Die Veröffentlichung der ersten PISA-Studie im Jahr 2001 eröffnete eine intensive Debatte über das deutsche Bildungswesen. In der kontroversen Diskussion über Lösungsmöglichkeiten der deutschen „Bildungsmisere“ geriet insbesondere das Thema Ganztagsschule in den Fokus. Vorangetrieben wurde die Diskussion auch durch ein Investitionsprogramm der Bundesregierung zur Förderung von Ganztagsschulen. Dass die Errichtung von Ganztagsschulen eine so zentrale Rolle im öffentlichen Diskurs und im schulpolitischen Handeln einnimmt, liegt daran, dass sich in ihr ganz unterschiedliche Argumentationslinien und Erwartungen verschiedener politischer und gesellschaftlicher Akteure bündeln: Zentral ist die Hoffnung, damit ein besseres Leistungsniveau der Schüler zu erreichen und Schüler stärker individuell zu fördern. Weiter werden mit der Ganztagsschule familienpolitische, sozialpädagogische und didaktische Zielsetzungen verfolgt.
Von den vielen Hoffnungen, die sich an Ganztagsschulen richten, interessiert in dieser Arbeit die, dass Ganztagsschulen Nachteile von Kindern aus sozial schwachen Familien ausgleichen und damit helfen, Chancengleichheit in der Bildungsbeteiligung zu verwirklichen. Ob diese Hoffnung berechtigt ist, ist die zentrale Frage dieser Arbeit. Ihr wird in zwei Schritten nachgegangen.
Zuerst steht der Zusammenhang von Bildung und sozialer Ungleichheit im Fokus. Nach Klärung zentraler Begriffe soll darauf eingegangen werden, wie stark Bildungschancen in Deutschland von der sozialen Herkunft abhängen und wodurch dies verursacht ist. Hier werden empirische Befunde sowie Erklärungsansätze im Anschluss an die bildungssoziologischen Theorien von Boudon und Bourdieu rezipiert. Deutlich wird, dass soziale Herkunft in Deutschland eine wichtige Determinante von Bildungserfolg ist. Bildungsungleichheiten werden von einer Reihe von Mechanismen hervorgebracht und reproduziert, deren genaue Funktion und Gewichtung noch nicht ausreichend erforscht ist.
Danach wendet sich die Arbeit der Ganztagsschule in Deutschland zu. Hier werden die zentralen Merkmale unterschiedlicher Konzeptionen von Ganztagsschule herausgearbeitet und daraufhin untersucht, ob sie dazu geeignet sind, Bildungsdisparitäten abzubauen. Aus Basis der zuvor gewonnenen Kriterien kommt die Arbeit hier für den größeren Teil der Ganztagsschulmodelle in Deutschland zu eher skeptisch stimmenden Befunden.
(Studienabschließende Hausarbeit zum Vordiplom Erziehungswissenschaft, Universität Marburg, 2006.)
