Die deutsche Jugendbewegung und Reformpädagogik wurde Anfang dieses Jahrhunderts stark von der nach 1871 geborenen Generation von Intellektuellen geprägt, zu der auch Gustav Wyneken gehörte. Er galt als eng verbunden mit dem Bildungsbürgertum, welches Einfluss auf seine reformpädagogischen Auffassungen hatte. Wyneken beeinflusste maßgeblich die Jugendbewegung mit, zu der er ab 1912 in Verbindung steht.
Mit seinem Konzept der Erziehung des „Objektiven Geistes“ und seiner Idee der neuen Schule, schaffte er eine Pädagogik, die mit der anderer Reformpädagogen kaum vergleichbar war. Erziehung zu Größe, Reinheit und Verantwortlichkeit zählten zu seinen pädagogischen Maßstäben, hinter denen der Einzelne eine eher nachgeordnete Rolle spielte. Vielmehr ging es ihm um die Einbettung des gesamten Erziehungsvorgangs in eine objektive geistige Welt, dessen geistige Führung er für sich allein beanspruchte. Da nur die Schule der richtige Ort für diese Erziehung war, suchte er seine Idee mit der Freien Schulgemeinde Wickersdorf zu verwirklichen.
Seine Kritik an halbherzigen Konzeptionen bescherte ihm viele Feinde, die sich an seinem Totalitätsanspruch, die objektive Wahrheit zu vertreten, ohne selbst jegliche Kritik vertragen zu können, aufrieben. Schnell galt er als eine umstrittene Person, die eher ein „Verführer“ als ein „geistiger Führer“ zu sein schien. Als Wyneken 1920 verdächtigt wurde, sexuelle Kontakte zu seinen Schülern zu unterhalten, war die öffentliche Kritik um seine Person nicht mehr aufzuhalten.
Dieser Beitrag beschäftigt sich in kritischer Auseinandersetzung mit dem Leben, dem Werk und den pädagogischen Ansätzen Gustav Wynekens. Zum besseren Nachvollziehen seiner Gedankengänge wird es auch um die von ihm selbst geschaffenen bzw. neu interpretierten Begriffe des „Objektiven Geistes“ und des „Pädagogischen Eros“ gehen, die auf seine Idee der Erziehung und der neuen Schule verweisen.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Biographie
3. Wynekens Kritik und seine Ideale
4. Der „Objektive Geist“
5. Die Jugend
6. Erziehung im Kontext des „Objektiven Geistes“
7. Die Idee der neuen Schule
8. Die Zielgruppe und Koedukation
9. Der „Pädagogische Eros“
9.1 Der Pädagogische Eros an der Freien Schulgemeinde
9.2 Der Pädagogische Eros unter Verdacht
10. Kritik an Wyneken
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Die deutsche Jugendbewegung und Reformpädagogik wurde Anfang dieses Jahrhunderts stark von der nach 1871 geborenen Generation von Intellektuellen geprägt, zu der auch Gustav Wyneken gehörte. Er gilt als eng verbunden mit Bildungsbürgertum, welches Einfluss auf seine reformpädagogischen Auffassungen hatte. Wyneken beeinflusste maßgeblich die Jugendbewegung mit, zu der er ab 1912 in Verbindung steht.
Den Einfluss, den Wyneken somit auf die Reformpädagogik hatte, möchte ich nachfolgend werde ich näher mit seiner Person beschäftigen. Dabei beleuchte ich zunächst sein Leben und sein Werk im Kontext seiner Zeit und gehe auf seine Idee der richtigen Erziehung und der neuen Schule ein. Dazu kläre ich zum Verständnis und zum einfacheren Nachvollziehen seiner Gedankengänge die notwendigen - von ihm selbst geschaffenen bzw. neu interpretierten - Begriffe des „Objektiven Geistes“ und des „Pädagogischen Eros“. Im Schlussteil bemühe ich mich um eine eigene Kritik an Gustav Wyneken und versuche kurz weiterführende Gedanken anzureißen.
2. Biographie
Das Elternhaus
Am 19. März 1875 wurde Gustav Adolf Wyneken als ältestes Kind des lutheranischen Pfarrers Ernst Friedrich Wilhelm Wyneken in Stade geboren. Auch seine Mutter stammt aus einer Pfarrersfamilie.
Wynekens Vater brachte ihm von seinen Reisen nach Italien Bilder aus den Zeiten der Renaissance und der Antike mit. Somit wurde schon sehr früh das Interesse Wynekens für die Antike geweckt, welches er später als wesentliches Zeichen zwischen ihm und der griechischen Antike deutete.[1]
Zu Hause erfuhr er nie Gespräche über Sexualität, Sport und Hygiene. Später verurteile er sogar die christliche Prüderie. Wyneken selbst meinte dazu, „sein eigentliches Wesen sei dadurch verdeckt, gefärbt und gefälscht worden“[2]. Seine Vorstellung von einer idealen Erziehung beinhaltet einen gesunden Umgang mit dem eigenen Körper, Offenheit und Aufgeschlossenheit gegenüber sexuellen Fragen und die Vermeidung von Angst als Mittel zur Erziehung der Kinder.
