Nach liberalem Demokratieverständnis bilden kompetitive Wahlen die Grundlage für die politische Führung einer Demokratie. Erst wenn eine Regierung aus allgemeinen und freien Wahlen hervorgegangen ist, kann sie ihren Führungsanspruch geltend machen. Wahlen in pluralistischen Demokratien haben somit in erster Linie eine Legitimationsfunktion für die politische Führung.
In den Zeiten des Sozialismus und Kommunismus in den ehemaligen Ostblockstaaten gab es jedoch keine kompetitiven Wahlen. In diesen Ländern leitete sich der Herrschaftsanspruch der Kommunistischen Partei nicht aus Wahlen ab, sondern basierte auf der Ideologie des Marxismus-Leninismus. Die Durchführung von Wahlen diente hier vor allem als Instrument der Herrschaftsausübung. Mit ihrer Hilfe wurden die Bürger politisch mobilisiert, um die Stärke der Partei und politisch-moralische Einheit der Bevölkerung zu demonstrieren.1
Eine ganz neue Bedeutung sollten Wahlen in den Staaten Mittel- und Südosteuropas sowie in den baltischen Sowjetrepubliken erhalten, als das Herrschaftsmonopol der Kommunistischen Partei Ende der achtziger Jahre in Frage gestellt werden konnte. Doch obwohl die zehn Staaten, die in dieser Arbeit behandelt werden, vor dem gleichen politischen Hintergrund in den Transformationsprozess gestartet sind, unterscheiden sich die einzelnen Länder bezüglich der Entwicklungen der Wahlen und dem Wahlverhalten ihrer Bürger.
Wie weit diese Unterschiede reichen und wo die Gemeinsamkeiten der neuen Demokratien Europas im Hinblick auf die Wahlen und das Wahlverhalten liegen, soll Thema dieser Arbeit sein. Dafür soll als erstes nachvollzogen werden, wie es zu den ersten freien Wahlen im einzelnen kam, bevor die Entwicklung der Wahlen in bezug auf Anzahl der Parteien untersucht wird. Abschließend wird das Wahlverhalten mit Hilfe der Proportionalität zwischen Stimmen und Sitzen und der Wahlbeteiligung analysiert.
Gliederung
Tabellen- und Abbildungsverzeichnis
1. Einleitung
2. Vorggründungs- und Gründungswahlen 1989/90
3. Anzahl der Parteien bei Wahlen zwischen 1990 und 2002
4. Auswirkungen der Wahlen auf das Wahlverhalten
4.1. Proportionalität zwischen Stimmen und Sitzen
4.2. Wahlbeteiligung
5. Zusammenfassung
6. Literaturverzeichnis
Tabellen- und Abbildungsverzeichnis
Tabelle 3.1.: Absolute Anzahl der Parteien bei Parlamentswahlen
Abb. 4.1.: Proportionalität zwischen Stimmen und Sitzen (Ergebnisse aus den Wahlen 1989 - 2002)
Tabelle 4.2a.: Wahlbeteiligung bei den Wahlen 1989 – 2002
Abb. 4.2b.: Bewertung der Demokratie in Osteuropa im Vergleich
1. Einleitung
Nach liberalem Demokratieverständnis bilden kompetitive Wahlen die Grundlage für die politische Führung einer Demokratie. Erst wenn eine Regierung aus allgemeinen und freien Wahlen hervorgegangen ist, kann sie ihren Führungsanspruch geltend machen. Wahlen in pluralistischen Demokratien haben somit in erster Linie eine Legitimationsfunktion für die politische Führung.
