verklärt, so veränderte sich im 20. Jahrhundert die Sichtweise maßgeblich. Wurden in den 50er Jahren noch kriminalbiologische Ansätze vertreten, die das Bild eines „degenerierten Erbkriminellen“ nachzeichneten und ideologisch auf die Rassentheorien der Nationalsozialisten fußten, so war die Forschung im Zuge einer neuen Geschichtsschreibung, der Alltags – und Sozialgeschichte, bestrebt die Randgruppen des 18. Jahrhunderts in ihrer sozialen und ökonomischen Umwelt zu untersuchen. So versuchte etwa Carsten Küther in seiner Dissertation von 1976, basierend auf dem Konzept Eric J. Hobsbawns und der Studie Günther Krafts von 1959 den Räuber als „Sozialbanditen“ darzustellen, der sich in einer eigenen „Gegengesellschaft“ bewegte. In der Geschichtsschreibung der ehemaligen DDR wurden Devianz und Delinquenz ähnlich gedeutet; als klassenkämpferischer Widerstand der Unterprivilegierten gegen die herrschende Klasse. Diese Forschungsansätze gelten heute im breiten wissenschaftlichen Konsens als widerlegt. Seit den 1990er Jahren machen Historiker wie Andreas Blauert, Eva Wiebel, Katrin Lange oder Wolfgang Seidenspinner ein sehr detailliertes Bild des Milieus der Gauner und Diebe sichtbar, auf deren Ausführungen ich mich im Wesentlichen stütze.
Der darstellende Teil dieser Arbeit ist in vier Hauptpunkte gegliedert. Im ersten Teil sollen die Lebensumstände der Vaganten und gesellschaftlichen Realitäten des 18. Jahrhunderts dargestellt werden. Der zweite Teil soll methodisch den Quellentyp Gauner – und Diebesliste vorstellen und somit auch die Möglichkeiten, die das Interpretieren dieser Quellenform bietet.
Im dritten Teil wird die Entstehungsgeschichte der Listen nachgezeichnet, um ihre Entwicklung und systematische Perfektionierung nachvollziehen zu können. Der vierte Teil wird die Quelle sowohl inhaltlich vom Aufbau her untersuchen. Ich lege Wert auf die Darstellung des Aufbaus, da es sich um ein sehr heterogenes Quellenmaterial handelt. Andreas Blauert und Eva Wiebel aber auch Katrin Lange haben eine idealtypische Einordnung der Fahndungsakten in Steckbriefe, Diebeslisten und Aktenmäßigen Geschichten vorgenommen. Die Quelle Hildburghausens in diese Ordnungsform einzubeziehen trifft meinem Dafürhalten nach nicht das Wesen der Quelle. Sie stellt eine Sonderform dar, auf die im analytischen Teil näher eingegangen werden wird.
Ich halte die von Wolfgang Seidenspinner gewählte Bezeichnung „Hildburghauser Protokoll“[5] für sinnvoller. Mit Hilfe der Quellenanalyse sollen folgende Fragen bearbeitet werden:
1. Welche Personen wurden in den Gauner – und Diebeslisten erfasst?
2. Welchen Organisationsgrad weisen die „Diebes – und Räuberbanden“ des 18. Jahrhunderts auf?
3. Bildete die „Kochemer Gesellschaft“ eine Gegengesellschaft zur Etablierten?
2. Gauner und Diebe in 18. Jahrhundert
„ Jaunergesindel ist in Schwaben ein herum schweiffendes Gesindel, welches denen Zigeunern nicht ungleich, aber doch von denselben unterschieden ist, machen unter sich eine besondere Zunfft, und haben ihre eigene Sprache.“[6] Dieser Eintrag findet sich im Zedler Universallexikon von 1735 unter dem Stichwort Jauner. Der Begriff geht etymologisch auf das rotwelsche Wort Joner oder Juonner[7] zurück und bezeichnet eigentlich einen Faschspieler.