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung und Fragestellung
2. Begriffsklärung: Soziale Ungleichheit und Bildung
2.1 Zum Begriff „soziale Ungleichheit“
2.2 Bildung als zentrale Dimension sozialer Ungleichheit
3. Ungleichheit der Bildungschancen in Deutschland
3.1 Ausmaß der Ungleichheit
3.2 Erklärungsansätze
3.2.1 Boudon
3.2.2 Bourdieu
3.3 Zentrale Ursachenkomplexe
3.3.1 Familienspezifische Sozialisation
3.3.2 Institutionelle Ursachen
4. Annäherung der Bildungschancen durch die Ganztagsschule?
4.1 Entwicklung von Ganztagsschulen in Deutschland
4.2 Was ist Ganztagsschule?
4.3 Teilnahme an Ganztagsschulen in Deutschland
4.4 Chancen und Probleme der Ganztagsschule in Bezug auf die Verringerung der soziale Bildungsungleichheiten
4.4.1 Entlastung der Eltern
4.4.2 Ganztagsschule als Ort vielseitigen Lernens
4.4.3 Individuelle Förderung und Reform des Unterrichts
4.4.4 Institutionelle Aspekte
4.4.5 Ganztagsschule – Stigmatisierung oder Nachteilsausgleich?
5. Fazit: Anforderungen an die Ganztagsschule
6. Literatur
1. Einleitung und Fragestellung
Die Veröffentlichung der ersten PISA-Studie[1] im Jahr 2001 eröffnete eine intensive Debatte über das deutsche Bildungswesen. Die Ergebnisse dieser Studie wurden in der Öffentlichkeit als alarmierend aufgefasst: Die durchschnittlichen Kompetenzen deutscher Schüler lagen deutlich unter dem OECD-Durchschnitt. Zudem zeigte die PISA-Studie, dass in Deutschland das Leistungsniveau besonders stark von der sozialen Herkunft abhängig ist.
In der kontroversen Diskussion über Lösungsmöglichkeiten dieser „Bildungsmisere“ geriet insbesondere das Thema Ganztagsschule in den Fokus. Mit Blick auf die Schulsysteme der in der PISA-Studie gut platzierten Länder wurde die deutsche Halbtagsschule als ein Grund für das schlechte Abschneiden Deutschlands betrachtet. Vorangetrieben wurde die Diskussion auch durch die Bundesregierung, die 2002 das Investitionsprogramm „Zukunft Bildung und Betreuung“ auflegte, mit dem Einrichtung und Ausbau von Ganztagsschulen bis 2007 mit vier Milliarden Euro gefördert werden (vgl. Kiper 2005: 175).
Dass die Errichtung von Ganztagsschulen eine so zentrale Rolle im öffentlichen Diskurs und im schulpolitischen Handeln einnimmt, liegt daran, dass sich in dieser Forderung ganz unterschiedliche Argumentationslinien und Erwartungen verschiedener politischer und gesellschaftlicher Akteure bündeln (vgl. Radisch/Klieme 2003: 13-17; Ottweiler 2005). Zentral ist die Hoffnung, damit ein besseres Leistungsniveau der Schüler zu erreichen. Weiter soll mit Ganztagsschulen insbesondere den Kindern berufstätiger Eltern bzw. Alleinerziehender eine Betreuung am Nachmittag gesichert werden, um die Eltern, vor allem die Mütter, zu entlasten und so die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu fördern. Damit wird die Ganztagsschule auch als ein familienpolitisches Instrument gesehen, durch das der demographischen Krise begegnet werden könne (vgl. Richter 2004: 22). Mit der Betreuung ist eine sozialpädagogische Zielrichtung verbunden, die besonders Kindern aus schwierigem familiärem Umfeld Hilfestellung bieten, soziales Lernen ermöglichen und Gewalt-, Kriminalitäts- und Drogenproblemen vorbeugen will. Weiterhin sollen Schüler besser individuell gefördert werden. Schließlich werden Ganztagsschulen auch mit didaktischen Argumenten begründet und teilweise auch mit weitreichenden schulpädagogischen Reformideen verbunden.
Von den vielen Hoffnungen, die sich an Ganztagsschulen richten, interessiert in dieser Arbeit die, dass Ganztagsschulen Nachteile von Kindern aus sozial schwachen Familien ausgleichen und damit helfen, Chancengleichheit in der Bildungsbeteiligung zu verwirklichen. Ob diese Hoffnung berechtigt ist, ist die zentrale Frage dieser Arbeit. Ihr wird in zwei Schritten nachgegangen: Zuerst steht der Zusammenhang von Bildung und sozialer Ungleichheit im Fokus. Nach Klärung zentraler Begriffe (Abschnitt 2) soll darauf eingegangen werden, wie stark Bildungschancen in Deutschland von der sozialen Herkunft abhängen und wodurch dies verursacht ist (Abschnitt 3). Danach werden zentrale Merkmale der Konzeption von Ganztagsschulen in Deutschland vorgestellt und daraufhin untersucht, ob sie einen Beitrag dazu leisten, die soziale Ungleichheit der Bildungschancen zu verringern (Abschnitt 4).
