Die internationale Schülerleistungsvergleichs-Studie der OECD (PISA) hat eine breite öffentliche und politische Debatte um die Leistungsfähigkeit des deutschen Bildungssystems ausgelöst. Alarmierend sind nicht nur die vergleichsweise schlechten Testresultate der deutschen Schüler, sondern auch die Tatsache, dass der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und schulischer Leistung in keinem der getesteten Länder so ausgeprägt ist wie in der BRD. Diese Seminararbeit geht in Anlehnung an die aktuelle politische Debatte der Frage nach, wie eine gelungene Bildungsreform in Deutschland aussehen könnte. Dabei werden sowohl politische, als auch soziologische Aspekte (Sennett, Bourdieu) in Betracht gezogen. Ferner wird untersucht, ob und wie die Reformvorschläge bereits in die Schulpraxis Einzug gehalten haben.
The results of the international student assessment programme initiated by the OECD (PISA) have triggered off a lively public debate about the performance of the German educational system. Not only the comparatively mediocre testing results of the German students were alarming, but also the fact that a student’s social background and his/her academic performance are in none of the participating countries as closely linked as in Germany. Following the current political debate, this paper raises the question what a successful reform of the German educational system should resemble. This includes a thorough elucidation of political as well as sociological aspects. Furthermore, the implementation of the proposals of reform in every day school practice shall be examined.
Inhaltsverzeichnis
Abstracts
A. Bildungsnotstand in Deutschland
B. Die Wiederherstellung einer Bildungsnation – Die PISA-Studie & ihre Konsequenzen für die deutsche Bildungspolitik
1. Das deutsche Bildungssystem seit 1945
1.1 Das gesamtdeutsche Bildungswesen nach der Herstellung der Einheit 1990
2. Die PISA-Studie: Ein Wegweiser aus der Bildungskrise?
2.1 Erläuterung von Zielen und Inhalten der PISA-Studi
2.2 Resümee der Ergebnisse
3. Eckpunkte einer Bildungsreform: Aktuelle Vorschläge und ihre Umsetzbarkeit
3.1 Instrumente der Schulpolitik und ihre Wirksamkeit
3.2 Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen des deutschen Schulwesens (Besonderes Verwaltungsrecht – Schulrecht)
3.3 Standortnachteil oder Innovationsquell? - Die Debatte um den Kulturföderalismus
3.4 Über die Stärkung schulischer Autonomie
3.5 Der Ausbau schulischer Ganztagsangebote
3.5.1 Das deutsche Halbtagsschulsystem – heute noch zeitgemäß?
4. Mögliche Reformschwierigkeiten – Ein soziologischer Einwand
4.1 Die Illusion der Chancengleichheit im Bildungssystem
(Pierre Bourdieu)
4.2 Die Perpetuierung sozialer Hierarchien (Richard Sennett)
C. PISA – Ein lehrreiches Desaster für die Bundesrepublik?
D. Quellenverzeichnis
Abstract
The results of the international student assessment programme initiated by the OECD (PISA) have triggered off a lively public debate about the performance of the German educational system. Not only the comparatively mediocre testing results of the German students were alarming, but also the fact that a student’s social background and his/her academic performance are in none of the participating countries as closely linked as in Germany. Following the current political debate, this paper raises the question what a successful reform of the German educational system should resemble. This includes a thorough elucidation of political as well as sociological aspects. Furthermore, the implementation of the proposals of reform in every day school practice shall be examined.