Ein Sachsen – Coburgisches Poenal – Patent von 1746 versteht „unter dem Nahmen der Jauner aber alle diejenigen mit begriffen sind, so nirgends einen gewissen Aufenthalt, oder beständiges häusliches Wesen, auch keine glaubwürdigen Pässe von ihrer Obrigkeit und ordentliche Nahrung und Gewerb haben, noch suchen, und womit sie sich ehrlich ernähren, nicht darthun können.“[8]
Ernst Schubert versteht unter den Jaunern einen Sammelbegriff für das fahrende Volk, soweit es keine Pässe hat, für die Unbehausten, die weder Land besitzen, noch als Geselle, Knecht oder Dienstmagd zu einem Haus gehören.[9]
Die Gesellschaft des 17. und 18. Jahrhunderts war im Kern eine Agrargesellschaft, so dass soziales Prestige, Wohlstand und politische Einflussnahme an Landbesitz gekoppelt waren. Gleichsam wurde Herrschaft von einem kleinen Teil der Bevölkerung ausgeübt, deren Herr-schaftslegitimation de facto erblich war. Bestimmend für die soziale Stufe auf der sich das Individuum befand war dementsprechend Herkunft. So zeichnen sich die Mitglieder der sozialen Unterschicht dadurch aus, dass sie weder über genügend Land, noch über anderes Vermögen verfügten, dass ihre Subsistenzsicherung gewährleistete. Sie waren somit dazu gezwungen, sich als Tagelöhner oder durch andere Nebentätigkeiten zu verdingen. Die Folge dieses wirtschaftlichen Zwangs war eine erhöhte soziale Mobilität und gleichsam eine starke Abhängigkeit von Ernteergebnissen und Beschäftigungsmöglichkeiten.[10] Vor diesem Hinter- grund wird deutlich, dass die Zahl der zur Unterschicht gehörenden Menschen in Krisenzeiten merklich anstieg. Solche Krisen konnten einerseits durch persönliche Schicksalsschläge wie Krankheit, Invalidität oder Tod, andererseits durch gesamtgesellschaftliche Umstände wie Krieg, Seuchen oder Missernten ausgelöst werden. Gerade Missernten hatten verheerende Auswirkungen auf die Menschen. Angesichts einer wachsenden Bevölkerungszahl, bei gleich bleibenden Löhnen und Verknappung der zur Verfügung stehenden Ressourcen, wird deutlich, dass sich der Lebensstandart des „Ottonormalverbrauchers“ verringerte. Die Kaufkraft der Löhne sank[11] und die Wahrscheinlichkeit eines „sozialen Abstiegs“ wuchs, der fast zwangläufig in Hunger und Bettel führen musste.
[...]
[1] Schubert, E.: Das Jahrhundert der Bettler und Gauner im Hochstift Bamberg. In: Fränkische Heimat am Obermain 1977/78 Heft 15. S. 3.
[2] Ebenda. S.4.
[3] Seidenspinner, W.: Bettler, Landstreicher und Räuber. Das 18. Jahrhundert und die Bandenkriminalität. In Volkskundliche Veröffentlichungen des Badischen Landesmuseums Karlruhe. Band 3. Karlruhe 1995. Hg. Siebenmorgen, H.: Schurke oder Held? Historische Räuber und Räuberbanden. S. 28.
[4] Härter, Karl: Sozialdisziplinierung. In Hg. Völker – Rasor, Anette: Frühe Neuzeit. München 2000. S. 294- 299.
Hg. Völker
[5] Seidenspinner, W.: Mythos Gegengesellschaft. Erkundungen in der Subkultur der Jauner. New York – München – Berlin 1998. S. 14
[6] Zedler, Universal – Lexikon, Band 14, Sp. 285.
[7] Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. 24. Auflage. Berlin 2002. S. 334.
[8] Sachsen – Coburgisches Poenal – Patent 1746. S. 6. Zitiert nach Küther, C.: Räuber und Gauner in Deutschland. Das organisierte Bandenwesen im 18. und frühen 19. Jahrhundert. Göttingen 1976. S. 18.
[9] Schubert, E.: Das Jahrhundert der Bettler und Gauner im Hochstift Bamberg. In: Fränkische Heimat am Obermain 1977/78 Heft 15. S. 5.
[10] Lange, K.: Gesellschaft und Kriminalität. Räuberbanden im 18. und frühen 19. Jahrhundert. Frankfurt am Main – Berlin – Bern 1994. S. 25 ff.
[11] Sandgruber, R.: Leben und Lebensstandart im Zeitalter des Barock – Quellen und Ergebnisse S. 172, in: Hgs. Pickl, O.; Feigl, H.: Methoden und Probleme der Alltagsforschung im Zeitalter des Barock.. Wien 1992.
- Arbeit zitieren
- Tillman Wormuth (Autor:in), 2005, Zur Bedeutung von Gauner- und Diebeslisten im 18. Jahrhundert am Beispiel von Hildburghausen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/68603
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