Seine 1801 erschienene Differenzschrift beginnt Hegel mit einer typischen Geste des Absetzens oder besser Abhebens von allen eigentümlichen Ansichten seiner Vorgänger und Nachgänger, die es natürlich essentiell in der Philosophie nicht gibt, um sogleich auf die Eigentümlichkeit der Form des Schelling-Fichteschen Systems der Philosophie hinzuweisen. In Bezug auf den literarischen Stil ist Hegels Hinweis sicher berechtigt. (Vgl. Hegel 1979, Bd. 2, 13f.) Schreiben Fichte und besonders Schelling in wichtigen Passagen eher mystisch-verschleiert, ist bei Hegel ein starker Einfluß der Poesie seines Studienfreundes Hölderlins zu erkennen, auf den im zweiten Teil dieser Untersuchung einzugehen sein wird.
Ein Verständnis für Hegels zentrale Metapher der Heimkunft oder Heimkehr ermöglicht ein biographischer Blick auf seinen Zeitgenossen Hölderlin sowie auf Heideggers 1947 entstandenen Humanismusbrief. 1790 immatrikulieren sich Hölderlin und Schelling gemeinsam am Tübinger Stift für Philosophie und Theologie und beziehen gemeinsam mit Hegel, der sich schon zwei Jahre früher am Stift einschrieb, dasselbe Zimmer. Die Drei schließen Freundschaft und begeistern sich gleichermaßen für die Französische Revolution, insbesondere für die philosophischen Schriften Rousseaus. Neben dessen Hauptwerk Der Gesellschaftsvertrag erlangte vor allem Rousseaus 1762 beendetes Werk Émil, oder über die Erziehung große Bedeutung. Auf einer der letzten Seiten findet sich folgender Satz, der Hölderlins Poesie offensichtlich nachhaltig beeinflußt haben muß: „Die Reisen bieten einen Anstoß, seinen Neigungen nachzusehen, und vollenden den Menschen im Guten wie im Bösen. Bei der Heimkehr ist jeder so, wie er sein ganzes Leben hindurch bleiben wird.“ (Rousseau 1910, Bd. 2, 536.)
Inhaltsverzeichnis
Differenz(en) nach Hegel
Die Topologie der Poesie
Literaturverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Links: A Footnote, Self-portrait by Aubrey Beardsley (1896).
Rechts: „Vereinige Sie. Das (göttliche) Licht und die Erde.“
Aus: R. Abrahami Eleazaris, Uraltes Chymisches Werk, Erfurt 1735, S. 8.
Differenz(en) nach Hegel
Bevor über Schellings und Fichtes Identitätsphilosophie nachgedacht werden soll, seien zwei Gedanken als aufgeschriebene Hauptmetaphern über Diffe-renz, Bruch und Netz zwischen Philosophie und Poesie vorangestellt. Hier zeigt ein anderes Ende der Parabel mit Bezug auf Adorno auf einen der wich-tigsten Philosophen des französischen Poststrukturalismus, Gilles Deleuze und seine Ausführung über die mögliche Materialität der Gedanken. Demge-genüber ― auch in topologischer Sicht ― möchte Prousts Poesie Erinnerungen in passim als ein sich selbst webendes Netz wissen, so niedergeschrieben auf den letzten Seiten seines Lebenswerkes Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, neben Musils Mann ohne Eigenschaften eines der größten Romanepen des zwanzigsten Jahrhunderts:
Jeder entscheidende Akt zeugt von einem anderen Denken, soweit der Gedanke selbst Ding ist. […] Allerorten bestehen Zentren, […] Es gibt Linien, die sich nicht auf die Verlaufsbahn eines Punktes reduzieren lassen, die sich der Struktur entwinden: Flucht-linien, Werden ohne Zukunft und ohne Vergangenheit, ohne Gedächtnis, […] die nicht über Differenzierung, sondern von einer Linie zu einer anderen spring-en, […]: Risse, unmerkliche Brüche, die die Linien aufreißen, […] Einschnitte.[1]
[…], so hat der Dichter recht gehabt, von jenen ›geheimnisvollen Fäden‹ zu sprechen, die das Leben zerreißt. Aber wahrer noch ist, daß es unaufhörlich zwischen den Wesen, zwischen den Ereignissen neue Fäden spinnt und untereinanderwirrt, daß es sie ver-doppelt, um das Gewebe zu stärken, so daß zwischen dem geringsten Punkt unserer Vergangenheit und allen anderen ein reiches Netz von Erinne-rungen uns nur die Wahl der Verbin-dungswege läßt.[2]
Nach Fichtes Wissenschaftslehre hat das bestimmte, ganze Bewußtsein nichts außer sich, es hängt von nichts Äußerem ab, und in diesem Sinne ist es abso-lut. Tatsächlich ist Hegels Bewußtseinsbegriff, nach dem das Bewußtsein eine sprechende Struktur hat, nichts anderes als eine Umformung der ersten drei Grundsätze dieser Fichteschen Lehre. Hernach wird das wahre, absolute ICH als die sich selbst setzende Einheit von ICH und Nicht-ICH dargestellt. So ist nach Hegel im Fichteschen System Ich = Ich das Absolute. Genau in diesem Sinne vertritt Hegel einen Holismus des Bewußtseins.