A. Bildungsnotstand in Deutschland
Lange Zeit galten die deutschen Schulen und Hochschulen als vorbildlich für die ganze Welt. Amerikanische Universitäten orientierten sich an den Ideen des preußischen Politikers und Schulreformers Wilhelm von Humboldt über den Aufbau der höheren Bildungsanstalten. Das humanistische Gymnasium, das ursprüngliche Kernstück des deutschen Schulsystems, fand weltweit zahlreiche Nachahmungen und der deutsche Kindergarten, dem Wort und der Sache nach eine Erfindung des Erziehungsreformers Friedrich Fröbel (1782-1852), lieferte international den Maßstab für die Vorschulerziehung. „Noch vor vierzig Jahren, meinte ein Mitarbeiter der OECD, die Deutschland seinen PISA-Schock verpasste, hätte das deutsche Bildungswesen bei jedem internationalen Vergleich die Spitze gehalten - während es jetzt, nur eine Generation später, auf einem der hinteren Plätze liegen geblieben ist […].“[1]
Die internationale Schülerleistungsvergleichs-Studie der OECD (PISA) hat eine breite öffentliche und politische Debatte um die Leistungsfähigkeit des deutschen Bildungssystems ausgelöst. Alarmierend sind nicht nur die vergleichsweise schlechten Testresultate der deutschen Schüler, welche im internationalen Vergleich im unteren Mittelfeld anzusiedeln sind, sondern auch die Tatsache, dass der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und schulischer Leistung in keinem der getesteten Länder so ausgeprägt ist wie in der BRD. Hinzu kommt, dass in keinem anderen an der PISA-Studie beteiligten Land die Kluft zwischen den oberen und unteren Leistungsgruppen so groß ist wie in Deutschland. „Das deutsche Bildungssystem ist ungerecht und produziert Mittelmaß.“[2], fasste es das Magazin „fluter“ der Bundeszentrale für politische Bildung zusammen.
Die PISA-Studie (PISA 2000) und die PISA-Ergänzungsstudie (PISA-E) liefern für Bildungspolitik und Schulpraxis wichtige Grundlagen und Impulse für Veränderungen und Innovationen, deren Notwendigkeit nun nicht mehr von der Hand zu weisen ist. Über das Ziel ist man sich einig: „Ein Land mit der wissenschaftlichen und politischen Bedeutung wie Deutschland gehört in die internationale Spitzengruppe der Bildungsnationen und darf sich weder mit dem OECD-Mittelmaß, geschweige denn einer Position darunter zufrieden geben.“[3], äußerte Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung und Forschung, anlässlich des Abschlusskongresses des Forums für Bildung am 10.01.2002. Welche bildungspolitischen Instrumente jedoch zur Erreichung dieses Ziels verwendet werden sollten, ist noch immer umstritten.
In Anlehnung an die aktuelle politische Debatte geht diese Seminararbeit der Frage nach, wie – fokussierend auf die allgemein bildenden Schulen - eine gelungene Bildungsreform in Deutschland aussehen könnte. Hierzu wird zunächst der Aufbau des deutschen Bildungssystems aus seiner historischen Entstehung erläutert. Dann werden Ziele und Ergebnisse der PISA-Studie vorgestellt, in dessen Anschluss die von PISA aufgedeckten Schwachstellen des deutschen Bildungswesens erörtert und verschiedene Vorschläge zur Hebung des Leistungsniveaus daraufhin analysiert werden sollen, ob sie zum einen (verfassungsrechtlich) umsetzbar und zum anderen auch sinnvoll sind. Das Hauptinteresse liegt hierbei auf folgenden Reformvorschlägen:
1. Soll auf die aktuelle Debatte um den deutschen Kulturföderalismus eingegangen werden, im Zuge derer es zu Widersprüchen zwischen dem Wunsch nach Vereinheitlichung einerseits und der weitgehend unantastbaren Bildungshoheit der Bundesländer auf der anderen Seite kommt. Hierbei werden Vor- und Nachteile sowohl einer stärkeren Zentralisierung, als auch einer gesteigerten Dezentralisierung im Bildungsbereich diskutiert. 2. Werden positive und negative Aspekte der von einem Großteil der Reformer geforderten Stärkung schulischer Autonomie erörtert. Und 3. wird auf den groß angelegten Ausbau schulischer Ganztagsangebote der Bundesregierung eingegangen.
Abschließend wird das Augenmerk auf zu erwartende Reformschwierigkeiten gerichtet. Dabei werden sowohl soziologische (Sennett, Bourdieu), als auch politische Aspekte in Betracht gezogen und untersucht, ob und wie die Reformvorschläge bereits in die Schulpraxis Einzug gehalten haben. Die Frage, ob PISA ein „lehrreiches Desaster“ für die Bundesrepublik war, soll an anhand konkreter Beispiele zumindest teilweise beantwortet werden.
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B. Die Wiederherstellung einer Bildungsnation – Die PISA-Studie und ihre Konsequenzen für die deutsche Bildungspolitik
1. Das deutsche Bildungssystem seit 1945
Bereits in der frühen Nachkriegszeit fielen in den drei westlichen Besatzungszonen Deutschlands und der sowjetischen Besatzungszone (SBZ) entgegen gesetzte Entscheidungen über politische Grundlagen und Struktur des Bildungswesens.