2. Begriffsklärung: Soziale Ungleichheit und Bildung
Zu Beginn dieser Arbeit gilt es zunächst, den Begriff „soziale Ungleichheit“ näher zu bestimmen und Bildung in den Kontext sozialer Ungleichheit einzuordnen.
2.1 Zum Begriff „soziale Ungleichheit“
Beim Zusammenleben von Menschen in sozialen Gebilden wird deutlich, dass Menschen sehr verschieden sind und sich in zahlreichen Merkmalen unterscheiden. Individuen mit gleichen Merkmalen lassen sich zu sozialen Kategorien zusammenfassen, etwa nach Alter, Religion, Ethnie, Beruf und Geschlecht. Als soziale Ungleichheit werden jedoch nur solche sozialen Unterschiede bezeichnet, die mit einer Besser- oder Schlechterstellung hinsichtlich für die Ausgestaltung von Lebensbedingungen zentraler Ressourcen verbunden sind. Zudem ist der Begriff auf solche Ungleichheiten beschränkt, die nicht nur zufällig oder einmalig, sondern regelmäßig auftreten. Stefan Hradil definiert soziale Ungleichheit daher so:
„‚Soziale Ungleichheit’ liegt dann vor, wenn Menschen aufgrund ihrer Stellung in sozialen Beziehungsgefügen von den ‚wertvollen’ Gütern einer Gesellschaft regelmäßig mehr als andere erhalten.“ (Hradil 2001: 30.)
Für die sozialwissenschaftliche Analyse werden die vielfältigen Erscheinungen sozialer Ungleichheit in Dimensionen gebündelt. Zu den grundlegenden Dimensionen sozialer Ungleichheit rechnet Hradil neben materiellem Wohlstand, Macht und Prestige auch Bildung. Daneben sind weitere Bereiche wie die Arbeits- Wohn-, Umwelt- und Freizeitbedingungen wichtig (vgl. Hradil 2001: 31f.). Um Gefüge sozialer Ungleichheit und damit der vorherrschenden Gliederung einer Gesellschaft zu erfassen, gibt es verschiedene Konzepte. Klassen konzepte zielen auf die Ungleichheit von Gruppierungen aufgrund ihrer Stellung im Wirtschaftsprozess ab. Schichten fassen Menschen mit ähnlich hohem Status hinsichtlich berufsnaher Dimensionen – insbesondere Bildungsniveau, Berufsprestige und Einkommen – zusammen. Jüngere Ansätze beziehen sich zum Teil auf Lebenslagen, womit die Gesamtheit ungleicher Lebensbedingungen in den verschiedenen Dimensionen erfasst wird, zum Teil arbeiten sie auch mit dem Milieu begriff, der auf Werthaltungen und Mentalitäten abzielt, oder mit Lebensstil konzepten, die Alltagsroutinen in den Mittelpunkt stellen (vgl. Hradil 2001: 37-46).
2.2 Bildung als zentrale Dimension sozialer Ungleichheit
Bildung ist eine zentrale Dimension sozialer Ungleichheit. Sie ist nicht nur „Inbegriff menschlicher Selbstentfaltung und Selbstverwirklichung“ (Büchner 2003: 8), sondern stellt über formale Bildungsnachweise eine Voraussetzung zum Zugang zu qualifizierten Berufspositionen dar. Der Zusammenhang zwischen höheren Bildungsabschlüssen und besseren Lebenschancen ist dabei klar erwiesen, denkt man etwa an höhere Einkommenschancen, niedrigeres Risiko von Arbeitslosigkeit und höheres Prestige (vgl. Geißler 1994: 112-115; Hradil 2001: 152). Ungleiche wirtschaftliche und soziale Positionen werden also wesentlich durch Bildung vermittelt. Ungleiche Bildungserfolge sind jedoch nicht per se ungerecht. Als Prinzip der Verteilung knapper Positionen ist in demokratischen Gesellschaften die Leistungsgerechtigkeit anerkannt: Akzeptiert werden ungleiche Bildungserfolge samt ihrer Folgen dann, wenn sie auf unterschiedlichen individuellen Leistungen beruhen. Das Prinzip der Chancengleichheit kann daher als elementare Grundanforderung an das Bildungssystem betrachtet werden. Es verlangt nicht die Gleichheit der Bildungserfolge, erschöpft sich aber auch nicht in einer bloß formalen Gleichheit beim Zugang zu Bildung. Vielmehr erfordert Chancengleichheit, dass leistungsfremde Faktoren keinen Einfluss auf den Zugang zu Bildung und den Erwerb von Bildungsabschlüssen haben. Dies verlangt auch, dass unterschiedliche Startbedingungen, die beim Eintritt in die Schule etwa aufgrund von familiären Merkmalen gegeben sind, durch die Schule nicht reproduziert, sondern ausgeglichen werden müssen (vgl. Becker 2004: 165f.; Merten 2005: 114-117).