In den Zeiten des Sozialismus und Kommunismus in den ehemaligen Ostblockstaaten gab es jedoch keine kompetitiven Wahlen. In diesen Ländern leitete sich der Herrschaftsanspruch der Kommunistischen Partei nicht aus Wahlen ab, sondern basierte auf der Ideologie des Marxismus-Leninismus. Die Durchführung von Wahlen diente hier vor allem als Instrument der Herrschaftsausübung. Mit ihrer Hilfe wurden die Bürger politisch mobilisiert, um die Stärke der Partei und politisch-moralische Einheit der Bevölkerung zu demonstrieren.[1]
Eine ganz neue Bedeutung sollten Wahlen in den Staaten Mittel- und Südosteuropas sowie in den baltischen Sowjetrepubliken erhalten, als das Herrschaftsmonopol der Kommunistischen Partei Ende der achtziger Jahre in Frage gestellt werden konnte. Doch obwohl die zehn Staaten, die in dieser Arbeit behandelt werden, vor dem gleichen politischen Hintergrund in den Transformationsprozess gestartet sind, unterscheiden sich die einzelnen Länder bezüglich der Entwicklungen der Wahlen und dem Wahlverhalten ihrer Bürger.
Wie weit diese Unterschiede reichen und wo die Gemeinsamkeiten der neuen Demokratien Europas im Hinblick auf die Wahlen und das Wahlverhalten liegen, soll Thema dieser Arbeit sein. Dafür soll als erstes nachvollzogen werden, wie es zu den ersten freien Wahlen im einzelnen kam, bevor die Entwicklung der Wahlen in bezug auf Anzahl der Parteien untersucht wird. Abschließend wird das Wahlverhalten mit Hilfe der Proportionalität zwischen Stimmen und Sitzen und der Wahlbeteiligung analysiert.
2. Vorggründungs- und Gründungswahlen 1989/90
Bis Juni 1990 waren in allen Ländern Mittel- und Osteuropas sowie in den baltischen Sowjetrepubliken mehr oder weniger freie Wahlen abgehalten worden, in denen sich die Kommunistische Partei dem öffentlichen Willen stellte. Jedoch gestaltete sich dies in den einzelnen Fällen sehr unterschiedlich. „Während in diesen Wahlen in den bisherigen Nationalstaaten ab 1990 über die Systemfrage entschieden wurde (‚Gründungswahlen’), bildeten sie in den bisherigen Unions- bzw. Föderationsrepubliken der Sowjetunion und Jugoslawiens die Vorstufe zur völkerrechtlichen Unabhängigkeit und werden in der Literatur meist als ‚Vorgründungswahlen’ bezeichnet.“[2]
Einen entscheidenden Auslöser für die friedliche Revolution in Ostmitteleuropa bildeten die im Juni 1989 abgehaltenen Wahlen in Polen. Um eine als legitim anerkannte Regierung zu bilden, mit welcher die notwendigen Wirtschaftsreformen durchgeführt werden konnten, gab die Polnische Vereinigte Arbeiterpartei 35% der Sitze im Sejm für unabhängige Kandidaten frei. In diesen „halbfreien“ Wahlen konnte die Opposition, die sich in der Solidarno ść zusammengeschlossen hatte, alle zur Disposition freigegebenen Mandate erringen. Zusätzlich wurde sie in 99 der 100 Senatssitze gewählt. „Die Wahlen wurden zur Abrechnung mit 45 Jahren kommunistischer Herrschaft in Polen und führten in wenigen Monaten nicht zum ursprünglich intendierten System wandel, sondern zum System wechsel.“[3] Dieser wurde mit der Verfassungsänderung zum Jahreswechsel 1989/1990 beschlossen. Die eigentlichen freien Gründungswahlen verzögerten sich jedoch aufgrund von Streitigkeiten um das Wahlsystem bis zum Herbst 1991.[4]
