Die Wahlkapitulation Kaiser Karls V. wird in dieser Arbeit weniger im Rahmen seiner Konzeption einer Universalmonarchie betrachtet. Gegenstand meines Interesses bildeten vielmehr die Fragen nach den Ursachen ihres Entstehens und eine Interpretation ihrer Wirkung unter dem Blickwinkel der besonderen Verhältnisse des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. Deshalb schließen sich an einen einführenden Abriß der Situation des Reiches Anfang des 16. Jahrhunderts zwei Abschnitte an, die sich mit der Verfassungsprozedur Königswahl und der Aushandlung der Wahlkapitulation befassen. Ziel ist es, auf diese Weise die spezifischen Bedingungen der Verfassungsrealtität des Alten Reiches herauszuarbeiten, um so ein besseres Verständnis für die Entstehung dieses Dokumentes gerade hier zu gewinnen. Nach einer kurzgefaßten Wiedergabe der inhaltlichen Bestimmungen wird die Frage nach den mittel- und langfristigen Auswirkungen der Urkunde diskutiert. Den letzten Teil bildet eine Übersicht über Interpretationen der Wahlkapitulation im Diskurs der historischen Forschung.
Inhalt
Einleitung
Die politische Lage im Alten Reich zu Beginn des 16.Jahrhunderts
Die Königswahl 1519
Die Wahlkapitulation
Verhandlungen
Formale Aspekte: Tradition und Innovation
Die inhaltlichen Bestimmungen
Interpretation
Theorie und Praxis: Die Wahlkapitulation - ein realpolitischer Erfolg?
Schlußbetrachtung: Langfristige Wirkungen
Die Wahlkapitulation im Forschungsdiskurs
Anhang:
Kaiserliche Reservatrechte
Die inhaltlichen Bestimmungen der Wahlkapitulation
Quellen und Literaturverzeichnis
Einleitung
Die Wahlkapitulation Kaiser Karls V. wird in dieser Arbeit weniger im Rahmen seiner Konzeption einer Universalmonarchie betrachtet. Gegenstand meines Interesses bildeten vielmehr die Fragen nach den Ursachen ihres Entstehens und eine Interpretation ihrer Wirkung unter dem Blickwinkel der besonderen Verhältnisse des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. Deshalb schließen sich an einen einführenden Abriß der Situation des Reiches Anfang des 16. Jahrhunderts zwei Abschnitte an, die sich mit der Verfassungsprozedur Königswahl und der Aushandlung der Wahlkapitulation befassen. Ziel ist es, auf diese Weise die spezifischen Bedingungen der Verfassungsrealtität des Alten Reiches herauszuarbeiten, um so ein besseres Verständnis für die Entstehung dieses Dokumentes gerade hier zu gewinnen. Nach einer kurzgefaßten Wiedergabe der inhaltlichen Bestimmungen wird die Frage nach den mittel- und langfristigen Auswirkungen der Urkunde diskutiert. Den letzten Teil bildet eine Übersicht über Interpretationen der Wahlkapitulation im Diskurs der historischen Forschung.
Die politische Lage im Alten Reich zu Beginn des 16. Jahrhunderts
Um die Bestimmungen der ersten Wahlkapitulation eines deutschen Königs verstehen und interpretieren zu können, müssen zunächst die historischen Rahmenbedingungen, unter denen dieses Dokument entstand, grob umrissen werden. Denn unabhängig davon welche historische Bedeutung und Wirksamkeit man ihr nun beimißt, herrscht im Forschungsdiskurs Einigkeit darüber, diese Urkunde als einen Meilenstein in dem die Verfassungswirklichkeit des Heiligen Römischen Reiches der Frühen Neuzeit bestimmenden Ringen um die Reichsreform zu werten. Denn selbst wenn man die Frage nach Erfolg oder Scheitern der in dem Dokument von 1519 festgesetzten politischen Bestimmungen außer Acht läßt, so vermittelt allein schon die Untersuchung ihrer formalen Wirksamkeit für die bis 1711 folgenden Kaiserwahlen ein Gefühl dafür, welche Wirkungsmacht dieses Schriftstück entfaltet hat. Heißt es doch:
„Bis zur Kapitulation Josephs I. vom Jahre 1690 haben sich die Kurfürsten damit begnügt, ihre neuen Forderungen jeweils in die alte Wahlkapitulation hineinzuflicken, und auch die sog. beständige Kapitulation, auf der alle folgenden bis zum Ende des alten Reiches aufgebaut sind, ist aus der Karls V. erwachsen.“[1]
Der Widerstreit zweier Prinzipien von Herrschaftsorganisation und –ausübung, der Dualismus von Kaiser und Reichsständen, dominierte das politische Leben des Reiches seit dem 15. Jahrhundert. Die Frage, wie das Reich erhalten, regierbar gemacht und regiert werden sollte, stand im Vordergrund. Zur Lösung dieses Problems boten sich zwei Konzepte an. Für die Monarchen und Verfechter zentralistischer Ideen das autokratische, welches nur eine deutliche Stärkung der Zentralmacht unter weitestgehender reichspolitischer Entmachtung der Stände und vorzugsweiser Umwandlung der Wahl- in eine Erbmonarchie bedeutenden konnte. Dem widersprach das Prinzip des ständischen Partikularismus, die Idee der Aufrechterhaltung und Ausweitung alter Rechte und Freiheiten, der Weiterentwicklung der „Teutschen Libertät“ mit dem Ziel, das Schicksal des Reiches an Formen korporativer Herrschaftsorganisation zu binden. Wie hatte sich dieser Dualismus entwickelt?