Problematischer ist die Forderung nach proportionaler Chancengleichheit, nach der der Anteil sozialer Gruppen an den unterschiedlichen Bildungsgängen ihrem Bevölkerungsanteil entsprechen soll. Dies setzt voraus, dass Begabung von dem jeweiligen sozialen Merkmal unabhängig ist. Für Merkmale wie Ethnie und Geschlecht erscheint dies angemessen, nicht jedoch für die soziale Herkunft: Wenn Bildungserfolg lediglich von der individuellen Leistung abhinge, würden Personen mit hoher Leistung tendenziell auch einen hohen sozialen Status erreichen. Individuelle Leistung geht aber unter anderem auf Begabungen zurück, die zumindest teilweise auf die Kinder vererbt werden (vgl. Hradil 2004: 132f.).
Die Betrachtung sozialer Bildungsungleichheit bleibt in dieser Arbeit auf den Bereich der allgemeinbildenden Schulen beschränkt, da dieser auf die Verteilung von Lebenschancen einen größeren Einfluss hat als die darauf aufbauende Tertiärbildung. Schulen haben in modernen Gesellschaften – neben der schon beschriebenen Statuszuweisungsfunktion – weitere wichtige Aufgaben zu erfüllen: sie leisten die Qualifizierung der nachfolgenden Generation, sie sozialisieren diese, indem sie zur Bewältigung des Alltags und der Entwicklung einer eigenständigen Persönlichkeit nötige Kenntnisse vermitteln (vgl. Hradil 2001: 149f.), und sie sollen einen Konsens von Grundwerten und Umgangsformen in der Gesellschaft sicherstellen (vgl. Hurrelmann 2002: 214f.; Hradil 2004: 134).
3. Ungleichheit der Bildungschancen in Deutschland
Die PISA-Studie bestätigte den von der Bildungsforschung seit langem nachgewiesenen Fakt, dass in Deutschland „Schule ganz erheblich und unverändert mit zur ‚sozialen Vererbung’ von sozialen Ungleichheiten“ beiträgt (Merten 2005: 120). Im Folgenden sollen zunächst Ausmaß und Struktur dieser Ungleichheiten und danach zentrale theoretische Erklärungsansätze vorgestellt werden. Abschließend wird versucht, die höchst komplexen Ursachenzusammenhänge mit Blick auf den heutigen Erkenntnisstand der Forschung zusammenfassend zu skizzieren.
3.1 Ausmaß der Ungleichheit
Bereits in den 1960er-Jahren wurden die großen sozialen Disparitäten der Bildungsbeteiligung in Deutschland erkannt und standen im Mittelpunkt der Bildungsreformen. Diese förderten die bereits in den 1950er-Jahren einsetzende Ausweitung höherer Schulbildung, die sogenannte Bildungsexpansion. 1960 verließen 17 % der Schulabgänger ohne Abschluss die Schule, 54 % erwarben einen Hauptschulabschluss, 15 % einen Realschulabschluss, und nur 6 % machten Abitur. Mitte der 1990er-Jahre blieben nur noch etwa 8 % ohne Abschluss, 23 % erwarben lediglich einen Hauptschulabschluss, während 39 % mit der mittleren Reife und 30 % mit der Hochschulreife die Schule verließen (vgl. Hradil 2001: 158). Die Bedeutung von Schulabschlüssen wurde zwar einerseits aufgewertet, da ein höheres Bildungsniveau immer stärker Voraussetzung für den Zugang zu höheren beruflichen Stellungen wurde. Andererseits verminderte sich im Sinne einer „Bildungsinflation“ der Wert der einzelnen Schulabschlüsse (vgl. Geißler 1994: 115f.). Im besonderen Maße gilt dies für den Hauptschulabschluss, der heute nur noch in geringem Maße Zugang zum Arbeitsmarkt ermöglicht (vgl. Solga/Wagner 2004).
