Die vorliegende Arbeit wird sich mit der Erzählung „Die Verwandlung“ von Franz Kafka beschäftigen. Dabei wird die Frage zu beantworten sein, ob es hierarchische Strukturen unter den Figuren auf der familiären bzw. betrieblichen Ebene in der Erzählung gibt. Dabei soll auch der entstehungsgeschichtliche Hintergrund berücksichtigt und in Analyse mit einbezogen werden: Das im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert in Deutschland gerade entstehende Angestelltentum ist durch autoritäre betriebliche Hierarchiestrukruren gekennzeichnet. Ständige Existenzängste, große Angst vor der Arbeitslosigkeit und der damit verbundene Existenzverlust trieb viele Angestellte in eine Situation der Unterwürfigkeit vor Vorgesetzten und hatte oft vollständige Selbsterniedrigung zur Folge. Diese Selbsterniedrigung und der Druck der Arbeitswelt führte zum Ichverlust und oft zur völligen Anonymisierung des Individuums. Neben der betrieblichen Hierarchie gab es auch in den bürgerlichen Kleinfamilien dieser Zeit Hierarchiestrukturen, die vom Vater als pater familias an der Spitze angeführt wurden und in der die übrigen Familienmitglieder eine unterordnende Position einnahmen. Dieser geschichtliche Hintergrund regt dazu an, Spuren einer hierarchischen Ordnung in der „Verwandlung“ zu suchen und den historischen Tatsachen folgend zu analysieren. Auch die Sekundärliteratur, die sich mit der Erzählung „Die Verwandlung“ bzw. dem entstehungsgeschichtlichen Hintergrund beschäftigt, wird kritisch zu prüfen sein, für die Analyse zu berücksichtigen und zur Kenntnis zu nehmen sein. Diese Hausarbeit hat den Anspruch, einen Teil der hierarchischen Strukturen unter den Figuren im familiären bzw. betrieblichen Bereich in der „Verwandlung“ darzustellen und zu analysieren. Außerdem soll sie versuchen, eine Antwort darauf geben, welche Bedeutung diesen hierarchischen Strukturen für die Verwandlung der Figur des Gregor Samsa in ein Ungeziefer beigemessen werden kann.
Inhaltsverzeichnis
I. Einleitung
II: Hauptteil
1. Macht und Hierarchie bei den Angestellten
1.1. Definition des Angestelltenbegriffs und Darstellung der Macht- und Hierarchiestrukturen im Angestelltenmilieu
1.2. Hierarchie im Arbeitsleben bei den Figuren in Kafkas „Verwandlung“
1.2.1. Gregor
1.2.2. Der Chef
1.2.3. Der Prokurist
2. Hierarchie in der Familie
2.1. Historischer Hintergrund: Hierarchische Strukturen in der bürgerlichen Familie
2.2. Macht und Hierarchie bei den Figuren in Kafkas „Verwandlung“
2.2.1. Gregor
2.2.2. Der Vater
2.2.3. Die Schwester Grete
2.2.4. Die Mutter
2.2.5. Die drei Herren
3. Das zentrale Angstbild in der „Verwandlung“
4. Die Erzählperspektive
III. Zusammenfassung
IV. Literaturverzeichnis
Primärquelle:
Sekundärliteratur:
Verwendete Lexika:
I. Einleitung
Die vorliegende Arbeit wird sich mit der Erzählung „Die Verwandlung“ von Franz Kafka beschäftigen. Dabei werde ich die Frage zu beantworten versuchen, ob es hierarchische Strukturen unter den Figuren auf der familiären bzw. betrieblichen Ebene in der Erzählung gibt. Dabei werde ich auch den entstehungsgeschichtlichen Hintergrund berücksichtigen und in meine Analyse mit einbeziehen: Das im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert in Deutschland gerade entstehende Angestelltentum ist durch autoritäre betriebliche Hierarchiestrukruren gekennzeichnet. Ständige Existenzängste, große Angst vor der Arbeitslosigkeit und der damit verbundene Existenzverlust trieb viele Angestellte in eine Situation der Unterwürfigkeit vor Vorgesetzten und hatte oft vollständige Selbsterniedrigung zur Folge. Diese Selbsterniedrigung und der Druck der Arbeitswelt führte zum Ichverlust und oft zur völligen Anonymisierung des Individuums. Neben der betrieblichen Hierarchie gab es auch in den bürgerlichen Kleinfamilien dieser Zeit