Mit dem „Prinzip des Stirb-und-Werde“ ist ein Prinzip des „Glasperlenspiels“ benannt, das diese Arbeit als ein grundlegendes Prinzip von Hesses Roman annimmt. Parallelen zu Goethe finden sich im „Glasperlenspiel“ nicht nur bei diesem Prinzip, sondern auch im Bereich des Bildungs- und Erziehungsromans. So weist Kastalien ähnliche Züge auf wie die pädagogische Provinz in „Wilhelm Meisters Wanderjahren“. In dieser Arbeit dient der Vergleich mit den „Wanderjahren“ allerdings vorrangig dazu, Unterschiede des Erzählverfahrens zwischen den „Wanderjahren“ und dem „Glasperlenspiel“ zu aufzuzeigen. Die Vielfalt der Textgattungen und Stile ist ebenfalls eine Parallel zu Goethes „Wanderjahren“. Die Funktion dieser unterschiedlichen Texte, insbesondere die Funktion von Knechts hinterlassenen Gedichten, ist unter dem Aspekt der Sinnsuche und Pantheismussehnsucht Josef Knechts zu untersuchen. Dabei geht es unter anderem um die Art und Weise, wie Hermann Hesse das Beziehungsgeflecht zwischen Texten, Verfassern und Erzählerfiguren arrangiert. Welche Unterschiede weist die erzähltechnische Verarbeitung der pädagogischen Provinz im „Glasperlenspiel“ zu der in Goethes „Wanderjahren“ auf? Welche Intention verfolgt Hermann Hesse mit seiner Erzählweise? Diese Fragen leiten die Analyse des im „Glasperlenspiel“ thematisierten Verhältnisses von Selbstwahrnehmung und geschichtlicher Wahrnehmung. Dabei soll vor allem das Verhältnis Kastaliens zur Weltgeschichte untersucht werden.Die literarische Form der Biographie, die neben den Gedichten die zentrale Textform des „Glasperlenspiels“ darstellt, verfügt durch ihren Bezug zur Lebensgeschichte eines Menschen selbst über eine historische Komponente. Während die Biographie als Textform bereits durch den Untertitel „Versuch einer Lebensbeschreibung des Magister Ludi Josef Knecht“ erkennbar ist, verrät die Erzählung Details der Existenz Kastaliens und vor allem des Umgangs des kastalischen Ordens mit Historie nur schrittweise. Diese Elemente werden im Spannungsfeld von Individualität und Gemeinschaft diskutiert.
Inhalt
1. Einleitung
2. Sinnsuche und Pantheismussehnsucht
2.1 Josef Knechts hinterlassene Gedichte als „Wege nach Innen“
2.2 Die „Stimme der Natur“ und die Welt des Geistes
3. Geschichte und Geschichtsschreibung
3.1 Das Verhältnis Kastaliens zur „Weltgeschichte“
3.2 „Das eigene Leben als geschichtliche Wirklichkeit sehen“:
Josef Knecht als Geschichtsstudent
3.3 Knechts Erkenntnis des Wandels als Grundprinzip historischer Existenz
3.4 Geschichte als Prozess der Bedingtheit von Staat, Religion und Kultur
4. Die Bedeutung von Körperlichkeit und ihr Verhältnis zum Geist
4.1 Seelenwanderung durch Perspektivüberschneidung?
Der erzähltechnische Aufbau der Schlussszene
4.2 Körper im Spannungsfeld zwischen Individuum und Gemeinschaft
4.3 Geschichte „ohne Blut und Wirklichkeit“?
Die Bedeutung von Körperlichkeit
im Geschichtsverständnis des Pater Jakobus
5. Josef Knechts chinesische Studien
5.1 Die Kraft der Meditation und die Weisheit des Lao-tse
5.2 Die kastalische Hierarchie und das „Buch der Wandlungen“ – ein Widerspruch?
5.3 Philosophie und Religion: Gegensätze oder zwei Teile eines Ganzen?
5.4 „Jugendtorheit hat Gelingen“: Die Funktion des Orakelzeichens „Mong“
6. Das Motiv der Wiedergeburt
6.1 Jenseits von Gut und Böse: Der Tod als Stillstand des Lebens
6.2 Das Prinzip des Stirb und Werde
6.2.1 Knechts Entdeckung des Andersseins – ein Sündenfall?
6.2.2 (Selbst-) Reflexion als Voraussetzung für die Vergegenwärtigung von Vergänglichkeit
6.3 Josef Knechts Tod aus funktionaler Sicht
7. Schlussbetrachtung: Das Problem der Vermischung von Realität und Fiktion
8. Bibliographie
8.1 Texte
8.2 Wissenschaftliche Literatur
1. Einleitung
In der vorliegenden Arbeit werden in erster Linie Widersprüche problematisiert, die der Text als solche kenntlich macht, sowie die aus diesen Widersprüchen resultierenden Konflikte. Die Methode ist also weitgehend textimmanent. Allerdings folgt diese Arbeit nicht der von Hermann Hesse vorgenommenen Anordnung der Texte. Die Idee dieser Arbeit ist es vielmehr, die Texte, die als „hinterlassene Schriften Josef Knechts“ benannt sind, als fiktive biografische Zeugnisse anzunehmen und an den Anfang der Untersuchung zu stellen. Diese werden zu den anderen Texten des „Glasperlenspiels“ in Bezug gesetzt, mit dem Ziel, Konflikte in der Figur Josef Knecht zu verdeutlichen. Diese Vorgehensweise wurde deshalb gewählt, da die Anordnung der Texte, wie sie im „Glasperlenspiel“ gegeben ist, den Fokus eher auf Regeln, Traditionen und sonstige Details des kastalischen Ordens und dessen Amtsträger legt als auf das Individuum Josef Knecht. Der Komposition dieser Figur gilt jedoch ein vorrangiges Interesse. Indem die Anordnung der Texte des „Glasperlenspiels“ außer Acht gelassen und durch eine neue Anordnung der verschiedenen Teile der Erzählung um die „nachgelassenen Gedichte Josef Knechts“ herum ersetzt wird, wird auch die Ordnung, in der sich die Texte des „Glasperlenspiels“ zueinander befinden, außer Kraft gesetzt. Bezüglich der Frage nach den „Verfassern“ der einzelnen Texte des „Glasperlenspiels“ verspricht ein Vorgehen, bei dem die Gedichte als Ausgangspunkt für die Analyse der anderen Texte dienen, eine Klärung der Verfasserfrage. Dieser Annahme liegt die Tatsache zugrunde, dass die Gedichte als einzige Texte des „Glasperlenspiels“ hinsichtlich der Angaben über ihren Verfasser eine Doppelexistenz führen und sowohl der fiktiven Figur Josef Knecht als auch dem realen Schriftsteller Hermann Hesse zugeschrieben werden. Da die ursprüngliche, von Hesse vorgenommene Ordnung für das Verständnis der Erzähltechnik Hesses von Bedeutung ist, darf diese nicht aus dem Blick verschwinden. Vielmehr soll die durch diese Analyse gewonnene Ordnung des „Glasperlenspiels“ mit dem Individuum Josef Knecht als Kern und den auf dieses Individuum hin ausgerichteten anderen Gegenständen der Erzählung, als Kontrastentwurf zu der von Hesse vorgenommenen Ordnung dienen und deren Eigenheiten verdeutlichen. Am Ende der Analyse wird unter anderem die Frage zu beantworten sein, weshalb Hermann Hesse die einzelnen Texte so und nicht anders angeordnet hat. Dabei wird auch das zeitliche Verhältnis der einzelnen Textteile zueinander eine Rolle spielen.
