Begriffsklärung und zeitliche Einordnung
„Das Haus (Oikos) ist also ein Ganzes, das auf der Ungleichartigkeit seiner Glieder
beruht, die durch den leitenden Geist des Herrn zu einer Einheit werden“ (Brunner
1968: 112).
Der Begriff des „Ganzen Hauses“ steht in der Wirtschafts- und Sozialgeschichte für
eine unter der autoritären Herrschaft des Hausherrn („pater familias“) stehende, autark
wirtschaftende Hausgenossenschaft. Diese ist gekennzeichnet durch Familie
und Betrieb, also Reproduktion und Produktion, unter demselben Dach und eine
subsistenzwirtschaftliche Ausrichtung, d.h. durch eine geringe Marktverflechtung
(Flüchter o.J.: 1.1.1). Ausschließlich vermittelt über den Hausherrn (bzw. evtl. seine
Witwe) partizipiert der Hausverband an übergeordneten sozialen Verbänden, wie
Dorf, Stadt oder Kirchengemeinde (ebd.).
Inhaltsverzeichnis
1. Was wird unter dem „Ganzen Haus“ verstanden?
1.1 Begriffsklärung und zeitliche Einordnung
1.2 Bedeutung des „Ganzen Hauses“
2. Die Begründer des Konzepts
2.1 Wilhelm Heinrich Riehl
2.2 Otto Brunner und seine „Neuauflage“
3. Kritik am Konzept des „Ganzen Hauses“
3.1 Das „Ganze Haus“ auf dem Prüfstand
3.2 Unter die Lupe genommen - Wilhelm Heinrich Riehl
3.3 Von der Idealisierung zur Ideologisierung - Otto Brunner unter der Lupe
4. Fazit
1. Was wird unter dem „Ganzen Haus“ verstanden?
1.1 Begriffsklärung und zeitliche Einordnung
„Das Haus (Oikos) ist also ein Ganzes, das auf der Ungleichartigkeit seiner Glieder beruht, die durch den leitenden Geist des Herrn zu einer Einheit werden“ (Brunner 1968: 112).
Der Begriff des „Ganzen Hauses“ steht in der Wirtschafts- und Sozialgeschichte für eine unter der autoritären Herrschaft des Hausherrn („pater familias“) stehende, autark wirtschaftende Hausgenossenschaft. Diese ist gekennzeichnet durch Familie und Betrieb, also Reproduktion und Produktion, unter demselben Dach und eine subsistenzwirtschaftliche Ausrichtung, d.h. durch eine geringe Marktverflechtung (Flüchter o.J.: 1.1.1). Ausschließlich vermittelt über den Hausherrn (bzw. evtl. seine Witwe) partizipiert der Hausverband an übergeordneten sozialen Verbänden, wie Dorf, Stadt oder Kirchengemeinde (ebd.).
1.2 Bedeutung des „Ganzen Hauses“
Was seine zeitliche Einordnung betrifft, ist das „Ganze Haus“ beginnend in der Antike bis in die Neuzeit, genauer gesagt bis ins 18./19. Jahrhundert, anzusiedeln. Geographisch betrifft es den Raum zwischen Skt. Petersburg und Triest (pers. Mitteilung Prof. Schnieder, Gießen). Hauptsächlich (da zeitnäher) von Otto Brunner geprägt, steht das Konzept des „Ganzen Hauses“ für die angebliche Hauptform des Familienlebens des Mittelalters und der frühen Neuzeit, was jedoch inzwischen als wissenschaftlich umstritten gilt (Brockhaus 2004, „ganzes Haus“). Viele soziologische Theorien über die historische Entwicklung von Familienformen gehen davon aus, dass ein Wandel von Großfamilien zu kleineren Familien stattgefunden hat, der als Folge der Industrialisierung angesehen wird (Mitterauer 1978: 128).
2. Die Begründer des Konzepts
2.1 Wilhelm Heinrich Riehl
Wilhelm Heinrich Riehl, geboren 1823 (Brockhaus 2005), wurde bekannt als Begründer der Volkskunde (Weiß 2001: 344). Er gilt als der Begründer des Konzepts des „Ganzen Hauses“. Seine kulturpessimistische Studie „Die Familie“ ist 1854 erschienen. In ihr bedauert er den Zerfall des „Ganzen Hauses“, welches nicht nur die „natürlichen Familienmitglieder, sondern auch all jene freiwilligen Genossen und Mitarbeiter der Familie in sich schließt, die man von Alters mit dem Wort `Ingesinde´ umfasste“, wobei er auch das „Zusammenwohnen von Großeltern, Eltern und Kindern“ einschloss, zugunsten eines Bedeutungszuwachses der Kernfamilien (Riehl 1861: 183; 195).
