Die kindlichen Lebenswelten sind vielschichtig und für die Entwicklung von großer Bedeutung; sie haben sich im Laufe der zeit strukturell verändert, und dies wirkt einflussreich auf das Kindsein und die Kindheit ein. Im Gegensatz zu früher stehen Kindern heutzutage vielfältige Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung zur Verfügung. Kinder werden als eigenständige Persönlichkeiten in unserer heutigen Gesellschaft respektiert, und sie genießen in der heutigen Erziehung ein großes Maß an Partizipationsmöglichkeit. Doch die moderne Gesellschaft birgt auch zahlreiche Risiken, denen Kinder heute ausgesetzt sind. Es herrschen Konsumzwänge und Konkurrenzdenken, innerfamiliäre Spannungen, Leistungsdruck und soziale Verunsicherung. Strukturelle Veränderungen der Kindheit haben sich auf allen sozialen Lebensbereichen vollzogen, und sie haben bedeutende Auswirkungen auf verschiedenen Ebenen; sie betreffen die unmittelbaren Lebensbedingungen von Kindern und ihre Lebenserfahrungen. Damit sind Kinder erheblichen Belastungen ausgesetzt. Dies in einer Phase, die entwicklungsbiologisch betrachtet als äußerst sensibel zu betrachten ist, da in der Kindheit zahlreiche entwicklungsbedingte Aufgaben bewältigt werden müssen. Sie stellen wichtige Entwicklungsinhalte dar, und die Art ihrer Bewältigung und die Erfahrungen, die Kinder in Verbindung mit diesen Lebensaufgaben machen, sind ausschlaggebend für die Entwicklung der Persönlichkeit und somit ein Leben lang prägend. Umso wichtiger erscheint es, sich den gegenwärtigen Verhältnissen bestmöglich anzupassen, und über ein modernes Verständnis von Kindererziehung zu verfügen, damit der Umgang mit nachfolgenden Generationen adäquat und effektiv, vor allem im Sinne der Persönlichkeitsentwicklung und Selbstverwirklichung, erfolgen kann.
Diese Arbeit beschäftigt sich rückblickend mit dem historischen Verlauf von Kindheit und verschafft dem Leser ein Bild über verschiedene Ansätze der aktuellen Kindheitsforschung. Weiterhin geht es um die Strukturveränderungen von Kindheit, die sich in den sozialen Lebensbereichen von Kindern nachzeichnen lassen. Am Ende befasst diese Arbeit sich mit gegenwärtigen Entwicklungs- und Gesundheitsproblemen von Kindern und behandelt abschließend Ansätze der Gesundheitsförderung.
