Venedig gehört zu den gefragtesten Reisezielen weltweit. Fast zu jeder Jahreszeit ist die Stadt angefüllt mit Touristen, die das architektonische Wunderwerk der Wasserstadt und die überreichen Kunstschätze, die sie beherbergt, besichtigen wollen. Viele ziehen auch die allgemeinen Verlockungen eines italienischen Ferienaufenthalts an, gutes Essen, Eis, Sonne, Meer, Entspannung im Café, die in Venedig vor einer einzigartigen Kulisse eine besondere Romantik erhalten. Dies mag für die häufige Wahl Venedigs als Ziel von Hochzeitsreisen eine Rolle spielen. Besondere kulturelle Veranstaltungen wie die Filmbiennale, Opern- und Theateraufführungen haben wiederum ihr eigenes Publikum, und auch ausländische Geisteswissenschaftler finden hier lohnende Beschäftigung, zum Beispiel an der Universität, am Deutschen Institut für venezianische Studien oder dem Archivio Luigi Nono auf der Giudecca. Auf der klassischen italienischen Bildungsreise, die auch heute noch unternommen wird, darf Venedig auf keinen Fall fehlen. Dieses nicht abreißende oder auch nur nachlassende internationale Interesse an der Hafenstadt ist nicht etwa ein Phänomen der neuesten Zeit, es ist vielmehr eine Konstante in der europäischen Geschichte seit dem Mittelalter, freilich aus den unterschiedlichsten, historisch wechselnden Gründen. So fragt es sich, wie es geschehen konnte, daß dieser Ort der Bildung, Kultur, des Reichtums und Wohllebens in der europäischen Literatur des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts zu einem beliebten Topos für Verfall und Tod werden konnte. Es ist davon auszugehen, daß eine solche literarische Tendenz eine allgemeine Sichtweise der Zeit spiegelt und das Phänomen nicht nur in Schriftstellerkreisen relevant war. Wie kam La Serenissima in diesen ihrem Beinamen so konträren Ruf? Wann fing man an, in Venedig vor allem das Vergangene im Sinne des Heruntergekommenen, Abgestiegenen zu sehen? Was führte zu diesem Wandel der Sichtweise? Welche tatsächlichen Dekadenzprozesse spielten sich in der politischen und sozialen Geschichte der Seerepublik ab? Auf welche Weise bedienen sich Autoren des Venedig-Topos? Wird er auch in jüngster Zeit noch bemüht? Diesen Fragen will die vorliegende Arbeit auf den Grund gehen. Dies ist eine kulturwissenschaftliche und keine literaturwissenschaftliche Arbeit. [...]
Inhalt
1 Einleitung
2. Begriffsklärung Topos
3. Dekadenzprozesse in der venezianischen Geschichte
3.1. Aufstieg
3.2. Verlust der Vormachtstellung im Welthandel
3.3. Politische Untätigkeit, Unselbständigkeit
3.4. 17./18. Jahrhundert: Kulturelle Blüte und fragwürdige Vergnügungskultur
4. Thomas Mann: Der Tod in Venedig
4.1. Lob Venedigs
4.2. Venedig als Verführerin
4.3. Moralisch verkommene Einwohner
4.4. Ekel
4.5. Wetter
5. Die objektive Sichtweise: Karl Schefflers Reisebericht
5.1. Deutsche Italien-Bewunderung und Italien-Sehnsucht
5.2. Venedig als Verführerin
5.3. Enttäuschung bei der Anreise per Bahn
5.4. Singen die Gondolieri?
5.5. Ekel
5.6. Proletarische Einwohner
5.7. Dirnenschönheit
6. Fazit
7. Literatur
1 Einleitung
Venedig gehört zu den gefragtesten Reisezielen weltweit. Fast zu jeder Jahreszeit ist die Stadt angefüllt mit Touristen, die das architektonische Wunderwerk der Wasserstadt und die überreichen Kunstschätze, die sie beherbergt, besichtigen wollen. Viele ziehen auch die allgemeinen Verlockungen eines italienischen Ferienaufenthalts an, gutes Essen, Eis, Sonne, Meer, Entspannung im Café, die in Venedig vor einer einzigartigen Kulisse eine besondere Romantik erhalten. Dies mag für die häufige Wahl Venedigs als Ziel von Hochzeitsreisen eine Rolle spielen. Besondere kulturelle Veranstaltungen wie die Filmbiennale, Opern- und Theateraufführungen haben wiederum ihr eigenes Publikum, und auch ausländische Geisteswissenschaftler finden hier lohnende Beschäftigung, zum Beispiel an der Universität, am Deutschen Institut für venezianische Studien oder dem Archivio Luigi Nono auf der Giudecca.