Zentrale Textstellen, an denen sich die im Roman angelegten Widersprüche und Konflikte verdichten, finden sich in den Begegnungen der Hauptfigur, Josef Knecht, mit dem Musikmeister und mit Pater Jakobus. Diese Begegnungen sind Teil einer komplexen Erzählstruktur, die ein wesentliches Merkmal des „Glasperlenspiels“ darstellt. Es ist das Ziel dieser Arbeit, diese Struktur zu verdeutlichen, ausgehend davon narrative Bezüge aufzuzeigen und auf diese Weise eine Erklärung der Funktionsweise des „Glasperlenspiels“ zu versuchen. Die dabei gewonnenen Ergebnisse werden in einem zweiten Schritt zur Erschließung von Kontexten herangezogen. Da „Das Glasperlenspiel“ Merkmale eines Erziehungs- und Bildungsroman aufweist, scheint neben einer rein textimmanenten Analyse ein rezeptionsästhetischer Ansatz sinnvoll, der die Kommunikation zwischen Autor und Leser zum Gegenstand hat. Damit verbunden ist die Frage nach der vom Autor beabsichtigten Wirkung. Hierbei werden von den textimmanenten Strukturen und Funktionszusammenhängen ausgehend die Wirkung der Literatur auf den Leser untersucht, jedoch nicht von rezeptionsgeschichtlichen Quellen ausgehend Rückschlüsse auf die Wirkung gezogen.
Mit dem „Prinzip des Stirb-und-Werde“ ist ein Prinzip des „Glasperlenspiels“ benannt, das diese Arbeit als ein grundlegendes Prinzip von Hesses Roman annimmt. Parallelen zu Goethe finden sich im „Glasperlenspiel“ nicht nur bei diesem Prinzip, sondern auch im Bereich des Bildungs- und Erziehungsromans. So weist Kastalien ähnliche Züge auf wie die pädagogische Provinz in „Wilhelm Meisters Wanderjahren“. In dieser Arbeit dient der Vergleich mit den „Wanderjahren“ allerdings vorrangig dazu, Unterschiede des Erzählverfahrens zwischen den „Wanderjahren“ und dem „Glasperlenspiel“ zu aufzuzeigen. Die Vielfalt der Textgattungen und Stile ist ebenfalls eine Parallel zu Goethes „Wanderjahren“. Die Funktion dieser unterschiedlichen Texte, insbesondere die Funktion von Knechts hinterlassenen Gedichten, ist unter dem Aspekt der Sinnsuche und Pantheismussehnsucht Josef Knechts zu untersuchen. Dabei geht es unter anderem um die Art und Weise, wie Hermann Hesse das Beziehungsgeflecht zwischen Texten, Verfassern und Erzählerfiguren arrangiert. Welche Unterschiede weist die erzähltechnische Verarbeitung der pädagogischen Provinz im „Glasperlenspiel“ zu der in Goethes „Wanderjahren“ auf? Welche Intention verfolgt Hermann Hesse mit seiner Erzählweise? Diese Fragen leiten die Analyse des im „Glasperlenspiel“ thematisierten Verhältnisses von Selbstwahrnehmung und geschichtlicher Wahrnehmung. Dabei soll vor allem das Verhältnis Kastaliens zur Weltgeschichte untersucht werden. Die literarische Form der Biographie, die neben den Gedichten die zentrale Textform des „Glasperlenspiels“ darstellt, verfügt durch ihren Bezug zur Lebensgeschichte eines Menschen selbst über eine historische Komponente. Während die Biographie als Textform bereits durch den Untertitel „Versuch einer Lebensbeschreibung des Magister Ludi Josef Knecht“ erkennbar ist, verrät die Erzählung historische Details der Existenz Kastaliens und vor allem des Umgangs des kastalischen Ordens mit Historie nur schrittweise. Es wird versucht, diese in einen Zusammenhang zu stellen und im Spannungsfeld von Individualität und Gemeinschaft zu diskutieren. Wie verfährt Hermann Hesse, um die unterschiedlichen Einflüsse, zwischen denen sich die Figur Josef Knecht befindet, zu entwickeln und parallel dazu die Wirkung, die diese Einflüsse auf Josef Knecht haben, aufzuzeigen? Mit dieser Frage verbindet sich das Problem, die Entwicklung der Figur Josef Knecht in ein erzählerisches Gesamtkonzept einzuordnen. Dieses Problem stellt ein wesentliches Merkmal der Erzählstruktur des „Glasperlenspiels“ dar. Die dieser Arbeit zugrunde liegende Analyse der Textkomposition Hermann Hesses soll dieses Problem konkretisieren und präzisieren.
2. Sinnsuche und Pantheismussehnsucht
2.1 Josef Knechts hinterlassene Gedichte als „Wege nach innen“
Das Ziel des Textes „Das Glasperlenspiel“ ist, wie uns der Text selbst verrät, „das Wenige festzuhalten, was wir an biographischem Material über Josef Knecht aufzufinden vermochten []“[1]. Er ist der „Versuch“, wie es im Text ausdrücklich heißt, Wissen über das Individuum Josef Knecht und nicht etwa über den auf sein Amt reduzierten Glasperlenspielmeister zu rekonstruieren. Dies geschieht nicht in einem zusammenhängenden Text, der formal wie inhaltlich über Anfang und Ende verfügt. Vielmehr folgt einem sowohl auf lateinisch wie in deutscher Übersetzung abgedruckten Motto eine „volkstümlichen Einführung“[2]. An diese schließt sich als Kern des Buches der längste Teil, die Lebensbeschreibung des Magister Ludi Josef Knecht an. Nachgeordnet stehen Josef Knechts hinterlassene Schriften, die aus einer Sammlung von Gedichten sowie drei Lebensläufen bestehen. Es ist demzufolge nicht möglich, einen einzelnen Erzähler anzunehmen. Klammert man die Hinweise auf Autoren, die in großer Zahl im Laufe der Erzählung zitiert werden, aus, bleiben zwei Erzählerfiguren: Zum einen ist das die der Einführung und der Lebensbeschreibung, zum anderen Josef Knecht selbst. Auffällig ist bei der ersten Erzählerfigur, dass diese formal nicht als Einzelperson oder gar –persönlichkeit hervortritt, sondern von sich nur im Kollektivplural „wir“ spricht.[3] Diesem fiktiven „wir“-Erzähler, weist die ebenfalls fiktive Einleitung des „Glasperlenspiels“ die Funktion eines außerhalb der Lebensbeschreibung Josef Knechts stehenden Kommentators zu, der vom Standpunkt der „Heutigen“[4] eine historische Einordnung und Bewertung des Glasperlenspiels ebenso wie des Feuilletonismus und auch der Person Josef Knecht selbst aus einer Perspektive vornimmt, die sich zwischen Bewunderung für die Person Josef Knecht und deren Wirken[5] und Distanz zum kastalischen Orden[6] bewegt. Die Distanz des Verfassers der Einleitung zum kastalischen Orden wird dadurch deutlich, dass dieser sich zum Ziel gesetzt hat, eine „volkstümliche Einleitung“ für diejenigen zu schreiben, die nicht Mitglied des Ordens sind. Es ist also keine Distanz, in der eine Ablehnung des Ordens durch den Verfasser zu erkennen ist. Vielmehr betont der Verfasser der Einleitung, dass „jener enge Kreis“[7] der Mitglieder des Ordens einer Einleitung nicht bedürften. Der Verfasser erklärt jedoch ausdrücklich seinen Wunsch, dass sich auch außerhalb des Ordens Leser für das „Glasperlenspiel“ finden werden.[8] Dies zeigt, dass der Verfasser der Einleitung die Person und das Wirken Josef Knechts für mehr und weniger gebildete Menschen für lesenswert hält. Der Verfasser charakterisiert sich selbst dadurch als bewundernden Kenner der Geschichte von Josef Knecht. Was genau der Verfasser der Einleitung an Josef Knecht bewundert beziehungsweise ihn zu seiner Meinung führt, dass die „Nachrichten über das Leben des Glasperlenspielsmeisters Josef Knecht, und namentlich alles von ihm selbst Geschriebene“ als „lesenswert“ einzustufen seien, legt er nicht dar.