Während sich in den 1946 im Westen gebildeten Ländern die föderalistische Ordnung etablierte und aus dem Grundgesetz (1949) die „Kulturhoheit der Länder“ abgeleitet wurde, hatte die Bildungspolitik in der SBZ einen zentralistischen Charakter. Über mehrere Etappen kam es 1965 zur gesetzlichen Fixierung eines einheitlichen sozialistischen Bildungssystems (vom Kindergarten bis zum Hochschulwesen), das bis 1990 bestand.
„Der weltanschauliche und interessengebundene Pluralismus im westdeutschen Bildungs- und Wissenschaftsbereich kontrastierte seit den 1950er Jahren scharf zu dem ideologischen Monismus und dem Jugenderziehung, Schule und Ausbildung umfassenden Totalitätsanspruch der SED.“[4] In den Ländern der BRD kam es in struktureller Hinsicht – in Anknüpfung an die Verhältnisse im Deutschen Reich vor 1933 und als Reaktion auf die nationalsozialistische (und wohl auch auf die kommunistische) „Einheitstümelei“ – zunächst zur weitgehenden Wiederherstellung eines dreigliedrigen allgemeinbildenden Schulwesens. In den 1960er Jahren kam es schließlich zu verschiedenen Reformversuchen im Schul- und Hochschulwesen, „[…]die zu einer Expansion der weiterführenden Bildungswege, vor allem des Gymnasiums und der Universitäten bei gleichzeitigem Rückgang der Hauptschulen, zur Errichtung von Gesamtschulen und zur Reform der gymnasialen Oberstufe führten.“[5] In der aktuellen politischen Diskussion wird diese Bildungsreform retrospektiv häufig für misslungen erklärt. Zwar wurde der seit 1948 bestehenden Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder (KMK) 1970 die Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung (BLK) zur Seite gestellt, um eine größtmögliche Vergleichbarkeit der Bildungsinhalte und –abschlüsse zu gewährleisten, der Versuch, einen „Bildungsgesamtplan“ zu realisieren, scheiterte jedoch.
1.1 Das gesamtdeutsche Bildungswesen nach der Herstellung der Einheit 1990
Nach der Konstituierung der fünf neuen Bundesländer und der Regierungsbildung begann Ende 1990 der administrative Umbau im Schul- und Hochschulwesen. Die Kernsätze lauteten: „Mit dem Wirksamwerden des Beitritts der DDR zur Bundesrepublik gilt auch in den neuen Ländern die Kompetenzordnung des Grundgesetzes. Damit fällt ihnen die Gestaltung von Bildung, Wissenschaft und Kultur weitgehend als eigene Aufgabe zu.“[6]
Die Schulstruktur wurde - zumindest in formaler Hinsicht – in relativ kurzer Zeit dem gegliederten allgemeinbildenden Schulwesen der westdeutschen Länder angeglichen. Hierbei ergaben sich deutliche Affinitäten zwischen „Partnerländern“, die den jeweiligen Parteikonstellationen folgten; so zum Beispiel zwischen dem Land Brandenburg und Nordrhein-Westfalen.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Die Grundstruktur des Bildungswesens in der Bundesrepublik Deutschland[7]
Mit einigen Ausnahmen (zum Beispiel Berlins und Brandenburgs) beginnen die weiterführenden Schulen nach Beendigung der vierjährigen Grundschulzeit. In den meisten Bundesländern gibt es drei, in einigen nur zwei (Sachsen, Thüringen) parallele Sekundarschultypen – Gymnasien mit 12 oder 13 Schuljahren und verschieden benannte allgemeine Sekundarschulen (Realschulen, Mittelschulen, Regelschulen und Hauptschulen) mit 9 oder 10 Schuljahren. In einigen wenigen Bundesländern (darunter Brandenburg) hat die Gesamtschule den Status einer Regelschule. Insgesamt konstituiert sich ein äußerst heterogenes schulstrukturelles Gesamtbild.