In Ungarn war indes schon vor der Wahl 1990 klar, dass über die Systemfrage entschieden würde. Die Kommunistische Partei ging allerdings davon aus, dass sie in freien Wahlen ihren Machtanspruch legitimieren könnte. Anders als in Polen hatte hier die Opposition schon frühzeitig die Möglichkeit sich in unterschiedlichen Parteien zu formieren, sodass aus dieser ersten freien Wahl eine relativ homogene Regierungskoalition aus konservativ-christlichen Parteien hervorging und das alte Regime damit abgelöst wurde.[5]
Auch in der Tschechoslowakei wurde im Frühjahr 1990 über die Systemfrage entschieden, jedoch ging hier anders als in Polen und Ungarn eine friedliche Revolution voraus. Der also schon vorher herbeigeführte Systemwechsel wurde durch die Wahlen nur noch ratifiziert.[6]
Etwas anders verliefen dagegen die ersten freien Wahlen in Rumänien und Bulgarien. Hier blieben auch nach der Wahl die Nachfolgeparteien des alten Regimes an der Macht. In Rumänien wurden nach dem Sturz Ceauşescus die ersten kompetitiven Wahlen 1990 durchgeführt, in der sich die Front der Nationalen Rettung als Nachfolgepartei der Kommunistischen Partei mit überwältigender Mehrheit von über 66% der Stimmen durchsetzte.[7] Auch in Bulgarien konnte die Bulgarische Sozialistische Partei die Wahl 1990 mit absoluter Mehrheit gewinnen, jedoch musste sie wenige Monate später „vor dem Hintergrund eines drohenden Nationalstreiks und Verkehrsblockaden in der Hauptstadt Sofia zurücktreten“.[8]
Auch im Baltikum und im ehemaligen Jugoslawien stellte die Kommunistische Partei ihre Herrschaft zur Disposition. Die Vorgründungswahlen 1990, die in den Teilrepubliken der sowjetischen und jugoslawischen Föderation durchgeführt wurden, legten den Grundstein für die jeweiligen Unabhängigkeitsbewegungen in diesen Ländern.[9]
Den Wahlen in der Umbruchphase 1989/1990 kommen also unterschiedlichen Funktionen zu. Zum einen initiierten sie für die baltischen Staaten sowie für die nordjugoslawischen Teilrepubliken Kroatien und Slowenien die nationalstaatliche Unabhängigkeit und beförderten damit den demokratischen Transformationsprozess. Auch in den mittelosteuropäischen Staaten führten sie zu einem Systemwechsel und ebneten den Weg für die Entstehung pluralistischer Demokratien. Im Falle der südosteuropäischen Staaten führten die Wahlen zunächst dazu, dass die Nachfolgeparteien des alten Regimes ins Parlament einberufen wurden, jetzt sogar demokratisch legitimiert.
3. Anzahl der Parteien bei Wahlen zwischen 1990 und 2002
Die vorangegangenen Ausführungen haben gezeigt, wie bedeutungsvoll die Gründungs- bzw. Vorgründungswahlen für die einzelnen Staaten Mittel- und Südosteuropas gewesen sind. Gleichfalls wurde deutlich, wie unterschiedlich die Länder in die Transformation gestartet sind. Auch die nachfolgenden Wahlen zeichnen für jeden dieser Staaten einen eigenständigen Weg auf.
Für die meisten der hier behandelten Staaten waren kompetitive Wahlen sowohl für die politischen Kräfte als auch für die Bevölkerung ein Novum. Auch wenn in Der Tschechischen Republik und Ungarn bereits relativ freie Wahlen nach dem Zweiten Weltkrieg durchgeführt wurden, könnten sich höchsten die über 60jährigen noch daran erinnern.[10] Doch die über 40 Jahre andauernde Herrschaft der kommunistischen Partei hat auch hier die Basis für politische Partizipation außerhalb der Einheitspartei zerstört.