[9] Durch diese geheimnisvolle Art, über Josef Knecht zu sprechen, bewirkt der Verfasser der Einleitung bereits auf den ersten Seiten dessen Mythisierung. Zu dieser trägt ebenfalls bei, dass eine zeitliche Distanz zwischen dem Erzählen und dem Erzählten besteht, wie die Bezeichnung „wir Heutigen“[10] deutlich macht. Unklar bleibt dabei, ob mit „wir Heutigen“ tatsächlich eine Gruppe gemeint ist oder ob sich dahinter der Bescheidenheitsplural verbirgt. Denkbar ist auch, dass Hermann Hesse mit dieser Formulierung seine Leser in das Vorwort mit einbezieht. Für letztere Deutung spricht, dass die Einbeziehung des Lesers in den Text in einer Gruppe, in der Autor und Leser die gemeinsame Form „wir“ annehmen, eine allzu kritische Distanz des Lesers zum Text von vornherein unmöglich macht, da er selbst ja Teil des Textes ist. Somit wird die Perspektive des Lesers gleichsam manipuliert und der des Autors der Einleitung angeglichen, welcher unverkennbar ein Verehrer Josef Knechts ist. Interessant ist hier die Frage, welches Verhältnis die Ebene der Fiktion zur Ebene der Realität aufweist. Ein Verbindungspunkt dieser beiden Ebenen ist das Verhältnis zwischen Erzähler, als einem Teil der fiktiven Ebene, und Verfasser beziehungsweise Herausgeber, als Vertreter der realen Ebene. In der Einleitung des „Glasperlenspiels“ vermischen sich diese beiden Ebenen, da – obwohl eine zeitliche Distanz zu der Figur Josef Knecht und zu dessen Geschichte vorherrscht – Josef Knecht und seine Geschichte nicht als Fiktion kenntlich gemacht werden. Diese Vermischung von Fiktion und Realität schon in der Einleitung trägt ebenfalls zur Mythisierung der Figur Josef Knecht bei. Diese Tatsache führt zu der Frage, ob die Textsammlung, als die das „Glasperlenspiel“ betrachtet werden muss, überhaupt Texte enthält, deren Autorschaft und Entstehung bekannt sind. Den nachgelassenen Gedichten Josef Knechts kommt daher eine zentrale Bedeutung bei dieser Frage zu, da sie nur im Kontext des „Glasperlenspiels“ dem Autor Josef Knecht zugeschrieben werden. Die Gedichte wurden jedoch, unabhängig vom „Glasperlenspiel“ in Gedichtsammlungen Hermann Hesses veröffentlicht. Sie führen daher bezüglich ihres Verfassers eine Doppelexistenz: einmal auf der Ebene der Fiktion des „Glasperlenspiels“ als Texte Josef Knechts und einmal auf der Ebene der Realität als literarische Produkte des Schriftstellers Hermann Hesse, der, wie sich unschwer beweisen lässt, im Gegensatz zu Josef Knecht wirklich gelebt hat. Aus diesem Grund scheint es sinnvoll, die Analyse des „Glasperlenspiels“ bei den Gedichten zu beginnen. Während die drei Lebensläufe, wie der Erzähler in einem Kommentar innerhalb der Lebensbeschreibung verrät[11], in der Provinz Kastalien eine althergebrachte Sitte, eine „Stilübung“ in Form einer „fiktiven, in eine beliebige Zeit zurückverlegten Selbstbiographie“ darstellen, sind die Gedichte in Waldzell nicht nur inoffiziell, sondern sogar gegen die kastalischen Regeln entstanden. Auch dies erfährt der Leser durch einen Kommentar des Erzählers.[12] Interessant ist dessen Bemerkung, dass „[] auch diese Gedichte ihm [d.h. Josef Knecht] mitgeholfen haben, ihm die Durchführung seiner Rolle und das Überstehen jener kritischen Jahre zu ermöglichen“[13]. Nicht also der Orden, seine Weisheiten und die vorgegebenen Meditationsübungen verleihen Josef Knecht in Zeiten der Krise Kraft. Dies gelingt stattdessen kreativen Texten, die mit Ausnahme einer Abschrift dieser Texte durch Knechts Ordensbruder Ferromonte, verborgen geblieben sind. Die Vielgestaltigkeit des „Glasperlenspiels“ bezüglich der verwendeten Textarten ist nicht nur an der Unterscheidung zwischen biographischem, also eher protokollarischem Schreibstil auf der einen und kreativem, künstlerischem Schreibstil auf der anderen Seite. Auch formal fallen die Gedichte gegenüber der Prosa auf. Ebenso sind hinsichtlich der Textgattungen Unterschiede festzustellen. So ist das letzte Kapitel der Lebensbeschreibung des Magister Ludi mit „Die Legende“ überschrieben und weist mit seinem geheimnisvollen Ende auch Merkmale einer Legende auf. Dagegen weist der Lebenslauf „Der Regenmacher“ aus den hinterlassenen Schriften Josef Knechts mancherlei Märchenelemente auf, wenngleich es wohl unzutreffend wäre, den Text als ganzen als Märchen zu bezeichnen. Jedoch der Beginn „Es war vor manchen tausend Jahren“[14] sowie der Glaube an Hexen und Zauberkräfte[15] verleihen der Erzählung Märchencharakter. Ebenso erinnern die Worte „Es war um die Zeit, da der heilige Hilarion noch am Leben [] war“ zu Beginn des Lebenslaufs „Der Beichtvater“ an biblische Erzählungen. Man vergleiche etwa den Anfang der Weihnachtsgeschichte des Lukas-Evangeliums „Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, dass alle Welt geschätzt würde“[16]. Die Anfangszeilen des „Beichtvaters“ unterscheiden sich von denen des „Regenmachers“ unter anderem darin, dass eine Person genannt wird, anhand deren Lebensdaten sich auch die Erzählung ungefähr historisch einordnen lässt. Im Märchen fehlen Angaben über Personen der Zeitgeschichte. Aufgrund einer solchen Vielzahl an unterschiedlichen Texten stellt sich die Frage, welchen Bezug die einzelnen Texte zueinander haben und wie sich ihre Beziehung zueinander ordnen und systematisieren lässt. „Das Glasperlenspiel“, insbesondere der „Versuch einer Lebensbeschreibung des Magister Ludi Josef Knecht“, erzählt die Geschichte einer Krise, die der Erzähler als Lebenskrise des Individuums Josef Knecht darstellt. Als Subtext jedoch wird eine – wenn nicht während der erzählten Zeit realistisch eintretende, so doch in Zukunft möglicherweise bevorstehende – Krise der Gemeinschaft thematisiert, die durch den geistig-kulturellen Orden Kastalien vertreten wird. Es wurde bereits die Feststellung des Herausgebers der Lebensbeschreibung des Magister Ludi Josef Knecht erwähnt, dass die von ihm verfassten Gedichte ihm helfen, eine Krise durchzustehen. Betont werden muss jedoch, dass Josef Knecht den Konflikt, der ihn umtreibt, nicht lösen kann. Anlass für den Konflikt, der von da an während der gesamten Lebensbeschreibung fortbesteht und sich in Knechts Leben, wie der Leser an späterer Stelle des Romans erfährt, schon früher, allerdings in unbestimmter, emotionaler Weise, angedeutet hat, ist die kontroverse Diskussion mit dem weltlich orientierten Mitschüler Josef Knechts, Plinio Designori. Knecht vertritt darin die kastalische, Designori die weltliche Seite. Der Konflikt, den Knecht empfindet, liegt darin, dass er einerseits die Verlockungen der von Designori vertretenen Welt ebenfalls empfindet, sich aber andererseits für Kastalien und das Glasperlenspiel begeistert. In der Zeit dieser Hin- und Hergerissenheit verfasst Knecht seine Gedichte, deren wesentliche Funktion für die Entwicklung von Knechts