Inhalt
Hinführung zum Thema
Kapitel 1 Kindheit im historischen Verlauf
1.1 Was bedeutet überhaupt der Begriff „Kindheit“?
1.2 Rückblick: Kindheit früher
1.3 Entstehung und Entwicklung von Kindheit
Kapitel 2 Ansätze der Kindheitsforschung
2.1 Psychologische und soziologische Theorien
2.1.1 Psychoanalyse
2.1.2 Lerntheorien
2.1.4 Theorie der sozialen Interaktion
2.2 Integrative Theorien
2.2.1 Die systematisch-ökologische Theorie
2.2.2 Die Sozialisationstheorie
Kapitel 3 Strukturveränderungen von Kindheit in sozialen Lebensbereichen
3.1 Lebensbereich Familie
3.1.1 Familiengröße
3.1.2 Veränderung von Familienformen
3.1.3 Erwerbstätigkeit beider Eltern und Konsequenzen für Partnerschaft und Kind
3.1.4 Scheidung und Ein-Eltern-Familien
3.1.5 Auswirkungen elterlicher Arbeitslosigkeit
3.1.6 Der Wandel der Beziehungen innerhalb der Familie
3.2 Lebensbereich Schule
3.2.1 Leistungserwartungen und Leistungsdruck
3.2.2 Hausaufgabensituation und familiäre Atmosphäre
3.2.3 Schulstress und gesundheitliche Situation
3.2.4 Schule als Lebens- und Erfahrungsraum von Kindern
3.3 Lebensbereich Freizeit
3.3.1 Kindliche Aktivitäten
3.3.2 Spielkontakte und Freundschaften
3.3.3 Freizeit und Medien
Kapitel 4 Entwicklungs- und Gesundheitsprobleme
4.1 Was bedeutet „Gesundheit“?
4.2 Erscheinungsformen chronischer Krankheiten im Kindesalter
4.3 Psychosomatische Krankheiten
4.3.1 Auffälligkeiten im Leistungsbereich
4.3.2 Auffälligkeiten im affektiven Bereich
4.3.3 Medikamenten- und Drogenkonsum
4.3.4 Vernachlässigung, Misshandlung und sexueller Missbrauch
4.4 Ansätze der Gesundheitsförderung
Resümee und Fazit
Literatur
Hinführung zum Thema
Die kindlichen Lebenswelten sind vielschichtig und für die Entwicklung von großer Bedeutung; sie haben sich im Laufe der zeit strukturell verändert, und dies wirkt einflussreich auf das Kindsein und die Kindheit ein. Im Gegensatz zu früher stehen Kindern heutzutage vielfältige Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung zur Verfügung. Kinder werden als eigenständige Persönlichkeiten, als einmalige und unverwechselbare Individuen in unserer heutigen Gesellschaft respektiert, und sie genießen in der heutigen toleranten Erziehung ein großes Maß an Partizipationsmöglichkeit. Doch die moderne Gesellschaft birgt neben vielen Chancen auch zahlreiche Risiken, denen Kinder heute ausgesetzt sind. Es herrschen u.a. starke Konsumzwänge und Konkurrenzdenken in der Gleichaltrigengruppe, innerfamiliäre Spannungen, Leistungsdruck, ganz zu schweigen von der bestehenden Armut und der sozialen Verunsicherung im öffentlichen Bewusstsein der Gesellschaft. Strukturelle Veränderungen der Kindheit haben sich auf allen sozialen Lebensbereichen vollzogen, und sie haben bedeutende Auswirkungen auf verschiedenen Ebenen; sie betreffen die unmittelbaren Lebensbedingungen von Kindern und ihre Lebenserfahrungen. Damit sind Kinder erheblichen Belastungen ausgesetzt, sowohl psychischer und sozialer, als auch gesundheitlicher Art. Dies in einer Phase, die entwicklungsbiologisch betrachtet als äußerst sensibel zu betrachten ist, da in der Kindheit zahlreiche entwicklungsbedingte Aufgaben bewältigt werden müssen, wie der Erwerb des Urvertrauens und der Aufbau einer stabilen Beziehung zu den elterlichen Bezugspersonen, das Entwickeln von Denkschemata und kognitiven und emotionalen, sozialen und motorischen Fähigkeiten, später die Bejahung der eigenen Geschlechtsrolle und der Aufbau einer Geschlechtsidentität und einer positiven Einstellung zum eigenen Körper, der Aufbau von Wert- und Moralvorstellungen, der Eintritt in die Gleichaltrigengruppe und der Aufbau sozialer Beziehungen, Identitätssuche und Identitätsaufbau. All diese schwierigen Aufgaben stellen wichtige Entwicklungsinhalte dar, und die Art ihrer Bewältigung und die Erfahrungen, die Kinder in Verbindung mit diesen Lebensaufgaben machen, sind ausschlaggebend für die Entwicklung der Persönlichkeit und somit ein Leben lang prägend. Umso wichtiger erscheint es, sich den gegenwärtigen Verhältnissen bestmöglich anzupassen, und über ein modernes Verständnis von Kindererziehung zu verfügen, damit der Umgang mit nachfolgenden Generationen adäquat und effektiv, vor allem im Sinne der Persönlichkeitsentwicklung und Selbstverwirklichung, erfolgen kann.
Das erste Kapitel dieser Arbeit beschäftigt sich rückblickend mit dem historischen Verlauf von Kindheit. Dem Leser wird ein Bild vermittelt, was Kindheit früher bedeutet hat, wie Kindheit entstanden ist und wie sich die Vorstellungen von Kindern im Laufe der gesellschaftlichen Modernisierung verändert und entwickelt haben.
Das zweite Kapitel verschafft dem Leser ein Bild über verschiedene Ansätze der aktuellen Kindheitsforschung. Es werden hierzu theoretische Ansätze der psychologischen, soziologischen, pädagogischen und gesundheitswissenschalftlichen Forschung zur Kindheit berücksichtigt. Nur durch die Beachtung aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisse kann im Bewusstsein von Erwachsenen ein modernes Verständnis von Kindererziehung und Kinderschutz entstehen und sich verfestigen.