Auf der klassischen italienischen Bildungsreise, die auch heute noch unternommen wird, darf Venedig auf keinen Fall fehlen.
Dieses nicht abreißende oder auch nur nachlassende internationale Interesse an der Hafenstadt ist nicht etwa ein Phänomen der neuesten Zeit, es ist vielmehr eine Konstante in der europäischen Geschichte seit dem Mittelalter, freilich aus den unterschiedlichsten, historisch wechselnden Gründen. So fragt es sich, wie es geschehen konnte, daß dieser Ort der Bildung, Kultur, des Reichtums und Wohllebens in der europäischen Literatur des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts zu einem beliebten Topos für Verfall und Tod werden konnte. Es ist davon auszugehen, daß eine solche literarische Tendenz eine allgemeine Sichtweise der Zeit spiegelt und das Phänomen nicht nur in Schriftstellerkreisen relevant war.
Wie kam La Serenissima in diesen ihrem Beinamen so konträren Ruf? Wann fing man an, in Venedig vor allem das Vergangene im Sinne des Heruntergekommenen, Abgestiegenen zu sehen? Was führte zu diesem Wandel der Sichtweise? Welche tatsächlichen Dekadenzprozesse spielten sich in der politischen und sozialen Geschichte der Seerepublik ab? Auf welche Weise bedienen sich Autoren des Venedig-Topos? Wird er auch in jüngster Zeit noch bemüht?
Diesen Fragen will die vorliegende Arbeit auf den Grund gehen. Dies ist eine kulturwissenschaftliche und keine literaturwissenschaftliche Arbeit. Aus der Fülle der Literatur, in der Venedig in der einschlägigen Weise ein Rolle spielt, kann hier nur ein literarisches Werk im Detail betrachtet werden, andere wenige können daneben zur Sprache kommen.
Weil es Thomas Mann in seiner Erzählung Der Tod in Venedig in einzigartiger Präzision gelungen ist, die hier zu untersuchende Rezeptionsweise Venedigs in der Ambivalenz zwischen verlockender Ferienidylle, bewundernswerter Pracht und gefährlicher, ja abstoßender Falle für Körper und Gemüt auf den Punkt zu bringen, soll dies das exemplarisch untersuchte literarische Werk sein. Es muß darauf hingewiesen werden, daß die Erzählung von 1912 schon am Ende der eigentlichen Décadence-Zeit steht. Aber gerade dadurch kann es in seiner Darstellung des fraglichen Topos besonders umfassend sein.
Um die nicht nur literarische Relevanz der Venedig-Themas zu zeigen, wird als um Objektivität bemühter Text das Reisetagebuch Karl Schefflers von 1911 analysiert werden.
Die Auswahl dieser beiden Werke erscheint durch die nahezu gleiche Entstehungszeit sinnvoll, wobei besonders reizvoll ist, daß Scheffler beim Verfassen seines Reiseberichts den Tod in Venedig, den Text, der heute in Deutschland wohl am ehesten mit „Venedig“ und „Verfall“ assoziiert wird, noch nicht gekannt haben kann. Wenn sich Beobachtungen decken, so kann es also nicht an einer von Thomas Mann geprägten Sichtweise Schefflers liegen.
2. Begriffsklärung Topos
Der Terminus Topos stammt aus der antiken Rhetorik. Das griechische Wort bedeutet soviel wie Ort. Dies entspricht dem locus der lateinischen Rhetorik. Als locus communis war er hier eine rein formale Institution, nämlich als Teil der inventio in Vorbereitung der Rede ein Ort, um Argumente für die Beweisführung zu finden (sedes argumentorum)[1].
