Ein Interpretationskonflikt Nonos und Stockhausens um den zweiten Satz des Canto sospeso.
Im folgenden soll die analytische Betrachtung Karlheinz Stockhausens bezüglich des zweiten Satzes des Canto sospeso dargestellt und im Gegenzug die kritische Reaktion Nonos erläutert werden. Luigi Nono komponierte seine 9-sätzige Kantate zwischen Oktober 1955 und Mai 1956, zu einer Zeit, in der der Serialismus, als eine Erweiterung der Zwölftontechnik, formgebendes und dominierendes Kompositionsprinzip, vorwiegend in Europa, war. Es gilt, allen relevanten musikalischen Parametern, nicht mehr nur der Tonhöhe, Zahlen- bzw. Proportionsreihen zuzuordnen. So unterliegt auch Nonos serieller Komposition Kombinatorik und Permutationen von Dauern-, Dynamik- und Tonhöhenreihe, sowie bestimmten Zahlenverhältnissen und Symmetrien, die durch mathematische Operationen strukturell determiniert sind...
Der Konflikt um Nonos „Il canto sospeso“
Im folgenden soll die analytische Betrachtung Stockhausens bezüglich des 2. Satzes des Can- to sospeso dargestellt und im Gegenzug die kritische Reaktion Nonos erläutert werden. Luigi Nono komponierte seine 9- sätzige Kantate zwischen Oktober 1955 und Mai 1956, zu einer Zeit, in der der Serialismus, als eine Erweiterung der Zwölftontechnik, formgebendes und dominierendes Kompositionsprinzip, vorwiegend in Europa, war. Es gilt, allen relevanten musikalischen Parametern, nicht mehr nur der Tonhöhe, Zahlen- bzw. Proportionsreihen zu- zuordnen. So unterliegt auch Nonos serieller Komposition Kombinatorik und Permutationen von Dauern-, Dynamik- und Tonhöhenreihe, sowie bestimmten Zahlenverhältnissen und Symmetrien, die durch mathematische Operationen strukturell determiniert sind. Nono über- trug seine Erfahrungen mit serieller Technik auf den Chorsatz seiner Vokalmusik, die er größ- tenteils zwischen 1955 und 1962 komponierte. Anregung zur Entstehung des Il canto sospeso, dem gebrochenen, wie auch schwebenden Gesang, fand er durch eine Sammlung von Ab- schiedsbriefen zum Tode verurteilter europäischer Widerstandskämpfer, die 1954 in Turin unter dem Titel „Lettere di condannati a morte della Resistenza europea“ erschien, hrsg. von P. Malvezzi und G. Pirelli. Nono bezog einzelne Textstellen aus diesen Dokumenten durch deren direkte sprachliche Vertonung bzw. Verarbeitung in seine Klangkomposition für Soli, Chor und Orchester mit ein. Der politische Hintergrund des Musikstücks spielt eine wesentliche Rolle, denn Nono selbst zeigte soziales Engagement, war seit 1952 Parteimitglied und überzeugter Kommunist. So sollten auch seine Werke politische Botschaften nach außen tragen - mit Bezug auf die Resistenza, die europäische Widerstandsbewegung, sowie dem Kampf gegen Faschismus und Repression.
Karlheinz Stockhausen befaßt sich zunächst interpretierend mit den Gedankengängen, welche in den Briefen mitgeteilt werden und erklärt, daß es sich um einen sehr sinngeladenen Text, um vollständige, logische Sätze handle. Nono läßt diesen Text aber nicht vortragen oder kommentieren, sondern reduziert stellenweise die Sprache auf ihre Klänge und Laute, einge- lagert in einer strengen, dichten musikalischen Form. Beim Hören des A- capella- Chors er- weckt dies bei Stockhausen fast völlige Unverständlichkeit, eine Verschließung des Sprach- sinns in einer Vokalstruktur, und er stellt die Frage, warum Nono derartige Texte von größter moralischer Tragweite wählt. Stockhausen erkennt hier ein Zurückziehen des Sinns aus der Öffentlichkeit und spricht von Schamgefühlen, die dem Komponisten eine vollständige, ex- plizite Wiedergabe des Geschriebenen verweigern, und er deshalb nur noch mit Lautpermuta- tionen als serielle Struktur arbeitet. Die Kritik Stockhausens gilt der Auflösung des Sprach- sinns und der bewußten „Austreibung“ der Bedeutung bestimmter Textstellen. Aufgrund der Berücksichtigung von phonetischen Eigenschaften der Sprache bei der Textbehandlung geht der semantische Wert verloren und dadurch erfolgt scheinbar eine Entleerung der hohen Wor- te; das Singen bleibt letztendlich noch übrig. Das Verständnis des Textes ist für ihn weiterhin bedeutsam, da dieser nicht als bekannt vorausgesetzt werden kann. Stockhausen führt als Ge- genbeispiel Messe- und liturgische Texte im polyphonen Chorstil Machauts oder Gesualdos an, bei denen das Wortverständnis angesichts der Textkenntnis gleichgültig ist.