Im dritten Kapitel geht es um die Strukturveränderungen von Kindheit, die sich in den sozialen Lebensbereichen von Kindern nachzeichnen lassen. Zum einen wird die Familie als erste Sozialisationsinstanz mit ihren tiefgreifenden Veränderungen beschrieben, zum anderen wird in diesem Kapitel auch näher auf das Schulsystem eingegangen. Zuletzt wird hier noch der Freizeitbereich von Kindern behandelt.
Das vierte Kapitel befasst sich mit gegenwärtigen Entwicklungs- und Gesundheitsproblemen von Kindern und behandelt abschließend Ansätze der Gesundheitsförderung. Das fünfte und letzte Kapitel fasst noch einmal die wesentlichen Aspekte dieser Arbeit auf und schließt mit einem Fazit ab.
Diese Arbeit ist somit für Eltern, Erzieher[1], Lehrer, Pädagogen und alle interessant, die mit Kindern zu tun haben, sich mit ihnen auseinandersetzen oder sich mit der kindlichen Entwicklung und Erziehung beschäftigen oder sich für sie begeistern lassen. Man erhält grundlegende Informationen über verschiedene relevante Aspekte zum Thema Kindheit, die ausführlich und anschaulich beschrieben und dargestellt werden.
Kapitel 1 Kindheit im historischen Verlauf
1.1 Was bedeutet überhaupt der Begriff „Kindheit“?
Wenn wir von Kindheit sprechen, weiß jeder, was gemeint ist, und zwar bezeichnet der Begriff eine bestimmte Phase im Leben eines Menschen. Zeitlich betrachtet spricht man von einer Zeit, die mit der Geburt anfängt, und dem Einsetzen der Jugend, das heißt dem Erwerb der Geschlechtsreife, der ersten Menstruation beim Mädchen und der ersten Pollution beim Jungen, aufhört. Als Erwachsener verbindet man mit der Kindheit vor allem die Schulzeit, aber auch frühe Kindheitserinnerungen, die sich in das Gedächtnis sozusagen „eingebrannt“ haben, und die man nicht mehr vergisst. Auf kindlichen Erfahrungen beruht letztendlich die Entwicklung des Selbst, der Persönlichkeit. Die Kindheit und kindliche Erfahrungen sind damit ausschlaggebend und prägend für die individuelle weitere Entwicklung[2].
1.2 Rückblick: Kindheit früher
Aries (1978, zit. n. Bründel/Hurrelmann 1996) beschreibt auf klare Weise das Zusammenleben von Kindern und Erwachsenen im frühen Mittelalter. Zu dieser Zeit hatte es den Begriff Kindheit noch gar nicht gegeben; Kinder wurden als „die kleinen Erwachsenen“ bezeichnet und auch so betrachtet. In diesem Sinn verrichteten Kinder, nach einer kurzen postnatalen Phase der totalen Abhängigkeit, nahezu dieselben Arbeiten wie Erwachsene, aßen dasselbe Essen, wohnten in demselben Raum und pflegten dieselben sozialen Kontakte wie Erwachsene (ebd.). Somit gab es zwar selbstverständlich Kinder, aber keine Kindheit im Sinne einer Lebensphase.
Die Funktionen von Familien früher waren eher praktischer Natur. Eine Familie bedeutete eine kollektive Lebensform zum Erhalt des Lebens und Fortgang der Besitztümer und des Namens. Aspekte, die unter den Begriff Emotionalität fallen würden, waren nicht von Bedeutung. Kinder, oder besser gesagt, die „kleinen Erwachsenen“ sowie auch die übrigen Familienmitglieder hatten ihre Pflichten zu erfüllen und dienten ausschließlich der familialen Gemeinschaft. Individualität war ebenso wenig wie Privatheit nicht existent; Kinder wurden nicht als eigenständige Persönlichkeiten, als Individuen mit eigenen Vorstellungen, Wünschen und Bedürfnissen betrachtet. Wichtig war mehr die Tatsache, eine gewisse Anzahl an Kindern zu haben, nicht aber das Kind als Einzelnes. So nahmen auch trauernde Momente im Falle des Todes eines Kindes in früheren Familien keinen großen Raum ein; man war dann darauf bedacht, das Kind zugunsten der familiären Pflichterfüllung schnellstmöglich zu ersetzen (ebd.).