Im Zuge seiner Vereinnahmung für die Literaturwissenschaft erfuhr der Terminus Topos einen Bedeutungswandel von einer formalen hin zu einer inhaltlichen Interpretation. Ernst Robert Curtius etablierte die Topos-Forschung zu einer Arbeitsmethode der Literaturwissenschaft. Curtius versteht im Zusammenhang mit der Analyse literarischer Texte unter einem Topos ein festes Denkschema, Klischee oder literarisches Thema, das als Denk- und Ausdrucksform literarisch allgemein verwendbar ist.[2]
Zu unterscheiden ist der literaturwissenschaftliche Topos-Begriff von stehenden Wendungen, sogenannten „geflügelten Worten“, und auch von dem mit dem lateinischen locus communis verwandten Gemeinplatz. Diese sind allesamt zu eng umrissen. Ein literarischer Topos ist eine viel offenere Instanz, die in der jeweiligen literarischen Ausformung eine individuelle Interpretation erhält. Lausberg definiert den Topos in der Nachfolge Curtius´ im Sinne eines infiniten (d.h. allgemeinen) Gedankens, der in einem Kulturkreis durch Schulbildung und literarische Tradition oder die Wirkung analoger Erziehungsinstanzen Gemeinbesitz mindestens gewisser Gesellschaftsschichten geworden ist und von einem Schriftsteller auf seinen finiten Behandlungsgegenstand angewandt wird.[3]
Ein Topos bedarf also der Anwendung, um greifbar zu werden. Dies ist ein Problem in der Toposforschung. Der Topos an sich ist nicht erforschbar, er wird nur in der Analyse seiner individuellen Erscheinungsformen in den jeweiligen literarischen Werken greifbar. Es wird also nie eine garantiert erschöpfende, vollständige Darstellung eines literarischen Topos geben.
Die gegebenen Definitionen müssen durch den Hinweis ergänzt werden, daß ein Topos nicht nur in der Literatur, sondern auch allgemein im Denken einer Generation oder Gruppe wirksam werden kann, bewußt oder unbewußt. So wird der Topos Venedig als Sinnbild des Verfalls auch in nichtliterarischen Texten wie Reiseberichten deutlich, und ein belesener Venedig-Tourist wird bis heute nicht umhin kommen, sein Reiseziel auch unter diesem Aspekt zu betrachten. Die Wechselwirkungen zwischen Literatur und dem Denken ihrer Rezipienten sind schwer überschaubar und können im Rahmen dieser Arbeit nicht dargestellt werden. Es muß die Feststellung genügen, daß sie vorhanden sind, so daß von einem Venedig-Topos nicht nur in der Literatur, sondern viel umfassender im europäischen Denken die Rede sein kann.
Es sei darauf hingewiesen, daß ein Topos nicht dieser weitgreifenden gesellschaftlichen Dimension bedarf, um seine Realität und Relevanz zu rechtfertigen. Auch ein Topos, der nur den hochspezialisierten Künstlern und Wissenschaftlern einer bestimmten Disziplin, sei es Literatur, Musik oder Malerei, bekannt oder bewußt ist, kann dieser Namen verdienen, solange er eine gewisse Beständigkeit, werk-, künstler- und zeitübergreifend, an den Tag legt.
Ferner ist zu betonen, daß ein Topos keinerlei Legitimation in der Realität sucht. Ob das zum Tragen kommende Denkmuster auf wirkliche Gegebenheiten rekurrieren kann, ist für dessen literarische Bedeutung nicht relevant, es schmälert diese aber auch nicht, wenn deutliche Entsprechungen zutage treten.
3. Dekadenzprozesse in der venezianischen Geschichte
Um zu verstehen, welche realen Gegebenheiten die Voraussetzungen für die Entstehung einer Venedig-Sicht als Sinnbild des Verfalls geschaffen haben, sei hier die venezianische Geschichte kurz unter diesem Aspekt umrissen. Es interessiert hier die Zeit bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts, der Entstehungszeit der analysierten Primärtexte.[4]
Verfallsprozessen war die Stadt Venedig im Laufe ihrer Geschichte in mehrerer Hinsicht ausgesetzt. Hier sind in erster Linie die ökonomische, die politische, die gesellschaftliche und die architektonische Ebene zu nennen. Ökonomisch wurde aus einer beherrschenden Handelsmacht ein relativ unbedeutender Standort. Politisch mußte eine ehemals selbständige Republik mit einem fortschrittlichen Regierungsapparat und weiten Provinzen die Degradierung zur fremdregierten Stadt hinnehmen. Gesellschaftlich fand eine finanzielle und moralische Schwächung der Eliten statt, die in ihren Folgen für das politische Schicksal der Stadt, aber auch für ihr Renommee und das Selbstbewußtsein ihrer Bewohner nicht zu unterschätzen ist. Die finanziellen Probleme der Stadt sowie der Mangel an zahlungskräftigen Einzelpersonen führte auch zu einem Verkommen der ohnehin problematischen Bausubstanz, so daß das äußere Stadtbild wie auch die Interieurs der Palazzi spätestens im 19. Jahrhundert vielfach einen sehr heruntergekommenen Eindruck auf die Besucher machten. Dieser oberflächliche Aspekt der venezianischen Verfalls-Thematik war vielleicht für die Entstehung des in Frage stehenden Klischees an erster Stelle beteiligt, weil er auch ohne Vorkenntnisse wahrzunehmen war.
