Wahlen zum europäischen Parlament unterscheiden sich in vielerlei Hinsicht zu anderen Wahlen. Andererseits gelten sie gerne auch als Stimmungsbarometer für Bundestagswahlen. Wie passen diese Diskrepanzen zusammen? Der Autor fasst in dieser Abreit die wichtigsten Theorien und empirischen Befunde zusammen und schließt die o.g. Lücke.
Inhaltsverzeichnis
1.) Einleitende Worte
2.) „First-Order“- und „Second-Order“-Wahlen
3.) „Klassische“ Theorien zur Parteienwahl
4.) Theorien des Wählerverhaltens für „Second-Order“-Wahlen
4.1.) “Surge and Decline” (Angus Campbell, 1960)
4.2.) Revidiertes „Surge and Decline“ (James Campbell, 1987)
4.3.) Referendum-Theorie (Tufte, 1975)
4.4.) „Sincere Voting“
5.) Empirische Überprüfung der Theorien
5.1.) Überprüfung der „klassischen“ Wahltheorien
5.2.) Überprüfung von „Surge and Decline“
5.3.) Überprüfung der Referendum-Theorie
5.4.) Überprüfung der „Sincere Voting“-Theorie
6.) Conclusio
7.) Literaturverzeichnis
1.) Einleitende Worte
Wahlen zum europäischen Parlament[1] gelten gemeinhin als so genannte „Second-Order“-Wahlen, denen relativ wenig Bedeutung zugeschrieben wird. Allerdings ist das EP an sich keine machtlose Kammer, sondern gewinnt zunehmend an Bedeutung. So wäre es durchaus plausibel anzunehmen, dass EP-Wahlen im Laufe der Zeit eine Wandlung zu „First-Order“-Wahlen durchmacht haben könnten. Doch auch wenn viele Politikwissenschaftler der „Ankunft“ von, in der Öffentlichkeit als bedeutsam wahrgenommene EP-Wahlen entgegenfiebern, bringt sie die Empirie stets auf den Boden der Tatsachen zurück. Ziel der Arbeit ist es allerdings nicht, die Gründe für dieses Paradoxum zu beleuchten – dies würde den Rahmen sprengen – sondern eine grundlegende Zustandsbeschreibung darzubieten, also vorwiegend Deskription. Um das Themengebiet sinnvoll einzugrenzen, konzentriert sich diese Arbeit insbesondere darauf, die Parteienwahl bei EP-Wahlen zu erklären und hierfür die gängigen „Second-Order“-Wahltheorien anschaulich zu verdeutlichen. Dazu werden die Wahlen zum EP direkt mit einer „First-Order“-Wahl, also der zum deutschen Bundestag verglichen, um direkt erkennen zu können, welche theoretischen Modelle zutreffen und in welchem Ausmaß sie dies tun.
Um diesen Vergleich zu gestalten und den „Second-Order“-Charakter zu erläutern, werden zum Einstieg die wichtigsten Unterschiede und Besonderheiten zwischen diesen beiden Typen von Wahlen festgestellt und verdeutlicht. Im Anschluss werden die einzelnen Theorien zur Erklärung des Wahlverhaltens definiert; einerseits der Kausalitätstrichter des „New American Voters“ als umfassendes Modell für „First-Order“-Wahlverhalten und „Surge and Decline“, die Referendum-Theorie, sowie „Sincere Voting“ als Modelle für „Second-Order“-Wahlverhalten.
Mit dem theoretischen Wissen als Grundlage, werden die zahlreichen Modelle und Hypothesen mit Hilfe mehrerer Studien zu Wahlen zum europäischen Parlament und zum deutschen Bundestag empirisch überprüft. Hierbei werden auch Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den verschiedenen Ansätzen markiert.
Gerade der letzte Punkt – Gemeinsamkeiten und Unterschiede – ist überaus wichtig für diese Arbeit; einerseits geht es um den Vergleich zwischen „First“- und „Second-Order“-Theorien und auch um den Vergleich der einzelnen „Second-Order“-Theorien untereinander. Diese Strategie ist enorm wichtig zur Erreichung des Ziels, nämlich herauszufinden, wie viel „First“- und wie viel „Second-Order“ in den EP-Wahlen steckt.