Die beschriebenen Umstrukturierungen verliefen jedoch nicht konfliktfrei. Insbesondere die „innere Reform“ ist in einigen Bereichen auch bis zum heutigen Tage noch nicht vollständig abgeschlossen. Auch ist angesichts des relativ schlechten Abschneidens der deutschen Schüler im internationalen Vergleich die Frage berechtigt, inwieweit die Bildungspolitik nach 1990 der an sie gestellten doppelten Herausforderung von Erneuerung im Osten Deutschlands und Innovation der Strukturen und Inhalte in der gesamten Bundesrepublik gerecht werden konnte. Hierbei sind auch in zunehmendem Maße „[…] die europäische Dimension und darüber hinaus die unter dem Stichwort Globalisierung betonten weltweiten Aufgaben für Bildung und Erziehung zu berücksichtigen.“[8]
***
2. Die PISA-Studie: Ein Wegweiser aus der deutschen Bildungskrise?
2.1 Erläuterung der Ziele und Inhalte der PISA-Studie
Das Akronym PISA bedeutet P rogramme for I nternational S tudent A ssessment und steht für „[…] die umfassendste und differenzierteste internationale Vergleichsstudie für Schulleistungen in der Bildungsgeschichte.“[9] Es ist das erklärte Ziel dieser Schulleistungsstudie der OECD (O rganization for E conomic C ooperation and D evelopment), den Regierungen der teilnehmenden Staaten regelmäßig Indikatoren zur Verfügung zu stellen, die für politisch-administrative Entscheidungen zur Verbesserung der nationalen Bildungssysteme verwendbar sind. Der Begriff der politisch-administrativen Entscheidung ist hierbei weit gefasst: Er bezieht sich sowohl auf die Entwicklung der einzelnen Schulen, als auch auf die Unterstützungssysteme von der Lehrerausbildung bis zur Schulberatung.
Die untersuchten Indikatoren beziehen sich auf die Bereiche der Lesekompetenz, sowie der mathematischen und naturwissenschaftlichen Grundbildung. Allerdings fragt PISA nicht einfach auswendig gelerntes Schulwissen ab, sondern prüft fächerübergreifend, inwiefern die Schüler in der Lage sind, erworbenes Wissen zu reflektieren und auf realitätsnahe Probleme anzuwenden. So ist beim Lesen beispielsweise nicht das „mechanische Lesen“ gefragt, sondern die Fähigkeit, verschiedenartigen Texten Informationen zu entnehmen und sie sinnvoll zu verknüpfen. Entsprechend besteht der Mathematiktest nicht aus simplen Rechenexempeln. Gefordert wird die Fähigkeit, alltagsnahe Probleme mathematisch zu analysieren und mit Hilfe mathematischer Kenntnisse Lösungen zu finden. Auf ähnlichen Prinzipien beruht auch der PISA-Test im Bereich der naturwissenschaftlichen Grundbildung. In allen Bereichen untersucht PISA also, „[…] welche Chancen Schüler aufgrund ihrer Bildung haben, später am gesellschaftlichen Leben aktiv teilzunehmen, und welche Voraussetzungen sie mitbringen, um eigenverantwortlich weiterlernen zu können.“[10]
Die erste PISA-Studie wurde 2000 erhoben und wird nun im Dreijahreszyklus mit wechselnden Gewichtungen fortgesetzt. Nachdem 2000 die Lesekompetenz und 2003 die Mathematik im Mittelpunkt der Untersuchung stand, werden 2006 die Naturwissenschaften und 2009 wiederum die Lesekompetenz die Schwerpunkte bilden. Die Schulleistungsstudie PISA 2000, auf deren Ergebnisse sich diese Seminararbeit überwiegend bezieht, maß Fachleistungen und fächerübergreifende Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern im Alter von 15 Jahren. An der Datenerhebung nahmen 28 OECD-Mitgliedsstaaten und vier Nicht-OECD-Länder teil. In Deutschland nahmen an der internationalen Vergleichsstudie 5 073 Schüler an 219 Schulen teil; darüber hinaus wurde eine erweiterte, die Bundesländer vergleichende Studie mit insgesamt mehr als 50 000 Schülern an 1 466 Schulen durchgeführt (PISA-E).[11]
2.2 Resümee der Ergebnisse
Die Ergebnisse der Ende 2001 veröffentlichten Schulstudie PISA haben bekanntermaßen ein relativ ungünstiges Bild des Leistungsstandes deutscher Schüler gezeichnet. Bevor die Ergebnisse näher erörtert werden, soll hier noch kurz bemerkt werden, dass gerade das, was nach deutscher Tradition als Bildung gilt, bei der PISA-Untersuchung keine Rolle spielte: Originalität, Kombinationsvermögen, Erinnern und Vorausdenken, sowie der Sinn für Kunst und Kultur waren nicht gefragt. PISA beschränkt sich rein auf das „Nützliche“ und lässt das „Übernützliche“, wie Thomas Mann es einmal genannt hat, außer Acht. Dies ist natürlich – wenn überhaupt – nur ein schwacher Einwand gegen die PISA-Ergebnisse. Ein internationaler Vergleichstest muss „kulturell fair“ sein, weshalb sich universalgültige Basiskompetenzen zur Überprüfung anbieten und PISA kulturelle Aspekte ausblendet, um niemanden zu benachteiligen.