Analytisch betrachtend beschreibt Stockhausen einen durchlaufenden, vierschichtigen Satz, wobei sich die einzelnen Schichten durch entsprechende Geschwindigkeitsproportionen von- einander unterscheiden, d.h. durch 4 unterschiedliche Rhythmen. Beim Hören wird die vier- schichtige Ausgangsform kaum noch wahrgenommen, da 4 pausenlose Schichten auf 8 Stim- men verteilt werden. Einzelne Töne der Schichten werden ebenfalls unregelmäßig auf die 4x 2 Chorstimmen verteilt. Die Tonhöhenstruktur verwendet immer die gleiche 12-gliedrige Reihe. Stockhausen stellt außerdem eine Dauernreihe mit 6 Faktoren heraus, die mit den 4 rhythmischen Einheiten, Achtel, Achteltriolen, Sechzehntel und Sechzehntelquintolen, mul- tipliziert werden können. Dabei erscheinen die Faktoren durchgehend von Schicht zu Schicht, nicht aber in den Schichten als Reihe selbst. Die Multiplikation mit Dauerneinheiten erfolgt so, daß eine statistische Gleichverteilung der Faktoren erreicht wird. Die Dynamikreihe er- scheint mit 12 verschiedenen Werten, darunter befinden sich die 5 Grundintensitäten ppp, p, mp, mf und f . Stockhausen stellt fest, daß keiner der 12 chromatischen Töne zweimal mit derselben Intensität verwendet wird, und die Dynamikreihe somit strukturell an Tonhöhen gebunden ist.
Wolfgang Motz korrigiert in seiner Analyse1 Stockhausens Feststellungen dahingehend, daß es sich lediglich um 11 Lautstärkeangaben handelt und folglich bei der zwölfteiligen Dyna- mikreihe an erster und sechster Stelle identische Intensitäten erscheinen. Ferner erkennt er, daß jeder Reihenton 19mal auftaucht und deshalb, bei 11 Möglichkeiten, einige Dynamikwer- te zwangsläufig wiederholt werden. Die Behauptung einer Gleichverteilung der Tondauerfak- toren widerlegt er ebenfalls, indem er das Permutationsprinzip der Reihe und die strenge Sys- tematik, mit der Nono vorging, exemplarisch aufzeigt. Motz bemerkt, daß kurze Dauernfakto- ren meistens in die Sechzehntel- und Quintolenschicht fallen und somit der Eindruck kurzer Töne überwiegt. Klanglich beschreibt er dies als eine „atmende“ Struktur und Expansion durch den Wechsel von bewegten Tonfolgen und Haltetönen.
Es ergeben sich demzufolge Kontroversen und fehlerhafte Ausführungen in der etwas knappen Analyse Stockhausens, die Motz richtig stellt.
Zusammenfassend ergänzt Stockhausen, daß im 2. Satz eine autonome musikalische Reihen- struktur in allen Parametern vorliegt, die textlich ungebunden ist. Der Text läuft lediglich in vorgegebener Wortfolge mit und wird teilweise durch Wiederholung einzelner Silben oder Worte unterbrochen. Er versucht ebenso eine Reihenordnung der Silben auszumachen, die sich aus der Aufteilung auf verschiedene Chorstimmen ergäbe. So untersucht er die Vertei- lung der einzelnen Silben und Vokale, stößt dabei auf bestimmte Vokale, denen längere Ton- dauern zugeordnet wurden. Jene Vokale, ob isoliert oder in den entsprechenden Silben vor- kommend, dominieren seiner Meinung nach, und lassen auf eine serielle Vokalstruktur schließen, wobei für ihn die Transformation des Sprachsinns in den musikalischen Sinn mit dieser Erkenntnis deutlich wird. Vokale werden bei der Verteilung im Text permutabel ver- wendet und, laut seiner Analyse, sukzessiv in den 6er- Reihen gegen andere ausgetauscht.