2.) „First-Order“- und „Second-Order“-Wahlen
Unter einer „First-Order“-Wahl versteht man eine Wahl, die grundsätzlich als relativ wichtig angesehen wird, zumeist nationale Regierungswahlen wie die zum deutschen Bundestag. „Second-Order“-Wahlen hingegen, werden eher als „Nebenwahlen“ angesehen, bei denen gewissermaßen weniger „auf dem Spiel“ („less at stake“) steht, bzw. der Wähler die Sachlage derart einschätzt (vgl. Schmitt 2005: S. 650f). Solche „Second-Order“-Wahlen können z.B. Landtags- oder Kommunalwahlen sein, aber auch die zum europäischen Parlament werden von den meisten Bürgern als solche Nebenwahlen angesehen. Tatsächlich finden laut einer Umfrage der Forschungsgruppe Wahlen aus dem Jahre 2004 nur 57 % der Bundesbürger die Wahlen zum EP „wichtig“ oder „sehr wichtig“; dies rangiert sogar noch unter Kommunalwahlen (73 %) und Landtagswahlen (78 %) und natürlich weit unter den Bundestagswahlen (87 %) (vgl. Roth & Kornelius 2004: S. 53). Eine Konsequenz davon ist, dass die Wahlbeteiligung bei den EP-Wahlen weit unter denen zum Bundestag liegt; bei der Wahl im Jahr 2004 nahmen EU-weit lediglich 45,5 % der Stimmberechtigten ihr Wahlrecht wahr (in Deutschland 43,0 %). Bei den Bundestagswahlen 2005 gingen hingegen 77,7 % der Bundesbürger an die Wahlurnen.
Aber nicht nur die Wahlbeteiligung unterscheidet sich erheblich, sondern auch das Muster der Stimmabgabe für die beteiligten Parteien. Teilweise ist dies natürlich durch die als geringer wahrgenommene Wichtigkeit bedingt, teilweise aber auch durch Unterschiede im System. Einer der wichtigsten Unterschiede ist, dass man bei Bundestagswahlen mit seiner Zweitstimme eine Partei wählt, mit der Hoffnung dass sie an der Regierungsbildung beteiligt ist. Im europäischen Parlament hingegen, wird keine Regierung gewählt. Die Parteien aus den EU-Ländern schließen sich zudem zu Fraktionen zusammen. D.h. es existieren auf EP-Ebene keine Parteien im eigentlichen Sinne, wie auf Bundesebene (vgl. Landfried 2004: S. 5f). Unter diesen Umständen stellt sich für den Wähler natürlich die Frage, inwiefern er die von ihm präferierte Politik erwarten kann; gerade dann, wenn es zwischen den europäischen Ländern größere Unterschiede innerhalb der Parteifamilien gibt, ist zu erwarten, dass diese Frage einen erheblichen Einfluss auf das Wahlverhalten hat.
In diesem Zusammenhang unterscheidet man auch oft zwischen „voting with the head“, bei dem auch strategische Überlegungen eine Rolle spielt, „voting with the heart“, bei man ohne strategische Überlegungen seine präferierte Partei wählt und „voting with the boot“, welches eine Art Protestwahl beschreibt (vgl. Franklin, 2005: S. 5). Strategisches Wahlverhalten findet sich überwiegend bei „First-Order“-Wahlen, die anderen beiden Formen eher bei „Second-Order“-Wahlen und sind auf die durch den Wähler als gering eingestufte Wichtigkeit solcher Wahlen zurückführbar.
Oftmals spricht man bei Wahlen zum EP auch von „nationalen Second-Order-Wahlen“, weil bei sehr vielen Wählern nationale politische Themen die Wahlentscheidung bestimmen. So gaben bei der Umfrage der Forschungsgruppe Wahlen 59 % der Befragten an, dass bundespolitische Motive die Entscheidung dominieren; nur bei 34 % sind es Europathemen. Zudem geht es ja auch um nationale Parteien sowie nationale politische Ämter (vgl. Hix 2003: S. 168f).
Interessant ist weiter, dass rund 40 % der Wähler bei einer (hypothetisch) gleichzeitig stattfindenden nationalen Wahl anders abstimmen würden als bei einer Wahl zum EP – ein Phänomen das z.B. Franklin als „Quasi-Wechsel“ („quasi-switching“) bezeichnet (vgl. Franklin 2001: S. 210). Für dieses Quasi-Wechseln gibt es in Abschnitt 4 eine Reihe von Erklärungen, doch um diese besser verstehen zu können und somit feststellen zu können, inwiefern es sich bei EP-Wahlen um nationale „Second-Order“-Wahlen handelt, werden im folgenden Abschnitt zunächst die „klassischen“ Wahltheorien für First-Order-Wahlen beschrieben.
3.) „Klassische“ Theorien zur Parteienwahl
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Grafik 1: Kausalitätstrichter des New American Voters. Quelle: Miller und Shanks 1996, S. 192. Übersetzung Pappi und Shikano.