Kant hatte eine zumin-dest denkbare Alternative zur herrschenden mathematischen Naturwissen-schaft eröffnet, und so wurde er unfreiwillig zum Anreger dessen, was wir grob zusammenfassend als romantische Naturphilosophie bezeichnen.[3] Wenn aber der Verstand der Natur die Gesetze vorschreibt, bedeutet dies nicht, daß er sie aus Nichts erschafft. Eine solche creatio ex nihilo des Nicht-Ich durch das Ich in reiner Tathandlung als subjektives Ideal hat zuerst Fichte gelehrt. Er vollzieht dann den Übergang in den absoluten Idealismus, den Schelling ― er lehrte zuvorderst einen objektiven Idealismus versus Fichte ― und vor allem Hegel fortbilden.[4]
Schellings System, wie er es in seinen Jenenser Jahren vortrug, wird Identitätsphilosophie genannt. Dieser Teil seiner Lehre bildet das Bindeglied zwischen Fichte und dem auf Schelling folgenden und beide überragenden Hegel. Nach Fichte, der das Kantische »Ding an sich« ganz beseitigt hatte, war, was wir Natur nennen, gar nichts Selbständiges und Selbstseiendes, sondern ein Produkt des Ich, hervorgebracht, damit das Ich an seinem Widerstand sich selbst verwirkliche (subjektiver Idealismus). Schelling kehrt diese Verhält-nis schlicht um. Nicht die Natur ist das Produkt des Geistes, sondern der Geist ist das Produkt der Natur. Die Aufgabe der Philosophie sei nach Fichtes Wissenschaftslehre, das Wissen in passim zu erklären, das heißt die immer-schon-Übereinstimmung des Subjekts mit dem Objekt. Schelling will diese Frage nicht in der Art und Weise gestellt wissen, wie Fichte dies tut: Wie ist im Ich, im Geiste, eine Welt oder Natur möglich? Sondern er will derart fragen: Wie ist von der Natur her, in der Natur, das Ich oder der Geist mög-lich? Seine Antwort lautet formelhaft: Möglich ist es nur, weil die Natur gleichursprünglich Geist ist, Geist von unserem Geiste, weil Natur und Geist, Reales und Ideales, im Tiefsten Un-Grunde identisch sind (objektiver Idealis-mus). In den Augen Hegels wandelte auch Schelling schlechterdings in der indifferenten Nacht des objektiven Idealismus, mit der er sich umgab und in der eben alle Kühe schwarz seien.
Auf den damals noch jungen Basler Historiker Jacob Burckhardt wirkten Schellings schwer verständliche Spekulationen begeisternd. So schrieb Burckhardt in einem Briefe vom 13. Juni 1842: „Ich habe ein paarmal hospi-tiert während der dicksten dogmatischen Auseinandersetzungen und mir die Sache etwa so zurechtgelegt:
Schelling ist Gnostiker (…) Daher das Unheim-liche, Monströse, Gestaltlose (…). Deleuze zufolge war Schelling zuvorderst Leibnizianer aber auch Neuplatoniker hinsichtlich der Antwort auf das Phai-dros-Problem der Ordnungsdifferenzierung der Dinge nach ihrer Tiefe, nicht ihrer Breite.“[5] Burckhardts Einschätzung erscheint mir jedoch philosophisch-literarisch als die interessanteste, nicht zuletzt mit Blick auf Schellings eigen-tümlich verwirrenden Schreibstil, beispielhaft im Epikureischen Glaubensbe-kenntnis von 1799.
[...]
[1] Deleuze 1980, 32f.
[2] Proust 2000, 4171.
[3] Vgl. Schnädelbach 1999, 55 und 100.
[4] Vgl. Schnädelbach 1990, 66f.
[5] Vgl. Deleuze 1992, 243.
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