Diese Verfahrensweisen deuten auf das technologische Bewußtsein Stockhausens hin bezüglich der fehlerfreien Organisation der Parameter, auf welcher seine Analyse basiert. Motz bezeichnet ihn sogar als einen Vertreter stur seriellen Denkens, das die Akzeptanz und Möglichkeiten freierer serieller Ausdrucksformen, seiner Meinung nach, erheblich erschwert. Schließlich erwähnt Stockhausen, daß in Takt 142 kurz vor Schluß der Ausgangston der Reihe, der längste Dauernwert und die größte Dynamikänderung als extreme Werte erscheinen. Er beschreibt ein plötzliches Aufbrechen der Struktur, ein Abschneiden der vierschichtigen Kontrapunktik im Reihenzusammenhang und schließt darauf, daß von hier offenbar die Bestimmung der ganzen seriellen Abläufe des 2. Satzes erfolgte.
Motz erklärt diese Darstellung Stockhausens als falsch, spricht hingegen von einer „Randun- schärfe“ im gemeinsamen Aussetzen der 4 Schichten und erwähnt den eindeutigen textlichen Bezug zu Takt 1 des Satzes mit der abwärts geführten großen None im Alt 2 über „muoio“, die in Takt 145 als kleine None erscheint und somit die Textausdeutung hervorhebt. Ferner erkennt Motz, daß die Dauernreihe das erste Mal vollständig in einer Schicht erscheint. Die Analyse von Wolfgang Motz fällt im Gegensatz zu Stockhausens Darlegungen umfang- reicher und präziser aus, soll jedoch nicht Gegenstand dieser schriftlichen Arbeit sein und wird deshalb nicht detailgetreu wiedergegeben. Vielmehr sollen nun die Äußerungen des Komponisten selbst, als Reaktion auf die Analyse Stockhausens, in den Mittelpunkt gestellt werden.
Nono äußert sich entrüstet über die Veröffentlichung oberflächlicher Analysen seines 2. Stü- ckes, wobei er mit Sicherheit auf die Versuche Stockhausens anspielt. Er erklärt, daß die letz- te Einheit, in die der durchgehend komponierte Text aufgespaltet wurde, das Wort ist und jene lassen durch die sukzessive Verteilung auf die unterschiedlichen Stimmen eine choralähnliche Einheit entstehen. Resultierend aus dem Verschmelzungsprinzip von musikalischen und se- mantischen Gehalt des gesungenen Wortes ergibt sich die Aufspaltung in einzelne Silben. Es werden neue Beziehungsmöglichkeiten zwischen den Eigenschaften der verschieden gesun- genen Klanggestalten der Worte geschaffen, so konnte ein Wort und dessen semantischer Ge- halt in seiner Beziehung zu semantischen Werten des gesamten Textes, d.h. zum musikali- schen Ausdruck des Ganzen abgestuft bzw. herausgegriffen werden. Durch Zergliederung in Silben wird das Wort zur Quelle eines außerordentlichen Reichtums an Klangereignissen.
Demnach können Silben oder sogar Vokale nicht als Einheit betrachtet und strukturell auf Reihentechnik untersucht werden, wie es Stockhausen vorgab. Die rein phonetische Analyse der Vokalstruktur Stockhausens hält Nono für ein sinnloses Unterfangen, denn es ging ihm um die Gestaltung eines menschlich bezogenen Ausdruck und nicht um Musik, die sich in „Materialkonstellationen um des Materials willen vollzieht“. Seine Vorstellung entsprach nicht der einer phonetischen Textbehandlung und es sei Zufall, eine serielle Vokalstruktur hineininterpretieren zu können, so erklärte er es in einem Gespräch mit Stockhausen2. Er be- hauptet darin ebenso, daß Stockhausens Interpretation falsch und irreführend sei.
Nono entgegnet weiterhin, daß ihm die Botschaft jener Briefe sehr wohl zu Herzen ging und dort, wie er formuliert, „eingemeißelt“ ist. Er stellt sich den Ängsten und Leiden der Verur- teilten, nennt Hintergründe, wie „Verantwortung gegenüber dem Leben“, „Vorbild einer Op- ferbereitschaft“ oder „Widerstand gegen den Nazismus“, den er als „Monstrum des Irrationa- lismus“ und „versuchte Zerstörung der Vernunft“ bezeichnet und so sein politisches Engage- ment, wie auch antifaschistische Haltung zum Ausdruck bringt. „Das Vermächtnis dieser Briefe wurde Ausdruck seiner Komposition“ und, daß der Tod dieser Menschen nur Scham- gefühl in uns wecken sollte, ist für ihn unbegreiflich und nicht vertretbar. Das Prinzip der Textzerlegung hat diesem keinerlei Bedeutung ausgetrieben, sondern ihn als „phonetischsemantisches Gebilde zum musikalischen Ausdruck gemacht“. Aufgabe der Komposition sei die Transposition der semantischen Bedeutung des Textes in die musikalische Sprache des Komponisten, erklärt Nono rechtfertigend.