Die deutschen Schüler und Schülerinnen schnitten im weltweiten Vergleich schlecht ab. Sie lagen unter 31 Teilnehmerstaaten auf Rang 20 in Mathematik und den Naturwissenschaften, sowie auf Rang 21 im Lesen[12]. Etwa ein Zehntel der deutschen SchülerInnen fiel in die unterste Stufe („Unter Stufe 1”) der Lesekompetenz: Sie sind kaum in der Lage einfachste Texte zu verstehen. Mit diesem Wert bewegt sich Deutschland international unter den Schlusslichtern (einen höheren Anteil an „Leseversagern“ gibt es nur noch in Luxemburg, Lettland, Mexiko und Brasilien). Weitere 13 Prozent der Schüler waren der „Kompetenzstufe 1” zuzuordnen, auf welcher nur elementare Lesefähigkeiten vorhanden sind, die für einen reibungslosen Übergang ins Berufsleben nicht ausreichen. Dies ist insbesondere beunruhigend, da die Lesefähigkeit als zentrale Kulturtechnik des Informations- und Wissenstransfers die unentbehrliche Basis jeglicher (Aus- und Weiter-)Bildung ist. „In der Praxis heißt dies, dass zukünftig etwa einem Viertel der jungen Erwachsenen nahezu alle Bildungschancen verschlossen bleiben“[13] Neun Prozent der deutschen Schüler schafften es in die fünfte Kompetenzstufe der „Expertenleser“; dieses Ergebnis fällt ins OECD-Mittelfeld (zum Vergleich die Extremwerte: Brasilien 1 Prozent, Neuseeland 19 Prozent).
Im internationalen Vergleich der Ergebnisse fällt ferner auf, dass in Deutschland die Kluft zwischen guten und schlechten Schülern besonders weit ist. Dies ist als Hinweis auf eine starke Selektivität des deutschen Schulsystems zu werten. Insbesondere Migrantenkinder schneiden auffallend schlecht ab, was Rückschlüsse auf eine soziale Undurchlässigkeit erlaubt. Diese Trends sind ausgeprägter als in allen anderen Ländern einschließlich der USA. Doch nicht nur die Leistungskluft zwischen den Schülern ist bedenklich. Auch die Abstände zwischen den einzelnen deutschen Bundesländern erwiesen sich als erheblich. Während Bayern im Falle einer Einzelwertung mit 510 Punkten in der Lesekompetenz immerhin auf Rang 10 der internationalen Vergleichsliste läge, sähe sich Bremen mit nur 448 erreichten Punkten auf den viertletzten, den 28. Rang verwiesen – dicht gefolgt von den Schwellenländern Mittel- und Südamerikas.[14]
All dies sind Indikatoren für ein vergleichsweise unzulängliches Schulsystem. Seit der Veröffentlichung von PISA 2000 im Dezember 2001, welche das Selbstbildnis der Deutschen als Bildungsnation erschütterte, werden Auswege aus der „Bildungskrise“ gesucht. Die PISA-Resultate liefern hierbei wichtige Anhaltspunkte für den Verbesserungsbedarf im deutschen Bildungssystem.