1.3 Entstehung und Entwicklung von Kindheit
Im späten Mittelalter änderte sich die Einstellung zu Kindern zunehmend. Man fing an, Gefallen am kindlichen Wesen zu finden und räumte Kindern nach und nach mehr Zeit ein, um ihnen das Spielen zu ermöglichen. Im Laufe der Zeit konzentrierte man sich darüber hinaus verstärkt auf die Erziehung und Bildung von Kindern. In diesem Sinn hieß es, ein Kind zu erziehen, ihm ordentliches Benehmen beizubringen, es auf das gesellschaftliche Leben vorzubereiten und es zu 'formen' (Aries 1978, zit. n. Bründel/Hurrelmann 1996).
Mit der Erweiterung der Familienfunktionen durch die Kindererziehung, und dem Bedürfnis der Erwachsenen, Kinder zu bilden, entstand etwa im 14. Jahrhundert der Begriff „Kindheit“. Außerhalb der Familie wurden Kinder nun in Seminaren und Kollegs erzogen und gebildet. Allerdings sollten den Kindern, die nicht aus reichen Familien stammten, diese Vorzüge verwehrt bleiben. Einerseits lag dies daran, dass sich der Wandelprozess in den Einstellungen in armen Familien wesentlich langsamer vollzog, als es in wohlhabenden Familien geschah; im Gegensatz zu bürgerlichen Familien hatten Erwachsene, deren Leben von Armut gekennzeichnet war, einfach nicht den Anspruch und den Wunsch, ihre Kinder zu bilden. Andererseits waren arme Eltern gezwungen, die Kinder als Arbeitskraft auszunutzen, weswegen sie in Manufakturen, im Handel und Gewerbe sowie in frühkapitalistischen Fabriken wie Erwachsene schwerste Arbeiten verrichten mussten.
Erst mit dem Aufkommen der allgemeinen Schulpflicht und der größeren Entlöhnung von erwachsenen Arbeitskräften, ging die Kinderarbeit etwas zurück, bis sie schließlich mit der Einführung des gesetzlich festgelegten Verbots von Kinderarbeit bis zur Vollendung der Schulpflicht im Jahr 1890 endgültig und gänzlich abgeschafft wurde (vgl. Bründel/Hurrelmann 1996).
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts etablierten sich die Schule, und später auch der Kindergarten als Institutionen, um eine Erziehung und Bildung aller Kinder außerhalb des Hauses sicherzustellen. Damit haben sich auch die Vorstellungen über Kindheit und über Kinder als eigenständige Persönlichkeiten und einmalige, unverwechselbare Individuen schließlich im Bewusstsein der Menschen integriert und verfestigt. Die emotionale Bedeutung von Kindern für ihre Eltern ist heutzutage so hoch wie nie (ebd.).
Im Laufe der Modernisierung haben sich in den kindlichen Lebenswelten starke strukturelle Modifizierungen und daraus resultierende Konsequenzen für die Kindheit ergeben. Bevor diese ausführlich dargestellt werden, sollen vorab die wesentlichen theoretischen Ansätze der aktuellen Kindheitsforschung beschrieben werden.
Kapitel 2 Ansätze der Kindheitsforschung
Die Kindheitsforschung befasst sich mit verschiedenen Theorien, mit den psychologischen und soziologischen, und den integrativen Theorien. Zu den psychologischen Theorien zählen der psychoanalytische Ansatz, die Lerntheorie sowie die Theorie der kognitiven Entwicklung. Zu den soziologischen Theorien zählt die der sozialen Interaktion. Gemäß dazu gibt es integrative Ansätze, die systemisch-ökologischen Theorien, wie die Sozialisationstheorie, die jeweils Elemente aus beiden Ansätzen berücksichtigen.
2.1 Psychologische und soziologische Theorien
2.1.1 Psychoanalyse
Psychoanalyse bezeichnet eine von Sigmund Freund entwickelte psychologische Theorie zur Persönlichkeitsentwicklung, die sich in der Auseinandersetzung des triebgesteuerten Kindes mit seiner triebeinschränkenden Umwelt vollzieht. Freud beschreibt dabei zwei Haupttriebe, die das menschliche Verhalten und Erleben beeinflussen, die Libido (Liebes- oder Sexualtrieb) und den Destrudo (Aggressions-, Todestrieb). Der „psychische Apparat“, so Freud, besteht aus drei Instanzen, das primäre „ES“, welches alle Fantasien und Wünsche und Bedürfnisse repräsentiert, das „ÜBER-ICH“, das die Moral und das Gewissen bildet und das „ICH“, das als Realitätssinn beschrieben wird und zwischen dem ES und dem ÜBER-ICH vermittelt (Instanzenmodell). Störungen in der Dynamik dieser drei Instanzen führen nach Freud zur Entstehung von Angst, die wiederum zum Aufbau eines Abwehrmechanismus führt (um mit verbotenen Trieben, Wünschen und Bedürfnissen zurechtzukommen). Die wichtigsten Abwehrmechanismen sind Verdrängung, Projektion, Regression, Reaktionsbildung, Rationalisierung und Sublimierung (vgl. Keller/Novak 1993).