Leben und somit auch für den Fortgang der erzählten Handlung angesichts der existenziellen Bedeutung der Verteidigung Kastaliens für den überzeugten Glasperlenspielschüler Josef Knecht, auch gegen eigene, innere Widerstände, offensichtlich wird. Welche Schlüsse lassen sich aus der Beobachtung, dass die kreativen, lyrischen Texte offenbar eine entscheidende Rolle für die Entwicklung der erzählten Handlung spielen, ziehen? Die Gedichte werden im Kontext der Erzählung zum Symbol für poetische Literatur da die von Josef Knecht geschriebenen Lebensläufe, die, der Darstellung des Romans folgend, ebenfalls als literarische Produktionen Knechts anzusehen sind, ihre Motivation nicht im Denken und Fühlen ihres Urhebers, sondern in den Regeln des kastalischen Ordens finden. Den Gedichten kommt unter diesem Aspekt auch aus literaturwissenschaftlicher Sicht besondere Bedeutung zu. Allem voran ist die Frage interessant, welche Anknüpfungspunkte sich zwischen den Gedichten Josef Knechts und den übrigen, prosaischen Texten des Romans, insbesondere der Lebensbeschreibung des Magister Ludi, ergeben. 13 Gedichte von Josef Knecht sind im Anschluss an die Lebensbeschreibung abgedruckt. In ihnen geht es einerseits um Themen, die sich auch im Katalog der offiziellen Interessen Kastaliens finden, wie das Glasperlenspiel („Der letzte Glasperlenspieler“, „Das Glasperlenspiel“), Sprache („Buchstaben“), Philosophie („Beim Lesen in einem alten Philosophen“) und Musik („Zu einer Toccata von Bach“). Hierzu ist allerdings anzumerken, dass außer in dem Gedicht „Das Glasperlenspiel“, das frei von Kritik gegenüber diesem, schon im Titel benannten Gegenstand und der ihn umgebenden Umwelt ist, die offiziellen Interessen Kastaliens in den Gedichten nicht vertreten, sondern in Frage gestellt werden. Andererseits behandelt ein Teil der Gedichte Gedanken und Träume des Individuums Josef Knecht („Klage“, Entgegenkommen“, „Doch heimlich dürsten wir“, „Ein Traum“, „Dienst“, „Seifenblasen“, „Nach dem Lesen in der Summa contra Gentiles“ und „Stufen“). Bei dieser Zuordnung, die zunächst als subjektiv gelten muss, da insbesondere die Texte „Dienst“ und „Nach dem Lesen in der Summa contra Gentiles“ auch Merkmale aufweisen, die eine Zuordnung zum Bereich der offiziellen Interessen Kastaliens ebenso rechtfertigen könnte, sind die Gedichte, deren Inhalt Gedanken des Individuums Josef Knechts widerspiegeln, deutlich in der Mehrzahl. Zur Begründung dieser Einteilung ist zu bemerken, dass zwar Weisheit und Wissenschaft sowie das Streben nach „formelschönem“[17] Gesetz und Ordnung thematisiert werden, der Verfasser diese Werte jedoch für sich und seine Generation in Gefahr sieht, was ihn in einen inneren Konflikt stürzt. Bei einigen Gedichten, insbesondere bei „Das Glasperlenspiel“, ist ein Verständnis im Sinne einer ungefähren Einordnung in den Kontext von Hermann Hesses Roman ohne größere Schwierigkeiten möglich. Zwar werfen auch diese Texte interessante Fragen auf, wie zum Beispiel das Gedicht „Das Glasperlenspiel“ mit seiner hellen, aufgeklärten Stimmung und der Distanz, aus der „das Uferlose, Stürmende, das Leben“ betrachtet wird, die Überlegung nahelegt, ob es überhaupt zu den anderen Gedichten des Knecht´schen Zyklus´ passt. An dieser Stelle soll jedoch nicht in erster Linie dieser Gedichtzyklus analysiert und interpretiert werden. Vielmehr ist das Ziel der folgenden Betrachtung exemplarisch ausgewählter Gedichtstellen, herauszufinden, an welchen Textstellen sich Bezüge zu den Gedichten herstellen lassen. Hierfür bietet sich, außer dem Kontext, den Hermann Hesse selbst im Versuch einer Lebensbeschreibung des Magister Ludi als Entstehungsgeschichte der Gedichte angibt, eine Überprüfung thematischer Parallelen an.
2.2 Die „Stimme der Natur“ und die Welt des Geistes
Ein Gedicht, das sich für eine solche Untersuchung eignet, ist das „Nach dem Lesen in der Summa contra Gentiles“. Wieso bringt Josef Knecht als fiktiver Autor die Einheit von Weisheit und Wissenschaft sowie das Streben nach Gesetz und Ordnung in Verbindung mit der Lektüre der Gottesbeweise von Thomas von Aquin? Dieses Gedicht ist, außer dem Lebenslauf „Der Beichtvater“ und dem Benediktinerorden in Mariafels, der in Hesses Roman die Funktion einer religiösen, geistlichen Gegenwelt zur kulturellen, geistigen Welt Kastaliens zukommt, die einzige weitere Stelle im Roman, an der es um Gott im Kontext der christlichen Religionen geht. Anzumerken ist dazu, dass die Passagen der Lebensbeschreibung des Magister Ludi, die vom Benediktinerorden und dessen Pater Jakobus handeln, nur scheinbar im christlich-religiösen Kontext stehen. Bei den Gesprächen zwischen Josef Knecht und Pater Jakobus geht es um – hier drängt sich ein Nietzsche-Zitat geradezu auf – den „Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“[18] oder genauer gesagt, um die Wechselbeziehungen zwischen Historie und Leben. Wie später noch zu zeigen sein wird, ist die Meinung des Pater Jakobus über diese Fragen nicht christlich, und damit religiös, sondern vielmehr philosophisch geprägt. Im Kapitel „Die Mission“ kommt es zu Gesprächen zwischen Josef Knecht und dem Benediktinerpater Jakobus. Gegenstand der Gespräche sind in erster Linie Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen dem Orden der Kastalier und der Benediktiner. Pater Jakobus fasst den Unterschied an einer Stelle folgendermaßen zusammen:
„Ihr seid große Gelehrte und Ästhetiker, ihr Kastalier, ihr messet das Gewicht der Vokale in einem alten Gedicht und setzt seine Formel zu der einer Planetenbahn in Beziehung. Das ist entzückend, aber es ist ein Spiel. Ein Spiel ist ja auch euer höchstes Geheimnis und Symbol, das Glasperlenspiel. Ich will auch anerkennen, dass ihr den Versuch macht, dies hübsche Spiel zu so etwas wie einem Sakrament zu erheben, oder mindestens zu einem Mittel der Erbauung. Aber Sakramente entstehen nicht aus solchen Bemühungen, das Spiel bleibt Spiel. [] Ihr kennt ihn nicht, den Menschen, nicht seine Bestialität und nicht seine Gottesbildschaft. Ihr kennt bloß den Kastalier, eine Spezialität, eine Kaste, einen aparten Züchtungsversuch.“[19]
Jakobus charakterisiert Kastalien als ein künstliches Produkt, das sich von der übrigen Gesellschaft absondert, ohne diese Lebensweise auf eine anthroposophische oder theologische Lehre begründen zu können.[20] Dieser Definition zufolge verwundert es, dass sich Josef Knecht als Mitglied des kastalischen Ordens während einer inneren Krise mit Thomas von Aquins Gottesbeweisen beschäftigt und sich durch die Lektüre zu einem Gedicht inspiriert fühlt. Für die Frage, welchen Rolle Gottesbeweise für die Lebensbeschreibung Josef Knechts spielen, scheint es hilfreich, den Beginn von Kapitel 13 der „Summa contra Gentiles“, „Beweisgründe dafür, daß Gott ist“, bei denen sich Thomas von Aquin auf die Argumentation des aristotelischen Gottesbeweises bezieht, näher zu betrachten.