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3. Eckpunkte einer Bildungsreform – aktuelle Vorschläge und ihre Umsetzbarkeit
3.1 Instrumente der Schulpolitik und ihre Wirksamkeit
Zum Zweck der Entscheidungsfindung werden in der (Bildungs-)Politik häufig einfache Ländervergleiche angestellt. Auf die PISA-Ergebnisse bezogen bedeutet dies: Da Finnland den ersten Platz der Lesekompetenzstudie belegte, wurde gefolgert, Deutschland benötige gleichfalls ein integriertes Schulsystem mit Ganztagsschulen, um ähnliche Bildungserfolge zu erzielen. Dass ein derartiger Ländervergleich jedoch leicht in die Irre führen kann, lässt sich an folgenden Beispielen belegen: Wie Finnland haben auch Griechenland, Italien, Polen und Ungarn ein bis zur neunten Jahrgangsstufe integriertes Schulsystem, dennoch schnitten alle diese Länder bei PISA ähnlich schlecht oder sogar noch schlechter als Deutschland ab. Und obwohl in Luxemburg an drei Tagen in der Woche ganztägig unterrichtet wird, hat das Land bei PISA ebenfalls einen schlechteren Rang als Deutschland belegt. Simple bilaterale Ländervergleiche bergen das Risiko, dass jeweils das Vergleichsland herangezogen wird, welches am besten zur Argumentationslinie passt. Somit sind die Resultate dieser Vergleiche nicht zuverlässig.
Auch der französische Bildungssoziologe Pierre Bourdieu, der das Bildungssystem sowohl durch eine relative Autonomie und Neutralität, als auch durch eine gewisse Abhängigkeit von der jeweiligen Sozialstruktur charakterisiert, bestätigt, dass bei der Analyse der Funktionen jedes Bildungssystems sämtliche gegenwärtigen und früheren Charakteristika seiner Organisation und seines Publikums zum vollständigen System der Relationen, welche zu einem gegebenen Zeitpunkt zwischen dem Bildungssystem und der Sozialstruktur bestehen, in Beziehung gesetzt werden müssen.[15] Die PISA-Resultate können also nur bedingt als „Wegweiser aus der Bildungskrise“ dienen. Das heißt nicht, dass die Orientierung an der Bildungspolitik „erfolgreicherer“ Länder generell sinnlos ist. Um wirklich fundierte Schlussfolgerungen ziehen zu können, müssen jedoch möglichst mehrere Einflussfaktoren zugleich berücksichtigt und verschiedene Länder miteinbezogen werden.
Zu besagten Einflussfaktoren zählen unter anderem: Unterschiede in der Klassengröße, in Merkmalen der Lehrer, in den institutionellen Rahmenbedingungen und im familiären Hintergrund. Im Zuge der PISA-Ergebnisse wurden in Deutschland häufig eine Verringerung der Klassengrößen und eine Erhöhung der staatlichen Ausgaben für Schulen gefordert. Kleinere Klassen müssen jedoch nicht zwingend zu besseren Schülerleistungen führen. Japan und Südkorea rangieren bei PISA auf den ersten beiden Plätzen in Mathematik und den Naturwissenschaften – obwohl hier die Klassenstärke im Durchschnitt 38-39 Schüler beträgt (in der BRD liegt sie bei durchschnittlich 24 Schülern)[16]. Auch ein höheres staatliches Ausgabenniveau geht im internationalen Vergleich nicht zwangsläufig mit besseren Schülerleistungen einher. Eine gute Ausstattung mit Lehrmaterialien, ein höheres Ausbildungsniveau und größere Berufserfahrung der Lehrenden, sowie die (Um-)Gestaltung der institutionellen Rahmenbedingungen (so dass allen am Bildungsprozess beteiligten Personengruppen Anreize zur Verbesserung der Schülerleistungen gegeben werden) bringen weitaus größere positive Leistungseffekte mit sich.
3.2 Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen des deutschen Schulwesens
(Besonderes Verwaltungsrecht – Schulrecht)
Da eine Reform des Bildungssystems nicht außerhalb bestimmter, gesetzlich festgelegter Bedingungen verlaufen kann, sollen hier zunächst die verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen deutscher Bildungspolitik erläutert werden.
Gemäß Artikel 7 I des Grundgesetzes (GG) steht „[…] das gesamte Schulwesen unter der Aufsicht des Staates“[17], welcher somit die Verantwortung für das Schulwesen trägt. Diese staatliche Schulhoheit umfasst folgende Eingriffe in das Bildungsgeschehen:
1. Die staatliche Rechtssetzung, zu welcher unter anderem die gesetzliche, für alle vom vollendeten 6. bis zum vollendeten 18. Lebensjahr verbindliche Schulpflicht gehört.[18]
2. Die staatliche Planung und Gestaltung des Aufbaus und der Gliederung des Schulwesens, insbesondere aber auch die Festlegung der Bildungsziele und der Inhalte.