Die Erkenntnisse über die Entwicklung des Trieblebens fasst Freud in einem Phasenmodell zusammen. Hierbei durchläuft das Kind verschiedene Entwicklungsphasen, die orale, anale und phallische Phase, in denen jeweils ein Körperteil vorherrschend ist und zur Lustgewinnung und Befriedigung genutzt wird. Bedeutend für eine Persönlichkeitsentwicklung ohne Störungen ist die Angemessenheit der Triebbefriedigung. So führen Frustrationen durch mangelnde Triebbefriedigung, oder aber auch Verwöhnung durch exzessive Stimulation (was Freud als „Triebschicksal“ bezeichnet) zu Störungen der Persönlichkeit und bieten die Grundlage für spätere neurotische Störungen (Neurosenmodell) (ebd.).
Heute ist die Psychoanalyse für die Kindheitsforschung noch immer von Bedeutung, obgleich fest steht, dass sie nur Teilprozesse der menschlichen Entwicklung erklären kann. Im Gegensatz zur früheren traditionellen Familienform und den früheren traditionellen Rollenbildern haben sich heute sowohl die Sozialisation in der Familie als auch die Eltern-Kind-Beziehung verändert. Neuere psychoanalytische Ansätze versuchen, diesen Wandlungsprozess zu berücksichtigen. So macht Busch (1989, zit. n. Bründel/Hurrelmann 1996) in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam, dass einhergehend mit der Aushöhlung der psychischen Bedeutung des Vaters und der emotionalen übermäßigen beladenen Mutter-Kind-Beziehung die von Freud als so wichtig erachtete Identifikation des Kindes mit dem Vater immer weniger gelingen und insbesondere die „ÜBER-ICH“-Strukturen nicht mehr ausgebildet werden dürften. Mitscherlich (1963, ebd.) führt weiterhin an, dass die Mutter-Kind-Symbiose durch die psychische oder physische Abwesenheit des Vaters spät oder gar nicht aufgelöst wird und das Kind ein eigenständiges „ICH“ nicht ohne Gefährdung entwickeln kann. So neige das Kind eher zu regressivem Verhalten und, bei sich entwickelnder Omnipotenz (Allmacht), auf seine narzisstische Versorgung zu warten. Durch ein erneut gewandeltes Vaterbild kommt ihm für das Kind allerdings wieder zunehmend an Bedeutung zu, und zwar sowohl als Vorbild für kognitive Leistungen als auch für den Ausdruck von Emotionen (Fthenakis 1993; Leube 1993, zit. n. Bründel/Hurrelmann). Moderne psychologische Ansätze betonen die Bedeutung der psychologischen Zusammenhänge zwischen der Elternbeziehung einerseits und der Eltern-Kind-Beziehung andererseits und betrachten den Vater, und nicht nur eine gestörte Mutter-Kind-Beziehung als beeinflussend auf die kindliche Persönlichkeitsentwicklung (vgl. Bründel/Hurrelmann 1996).
2.1.2 Lerntheorien
Klassische Konditionierung
Zu den klassischen Lerntheorien gehört die Theorie der klassischen Konditionierung nach dem sowjetischen Psychologen I.P. Pawlow. Die Theorie des klassischen Konditionierens, auch Signallernen genannt, beruht auf einer Vielzahl von durchgeführten Hundeexperimenten. Pawlow beobachtete, dass Hunde, wenn man ihnen ein Stück Futter ins Maul legt, vermehrt Speichel produzieren. Von den Geschmacksrezeptoren in der Mundhöhle der Hunde geht eine Erregung aus, die über eine ständige Nervenverbindung ins Zentralnervensystem und von dort aus über eine ständige Verbindung zu den sekretorischen Drüsen geleitet wird. Das Futter ist ein unbedingter Reiz, der einen unbedingten Reflex (eine angeborene Reaktion) auslöst. Pawlow bot dann weiter in seinen Experimenten einen optischen (Lichtsignal) oder akustischen (Metronom) Reiz dar, und zwar immer kurz vor der Futtergabe. Nach mehrmaliger Kombination eines solchen Reizes mit der Fütterung, werden die Reize zu Signalen für den Reiz Futter. Dann sondern die Hunde bereits beim alleinigen Erscheinen dieser Reize Speichel ab. Die Hunde werden so »konditioniert«. Pawlow bezeichnete diesen Vorgang als bedingt reflektorische Verbindung, allgemein spricht man vom »klassischen Konditionieren«. Während Pawlow die Begriffe »unbedingt und bedingte Reize/Reaktionen« verwendete, spricht die Psychologie von »unkonditionierten bzw. konditionierten Reizen/Reaktionen«. Der Lernprozess einer solchen bedingten bzw. konditionierten Reaktion lässt sich auf vier Stufen beschreiben:
1. Ein unkonditionierter Reiz oder Stimulus (Futter) löst eine unkonditionierte Reaktion hervor.
2. Der unkonditionierte Reiz wird mit einem anderen noch neutralen (später konditionierte) Reiz gekoppelt (Futter + Lichtsignal), was ebenfalls zu einer unkonditionierten Reaktion (Speichelansonderung) führt.
3. Auf der dritten Stufe des Lernprozesses wird der Vorgang der zweiten Stufe mehrmals wiederholt.
4. Auf der vierten Stufe reicht der anfangs neutrale Reiz (nur Lichtsignal) aus, um die anfangs unkonditionierte Reaktion (Speichelabsonderung) auszulösen. Das Lichtsignal ist zu einem konditionierten Reiz für den Hund geworden und löst eine nun konditionierte Reaktion aus.
Entscheidend für einen solch erfolgreichen Koppelungsprozess ist nach Pawlow die raum-zeitliche Nähe zwischen den Reizen. Die klassische Konditionierung folgt einem Substitutionsprinzip; ein unkonditionierter Reiz kann durch mehrmalige Koppelung mit einem anderen Reiz von diesem ersetzt werden und dieselbe (dann konditionierte) Reaktion auslösen (vgl. Merod 1999). Dafür gibt es zahlreiche Beispiele aus der alltäglichen Lebenswelt. Z.B. lassen sich Ängste in vielen Fällen auf Koppelungsprozesse zurückführen: so kann beispielsweise jemand, der öfter schlechte Erfahrung mit Tieren gemacht hat, etwa von Hunden schmerzhaft gebissen wurde, früher oder später eine Angst vor den Kontakt mit diesen Tieren entwickeln. Dann kann auch bereits das Sehen eines Hundes ausreichen, um die Angstreaktion auszulösen.
Ein konditionierter Reiz, der eine bestimmte Reaktion auslöst, kann auch auf ähnliche Reize übertragen werden. So reagierten die Hunde in den Experimenten von Pawlow bspw. auf Töne, die einem zuvor konditioniertem Ton-Reiz ähnlich waren, ebenfalls mit Speichelabsonderung. Die Reaktionen fallen dabei umso schwächer aus, je mehr der Ton von dem zuvor konditioniertem Ton abweicht, oder anders ausgedrückt, je ähnlicher ein neuer Reiz dem konditionierten Reiz ist, desto eher tritt eine Reaktion in derselben Stärke auf. Bezogen auf das letztgenannte Beispiel kann die Person, die von einem Hund mehrmals gebissen wurde, dann auch Angst vor Katzen usw. entwickeln. In der Psychologie spricht man hierbei von Generalisierung. Eben solche Generalisierungsprozesse machen den Menschen in komplexer Weise lernfähig (auch in Bezug auf Angstreaktionen); ohne derartige Prozesse könnte man sich in vielen Situationen nicht angemessen verhalten. Eine derartige Generalisierung konnte Pawlow auch in Bezug auf die Reaktionen bei seinen Hunden beobachten; ein Hund, der gelernt hat, bei einem bestimmten Signal die rechte Pfote zu heben, hebt, wenn man die rechte Pfote festbindet, beim gleichen Signal die linke Pfote. Das Pendant zur Reizgeneralisierung ist das so genannte Diskriminationslernen, wobei das Individuum lernt, zwischen ähnlichen Reizen zu unterscheiden und darauf unterschiedlich zu reagieren. Die Pawlowschen Hunde lernten, bei einem an die Wand projizierten Lichtsignal in Form eines Kreises, welches mit Futtergabe gekoppelt wurde, zu reagieren, während hingegen sie bei einem Lichtsignal in Form einer Ellipse, welches nicht mit Futtergabe gekoppelt wurde, nicht zu reagieren. Der Reiz blieb neutral. Auch beim Menschen spielt Diskriminationslernen eine große Rolle. Insbesondere bei Kindern werden viele Verhaltensweisen über solche Prozesse gelernt, und zwar sowohl erwünschte als auch unerwünschte (z.B. Angstreaktionen). Ein konditionierter Reiz kann allerdings auch wieder neutral werden, so dass die Reaktion ausbleibt. Hierbei spricht man von Löschung oder