Seit dem 15. Jahrhundert offenbarte sich in einer tiefen Staatskrise die Diskrepanz zwischen Anspruch und Durchsetzungsvermögen der Zentralmacht, des Kaisertums. Das Bestreben und Vermögen der großen Territorialstände, ihre Herrschaft auf klar umgrenzte Räume zu fixieren und sich infolgedessen von der Reichshoheit zu emanzipieren, ist dialektisches Pendant, Begleiterscheinung und Folge diese Schwäche. Die mächtig gewordenen Stände forderten ihren Teil an der Macht. Schon in der ersten Hälfte des Jahrhunderts war die Übertragung konziliarer Theorien des Kirchenrechts auf die Verfassungswirklichkeit des Reiches populär geworden. Diese Ideen boten nun die geeignete konzeptionelle Untermauerung der Forderung nach Regierungsbeteiligung.
Die Krise des Staates darf aber nicht nur auf diesen machtpolitischen, emanzipatorischen Aspekt verkürzt werden. Der Verfall und Mißbrauch des Fehderechts, das im Mittelalter mangels einer überregionalen Rechtsgewalt noch ein notwendiges Instrument der Rechtspflege gewesen war, ließen den Wunsch nach einer zentralen Neuordnung von Friede und Recht allgemein werden. Eine umfassende und grundlegende Erneuerung der Reichsgewalt, die Stärkung der politischen Kompetenzen des Reiches, schienen unumgänglich und – sehr zum Leidwesen des jeweils amtierenden Kaisers – nur noch unter ständischer Beteiligung möglich. Dieser Ruf nach prinzipieller Reform des Staates fand seinen institutionellen Niederschlag in den Beschlüssen des Reichstags zu Worms 1495. In den Folgejahren bis zum Tode Maximilians I. versuchten sich Stände und Zentralmacht miteinander, gegeneinander oder im Alleingang in der Etablierung und Durchsetzung allgemein gültigen Rechts, der Schaffung einer unabhängigen Rechtsinstanz, der administrativen Reorganisation des Reichsgebiets, der fiskalischen Reform und Absicherung der neugeschaffenen Institutionen. Erwies sich schon die Durchsetzung dieser Vorhaben in den beiden ersten Jahrzehnten des 16. Jahrhundert als problematisch, blieb die Frage des Reichsregiments, der konkreten politischen Machtausübung also, ungelöst und Ursache eines ständig schwelenden Konflikts. Neigte sich die Waage in den beiden Anfangsjahren des Jahrhunderts mit der Einsetzung des ständisch orientierten Ersten Nürnberger Reichsregiments auf die Seite der Verfechter korporativen Herrschaftsformen, so konnte nach dem frühzeitigen Scheitern dieses Instituts Maximilian I. mit dem Reichstag zu Köln 1512 den Vorstoß in Richtung eines königlich dominierten Regiments wagen. Trotz all` seiner Anstrengungen läßt sich zur Zeit seines Todes aber lediglich feststellen, daß: „das Ringen um die Regierungsgewalt zwischen Reichsoberhaupt und Reichsständen ... unter Maximilian I. nicht klar entschieden worden [war]“.[2]
Die Königswahl 1519
Die Wahl zum König und „Erwählten Römischen Kaiser“ im Frühsommer 1519 stand ganz im Zeichen dieses ungelösten verfassungspolitischen Konflikts. Die Nachfolgefrage war nach dem Tode des alten Kaisers wieder völlig offen.