„Alles was bewegt wird, wird von etwas anderem bewegt. Es ist aber für die Sinneswahrnehmung offenkundig, daß etwas bewegt wird, wie z.B. die Sonne. Also wird sie durch ein anderes Bewegendes bewegt. Entweder wird also jenes Bewegende (wieder) bewegt, oder nicht. Wenn es nicht bewegt wird, so haben wir das beabsichtigte Ergebnis, dass es notwendig ist, ein unbewegliches Bewegendes anzunehmen. Und dieses nennen wir Gott.“[21]
Gott ist demnach der Ursprung alles Bewegten und aller Bewegung, da er zwar zu bewegen vermag, selbst jedoch nicht bewegt ist. Damit steht Gott am Anfang der Geschichte des Lebens, zugleich jedoch außerhalb des Lebens. Geschichte und Geschichtsschreibung sind zwei zentrale Themen des Glasperlenspiels und insbesondere der Gespräche zwischen Josef Knecht und Pater Jakobus. Diese Gespräche bilden einen geistigen Hintergrund zu dem Konflikt, in den Josef Knecht in seiner Waldzeller Zeit durch die Begegnung und Auseinandersetzung mit Plinio Designori gerät. Designori ist, wie Knecht, Glasperlenspiel-Schüler in Waldzell, allerdings hat er den Status eines Hospitanten, der nicht die Absicht hat, dem Orden beizutreten. Er entwickelt sich jedoch zum beredten und rhetorisch gewandten Kritiker des Ordens, seiner Strukturen und Regeln. Während Designori die Welt außerhalb Kastaliens vertritt, sieht sich Knecht während seines Verhältnisses der „Freund-Feindschaft“[22] mit Designori veranlasst, die Gegenposition einzunehmen und sich zum Anwalt Kastaliens zu machen. Diese Aufgabe erhält Knecht auf Betreiben des Musikmeisters, dem sich Knecht in einem Brief anvertraut, auch offiziell von der kastalischen Behörde. In diesem Brief beschreibt Josef Knecht selbst seinen inneren Konflikt:
„[] Aber auch wenn Plinios respektlose Reden gar keine
Bekehrung und Beeinflussung bezwecken, bin ich ihnen gegenüber in Verlegenheit. Denn um Ihnen gegenüber, verehrter Meister, ganz aufrichtig zu sein: es tritt mir in Plinios Denkart etwas entgegen, dem ich nicht einfach mit einem Nein antworten kann, er appelliert an eine Stimme in mir, die zuweilen sehr dazu neigt, ihm recht zu geben. Vermutlich ist es die Stimme der Natur, und sie steht zu meiner Erziehung und der uns geläufigen Anschauungsweise in grellem Widerspruch.“[23]
Josef Knecht gesteht sich selbst und dem Musikmeister gegenüber die Verlockung ein, die für ihn in den Argumenten Plinio Designoris liegt. Er erkennt in ihr die „Stimme der Natur“, zu der die kastalische Denkweise, Knechts Ansicht zufolge, im Widerspruch steht. Zu der Frage, was sich hinter dem Begriff der „Stimme der Natur“ verbirgt, ist festzustellen, dass es sich, gemäß der Definition Thomas von Aquins, dabei nicht um die Stimme Gottes handelt, da Gott und Natur zwei verschiedene Dinge seien. In der „Summa contra Gentiles“ setzt Thomas von Aquin Natur im Kontext des an beziehungsweise aus sich Bewegten mit der menschlichen Seele gleich. Da die menschliche Seele Teil des Lebewesens Mensch ist, hängt die Bewegung des Lebewesens von der Bewegung der Seele ab und umgekehrt.[24] Damit steht es im Widerspruch zu dem „unbeweglichen Bewegenden“, als das Thomas von Aquin Gott beschreibt. Für die Frage, in welchem Zusammenhang die Lektüre der „Summa contra Gentiles“ und die Krise Josef Knechts stehen, ergibt sich daraus, dass zumindest eine unmittelbare Suche Josef Knechts nach Gott nicht angenommen werden kann. Vielmehr ist Knecht, angeregt durch die Stimme der Natur, die er in seinem Inneren vernimmt, auf der Suche nach dem, was sich hinter der Natur und dem Reiz, den sie auf ihn ausübt, verbirgt. Eine genaue Betrachtung des Gedichts „Nach dem Lesen in der Summa contra Gentiles“ zeigt, wie Josef Knecht dort die Begriffe Gott und Natur miteinander verbindet und gleichzeitig zu seiner Rezeption des Textes von Thomas von Aquin in Bezug setzt.
„[] Ach, und sooft wir in des Aquinaten
Wohl abgemeßnen Summentempel traten,
So schien uns eine Welt der reifen, süßen,
Der lautern Wahrheit ferneher zu grüßen:
Alles schien dort so licht, Natur von Geist durchwaltet,
Von Gott her zu Gott hin der Mensch gestaltet,
Gesetzt und Ordnung formelschön verkündet,
Zum Ganzen alles ohne Bruch geründet. []“[25]
Josef Knecht entwickelt hier eine pantheistische Weltsicht, in der die Natur vom Geist durchdrungen ist und Gott sowohl der Ursprung wie das Ziel des menschlichen Lebens ist. Durch das klagende „ach“ im ersten der zitierten Verse und durch die Abgrenzung des Autors von dem beschriebenen Einklang von Gott, Geist und Natur durch das Verwendete Präteritum wird deutlich, dass der Verfasser dem Beschriebenen nachtrauert und es in seiner Gegenwart vermisst. Die Krise Josef Knechts ist somit eine Krise des Bewusstwerdens über den Verlust von Ganzheit, die ein System darstellt, in der der Mensch, der in all seinem Tun auf Gott ausgerichtet ist, seinen festen Platz und seine festen Aufgaben hat und alle Teile dieses Systems durch einen einheitlichen, übergeordneten Sinn ihre Rechtfertigung erhalten. Als übergeordnet kann dieser Sinn daher gelten, dass, wie bereits festgestellt wurde, Gott bei Thomas von Aquin eine Sonderstellung als „unbewegliches Bewegendes“ zukommt, die ihn von dem beweglichen Bewegenden unterscheidet. Diese Beobachtung legt den Schluss nahe, dass die Suche nach sinnstiftender Ganzheit den Kern der Krise Josef Knechts bildet, wobei Gott, in der Weise, wie er in Thomas von Aquins „Summe contra Gentiles“ beschrieben wird, lediglich das Angebot einer möglichen Antwort auf die Sinnfrage darstellt, mit dem sich Knecht durch seine Lektüre dieses Textes auseinandersetzt. Josef Knecht benennt in seinem Gedicht den Gegenstand seines Konflikts mit den Begriffen Drang und Sehnsucht und charakterisiert die Aufgabe der „Späteren“, zu denen er auch sich selber zählt, wie der Kollektivplural „wir“ zeigt, als zu Kampf und Zweifel verdammt.[26] Interessant ist dabei, dass in dem Gedicht „Nach dem Lesen in der Summa contra Gentiles“ kein ausschließlich persönliches Problem Josef Knechts thematisiert wird, sondern eine Krise, die ein kollektives „Uns“ und damit eine Gruppe betrifft. Ist damit, was nahe liegen würde, die Gemeinschaft der Glasperlenspieler gemeint? Dieser Vermutung widerspricht, dass Josef Knecht als Form der Auseinandersetzung mit diesem von ihm erkannten Problem das Schreiben eines Gedichts anstatt einer offenen Diskussion wählt. In Anlehnung an die Einleitung des „Glasperlenspiels“ ist hier ebenfalls die Einbeziehung des Lesers denkbar, dessen Perspektive mit der des Autors zum „Wir“ verschmolzen wird. In dem Gedicht „Nach dem Lesen in der Summa contra Gentiles“ sieht sich das „Wir“ in eine historische Ordnung gestellt, die er anhand der Generationenfolge der „Alten“, der „Späteren“, zu denen sich der fiktive Autor Knecht selbst zählt, und deren „Enkel“ beschreibt.[27] In dieser Generationenfolge nimmt der Autor also eine Perspektive in der Mitte ein, welche ein Bewusstsein für das Leben vor und nach seinem eigenen Leben schafft. In der vorletzten Strophe werden Überlegungen dahingehend angestellt, wie die Menschen in die Zeit nach ihrem Leben hinein wirken und der Jugend als Vorbild dienen können. Thematisiert wird dabei die Verklärung der Vergangenheit, die als eine Eigenschaft dargestellt wird, die den Vertretern verschiedener Generationen und somit allen Menschen, egal in welcher Zeit sie leben, gemeinsam ist. Dementsprechend schlussfolgert der Autor des Gedichts in dessen letzten Strophe, dass nicht das Individuum, sondern einzig dessen Geist die Zeit, oder, um es mit den Worten des Gedichts auszudrücken, „alle[] Zeiten“ überdauern wird.[28]
„Denn auch in uns lebt Geist vom ewigen Geist,
Der aller Zeiten Geister Brüder heißt:
Er überlebt das Heut, nicht Du und Ich.“[29]
Diese Verse setzen Zeit und Ewigkeit in ein Verhältnis, in dem die Individuen, hier exemplarisch als „Du“ und „Ich“ angesprochen, nur im Heute, also in ihrem begrenzten, endlichen Leben existieren. Die Individuen sind demnach zeitliche Wesen, die vergänglich sind. Dagegen wird der Geist der Ewigkeit zugeordnet und somit für unsterblich erklärt.