Der sozialpsychologische Ansatz des „New American Voters“ von Miller und Shanks erlaubt die Interpretation einer Wahl als zusammengesetzt aus Wählereigenschaften, die vor längerer Zeit entstanden sind und aus wahlspezifischen Determinanten (Pappi & Shikano 2005: S. 17). Der Kausalitätstrichter ordnet acht Determinanten der Wahlentscheidung auf insgesamt sechs Stufen in ihrer korrekten kausalen Reihenfolge. Dies ist so zu verstehen, dass die übergeordneten Faktoren auf die nachfolgenden wirken, aber auch ihren eigenen Einfluss auf die Parteienwahl haben. Das Modell wurde zwar für den amerikanischen Kontext entwickelt, lässt sich aber auch sehr gut auf den europäischen bzw. deutschen übertragen, wobei im Schema lediglich der Präsident durch die Regierung ersetzt werden muss.
Die erste Stufe beinhaltet wichtige soziale und ökonomische Charakteristika des Wählers, die seine Parteiidentifikation sowie politikrelevanten Dispositionen geformt haben. Die Faktoren auf den ersten beiden Stufen werden von Miller und Shanks gewissermaßen als „gegeben“ angesehen, bzw. als vor einer Wahl bereits existent und werden nicht von aktuellen Kurzzeiteinflüssen berührt (vgl. Miller & Shanks 1996: S. 191f). Stattdessen wirken diese Faktoren auf die politische Sozialisation und somit auf die Art und das Ausmaß des politischen Interesses, der politischen Orientierung und der Informationsaufnahme.
Was die Parteiidentifikation betrifft, also die relativ stabile affektive Bindung einer Person an eine bestimmte Partei (vgl. Kunz & Thaidigsmann 2005: S. 54), stellt sich die Frage, inwiefern sich dieses, für den amerikanischen Kontext entwickelte Konstrukt auf Europa übertragen lässt. Miller und Shanks sprechen eher von einer Art „psychischen Parteimitgliedschaft“, weniger von einer formalen, die in den USA kaum eine Rolle spielt. Tatsächlich fragt das Item zur Erfassung der Parteiidentifikation ab, ob man sich z.B. als Republikaner oder Demokrat sieht. Würde man die Wähler in Deutschland fragen, ob sie sich z.B. als Christ- oder Sozialdemokrat sehen, würden sie darunter eine formale Parteimitgliedschaft verstehen. Stattdessen fragt man die Wähler in Europa nach ihrer dauerhaften Parteineigung, was einen adäquaten Kompromiss zur Übertragung des Konstruktes darstellt (vgl. Pappi & Shikano 2005: S. 11f). Im Zusammenhang mit der Parteiwahl bei Wahlen zum EP, stellt sich die Frage, welche Rolle die Parteiidentifikation hier spielt, denn wie bereits erwähnt, ist es für den Wähler schwierig abzuschätzen, inwiefern die aus den europäischen Parteien zusammengestellten Fraktionen seine politischen Präferenzen vertreten werden. Entsprechend kann man einen eher schwachen Einfluss der Parteiidentifikation erwarten.
Ab der dritten Stufe, auf der aktuelle Politikpräferenzen und die Wahrnehmung der gegenwärtigen Situation verarbeitet werden, spricht man nur noch von Kurzzeiteinflüssen. Diese sind Meinungen und Bewertungen, die während des Wahlkampfs gebildet werden (vgl. Pappi & Shikano 2005: S. 19f). Hier ist zu erwarten, dass der Einfluss dieser Faktoren bei EP-Wahlen relativ hoch ist, insbesondere dann, wenn für den Wähler nationale Themen eine wichtige Rolle spielen. Die retrospektive Bewertung der Regierung hingegen, trifft bei EP-Wahlen nicht zu, da ja keine Regierung gewählt werden kann. Möglicherweise kann stattdessen eine retrospektive Bewertung des EPs oder der Europäischen Union im allgemeinen geschehen. Ähnlich wird auch die fünfte Stufe, also die Eindrücke über die Qualität von Kandidaten bei EP-Wahlen keine Rolle spielen, da man mit der Wahlentscheidung nicht, wie bei Bundestagswahlen, über einen Regierungschef mitbestimmt, bzw. zumindest indirekt Einfluss auf dessen Wahl nimmt. Die letzte Stufe, also die erwartete Performanz der Parteien, beinhaltet hypothetische Fragen des Wählers, welche Partei wohl die bessere Arbeit leisten wird (vgl. Miller & Shanks 1996: S. 193). Diese Erwartungen sind für den Wähler aufgrund der bereits mehrfach genannten systematischen Unterschiede schwer abschätzbar.