Extinktion. Dies ist der Fall, wenn ein konditionierter Reiz immer wieder ungekoppelt auftritt. Die Person aus dem Beispiel, die Angst vor Hunden hat, könnte also ihre Angst abbauen, sofern sie immer wieder Kontakt zu Hunden hätte und diese sie nicht beißen würden (so dass der Schmerz ausbleibt) und sie somit die Erfahrung machen würde, dass ihre Angst unnötig ist. Pawlow konnte dies in den Hundeexperimenten beobachten; demnach führt ein konditionierter Lichtreiz bspw. nach einiger Zeit nicht mehr zu vermehrtem Speichelfluss, wenn er ohne den unkonditionierten Reiz, also Futter, auftritt. Ist dies der Fall, dann zeigt sich auch bei ähnlichen Reizen keine, oder zumindest nur noch eine schwache Reaktion. Man spricht hierbei von Löschungsgeneralisation. Nach Pawlow handelt es sich bei solchen Löschungen nicht nur um ein Verschwinden konditionierter Reaktionen, sondern um die Ausbildung eines Hemmungsmechanismus auf eine bedeutungslos gewordene Reaktion (vgl. Merod 1999; Bründel/Hurrelmann 1996; Myschker 1993).
Operante Konditionierung
Die Theorie der operanten Konditionierung nach Skinner - auch »Lernen am Effekt«, »instrumentelle Konditionierung« oder »Verstärkungslernen« genannt - hat sich ebenso als nützlich erwiesen, um Lernvorgänge zu erklären. Diese Lerntheorie besagt, dass das Verhalten maßgeblich durch seine Konsequenzen bestimmt wird, wobei eine positive Verstärkung (Belohnung) unmittelbar nach einer Verhaltensweise die Wahrscheinlichkeit für ein erneutes Auftreten dieser Verhaltensweise erhöht, und umgekehrt, folgt auf ein Verhalten eine negative Verstärkung (Strafe), ist die Wahrscheinlichkeit vermindert, dass das Verhalten wieder auftritt. Ein Verhalten kann also so bekräftigt oder abgeschwächt werden. Wenn ein Verhalten auf operantes Konditionieren zurückgeführt werden kann, wird es als operantes Verhalten bezeichnet. Positive und negative Verstärker können aber auch entzogen werden. Die Wegnahme eines positiven Verstärkers führt zu einer Verminderung der Auftretenswahrscheinlichkeit des zuvor gezeigten Verhaltens. Die Wegnahme eines negativen Verstärkers führt zu einer Erhöhung der Auftretenswahrscheinlichkeit des zuvor gezeigten Verhaltens. Der Lernerfolg variiert je nachdem, wie attraktiv die Verstärkung empfunden wird und wie oft sie eingesetzt wird. Nach den Untersuchungen von Skinner sind zu Beginn des Lernprozesses konstante Verstärkungen am wirksamsten. Im weiteren Verlauf des Lernvorgangs kann man zur intermittierender (gelegentlicher) Verstärkung übergehen. Das Einsetzen intermittierender Verstärkung zu Beginn des Lernvorgangs führt allerdings zu einem langsameren Fortschreiten im Vergleich zur konstanten Verstärkung. Um Verhalten zu löschen, muss die positive Verstärkung konstant ausbleiben, sofern diese positive Verstärkung zur Aufrechterhaltung des Verhaltens beiträgt. Ein Verhalten, welches intermittierend verstärkt wird, hat sich als resistenter gegenüber einer Löschung erwiesen (vgl. Merod 1999).
Menschliches Lernen kann aber nie durch ein einziges Lernmodell erklärt werden. Die einzelnen Modelle können immer nur Teilbereiche menschlichen Verhaltens erklären. Generell kommen, weit über die genannten Lerntheorien hinaus, unzählig viele verschiedene Einflüsse zum Tragen, die ineinander greifen, sich gegenseitig bedingen und den Lernprozess eines Menschen bestimmen und seine Entwicklung in komplexer Weise prägen. Ein weiteres grundlegendes Lernmodell zur Erklärung der Entstehung und Aufrechterhaltung menschlichen Verhaltens liefert A. Bandura, wie im Folgenden beschrieben wird.