Hierarchiestrukturen, die vom Vater als pater familias an der Spitze angeführt wurden und in der die übrigen Familienmitglieder eine unterordnende Position einnahmen. Dieser geschichtliche Hintergrund hat mich dazu geführt, Spuren einer hierarchischen Ordnung in der „Verwandlung“ zu suchen und den historischen Tatsachen folgend zu analysieren. Auch die Sekundärliteratur, die sich mit der Erzählung „Die Verwandlung“ bzw. dem entstehungsgeschichtlichen Hintergrund beschäftigt, werde ich kritisch prüfen, für meine Analyse berücksichtigen und zur Kenntnis nehmen. Diese Hausarbeit hat den Anspruch, einen Teil der hierarchischen Strukturen unter den Figuren im familiären bzw. betrieblichen Bereich in der „Verwandlung“ darzustellen und zu analysieren. Außerdem soll sie versuchen eine Antwort darauf geben, welche Bedeutung diesen hierarchischen Strukturen für die Verwandlung der Figur des Gregor Samsa in ein Ungeziefer beigemessen werden kann.
II: Hauptteil
1. Macht und Hierarchie bei den Angestellten
1.1. Definition des Angestelltenbegriffs und Darstellung der Macht- und Hierarchiestrukturen im Angestelltenmilieu
Die Angestelltenschicht im 1871 gegründeten deutschen Reich entwickelte sich im Laufe der siebziger und achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts[1] als neue soziale Schicht und gewann zunehmend an Bedeutung um die Jahrhundertwende.
Die Angestellten unterschieden sich von den Industriearbeitern: Im Gegensatz zu diesen körperlich arbeitenden Proletariern gingen sie kaufmännischen und koordinierenden Arbeiten im Betrieb nach. Mit der eigentlichen Produktion hatten sie nichts zu tun, sie verwalteten und koordinierten die Arbeit auf der unteren und mittleren Ebene. Sie bekamen meist höhere Löhne als gelernte Arbeiter und arbeiteten in sauberen Büros, die auch räumlich von denen der Arbeiter abgetrennt waren.[2] Mit der zunehmenden Zahl der Arbeiter wurde auch eine komplexere Verwaltung der Betriebe notwendig, was Aufgabe der Angestellten war.[3] So entwickelten sie ein gemeinsames Zusammengehörigkeitsgefühl als Teil des kleinbürgerlichen Mittelstandes: Es bildete sich eine „,ideologisch elitäre“‘[4] Selbstabgrenzung von anderen Gesellschaftsschichten heraus. Die Unternehmer hatten ein besonderes Interesse daran, dass die Angestellten das immer selbstbewusster werdende Proletariat wirksam kontrollierten und somit das ,„Rückgrat der Unternehmer“‘[5] stärkten. Aber trotzdem die Angestellten finanziell und gesellschaftlich einen höheren Status als die Arbeiter genossen, war ihr Arbeitsplatz keineswegs sicher: In wirtschaftlichen Krisen konnten sie ebenso entlassen werden wie die Arbeiter.[6] Letztlich waren auch sie Abhängige des Unternehmers. Dass auch sie nur ihre eigenen Fähigkeiten und Kenntnisse dem Arbeitgeber anbieten konnten, hatten sie mit den Arbeitern gemein.[7] Sie traten in ein Konkurrenzverhältnis mit anderen Angestellten. Darüber hinaus arbeiteten Arbeiter und Angestellte „für den Profit der anderen“.[8] Der Unternehmer konnte entlassen und einstellen. Er hatte also die Macht über die Existenz der Angestellten. Um diese zu sichern, musste sich der Angestellte in die hierarchischen Strukturen einfügen.[9] Viele Angestellte profilierten sich vor allem in wirtschaftlichen Krisen vor dem Arbeitgeber, indem sie gegenüber niedriger gestellten Angestellten autoritär auftraten, wobei Konflikte unter den Angestellten entstanden. Damit wollten sie ihre eigene Tüchtigkeit und Loyalität zu dem Unternehmer unter Beweis stellen. Die Angestellten zogen, wo immer sie konnten, klare hierarchische Grenzen. Letztlich waren sie aber der Autorität des Unternehmers untergeordnet.[10] Jeder Vorgesetzte war Unterdrückender und Unterdrückter selbst, der Kollegen unter sich kontrollierte und sich selbst einem Vorgesetzten unterordnen musste.