[3] Dieser hatte auf dem Reichstag zu Augsburg 1518 noch versucht, seinen Enkel Karl I. von Spanien küren zu lassen, und sich in Verfolgung dieses Zieles zu umfangreichen politischen Zugeständnissen[4] genötigt gesehen. Zwar gelang es ihm, die Mehrzahl der Kurfürsten[5] verbindlich auf die Wahl des spanischen Königs festzulegen, aber sein Ableben bot den Umworbenen die Gelegenheit, sämtliche Wahlzusagen für null und nichtig zu erklären. Damit waren Maximilians Bemühungen postum gescheitert. Sein Enkel sah sich der Konkurrenz durchaus potenter Mitbewerber um die Königskrone ausgesetzt. Neben Heinrich VIII. von England und Friedrich dem Weisen, Kurfürst von Sachsen und bedeutendster Vertreter seines Standes, erwies sich der französische König Franz I. als sein schärfster und gefährlichster Rivale. Schon zu Lebzeiten Maximilians hatte Franz unter Aufwendung enormer finanzieller Mittel versucht, die Kurfürsten für sich einzunehmen.[6]
Diese Situation stärkte die Position des Kurfürstenkollegiums als unumgehbare Entscheidungsinstanz enorm und bot seinen Mitgliedern die einzigartige Gelegenheit, sich von zwei gewaltige Ressourcen mobilisierenden Kandidaten die Taschen füllen zu lassen. Unterstützt von seinem Großkanzler Gattinara[7] zeigte sich Karl I. persönlich fest entschlossen, die Kaiserwürde zu erlangen. Dem konnten selbst Einwände, die in der eigenen Familie erhoben wurden, keinen Abbruch tun. Neben immensen, nur durch die Unterstützung der Fugger aufzubringende Zahlungen an die Mitglieder des Kurfürstenkollegs, mußte er dazu auch die erste einem deutschen König als Vorbedingung seiner Wahl abgerungene Wahlkapitulation in Kauf nehmen.
Das Dokument wurde von Vertretern beider Seiten in den der Wahl vom 28.06.1519 unmittelbar vorausgehenden Wochen ausgehandelt. Die hierbei aufeinandertreffenden politischen Vorstellungen waren verständlicherweise weitestgehend entgegengesetzt. Einen weiteren Umbau der Verfassungsstrukturen des Reiches sahen beide Seiten für notwendig an. Die Fragen der konkreten Ausgestaltung jedoch, die sich vor allem in dem Streit um Charakter und Ausmaß der Regierungsbeteiligung eines erneuerten Reichsregiments zuspitzten, boten reichlich Zündstoff. Karl seinerseits ließ niemanden im Zweifel über sein Verständnis einer Reform: „Er ließ die Stände wissen, daß die Herstellung der kaiserlichen Macht der beste Weg sei, das Reich zu reformieren ...“[8]. Eine im großen und ganzen selbständige, mit umfangreichen innen- wie außenpolitischen Befugnissen ausgestattete ständische Zentralregierung stand für ihn nicht zur Debatte. Ein Reichsregiment, wenn es denn überhaupt nicht abzuwenden war, sollte, ohne über entscheidende Regierungskompetenzen zu verfügen, bestenfalls als Erfüllungsgehilfe kaiserlicher Politik dienen. Für sich als Reichsoberhaupt machte er geltend, uneingeschränkt die Gesamtheit des Reiches nach innen wie außen zu repräsentieren.
Diese Ansprüche des habsburgischen Bewerbers machen die Entscheidung der Kurfürsten für ihn auf den ersten Blick schwer nachvollziehbar, hatten diese sich doch die Verteidigung ihrer „Teutschen Libertät“ auf die Fahnen geschrieben. Aber es finden sich durchaus triftige Gründe für die getroffene Wahl. Da muß der begrenzte Spielraum der ständischen Vertreter genannt werden. Diese sahen sich vor die Aufgabe gestellt, die Libertät der Partikularkräfte zu wahren und nach Möglichkeit zu stärken, gleichzeitig aber Einheit und Bestand des Reiches zu sichern. Wie die Geschichte des Alten Reiches bis Anfang des 19. Jahrhunderts zeigt, der Versuch einer verfassungspolitischen Quadratur des Kreises.