Wie man sieht, ist dieses Modell zwar für nationale Wahlen sehr gut anwendbar, doch aufgrund der systematischen Unterschiede nur bedingt auf EP-Wahlen übertragbar – dies wird sich später auch empirisch zeigen. Sicherlich werden einige Faktoren auch hier einen Einfluss ausüben, doch nicht ohne Grund existieren Erklärungsmodelle, die auf EP-Wahlen zugeschnitten sind und auf deren Besonderheiten eingehen.
4.) Theorien des Wählerverhaltens für „Second-Order“-Wahlen
Bei Wahlen zum EP zeigt sich zwar, dass die Ergebnisse der Parteien selten um mehr als 6 % von dem abweichen, was sie bei gleichzeitig stattfindenden Parlamentswahlen erreichen würden, doch rund 40 % der Wähler entscheiden sich bei EP-Wahlen für eine andere Partei (vgl. Franklin 2001: S. 210). D.h. die Wahlergebnisse sind zwar auf den ersten Blick ähnlich, doch sieht man hinter diese „Fassade“, zeigen sich gravierende Unterschiede. Ist dieser Quasi-Wechsel ein Anzeichen für das zunehmend unbeständiger werdende Agieren der Wähler oder verbergen sich dahinter systematische Faktoren? Die folgenden Ansätze versuchen, das Wahlverhalten bei EP-Wahlen detaillierter zu beleuchten.
4.1.) “Surge and Decline” (Angus Campbell, 1960)
Auch diese Theorie wurde für US-Präsidentschaftswahlen aufgestellt, ist aber laut Angus Campbell auch auf andere Systeme übertragbar. Zunächst gilt es, drei Typen von Wählern zu differenzieren: Die „Kernwähler“ („core voters“) zeichnen sich durch eine klare und starke Parteipräferenz aus, interessieren sich prinzipiell stärker für Politik und sind somit grundsätzlich hoch motiviert, an Wahlen teilzunehmen. Die „peripheren Wähler“ („periperal voters“) hingegen, haben zwar zumeist eine Parteipräferenz, diese ist aber schwächer ausgeprägt als bei den Kernwählern. Zudem ist ihr politisches Interesse geringer, so dass sie einen starken Anreiz brauchen, um Wählen zu gehen (z.B. Wichtigkeit der Wahl). Die „unabhängigen Wähler“ („independents“) haben keine klare Parteipräferenz und entscheiden sich zumeist anhand von Kurzzeiteinflüssen.
„First-Order“-Wahlen gelten in diesem Modell als hoch stimulierte Wahlen, die dazu führen, dass erstens, Leute wählen gehen, die sich sonst ihrer Stimme enthalten weil viel „Lärm“ um die Wahl gemacht wird und zweitens, manche Wähler, auch die Kernwähler, dazu neigen werden, eine andere Partei zu wählen als die, für die eigentlich „ihr Herz schlägt“ wenn ihre Partei keine Siegeschancen hat (vgl. Campbell 1987: S. 966). Es geht vorwiegend darum, dass man seine Stimme bei den „First-Order“-Wahlen gewissermaßen nicht „verschwenden“ möchte und stattdessen eine andere, voraussichtlich erfolgreichere Partei wählt.
Bei „Second-Order“-Wahlen wirken Kurzzeiteinflüsse weniger stark, so dass die Wähler eher ihr „normales“ Wahlverhalten an den Tag bringen werden, mit der Konsequenz dass periphere Wähler der Wahlurne eher fernbleiben, weil ihr „normales“ Wahlverhalten mit einer geringeren Beteiligung einher geht (vgl. Campbell 1960: S. 401). Ähnlich auch bei unabhängigen Wählern: diese orientieren sich stärker an Kurzzeiteinflüssen und sind bei „First-Order“-Wahlen deshalb tendenziell eher der designierten Regierungspartei zugeneigt (vgl. Campbell 1987: S. 967). Weiter werden auch Wähler mit starken Präferenzen für die Verliererpartei, die bei der „First-Order“-Wahl auf die Siegerpartei gesetzt haben, wieder zu ihrer eigentlich präferierten Partei zurückkehren. Die Konsequenz davon ist, dass die regierende Partei bei den „Second-Order“-Wahlen an Stimmen verlieren wird (vgl. Campbell 1987: S. 966f).
[...]
[1] Im Folgenden: EP genannt
- Quote paper
- Konrad Brylla (Author), 2006, Erklärung von Wahlentscheidungen - ein Vergleich zwischen Wahlen zum Bundestag und zum europäischen Parlament, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/68119
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