1.2. Hierarchie im Arbeitsleben bei den Figuren in Kafkas „Verwandlung“
1.2.1. Gregor
Gregor Samsa ist von seiner Arbeitsstelle, er arbeitet als Handelsreisender in einem Geschäft für Tuchwaren, in hohem Maß eingenommen, sie ist Hauptteil seines Lebens. Seine Freizeit nutzt er nicht aus, sondern „liest die Zeitung oder studiert Fahrpläne“[11], was neben Laubsägearbeiten seine einzigen Beschäftigungen sind, denen er außerhalb des Arbeitslebens nachgeht. Als Gregor in ein Ungeziefer verwandelt aufwacht, wurde zuvor sein Schlaf von „unruhigen Träumen“ (S. 115) begleitet. Dies könnte einen Hinweis darauf geben, wie sehr ihn seine Arbeit beschäftigt: Sie lässt ihn nicht los, sondern verfolgt ihn bis in seine Träume. Die Angst, wertlos zu sein[12], wenn er seiner beruflichen Pflicht nicht nachkommt, zeigt sich, als er sich wachrüttelt und sagt: „Nur nicht im Bett unnütz aufhalten“ (S. 121). Diese Angst scheint viel stärker zu sein als das Erschrecken, in ein „ungeheures Ungeziefer“ (S. 115) verwandelt worden zu sein.[13] Seine Arbeit belastet ihn stark und nur widerwillig denkt er an sie: „,Ach Gott‘, dachte er, ‚was für einen anstrengenden Beruf habe ich gewählt!“‘ (S. 116). Außerdem fühlt er sich gegenüber den anderen Reisenden unterprivilegiert:
‚„Dies frühzeitige Aufstehen (...) macht einen ganz blödsinnig. (...) Andere Reisende leben wie Haremsfrauen“‘ (S. 117). Auch die Tatsache, dass er sehr früh aufstehen und zur Arbeit fahren muss, nämlich um vier Uhr morgens, vergleicht er mit den Arbeitsgewohnheiten seiner Berufskollegen: ,„Wenn ich zum Beispiel im Laufe des Vormittags ins Gasthaus zurückgehe, um die erlangten Aufträge zu überschreiben, sitzen diese Herren erst beim Frühstück“‘ (S. 117). Dieses Gefühl der Benachteiligung und Unterdrückung wird vornehmlich durch zwei seiner Vorgesetzten ausgelöst, die auf ihn Macht ausüben und die keinen Zweifel daran lassen, wer in der betrieblichen Hierarchie obere bzw. untere Positionen einnimmt: Die Figur des Chefs und die des Prokuristen.