3. Geschichte und Geschichtsschreibung
3.1 Das Verhältnis Kastaliens zur Weltgeschichte
Der Tod wird im „Glasperlenspiel“ nicht als körperlicher Verfall und Verwesung, sondern als ein Zustand jenseits des Hin- und Hergerissenseins zwischen Glück und Elend dargestellt. Tod ist demnach eine geistige Kategorie, ebenso wie die Geburt beziehungsweise die Wiedergeburt. Für seine Darstellung nutzt Hermann Hesse im „Glasperlenspiel“ die Eigenschaft des Erzählens, zwischen verschiedenen Perspektiven wechseln sowie Zeit und Raum aufheben beziehungsweise frei gestalten zu können. Welches Verhältnis besteht im „Glasperlenspiel“ zwischen Erleben und Erzählen? Um diese Frage zu beantworten, scheint es hilfreich, sich die literarische Form in Erinnerung zu rufen, die Hermann Hesse für die Erzählungen im „Glasperlenspiel“ wählt: Die Form der Biographie. Die Biographie bietet als eine besondere Form der Geschichtsschreibung die Möglichkeit, Erlebtes isoliert von einem vorgegebenen zeitlichen Ablauf zu betrachten und durch diese Betrachtung in Erkenntnis zu verwandeln.[30] In der durch den Tod Josef Knechts ausgelösten Verwandlung Tito Designoris eine Wiedergeburt Knechts in Tito zu sehen, ist nur außerhalb eines zeitlich-linearen Ablaufs möglich. In der Erzählung ordnet der Autor das Geschehen fiktiv an. Dies ist keine Besonderheit des „Glasperlenspiels“, sondern ein allgemeines Vorgehen bei literarischer Produktion, insbesondere wenn ein geschichtlicher beziehungsweise im Fall der Biographie lebensgeschichtlicher Bezug vorliegt. Besonders ist im „Glasperlenspiel“ jedoch, dass der Vorgang der Geschichtsschreibung, also die geistige Reflexion und Kontemplation vergangenen Geschehens zum Zweck einer Anordnung desselben nach bestimmten Kriterien, explizit thematisiert wird. Dies geschieht bei Josef Knechts Aufenthalten im Benediktinerkloster Mariafels. Hermann Hesse hat Josef Knecht für diesen Teil der Handlung mit Pater Jakobus eine Figur zur Seite gestellt, die, ähnlich der des Musikmeisters, einen älteren Mann mit gefestigtem, starkem Charakter darstellt. Die fiktive Figur des Pater Jakobus hat Hesse stark am Vorbild des Historikers Jacob Burckhardt orientiert, worauf der Autor in autobiographischen Zeugnissen selbst hinweist.[31] Der Einfluss Jakob Burckhardts war für Hermann Hesses gesamtes Leben prägend, er selbst dem Historiker „mit Vertrauen, Ehrfurcht und dankbarer Jüngerschaft zugetan“.[32] Im Unterschied zu dem Verhältnis zwischen Josef Knecht und dem Musikmeister, in dem Knecht stets die Schüler- und der Musikmeister stets die Lehrerrolle spielte, wechseln die Schüler- und Lehrerrolle im Verhältnis zwischen Josef Knecht und Pater Jakobus. Josef Knecht unterweist Pater Jakobus in „das Wesen des Ordens und des kastalischen Systems“[33]. Pater Jakobus fügt der Entstehungsgeschichte des kastalischen Ordens, die er von Josef Knecht erfährt, die weltgeschichtlichen Hintergründe hinzu und ordnet sie so in den weltgeschichtlichen Kontext ein. Ihm kommt in den Dialogen mit Josef Knecht die Funktion zu, dessen weitgehend kastalisch geprägte Denken und Wissen zu relativieren und in Frage zu stellen. Die Funktion, die Hermann Hesse der Figur des Pater Jakobus in seiner Erzählung zuweist, erinnert an die Figur Plinio Designoris, der in Streitgesprächen als weltlicher Vertreter einen Gegenpol zu Josef Knechts kastalischen Ansichten bildet. Pater Jakobus bildet ebenfalls einen Gegenpol zu Josef Knecht. Allerdings ergänzen sich Jakobus und Knecht, während sich Knecht und Plinio voneinander abgrenzen. Zwar empfindet Josef Knecht „wie jeder Kastalier ein heimliches Gelüst“[34], mehr von der Welt außerhalb Kastaliens, die Plinio repräsentiert, zu erfahren. Knecht hat das Gefühl, „dass ihn bei diesem anderen etwas Wichtiges erwarte, ein Erkenntnis, eine Aufklärung, vielleicht auch eine Versuchung und Gefahr, jedenfalls, etwas, was es zu bestehen galt“[35]. Allerdings bemerkt Knecht damit nur das Gefühl der Verlockung des Unbekannten und Anderen, ohne dieses Gefühl jedoch in eine geistige Erkenntnis verwandeln zu können. Denn sich zu Plinios Welt zu bekennen, „hieße ja, mich zur Untreue verführen und mein Leben zerstören, das nun einmal in Kastalien verwurzelt ist“[36]. Für Josef Knecht ist es keine Frage, dass er nach Kastalien gehört.[37] Die Begegnung mit der Welt Plinio Designoris, gegen die er, seiner Aufgabe entsprechend, die kastalische Welt verteidigt, weckt in Josef Knecht Unruhe und Zweifel, die ihn dazu veranlassen, die Gedichte zu schreiben. Ebenso ist die Anstrengung, die es Knecht kostet, die kastalische Welt gegen die nichtkastalische Welt zu verteidigen, Gegenstand des Gesprächs zwischen Knecht und dem Magister Musicae, in dem dieser seinem Schüler zur Meditation rät, um die Müdigkeit und Zermürbung zu überwinden und wieder „auf den normalen Weg zurückzukehren“[38]. Interessant ist, dass der Erzähler bereits an dieser Stelle explizit einen Bezug der Geschichte Kastaliens zur Weltgeschichte herstellt.