Von der Bildungsexpansion profitierten zwar Kinder nahezu aller Berufs-, Einkommens- und Bildungsschichten. Dennoch blieben die ungleichen Bildungschancen zwischen den Schichten weitgehend stabil[2] – anders als die vormals starke Bildungsbenachteiligung von Mädchen, die mittlerweile jedenfalls im Bereich der allgemeinbildenden Schulen tendenziell ins Gegenteil verkehrt wurde (vgl. Zinnecker/Stecher 2005: 300f.). Soziale Disparitäten wurden von der Bildungsforschung nicht erst seit der PISA-Studie empirisch vielfach nachgewiesen. So besuchten 2003 27 % der Beamtenkinder, 22 % der Kinder von Angestellten und von Selbständigen, aber nur 11 % der Kinder von Arbeitern im Alter von 15-18 Jahren die gymnasiale Oberstufe (vgl. Rauschenbach 2005: 6).
Neben dem beruflichen Status der Eltern erweist sich auch der Bildungsgrad der Eltern als bedeutsam für die Chancen von Kindern, an höheren Bildungsgängen zu partizipieren. Eine weitere Determinante sozialer Bildungsdisparitäten ist das Einkommen der Eltern. Zudem bestehen – im Vergleich zu den 1960er-Jahren allerdings geringer gewordene – Disparitäten zwischen verschiedenen Regionen, insbesondere ein Stadt-Land-Gefälle der Bildungschancen (vgl. Hradil 2001: 165-169). Besonders benachteiligt sind Kinder mit Migrationshintergrund, die überdurchschnittlich an Hauptschulen und Sonderschulen vertreten sind und in weit höherem Maße als deutsche Schüler lediglich mit einem Hauptschulabschluss oder ohne Schulabschluss von der Schule abgehen (vgl. Diefenbach 2004).
Niedrigere soziale Herkunft, gemessen am sozioökonomischen Status der Eltern, schlägt sich nicht nur darin nieder, dass ein deutlich geringerer Anteil dieser Kinder das Gymnasium besucht. Vielmehr zeigen sich auch Unterschiede im Schulerfolg sowie den Schulleistungen. Bei Betrachtung des Schulerfolges zeigt sich, dass niedrigerer Berufs- und Bildungsstatus der Eltern mit schlechteren Noten in den einzelnen Bildungsgängen einhergehen (vgl. Zinnecker/Stecher 2005: 301). Die PISA-Studie 2000 stellte für Deutschland einen im internationalen Vergleich sehr hohen Abstand zwischen den mittleren Lesekompetenzen von Schülern mit höherem und niedrigerem Sozialstatus fest (vgl. Baumert/Cortina/Leschinsky 2003: 130f.). Dieses Bild ändert sich auch bei Kontrolle der kognitiven Grundfähigkeiten nicht wesentlich, so dass die Leistungsunterschiede eindeutig von sozialen Faktoren bestimmt werden und nicht lediglich von Begabung- und Leistungsfähigkeitsunterschieden abhängen (vgl. Merten 2005: 120). Ähnlich wies bereits die TIMS-Studie[3] 1995 nach, dass „Schüler mit höherem [sozioökonomischen, C.T.] familiären Hintergrund einen statistisch signifikanten Leistungsvorsprung“ (Schütz/Wößmann 2005: 18) aufweisen und dieser Leistungsvorsprung in Deutschland besonders stark ausgeprägt ist.