„As long as a Soviet-sponsored party-state was in existence, anti-Communist movements stressed unity in the face of a common enemy. The collapse of the Soviet empire achieved a negative goal, the destruction of the party-state. It also left an institutional vacuum because of the absence of organizations that could replace the discredited associations of the old regime.”[11]
So mussten sich bereits vor den ersten freien Wahlen politische Parteien in wenigen Monaten oder Wochen erst bilden. Dies geschah unter großer Unsicherheit darüber, was von den Wählern gewünscht wurde. Da die meisten der neuen Demokratien ein Verhältniswahlsystem eingeführt hatten und sich Parteien sehr einfach für die Wahl registrieren konnten, traten dennoch teilweise sehr viele Parteien zu den Wahlen an.[12]
Wie in Tabelle 3.1. ersichtlich führt die in 1991 durchgeführte Wahl in Polen die Liste nach der Anzahl der sich zur Wahl stellenden Parteien mit 111 Kontrahenten an. Nachdem die Opposition sich noch in 1989 zur Solidarno ść zusammengeschlossen hatte, um gegen die alte Systempartei anzutreten, führte die enorme Heterogenität der politischen Ansichten innerhalb zu ihrer Zersplitterung.[13] Da man vor dieser Wahl keiner gesellschaftlichen Gruppierung die Möglichkeit nehmen wollte, im Parlament vertreten zu sein, unterließ man es eine Prozenthürde einzuführen. Da sich die Vielzahl der Parteien die abgegebenen Stimmen teilen mussten, schafften es weniger als ein Drittel ins Parlament, was dieser Wahl einen weiteren Rekord von 29 Parteien im Parlament einbrachte. Nach zwei vergeblichen Versuchen eine Regierung zu bilden, wurden 1993 Neuwahlen ausgerufen, zu der eine Prozenthürde von 5% eingeführt wurde.[14] Dies führte dazu, dass in den folgenden Wahlen die Anzahl der Parteien im Parlament auf ein handhabbares Maß zwischen sechs und acht Parteien zurückging. Zusätzlich wirkten die Wahlen strukturierend auf das Parteiensystem, dass im Jahre 2001 auf 14 Parteien geschrumpft war.[15]
[...]
[1] Vgl. Nohlen, Dieter (Hrsg.), 2000: Wahlrecht und Parteiensystem, 3. Aufl., Opladen, S. 21-31.
[2] Ziemer, Klaus (Hrsg.), 2003: Wahlen in postsozialistischen Staaten, Opladen, S. 13.
[3] Ebenba, S. 14.
[4] Vgl. ebenda, S. 157-161 und S. 164.
[5] Vgl. Machos, Csilla, 2003: Parlamentswahlen in Ungarn (1990-2002), in: Ziemer, Klaus (Hrsg.), 2003: Wahlen in postsozialistischen Staaten, Opladen, S. 347 ff. und S. 362.
[6] Vgl. Ziemer, Klaus, 2003, S. 15.
[7] Vgl. de Nève, Dorothée, 2003: Wahlen in Rumänien, in : Ziemer, Klaus (Hrsg.), 2003: Wahlen in postsozialistischen Staaten, Opladen, S. 189 ff.
[8] Vgl. Georgiev, Ivo, 2003: Wahlen im postsozialistischen Bulgarien, in: Ziemer, Klaus (Hrsg.), 2003: Wahlen in postsozialistischen Staaten, Opladen, S. 59.
[9] Vgl. Ziemer, Klaus, 2003, S. 15.
[10] Vgl. Rose, Richard/ Munro, Neil, 2003: Elections and Parties in New European Democracies, Washington, S. 6.
[11] Ebenda, S. 36.
[12] Vgl. Rose/Munro, 2003, S. 37.
[13] Vgl. Ziemer, Klaus, 2003, S. 161 ff.
[14] Vgl. ebenda, S. 164.
[15] Ziemer argumentiert hierbei mit dem Rückgang der effektiven Parteien, die allerdings hier nicht näher erläutert werden. Vgl. ebenda, S. 178.
- Arbeit zitieren
- Julia Wiedersich (Autor:in), 2006, Wahlen und Wahlverhalten in den neuen Demokratien Europas, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/66943
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