Die Struktur dessen, was er als das „Ganze Haus“ beschreibt, zeigt ein sozialromantisches Bild: Hausangestellte ordnen sich freiwillig der Autorität – und damit auch der Strafgewalt - des Hausvaters unter und gliedern sich durch ein Arbeits- und Versorgungsverhältnis auf Lebenszeit ins Haus ein (vgl. Riehl 1861: 189 ff.). So berichtet er, dass auf dieser Basis das Verhältnis des Lehrlings zu seinem Meister immer ein kindliches blieb, was er als Zeichen der „freiwilligen Anerkennung einer natürlichen Autorität“ interpretiert (Riehl 1861: 188 f.). .
Nicht nur von Autorität, sondern auch von Pietät (im Sinne von Achtung, Respekt), Schutz und Haftung ist bei Riehl die Rede, wobei er ein „patriarchales“ von einem „rein rechtlichen Gesindeverhältnis“ unterscheidet (Riehl 1861: 187). Er beklagt den Wandel häuslicher Arbeitsverhältnisse, die in seinen Augen in vergangenen Zeiten einer „Adoption“ gleichkamen hin zu „Miethverhältnissen“, die von Naturalleistungen weitgehend abgekoppelt waren, da er hierin die Hauptursache für einen allgemeinen Verlust hausväterlicher Autorität, und damit auch für den Zerfall des „Ganzen Hauses“ bzw. des „Oikos“, sieht (Riehl 1861: 197 ff.).
2.2 Otto Brunner und seine „Neuauflage“
Der Historiker Otto Brunner, 1898 in Niederösterreich geboren und 1982 in Hamburg verstorben (o.V. 2006a), ist der wichtigste Vertreter des Konzepts vom „Ganzen Haus“ im 20. Jahrhundert. Orientiert an Riehl, adaptiert er dessen Konzept, welches durch Brunner selbst weite Verbreitung erfährt. Unmittelbar nach dem zweiten Weltkrieg wird er aufgrund seiner Zusammenarbeit mit den Nationalsozialisten in den einstweiligen Ruhestand versetzt, erhält aber dann 1954 den Ruf nach Hamburg, wo er als Professor, zwischendurch sogar Rektor der Universität, bis zu seiner Emeritierung 1968 verweilt (o.V. 2006b).
Erst später wird bekannt, dass er in der Zeit des dritten Reiches die Südostdeutsche Forschungsgemeinschaft leitet, die beispielsweise die SS mit bevölkerungsstatistischen Daten versorgt hat, die dazu dienten, die Aussonderung er Juden im besetzten Jugoslawien voranzutreiben.
Sein 1939 erschienenes Buch „Land und Herrschaft“ macht ihn seinerzeit sehr populär (Weiß 2001: 338). Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die1959 erschienene vierte Auflage „bereinigt“ wird; hauptsächlich indem das Wort „Volk“ durch „Struktur“ ersetzt wird. So wurde aus der Volksgeschichte die Strukturgeschichte (ebd.: 340). 1950 erscheint der Aufsatz „Die alteuropäische Ökonomik“, in dem Brunner sein Konzept vom „Ganzen Haus“ ausführlich darlegt. Dieselbe Veröffentlichung wird später der Aufsatzsammlung „Neue Wege der Sozialgeschichte“ 1956 und 1968 mit dem geänderten Titel „Das `Ganze Haus´ und die alteuropäische ´Ökonomik´“ neu aufgelegt (ebd.: 341 f.). Der Begriff der Ökonomik wird im Sinne der altgriechischen Lehren Xenophons und Aristoteles´ verwendet, auf deren Basis bis ins 18. Jahrhundert hinein immer wieder aristokratisch-kirchlich geprägte Publikationen veröffentlicht worden sind, die unter dem Begriff der „Hausväterliteratur“ zusammengefasst werden (Derks 1996: 223). Inhaltlich wird dabei auf die zwischenmenschlichen Beziehungen und praktische Tätigkeiten in Haushalten eingegangen. Laut Brunner fand der Begriff „Familie“ erst im 18. Jahrhundert Eingang in die deutsche Umgangssprache, nachdem vorher ausschließlich vom „Haus“ gesprochen wurde (Brunner 1968: 111).