„Nein, jene Plinio-Welt war nicht die bessere und richtigere. Aber sie war da, es gab sie, und sie war, wie er aus der Weltgeschichte wusste, immer dagewesen und immer ähnlich gewesen wie heute. [] Die große Mehrzahl aller Menschen auf der ganzen Erde lebte anders, als man in Kastalien lebte, einfacher, primitiver, gefährlicher, unbehüteter, ungeordneter. [] es gab neben und über ihr die zweite Welt, die kastalische, die geistige, eine künstliche, eine geordnete, geschütztere, aber der beständigen Aufsicht und Übung bedürftige Welt, die Hierarchie. [] Warum nur lebten die beiden Welten anscheinend nicht harmonisch und brüderlich neben- und ineinander, warum konnte man sie nicht beide in sich hegen und vereinen?“[39]
Josef Knecht bemerkt auf dieser Stufe seines Lebens die Existenz der beiden Welten. Ebenso stellt er fest, dass er nicht nur die kastalische, sondern auch, wie jeder Menschen, die primitive Welt in sich hat.[40] Diese Feststellung weckt in ihm den Wunsch, beide Welten „in sich [zu] hegen und [zu] vereinen“[41], was jedoch, wie Knecht meint, nicht möglich sei.[42] Josef Knecht erkennt auf dieser Stufe seines Lebens zwei Pole, die an Yin und Yang erinnern. Allerdings bleibt dieses Zeichen der chinesischen Mystik, in dem zwei Pole durch den sie umspannenden Kreis und die sie trennende fließende Linie zu einer Einheit werden, unvollständig, da Josef Knecht zwar die Pole erkennt, jedoch keinen Weg sieht, diese zu einer Einheit zu verbinden. Der Musikmeister bestätigt Knechts Beobachtung zweier Pole, als er diesen in die Meditation einführt. Allerdings formuliert der Musikmeister einen theoretischen Anspruch, den Josef Knecht nicht versteht. Er solle die Gegensätze richtig erkennen, aber nicht vergessen, dass diese nicht nur Gegensätze, sondern auch Teile einer Einheit seien.[43] Josef Knecht findet in diesem Satz des Musikmeisters keine Antwort auf seinen Wunsch nach der brüderlichen Koexistenz und Vereinigung der beiden Pole. Er ist stattdessen in seiner Suche nach der einen Wahrheit und der einen „echten und gültigen Lehre“ noch mehr verunsichert. Der Musikmeister rät ihm, statt eine vollkommenen Lehre zu suchen, sich um die Vervollkommnung seiner selbst zu bemühen.[44]
3.2 „Das eigene Leben als geschichtliche Wirklichkeit sehen“:
Josef Knecht als Geschichtsstudent
Hermann Hesse deutet an dieser Stelle eine Fortsetzung des Yin-und-Yang-Themas an, da er den Schüler Josef Knecht ohne die vom Magister Musicae angesprochene Erkenntnis zurück lässt und den Dialog zwischen beiden mit einer Prophezeiung des Musikmeisters beendet: „Mache dich auf Kämpfe gefasst, Josef Knecht, ich sehe wohl, sie haben schon begonnen“[45]. Diese Fortsetzung entwickelt Hermann Hesse in mehreren Stufen bis hin zu Knechts Tod. Eine dieser Stufen stellen die Gespräche zwischen Josef Knecht und Pater Jakobus dar. Josef Knecht bezeichnet sie selbst als „eine neue Stufe auf jenem Weg des Erwachens, als den er sein Leben betrachtete“[46]. In den Gesprächen zwischen Josef Knecht und Pater Jakobus realisiert sich der Satz des Magister Musicae, dass Wahrheit nicht doziert, sondern gelebt wird.[47] Dies zeigt sich unter anderem in dem Kommentar des Erzählers, wonach Knecht „durch den Pater [] die Gesetzlichkeiten und Widersprüchlichkeiten des Geschichtsstudiums und der Geschichtsschreibung kennen und [] das eigene Leben als geschichtliche Wirklichkeit sehen“[48] lernte. Wie bereits festgestellt wurde, unterscheidet sich das Verhältnis Knechts zum Musikmeister von seinem Verhältnis zu Pater Jakobus darin, dass sich bei ersterem Verhältnis die Rollenverteilung, die Knecht die Schüler- und dem Magister Musicae die Lehrerrolle zuschreibt, nicht ändert. Hingegen wechselt bei zweiterem Verhältnis die Verteilung der Schüler- und der Lehrerrolle zwischen Josef Knecht und Pater Jakobus hin und her. Dadurch kommt ein lebendiger Austausch zustande, in dem beide den jeweils anderen als Ergänzung ihrer selbst betrachten. In dem Wechsel der Schüler-Lehrerrolle und der dadurch erreichten Ergänzung beider, in Bezug auf die Welt des jeweils anderen unwissenden Gesprächspartners kann man das Symbol Yin und Yang verwirklicht sehen. Josef Knecht und Pater Jakobus bilden bei ihren Gesprächen eine Einheit, wobei sie trotzdem ihre Gegensätze bewahren. Was Josef Knecht bei Pater Jakobus lernt, lernt er nicht, indem es Pater Jakobus doziert, sondern indem er sich selbst damit auseinandersetzt und durch diese argumentative Auseinandersetzung selbst Erkenntnisse gewinnt. Interessant ist, dass der Erzähler hier ausdrücklich an die Prophezeiung des Magister Musicae, dass Josef Knecht Kämpfe bevorstünden, anknüpft, indem er die Gespräche zwischen Knecht und Pater Jakobus als „Disputationen, Angriffe[] und Rechtfertigungen“[49] bezeichnet. Das Thema, um das es dabei geht, ist das Verhältnis zwischen menschlichem Leben und Historie, d.h. zwischem dem menschlich-individuellen Erleben und dem gleichermaßen produktiven wie rezeptiven Prozess der Geschichtsschreibung und des Geschichtsstudiums. Dieses Verhältnis ist ein Verhältnis der Wandlungen und weckt Assoziationen an die chinesische Mystik und insbesondere an das I Ging. Geschichte besteht demnach aus Wandlungen, bei denen Gegenwärtiges in Vergangenes verwandelt wird.[50] Das Prinzip des „Stirb und Werde“ wird hier erneut deutlich. In Form zweier Pole stehen sich das Geschichtsstudium und die Geschichtsschreibung auf der einen sowie „die Gegenwart und das eigene Leben als geschichtliche Wirklichkeit“[51] auf der anderen Seite gegenüber. Dem Menschen kommt in der Geschichtsauffassung, die Pater Jakobus vertritt, die Aufgabe zu „Geschichte zu treiben“, das heißt Ordnung in die Geschichte zu bringen.[52] Allerdings ist das ordnende Eingreifen des Menschen in die Geschichte für Pater Jakobus an den „geschichtlichen Sinn“[53] gebunden, ohne den Geschichte „ohne Blut und Wirklichkeit“[54] sei. Pater Jakobus formuliert seine Auffassung, Geschichte zu treiben, als Verbindung zweier Gegensätze und weist dabei selbst auf die scheinbare Paradoxie hin, die in seiner Aussage steckt.
„Geschichte treiben setzt das Wissen darum voraus, daß man damit etwas Unmögliches und dennoch Notwendiges und höchst Wichtiges anstrebt. Geschichte treiben heißt: sich dem Chaos überlassen und dennoch den Glauben an die Ordnung und den Sinn bewahren.“[55]
Hinter dem Geschichtsverständnis des Pater Jakobus verbirgt sich das Geschichtsverständnis Jacob Burckhardts, das Hermann Hesse teilweise sogar zitiert.[56] Der Ausgangspunkt für „Weltgeschichtliche Betrachtungen“ ist bei Jacob Burckhardt der Mensch, den dieser als die einzige Konstante innerhalb der Geschichte ansieht.[57] Burckhardt formuliert das „Thema der Geschichte“ als zwei Seiten „ein[es] große[n], für uns unermessliche[n] Ganze[n]“.[58] Diese beiden Seiten sind zum einen Wandlung und Vergänglichkeit, welche Burckhardt die geschichtliche Seite nennt, und zum anderen Unvergänglichkeit, welche er als geistige Seite bezeichnet.[59] Das Historische ist somit vergänglich, das Geistige jedoch unvergänglich. Wesentlich für das Burckhardtsche Geschichtsverständnis und damit für das Geschichtsverständnis, das Pater Jakobus im „Glasperlenspiel“ vertritt, ist, dass der Mensch den Fixpunkt bildet, von dem aus Geschichte betrachtet wird. Da die Perspektive, aus der Geschichte betrachtet wird, somit eine individuelle ist und das Individuum gleichsam den Mittelpunkt der Geschichte bildet, ist eine Betrachtung von Geschichte unter philosophischen beziehungsweise ideologischen Kriterien nicht möglich.