Die politisch- soziale Lage im Reich wurde damals ganz eindeutig als besorgniserregend empfunden. „Das reich ist in sich selbs erschopft und unvormoglich“[9] gab Albrecht, Erzkanzler des Reiches und Erzbischof von Mainz und Magdeburg, im Juni 1519 zu bedenken. Und weiter schrieb er „Item kein furst hat das vermogen, daz reich fur sich selbs oder von dem seinen zu erhalten. ... Item kont kein gehorsam oder recht im reich erhalten.“ Offenbar sahen sich auch die großen Stände außerstande, die Ziele einer Reichsreform umzusetzen. Das Umsichgreifen von Unruhen und Gewalttaten nach dem Tode Maximilians unterstrich die mit der Vakanz der königlichen Autorität einhergehenden Gefahren.[10] Erfolg schien allein eine durchsetzungsfähige Zentralmacht zu versprechen, die sich nur durch das Engagement eines potenten Monarchen herstellen ließ. Dieser sollte in der Lage sein, sich Respekt zu verschaffen: „Darumb ist von noten, daz man ein hern haben moge, der geforcht.“[11] Er sollte den Rechtsfrieden herstellen und garantieren können: „Item daz er frid und recht ufricht und halt.“. Am wichtigsten aber und Grundvoraussetzung für die Erfüllung dieser an ihn gestellten Anforderungen mußte, wie schon erwähnt, seine Fähigkeit, diese durchzusetzen sein: „Item daz er des vermogens sei, solchs zu erhalten und hanthaben.“. Verbunden mit dem Vorzug „von seinem stam und herkomen ein Teutscher [zu] sein“[12], schien Karl I. von Spanien dieses Profil in nahezu idealer Weise zu erfüllen.[13] Er war durch Erbfälle in sehr jungen Jahren Herzog von Burgund und König von Spanien sowie der damit verbundenen Herrschaften in Neapel, Sizilien, Sardinien und der Neuen Welt geworden. In seinen Händen konzentrierte sich eine Machtfülle, wie man sie seit der Zeit der Stauferkaiser nicht mehr erlebt hatte. Die Verfügbarkeit von in jeder Hinsicht schier unerschöpflicher Ressourcen schien ihn in die Lage zu versetzen, alle Probleme des Reiches lösen zu können. Hier bot sich ein Fürst an, dem zuzutrauen war jeden Stand des Reiches bezwingen und dem Staat Frieden, Recht und Einheit geben zu können.
[...]
[1] Hartung, F.: Die Wahlkapitulationen der deutschen Kaiser und Könige, in: HZ 107 (1911), S. 329.
[2] Kohler, A.: Die innerdeutsche und die außerdeutsche Opposition gegen das politische System Karls V., in Lutz, H. [Hg.]: Das römisch-deutsche Reich im politischen System Karls V., München 1982, S. 111.
[3] Kohler, A.: Karl V. 1519-1556, in: Schindling, A.., Ziegler, W.: Die Kaiser der Neuzeit, München 1990, S. 37.
[4] Zu den von Maximilian I. ausgestellten Urkunden, den darin enthaltenen Vereinbarungen und deren Wiederaufnahme in die Kapitulation von 1519 vgl. Kleinheyer, G.: Die kaiserlichen Wahlkapitulationen. Geschichte, Wesen und Funktion (=Studien und Quellen zur Geschichte des deutschen Verfassungsrechts), Karlsruhe 1968, S. 45- 51.
[5] Rabe, H.: Deutsche Geschichte 1500-1600. Das Jahrhundert der Glaubensspaltung, München 1991, S. 196
[6] A.a.O., S. 195.
[7] Kohler: Karl V. (wie Anm. 3), S. 35.
[8] Angermeier, H.: Die Reichsreform 1410-1555. Die Staatsproblematik in Deutschland zwischen Mittelalter und Gegenwart, München 1984, S. 232.
[9] Überlegungen Albrechts von Mainz, 7./27. Juni 1519, in: Kohler, A. [Hg.]: Quellen zur Geschichte Karls V. (Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe: Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte der Neuzeit), Darmstadt 1990, S.44 f.
[10] Rabe: Deutsche Geschichte (wie Anm. 5), S.219.
[11] Die folgenden Zitate nach Kohler: Quellen (wie Anm. 9), S. 45.
[12] Die postulierte „Deutschstämmigkeit“ stand natürlich auch im Falle Karls auf tönernen Füßen. Aufgrund seiner genealogischen Abstammung hätte man ihn gleichwohl zum Burgunder, Deutschen oder Spanier erklären können. Die Erziehung im Geiste der starken französischen Einflüssen unterliegenden burgundischen Hofkultur wird ihn zudem mit allem anderen als einem „teutschen Wesen“ ausgestattet haben. So darf dann auch das in seiner Wahlwerbung von ihm entworfenen Bild, ein „geporner und erzogner teutscher, der auch teutscher sprach zu reden und zeschreiben bericht und geübt“ sei (Kohler: Quellen [wie Anm. 9], S. 47.), lediglich als Beispiel frühneuzeitlicher Propaganda angesehen werden.
[13] Die angeführten Zitate sind jedoch einer Quelle entnommen, die offensichtlich mit dem Ziel, die Wahl Karls I. zu protegieren, verfaßt wurde. Dennoch glaube ich, spiegeln die vorgebrachten Argumente durchaus den damaligen „common ground“ in Fragen des Reichserhalts wider.
- Citation du texte
- M.A. Ulrich Herrmann (Auteur), 1999, Die Wahlkapitulation Kaiser Karls V., Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/67694
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