Auf die Frage, warum dieser Text zur musikalischen Vertonung ausgesucht wurde, reagiert Nono zynisch, indem er die Bemerkung anführt, warum das Wort „dumm“ gerade die Buch- staben d-u-m-m benötigt um es auszusprechen. Höchstwahrscheinlich hält er diese Frage Stockhausens ebenfalls für unklug und überflüssig hinsichtlich dieser Bemerkung. Die Fest- stellung Stockhausens, der von einer „Austreibung“ des semantischen Gehalts spricht, emp- findet Nono als völlig unsinnig. Relevant ist „das Verhältnis zwischen dem Wort als phone- tisch- semantische Ganzheit und der Musik als dem komponierten Ausdruck des Wortes“. So wird die Wortbedeutung durch die musikalische Struktur übermittelt und zusätzlich intensi- viert. Die Aufsplitterung des Textes bedeutet im Sinne von Nono eine Stärkung, nicht Zerstö- rung des semantischen Wertes, denn oft geht ein Wort unter, weil die Silben mit gehaltenen Tönen verlängert werden. Die Einfügung derselben Silben durch andere Stimmen stellen folg- lich keine ablenkende Zersplitterung, sondern eine nützliche Ergänzung dar. Als Beispiel gibt Nono das Kyrie der h- moll Messe Bachs an, welches versucht das Verständnis des Textes durch die Verteilung der Silben zu erleichtern.
In einem Gespräch mit Hansjörg Pauli aus dem Jahre 1969 erwähnt Nono ebenso Vorwürfe, wie die willkürliche Zerstörung der Texte und erklärt, daß es ihm darum ging, „eine horizontale melodische Konstruktion“ zu schaffen; „ein Schweben von Laut zu Laut, von Silbe zu Silbe“, sodaß eine lineare Abfolge von Einzeltönen oder Einzel- Tonhöhen entsteht, die sich auch zu Klängen verdichten kann.
Nono gelingt somit die Erfassung der reinen, wahren musikalischen Semantik, die dem Text eng anliegt; das Komponieren der vokalen Klangfarbe mit Mitteln der seriellen Technik. Er erreicht darüber hinaus von Silbe zu Silbe eine „kommunikative Steigerung des Wortes“3, höchste Expressivität durch die Kombination von konstruktiver Strenge und leiden- schaftlichem Ausdruck. Die Fähigkeit, die Aussage der vom Text getragenen Begriffe musi- kalisch zu erweitern, erübrigt erneut die Frage Stockhausens nach der Bevorzugung ausge- rechnet dieser Schriften von so großer moralischer und politischer Bedeutung. Stockhausen erkannte nicht, daß Nono dem auf seriellen Ordnungsprinzipien basierenden Klangbild durch Textzerlegung bewußt Ausdruck und Intensität verlieh resultierend aus dem Verschmelzungsprinzip von Musik und Text, von musikalischen und semantischen Gehalt.
Literaturverzeichnis:
-Motz, Wolfgang: Konstruktion und Ausdruck, Analytische Betrachtungen zu „Il Canto sospeso” (1955/1956) von Luigi Nono, Saarbrücken 1996
-Stockhausen, Karlheinz: Texte zu eigenen Werken, zur Kunst Anderer, Aktuelles, Bd. 2, Köln 21964
-Kolleritsch, Otto [Hrsg.]: Die Musik Luigi Nonos, Studien zur Wertungsforschung, Bd. 24, Wien/ Graz 1991
-Stenzl, Jürg: Luigi Nono, Texte, Studien zu seiner Musik, Zürich 1975
[...]
1 Motz, Wolfgang: Konstruktion und Ausdruck, Saarbrücken 1996, S.44 - 58
2 Stockhausen, Karlheinz: Texte zu eigenen Werken, zur Kunst Anderer, Aktuelles, Bd. 2, Köln 21964, S. 159 unten
3 Pestalozza, Luigi: Luigi Nono und ‘Intolleranza 1960’, in: Luigi Nono, Texte, Studien zu seiner Musik, hrsg. von Jürg Stenzl, Zürich 1975, S. 358/359
- Citar trabajo
- Kristin Peukert (Autor), 2001, Der Konflikt um Luigi Nonos 'Il canto sospeso', Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/66816
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