3. Die Beaufsichtigung und Überwachung des Bildungsangebots, welches größtenteils von staatlichen Bediensteten (Beamten) erstellt wird, sowie
4. die weitgehende Finanzierung des Bildungswesens durch Steuergelder.
„Zusammengenommen ist dies die weitestgehende Möglichkeit des staatlichen Eingriffs in die Bildungspolitik.“[19] Zwar wird in Art. 7 IV GG das Recht zur Errichtung von privaten Schulen gewährleistet (es gibt also kein staatliches Schulmonopol in der Bundesrepublik), jedoch benötigen Privatschulen der Genehmigung des Staates, welche nur zu erteilen ist „[…] wenn die privaten Schulen in ihren Lehrzielen und Einrichtungen sowie in der wissenschaftlichen Ausbildung ihrer Lehrkräfte nicht hinter den öffentlichen Schulen zurückstehen und eine Sonderung der Schüler nach den Besitzverhältnissen der Eltern nicht gefördert wird.“[20]
[...]
[1] Konrad Adam, Die deutsche Bildungsmisere – PISA und die Folgen, München 2004, S.7.
[2] Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.), fluter, Ausgabe 04, 2002, S.3.
[3] ftp://ftp.bmbf.de/mr-20020110.pdf.
[4] Uwe Andersen/Wichard Woyke (Hrsg.), Handwörterbuch des politischen Systems, Bonn 2003, S. 36/37.
[5] Uwe Andersen/Wichard Woyke (Hrsg.), Handwörterbuch des politischen Systems, Bonn 2003, S.37.
[6] Uwe Andersen/Wichard Woyke (Hrsg.), Handwörterbuch des politischen Systems, Bonn 2003, S.37.
[7] Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.), Wirtschaft heute, Bonn 2000, S.147.
[8] Uwe Andersen/Wichard Woyke (Hrsg.), Handwörterbuch des politischen Systems, Bonn 2003, S.39.
[9] Wolfgang Blümel, Microsoft® Encarta® Enzyklopädie Professional 2003, Stichwort „PISA“.
[10] Wolfgang Blümel, Microsoft® Encarta® Enzyklopädie Professional 2003, Stichwort „PISA“.
[11] Konrad-Adenauer-Stiftung e.V. (Hrsg.), Zukunftsforum Politik, Nr. 46, PISA-E und was nun? Bilanz des innerdeutschen Schulvergleichs, Sankt Augustin, 2002, S. 7.
[12] Ludger Wößmann, „Familiärer Hintergrund, Schulsystem und Schülerleistungen im internationalen Vergleich“, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B21-22/2003 S. 33
[13] Vgl. Wolfgang Blümel, Microsoft® Encarta® Enzyklopädie Professional 2003, Stichwort „PISA“.
[14] Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.), fluter, Ausgabe 04, 2002, S.9.
[15] Pierre Bourdieu/ Jean Claude Passeron, „Die Illusion der Chancengleichheit“, Stuttgart 1971, S.124.
[16] Ludger Wößmann „Familiärer Hintergrund, Schulsystem und Schülerleistungen im internationalen Vergleich“ in: Aus Politik und Zeitgeschichte B21-22/2003, S.35.
[17] Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.), Grundgesetz für Einsteiger und Fortgeschrittene, Bonn 2004, S.6.
[18] Die „allgemeine Schulpflicht“ (Vollzeitschule) beginnt nach der Vollendung des 6. Lebensjahres und dauert neun bis zehn Jahre an. Daran schließt sich eine dreijährige „Berufschulpflicht“ (Teilzeitschule), die durch den weiterführenden Besuch einer Vollzeitschule ersetzt werden kann.
[19] Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.), Wirtschaft heute, Bonn 2000, S.146.
[20] Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.), Grundgesetz für Einsteiger und Fortgeschrittene, Bonn 2004, S.6.
- Arbeit zitieren
- Juliane Sarnes (Autor:in), 2005, Die Wiederherstellung einer Bildungsnation. Die PISA-Studie und ihre Konsequenzen für die deutsche Bildungspolitik, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/68013
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