3.1. Aufstieg
Der geschichtliche Überblick muß auch in einer Arbeit über den Verfall früh ansetzen und den Aufstieg und die Blütezeit Venedigs mitberücksichtigen, denn ohne Kenntnis über die Fallhöhe wird der Sturz nicht verstanden.
Die Legende besagt, Venedig sei von den flüchtenden Einwohnern der adriatischen Hafenstadt Aquileja gegründet worden, die vor den Hunnen bedroht wurde. Aquileja war im 5. Jahrhundert neben Rom die einzige Großstadt des Römischen Reiches südlich der Alpen. Dieser Gründungsmythos hebt Venedig vor anderen Städten von Anfang an als besonders vornehm hervor, denn keine Stadt sonst erhebt den Anspruch, bereits von Großstädtern gegründet worden zu sein.
Die Hunnen vor Aquileja sind eine historische Tatsache (453/54). Den historischen Quellen zufolge flüchteten aber auch andere Gruppen auf die Inseln der Lagune. So rief der Einbruch der Langobarden in Italien 568/69 eine größere Fluchtbewegung auch aus den Städten Padua, Oderzo, Altino und anderen hervor. Venetische Fischer waren auf den Inseln schon vorher ansässig gewesen. Die urbane Bevölkerung mischte sich jedoch nie vollständig mit ihnen.
Aus den 117 kleinen, sumpfigen Inseln wurde nun in Folge eine Stadt, später ein Stadtstaat. Der erste Doge, Paulicius, wurde 697 gewählt. Es stellte sich heraus, daß die Lage diesem Stadtstaat exzeptionell gute Bedingungen bot, um zu großem Reichtum zu gelangen. Die Hafenlage begünstigte den Seehandel, Salz konnte als Tauschmittel gewonnen werden und als Ort zur Einschiffung in den Orient gewann Venedig große Bedeutung für Pilger und Kreuzfahrer – an Kreuzzügen beteiligte sich die Republik Venedig in Folge häufig selbst. Die Insellage bot außerdem Schutz vor Überfällen.
Sein Wahrzeichen erhielt Venedig 828/29 mit der Überführung der Reliquie des heiligen Markus von Alexandria in die Lagunenstadt. Eine erste Version von San Marco wurde 836 errichtet. Die Legende besagt, die Gebeine des Heiligen seien beim Transport unter Schweinefleisch versteckt gewesen, da sich die muslimischen Kontrolleure zu sehr davor ekelten, um darunter nach Schmuggelware zu suchen. Die Gebeine wurden in der neuen Kapelle an einem so geheimen Ort aufbewahrt, daß die bald als verschollen gelten mußten. Seit ihrer Wiederauffindung im 11. Jahrhundert nannte sich Venedig offiziell die Republik von San Marco. In diesen Zeitraum fällt auch die Unabhängigkeit von Byzanz, dessen Kaiser bis dahin den jeweiligen venezianischen Dogen in seinem Amt bestätigt hatte. Eine große Rivalität Venedigs zu Konstantinopel war die Folge. Ende dieses Jahrhunderts (1097) wird der Neubau von San Marco feierlich eingeweiht.
1203/04 eroberte der Doge Enrico Dandolo im Rahmen oder unter dem Vorwand des vierten Kreuzzugs Byzanz und nahm große Mengen byzantinischer Kunst mit nach Hause. Es ist bemerkenswert, wie die Venezianer diese Kunst für sich vereinnahmten, hüteten und für den Stil ihrer Stadt nutzten.
[...]
[1] Vgl. Quintilian, Instrum. Orat., 5, 10, 22, in: Heinrich Lausberg, Elemente der literarischen Rhetorik.
[2] Ernst Robert Curtius, Historische Epik. Gesammelte Aufsätze zur Romanischen Philologie, Bern/München 1960, S. 7ff.
[3] Lausberg, Elemente der literarischen Rhetorik, München-Regensburg 1990, §83.
[4] Zu den historischen Fakten vgl. Gerhard Rösch, Geschichte einer Seerepublik, S. 9ff und S. 155ff. und Christiane Schenk, Venedig im Spiegel der Décadence-Literatur des Fin de Siècle, S. 93ff.
- Quote paper
- Laura Krämer (Author), 2004, Venedig als Sinnbild des Verfalls, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/68247
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