Das „Ganze Haus“ mit seiner patriarchalen Struktur ist laut Brunner die Grundform des sozialen und wirtschaftlichen Lebens im adlig-bäuerlichen Bereich sowie im städtischen Bürgertum. Es wird als rechtliche, soziale und wirtschaftliche Einheit betrachtet: Alle Haushaltsangehörigen – neben Ehefrau und Kindern und weiteren Verwandten auch Dienstboten, Knechte und Mägde bzw. Gesellen und Lehrlinge - unterstehen der Herrschaft, aber auch dem Schutz des Hausvaters. Die Trennung von Familie und Betrieb sei noch nicht wie heute üblich gewesen; vielmehr seien in einer Lebens- und Arbeitsgemeinschaft alle zum Lebensunterhalt notwendigen Güter im Sinne einer marktunabhängigen Subsistenzwirtschaft selbst produziert worden, was diese Haushalte wirtschaftlich autark machte (Weiß 2001: 343 f.). In seiner Konzeption des „Ganzen Hauses“ verweist er auf den oben genannten Riehl.
3. Kritik am Konzept des „Ganzen Hauses“
3.1 Das „Ganze Haus“ auf dem Prüfstand
Zentrale Fragestellung dieses Kapitels ist nun: War die als „Ganzes Haus“ bezeichnete Lebensform, sozusagen als „anthropologische Konstante“, tatsächlich so weit verbreitet, wie uns die Begründer des Konzepts glauben machen wollen, oder handelt es sich um eine Generalisierung partieller Erscheinungen, die sozialpolitischen Zielvorstellungen unterworfen ist (vgl. Mitterauer 1978: 131)?
Laut Peter Laslett beruht das Konzept des „Ganzen Hauses“ vorwiegend auf Annahmen, die einer Überprüfung nicht standhalten können. Vielmehr sieht er die Anzahl der Dienstboten („sozusagen von bestimmten Haushalten an andere abgetretene Kinder“) in Haushalten als Indikator für deren Einflussreichtum und Wohlstand an, während in ärmeren Familien weniger Geburten, und von diesen wiederum weniger überlebende Kinder anfielen. Somit kann es nicht sein, dass die reine Kernfamilie als Lebensgemeinschaft erst mit der Industrialisierung aufgetaucht ist. Auch bestreitet er, dass Alte, Kranke, Alleinstehende und Notleidende von ihren Familien verlässlich und selbstverständlich mitversorgt wurden (Laslett 1988: 114 ff.). Das Konzept vom „Ganzen Haus“ wird den Familienzyklen innewohnenden Dynamiken in keiner Weise gerecht, denn in Wirklichkeit sind familiäre Strukturen immer zeitlich bedingten, phasenhaften Wandlungsprozessen unterworfen (LeRoy Ladurie 1983: 47 f.).
Anhand einer Reihe verschiedener Datenquellen versucht Michael Mitterauer die „wahren“ Verhältnisse bezüglich früherer Familiestrukturen empirisch zu klären. So lag die durchschnittliche Haushaltsgröße im 16., 17. und 18. Jahrhundert bei etwa 4,7 Personen (zum Vergleich: Heute sind es 2,12 [Statistisches Bundesamt 2005: 11]). Eine Schrumpfung der Haushaltsgrößen lässt sich in keiner der westlichen Industrienationen mit der Industrialisierung in Verbindung bringen, da die Haushalte erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts deutlich kleiner werden. Mittlere Haushaltgrößen, etwa zwischen drei und vier Personen, waren auch in vorindustrieller Zeit in den Städten weit verbreitet, während auf dem Land etwas größere Haushalte vorherrschten. Für Dreigenerationenhaushalte ergeben sich in verschiedenen Regionen Mittel- und Nordwesteuropas Anteile von deutlich unter 10 % an den gesamten Haushalten. Insgesamt schließt Mitterauer aus seiner Analyse, dass erweiterte Familientypen im Sinne des „Ganzen Hauses“ eine relative Seltenheit darstellten (Mitterauer 1978: 131ff.).
Relativ insofern, als es durchaus Gegenbeispiele gibt: In ländlichen Regionen Mittel- und Südfrankreichs dominierten tatsächlich komplexe Dreigenerationenfamilien und nicht mononukleare Familienformen, in denen mehrere verheiratete Brüder unter einem Dach zusammenlebten, die so genannten „frèrèches“. Diese entstanden in ihrer lokalen Häufung vermutlich unter dem Einfluss der dortigen grundherrschaftlichen Verhältnisse und dem vorherrschenden Einzelerbrecht (Mitterauer 1978: 135).
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- Arbeit zitieren
- B. Sc. oec. troph. Kristina Bergmann (Autor:in), 2006, Die Geschichte vom Ganzen Haus - Ein moderner Mythos?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/67311
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