Soziales Lernen (Imitationslernen oder Lernen am Modell)
Nach dem Modellernen, auch Beobachtungs-, Imitationslernen oder soziales Lernen genannt, werden Verhaltensweisen durch Beobachtung an Modellen, die diese ausführen, erlernt. Bandura unterscheidet dabei zwei Phasen, und zwar die des Erwerbs einer Verhaltensweise und die der Durchführung der neu erlernten Verhaltensweise. Für den eigentlichen Lernprozess ist die erste Phase entscheidend. Das Individuum beobachtet in dieser Phase eine Verhaltensweise an einem Modell und nimmt sie in das eigene Verhaltensrepertoire auf. Damit ist sie in kognitiver Form erlernt worden. In der zweiten Phase kommt es dann zur Durchführung der erworbenen Verhaltensweise. Die Durchführung kann durch aktuelle Situationsbedingungen oder erneut beobachtbare Modelle ausgelöst werden, immer dann, wenn sie dem Individuum als geeignet erscheinen. Beobachtet ein Individuum ein Verhalten an einem Modell, so Bandura, kommt es in der ersten Phase des Erwerbs zu intern vorgestellten Reaktionen beim Individuum. Solche Vorstellungen können bildlich oder verbal sein; sie bleiben im Gedächtnis gespeichert und werden unter bestimmten Bedingungen aktiviert, so dass es zur Durchführung der innerlich vorgestellten Modellverhaltenssequenzen kommt. Entscheidend für die Prozesse des Modellernens sind demnach die Informationsaufnahme, die Informationsspeicherung sowie die Informationsaktivierung. Darüber hinaus spielt die Motivation eine Rolle. Sie kann als Voraussetzung für die Beobachtung, Speicherung und Durchführung von Verhalten angesehen werden. Motivation entsteht dann, wenn das Individuum sich von der beobachteten Verhaltensweise Erfolg verspricht. Dementsprechend fand Bandura in Untersuchungen heraus, dass die Tendenz zur Imitation dann am stärksten ist, wenn das beobachtbare Modell für seine Verhaltensweise belohnt wird. Wenn das Modell nicht belohnt oder gar bestraft wird, dann ist die Wahrscheinlichkeit zur Imitation nicht so groß, was allerdings nicht heißt, dass die beobachtete Verhaltensweise nicht erlernt wird. Sie kann durchaus zu einem späteren Zeitpunkt durchgeführt werden, etwa, wenn eine Belohnung wahrscheinlich ist. Je nach beobachteten Konsequenzen können Modelle hemmend oder enthemmend wirken. Die Wahl von Modellen kann von verschiedenen Kriterien abhängen, z.B. welchen Modellstatus (Alter, Fertigkeit, Sozialprestige) das Modell für den Beobachter hat. Die Zeitdauer des Kontakts und eine freundlich-warme Beziehung zwischen Modell und Beobachter werden für die Verhaltensübernahme als bedeutend betrachtet. Ein therapeutisches Ziel ist in Bezug auf das Modellernen die Modifikation unerwünschter und schlecht angepasster Reaktionen, die Vermittlung und Stabilisierung neuer Fähigkeiten sowie das Bereitstellen günstiger Modelle zum Lernen (vgl. Merod 1999). Die dargestellten Erkenntnisse der Lerntheorien werden in der Verhaltenstherapie genutzt, um den Kindern ein Lernen positiver neuer Verhaltensweisen zu ermöglichen.
[...]
[1] Gemeint sind auch immer Erzieherinnen, Lehrerinnen, Pädagoginnen usw. Der Einfachheit halber und zur Erleichterung der Lesbarkeit wird in dieser Arbeit auf die weibliche Geschlechtsform von Berufsgruppen verzichtet.
[2] Die vorgeburtliche Entwicklung wird hierbei außer Acht gelassen, wenngleich sie für die spätere Persönlichkeit ebenfalls von Bedeutung ist; so postuliert Rauh (1995, zit. n. Bründel und Hurrelmann 1996), dass die vorgeburtliche Entwicklung zur Kindheit mitzuzählen sei, da die Persönlichkeitsentwicklung eines Kindes nicht erst nach der Geburt beginnt, sondern auch vorgeburtliche Erfahrungen einen Einfluss auf die Persönlichkeit nehmen
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