3.2 Erklärungsansätze
Zur Erklärung der sozialen Ungleichheit der Bildungsbeteiligung werden in der Forschung eine Reihe von Faktoren angeführt. Konsens ist, dass „soziale Ungleichheiten von Bildungschancen von der Elterngeneration auf die Generation der Kinder weitergetragen werden“ (Becker/Lauterbach 2004a: 11). Eine in sich geschlossene Theorie ungleicher Bildungsbeteiligung, die alle Ursachen berücksichtigt, gibt es jedoch bislang nicht (vgl. Geißler 1994: 133f.). Besonders bedeutsame theoretische Grundlagen wurden von Bourdieu und Boudon entwickelt. Bourdieu macht auf die Reproduktion sozialer Unterschiede über kulturelle Mechanismen aufmerksam, während Boudon und die in seiner Tradition stehenden Bildungssoziologen die Bedeutung familialer Sozialisation und Wahlentscheidungen hervorhebt (vgl. Vester 2005: 13). Beide Richtungen sollen hier vorgestellt werden.
3.2.1 Boudon
Raymond Boudons bildungssoziologische Arbeiten setzen an den Entscheidungen der Eltern zur Bildung ihrer Kinder an. Bildung wird als Investition verstanden, die primär das Ziel verfolgt, den bisherigen sozialen Status in der Kindergeneration wenigstens zu erhalten. Eltern werden solange in die Bildung ihrer Kinder investieren, wie der daraus entstehende Bildungsnutzen die Bildungskosten übersteigen. Zum Bildungsnutzen zählen der Statuserhalt sowie die aus der zusätzlichen Bildung zu erwartenden Einkommen. Allerdings berücksichtigen die Eltern zusätzlich noch das Risiko, dass ihr Kind keinen Bildungserfolg haben wird. Grundlage der elterlichen Entscheidungen ist also eine rationale Abwägung von (erwarteten) Kosten und Nutzen unter den Restriktionen, die durch soziale Position und Ressourcen der Familie bestimmt werden (vgl. Becker 2004: 167-169).
Zu diesen Einschränkungen gehören „primäre Herkunftseffekte“, mit denen die schichtspezifischen Unterschiede in der familialen Sozialisation erfasst werden. Eltern höherer Sozialschichten sind eher in der Lage, ihren Kindern mittels Erziehung, Förderung und Ausstattung die für Schulerfolg nötigen Voraussetzungen mitzugeben. Kinder aus höheren sozialen Schichten weisen daher tendenziell bessere Schulleistungen auf, während Kinder aus der Unterschicht geringere kognitive und sprachliche Fähigkeiten haben (vgl. Becker/Lauterbach 2004: 12f.).
Daneben wirken als „sekundäre Herkunftseffekte“ die Bildungsentscheidungen der Eltern. Boudon zufolge variieren diese deutlich nach sozialer Herkunft (vgl. Becker 2004: 167-171). Dies liegt in den geringeren ökonomischen Ressourcen von Eltern niedriger Schichten begründet. Eine Rolle spielt auch, dass Eltern höherer Schichten Bildung als wesentlich für den Statuserhalt erachten, während Eltern niedrigerer Schichten wenig für den Statuserhalt investieren müssen, Bildungsinvestitionen in der Hoffnung auf sozialen Aufstieg für sie aber recht riskant erscheinen.
[...]
[1] PISA (Programme for International Student Assessment) ist eine international vergleichende Studie, die Lesekompetenz, mathematische und naturwissenschaftliche Kompetenzen von 15-Jährigen in den Staaten der OECD erfasst. Sie wird seit 2000 alle drei Jahre durchgeführt.
[2] Im Vergleich zu den anderen Schichten haben Kinder ungelernter deutscher Arbeiter kaum profitiert, so dass sich die Bildungschancen dieser Schicht weiter verschlechterten (vgl. Geißler 1994: 119).
[3] Die „Third International Mathematics and Science Study“ war Wößmann zufolge „die erste internationale Studie seit langer Zeit, an der auch Deutschland teilnahm” (Wößmann 2003: 33).
- Citar trabajo
- Christine Tausch (Autor), 2006, Ganztagsschule. Ein Beitrag zur Bewältigung sozialer Ungleichheit?!, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/67879
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