1.2.2. Der Chef
Der Chef tritt nie persönlich in Erscheinung. Er ist aber in Gregors Gedanken allgegenwärtig. Er ärgert sich über seinen Chef, weiß aber gleichzeitig, dass er ihm ausgeliefert ist und daran nichts ändern kann: ‚„Das sollte ich bei meinem Chef versuchen; ich würde auf der Stelle hinausfliegen“‘ (S. 117). Aber gerade das darf Gregor nicht riskieren, denn seine Familie hat Schulden bei Gregors Chef durch einen früheren Geschäftszusammenbruch der Samsas. Sie ist also finanziell abhängig von ihm und von Gregor, der das Geld für den Lebensunterhalt der Familie verdient. Und das weiß Gregor, weswegen er sich gegen die Repressalien nicht wehrt: ‚„Wenn ich mich nicht wegen meiner Eltern zurückhielte, ich hätte längst gekündigt“‘ (S. 117). Dass der Chef in der betrieblichen Hierarchie nicht nur durch seinen Posten sondern auch in seiner tatsächlichen Machtausübung ganz oben steht, lässt sich daran erkennen, dass er sich , wenn er mit seinen Angestellten kommuniziert, auf seinen Schreibtisch stellt.[14] Dies verärgert Gregor: ,„Es ist auch eine sonderbare Art, sich auf das Pult zu setzen und von der Höhe herab mit dem Angestellten zu reden“‘ (S. 117). Er weiß aber auch, dass er sich dieser Demütigung seitens des Chefs aussetzen muss, da er und seine Familie von ihm finanziell abhängig sind.[15] Doch auf Dauer will Gregor sich aus dem Machtbereich des Chefs zurückziehen und sich seinen Demütigungen und Übervorteilungen gegenüber anderen Mitarbeitern entziehen: „,Habe ich einmal das Geld beisammen, um die Schuld der Eltern an ihn abzuzahlen (...), mache ich die Sache unbedingt. Dann wird der große Schnitt gemacht“‘ (S. 117f.). Sofort folgt jedoch die Einschränkung, die wieder Gregors Abhängigkeit deutlich macht:
[...]
[1] Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte. 3. Band: Von der „deutschen Doppelrevolution“ bis zum Beginn des ersten Weltkriegs 1849-1914, München 1995, S. 757.
[2] Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, S. 758.
[3] Jürgen Kocka, Die Angestellten in der deutschen Geschichte: 1850-1989. Vom Privatbeamten zum angestellten Arbeitnehmer, Göttingen 1981, S. 78.
[4] Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, S. 758.
[5] Sigrid Jacobeit, Wolfgang Jacobeit, Illustrierte Alltags- und Sozialgeschichte Deutschlands. 1900-1945, Münster 1995, S. 25.
[6] Uwe Jahnke, Franz Kafkas Erzählung „Die Verwandlung“. Ein literaturdidaktisches Konzept. Frankfurt am Main 1990, S. 62.
[7] Jahnke, Illustrierte Alltags- und Sozialgeschichte, S. 21.
[8] Jacobeit, Illustrierte Gesellschaftsgeschichte, S. 25.
[9] Jahnke, „Die Verwandlung“, S. 21.
[10] Jahnke, „Die Verwandlung“, S. 21.
[11] Franz Kafka , Die Verwandlung, in: Franz Kafka. Drucke zu Lebzeiten, hrsg. v. Wolf Kittler, Hans-Gerd Koch und Gerhard Neumann, Frankfurt am Main 1994, S. 115-200, hier S.126 (im folgenden werden die runden Klammern mit den Seitenzahlen hinter den zitierten Textpassagen dieser kritischen Textausgabe folgen.).
[12] Vgl. hierzu Thomas Anz, Franz Kafka, München 1992, S. 79.
[13] Diese Sichtweise vertritt Helmut Richter, Franz Kafka, Leipzig 1961, S. 114.
[14] Walter Sokel, Kafkas „Verwandlung“: Auflehnung und Bestrafung, in: Wege der Forschung. Franz Kafka, Darmstadt 1991, S. 271.
[15] Ebd.
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