„Wir verzichten ferner auf alles Systematische; wir machen keinen Anspruch auf ‚weltgeschichtliche Ideen’, sondern begnügen uns mit Wahrnehmungen und geben Querdurchschnitte durch die Geschichte, und zwar in möglichst vielen Richtungen; wir geben vor allem keine Geschichtsphilosophie.“[60]
Jakob Burckhardt kritisiert die chronologische Vorgehensweise der Geschichtsphilosophie mit dem Ziel „zu einem allgemeinen Programm der Weltentwicklung durchzudringen, meist in höchst optimistischem Sinne“.[61] Anstatt das Vergangene als Gegensatz und als Vorstufe zu dem heutigen weiter entwickelten Menschen zu sehen, wie es beispielsweise Hegel mit seinem „kecken Antizipieren eines Weltplans“[62] tut, fordert Jacob Burckhardt das sich Wiederholende „als ein in uns Anklingendes und Verständliches“ zu sehen.[63] Die Konsequenz aus der Betrachtung von Geschichte als etwas Zyklischem, Sich-Wiederholendem ist eine Beziehung zwischen Geschichtlichem und Geistigem, das heißt zwischen Sich-Wandelndem und Unwandelbarem, bei der dem Geist die Aufgabe zukommt, das Zeitliche, Sich-Wandelnde „ideal aufzufassen“ und den Jubel und Jammer des eigenen Erlebens in Erkenntnis zu verwandeln.[64] Stellt man die Frage nach der Funktion der Gespräche zwischen Josef Knecht und Pater Jakobus, so stellt man fest, dass diese einerseits die bisherige Erzählung reflektieren und andererseits auf die weitere Entwicklung der Erzählung vorausdeuten. Damit vollzieht Hermann Hesse eben diese Verwandlung des eigenen Erlebens in geistige Erkenntnis, wie sie Jacob Burckhardt fordert, in der Entwicklung der Hauptfigur seines Romans Josef Knecht. Durch die räumliche und gedankliche Distanz zu Kastalien, vor allem aber durch den Einfluss des Pater Jakobus lernt Josef Knecht eine andere als die kastalische Welt kennen. Eine solche nichtkastalische Welt wurde ihm durch Plinio Designori bereits vor Augen geführt. Allerdings bemerkte Knecht durch seine Gespräche mit diesem lediglich den Unterschied zwischen der kastalischen und der nichtkastalischen Welt, ohne jedoch eine Möglichkeit zu sehen, seinem Bedürfnis, diese beiden Welten miteinander zu vereinen, nachzukommen. In einem Erzählerkommentar erfährt der Leser etwas „über die andere Seite von Knechts Klosterleben“.[65] Dieser Erzählerkommentar, mit dem der Autor als „ein[em] der Erzählung etwas vorgreifende[n] Wort“[66] die biographische Schilderung unterbricht, richtet sich direkt an den Leser[67].
[...]
[1] Hesse, Hermann: Das Glasperlenspiel. Versuch einer Lebensbeschreibung des Magister Ludi Josef Knecht. Frankfurt am Main 2003. Künftig zitiert als: Hesse, Hermann. Das Glasperlenspiel. S. 9
[2] Vgl. ebd. S. 12
[3] Vgl. z.B. ebd. S. 9
[4] Vgl. ebd. S. 10
[5] Vgl. ebd. S. 11
[6] Vgl. ebd. S. 12
[7] Ebd.
[8] Vgl. ebd.
[9] Vgl. ebd. S. 10
[10] Vgl. ebd.
[11] Vgl. ebd. S. 111
[12] Vgl. ebd. S. 103
[13] Vgl. ebd. S. 104
[14] Ebd. S. 452
[15] Vgl. ebd. S. 454 f.
[16] Luk. 2, 1
[17] Hesse, Hermann: Das Glasperlenspiel. S. 449
[18] Vgl. Nietzsche, Friedrich: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben. Stuttgart 1999
[19] Hesse, Hermann: Das Glasperlenspiel. S. 187 f.
[20] Vgl. ebd. S. 188
[21] Thomas von Aquin: Die Gottesbeweise in der „Summe gegen die Heiden“ und in der „Summe der Theologie“. Text mit Übersetzung, Einleitung und Kommentar. Hg. v.: Horst Seidel. Hamburg 1986. S. 15
[22] Vgl. Hesse, Hermann: Das Glasperlenspiel. S. 90
[23] Ebd. S. 93 f.
[24] Vgl. Thomas von Aquin: Die Gottesbeweise in der „Summe gegen die Heiden“ und in der „Summe der Theologie“. Text mit Übersetzung, Einleitung und Kommentar. Hg. v.: Horst Seidel. Hamburg 1986. S. 17 ff.
[25] Hesse, Hermann: Das Glasperlenspiel. S. 449
[26] Vgl. ebd.
[27] Vgl. ebd. S. 448 f.
[28] Vgl. ebd. S. 449
[29] Ebd.
[30] Vgl. Burckhardt, Jacob: Weltgeschichtliche Betrachtungen. In: Ganz, Peter (Hrsg.): Jacob Burckhardt: Aesthetik der bildenden Kunst. Über das Studium der Geschichte. Mit dem Text der „Weltgeschichtlichen Betrachtungen“ in der Fassung von 1905. München 2000. S. 349-554. Hier S. 359
[31] Vgl. Brief Hermann Hesses an Robert Faesi. Zitiert nach Michels, Volker (Hrsg.): Materialien zu Hermann Hesses „Das Glasperlenspiel“. Erster Band. Texte von Hermann Hesse. Frankfurt 1973. S. 232
[32] Vgl. Zeller, Bernhard: Hermann Hesse. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek bei Hamburg 1963. S. 40
[33] Hesse, Hermann: Das Glasperlenspiel. S. 194
[34] Ebd. S. 90
[35] Ebd. S. 93
[36] Ebd.
[37] Vgl. ebd. S. 97
[38] Ebd. S. 100
[39] Ebd. S. 97 f.
[40] Vgl. ebd. S. 98
[41] Ebd.
[42] Vgl. ebd.
[43] Vgl. ebd. S. 79
[44] Vgl. ebd. S. 81
[45] Vgl. ebd.
[46] Ebd. S. 166
[47] Vgl. ebd. S. 81
[48] Ebd. S. 166
[49] Ebd. S. 166
[50] Vgl. Bitterli, Urs: Jacob Burckhardt und Hermann Hesse – Spuren einer Geistverwandtschaft. In: Zimmermann, Eva (Hrsg.): „Der Dichter sucht Verständnis und Erkanntwerden“. Neue Arbeiten zu Hermann Hesse und seinem Roman Das Glasperlenspiel. Bern, Berlin, Bruxelles 2002. S. 23-42. Hier S. 24
[51] Hesse, Hermann: Das Glasperlenspiel. S. 166
[52] Vgl. ebd. S. 167
[53] Ebd. S. 166
[54] Ebd. S. 167
[55] Ebd.
[56] Vgl. Bitterli, Urs: Jacob Burckhardt und Hermann Hesse – Spuren einer Geistverwandtschaft. In: Zimmermann, Eva (Hrsg.): „Der Dichter sucht Verständnis und Erkanntwerden“. Neue Arbeiten zu Hermann Hesse und seinem Roman Das Glasperlenspiel. Bern, Berlin, Bruxelles 2002. S. 23-42. Hier S. 37
[57] Vgl. Burckhardt, Jacob: Weltgeschichtliche Betrachtungen. In: Ganz, Peter (Hrsg.): Jacob Burckhardt: Aesthetik der bildenden Kunst. Über das Studium der Geschichte. Mit dem Text der „Weltgeschichtlichen Betrachtungen“ in der Fassung von 1905. München 2000. S. 349-554. Hier S. 356
[58] Vgl. ebd. S. 357
[59] Vgl. ebd.
[60] Ebd. S. 354
[61] Vgl. ebd. S. 355
[62] Ebd.
[63] Vgl. ebd. S. 356
[64] Vgl. ebd. S. 359
[65] Hesse, Hermann: Das Glasperlenspiel. S. 172
[66] Ebd. S. 170
[67] Vgl. ebd. S. 172
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- M.A. Christoph Müller (Author), 2005, Polarität und Ganzheit - Das Prinzip des 'Stirb und Werde' in Hermann Hesses 'Glasperlenspiel', Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/68577
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