Bildungslaufbahn
Ab 1888 besuchte Wyneken die Klosterschule Ilfeld, in der vor allem Schüler der aristokratischen Schicht das Leben der Schule dominierten. Diese organisierten sich u.a. in Parteien, wo Bürgersöhne - wie Wyneken einer war - nicht zugelassen wurden. Als älterer Schüler führte Wyneken daher einen Aufstand gegen jene Aristokratensöhne – eine Revolte als ein erstes Anzeichen seines lebenslangen Reformdrangs. Das Leben an der Klosterschule bezeichnete er selbst als die schwierigste Periode in seinem Leben, „die tiefe Spuren hinterlassen habe“[3].
Nach der Schule verspürte er auch nie den Wunsch Erzieher zu werden, entschied sich aber aufgrund der negativen Erfahrungen doch für eine pädagogische „Vergeltung“: „Aber das große Jugenderlebnis, das, wie mir meine Träume beweisen, in meinem Unterbewusstsein mich nie verlassen hat, mag dort sein Gegenbild in mir geformt haben. Und eines Tages gewährte mir das Schicksal die Vergeltung für die verpfuschte Schulzeit, die Vergeltung, die allein mir anstand: in der Schöpfung einer anders gearteten Schul- und Lebensgemeinschaft der Jugend, die in jeder Hinsicht das Gegenteil der von mir erduldeten wurde. Und erst diese Tat gilt mir für den wahren Sieg über die bösen Mächte meiner Schuljahre“.[4]
Im Jahre 1893 machte Wyneken seinen Schulabschluss und vertiefte sich in die Philosophie. Anschließend nahm er in Berlin ein Studium der Theologie, Ökonomie, Germanistik und klassischen Philologie auf und legte 1899 die Oberlehrerprüfung ab.
Großen Einfluss auf seine sich entwickelnde Bildungsidee hatten auch die Geisteswissenschaften mit einer anti-materialistischen und anti-rationalistischen Kulturkritik am technologischen Fortschritt. Wyneken wollte eine neue Kultur schaffen - als ethische Pflicht der Menschheit. In seinem Bildungskonzept findet sich das Element des „Heroischen“ wieder – Jugendliche als anti-bürgerliche Helden, die eine neue Zukunft garantieren können.[5]
Wyneken entfremdet sich dem Christentum. Er meinte, die Schule solle die Rolle der Kirche übernehmen. Aus dieser Überlegung geht später der Gedanke der Freien Schulgemeinde als Orden hervor, in dem die Jugend in das Reich Gottes eingeweiht werden soll.
Erste Schritte seiner gesellschaftlichen Veränderungen machte er bei der Comenius-Gesellschaft – eine Vereinigung, die durch Volkserziehung eine neue Gesellschaft anstrebte. Über dessen Leiter Ludwig Keller lernte Wyneken das Landerziehungsheim Ilsenburg kennen[6] und wurde dort Lehrer, wodurch seine Laufbahn als Reformpädagoge begann.
1900 heiratete er Luise Dammermann, welche ihm einen Sohn und zwei Töchter schenkte. Bereits 1910 ließ sich das Ehepaar wieder scheiden.
Einfluss der Reformpädagogik
Wir befinden uns Anfang des 20. Jahrhunderts in einer Zeit, in der die bürgerliche Kulturkritik und eine Idealisierung der Jugend in den Kreisen der Reformpädagogen und des Bildungsbürgertums weite Kreise zieht.
Die Jugendlichen werden von den Reformpädagogen zu „Heilsträgern“ und „Rettern“ der deutschen Kultur emporgehoben. „In der Tradition von Rousseau forderten sie eine natürliche Erziehung der unschuldigen Jugend“[7], wodurch ein allgemeines Interesse für die Reformpädagogen entstand. Wyneken galt mitten unter ihnen als einer der führenden Figuren.
Zusammen mit Paul Geheeb gründete er 1906 die Freie Schulgemeinde Wickersdorf. Geheeb war der Schuldirektor, Wyneken war der Mitleiter der Schule. Konflikte in Bezug auf die Leitung der Schule blieben daher nicht aus. Dies ging so weit, dass Geheeb die Freie Schulegemeinde verließ und die Odenwaldschule gründete. Wyneken hingegen wurde 1910 entlassen[8] und gründete daraufhin den „Bund für Freie Schulgemeinden“.[9] Mit diesem Bund wollte er die Freien Schulgemeinden im Land propagieren, was ihm die Chance bot, weiterhin Einfluss auf Wickersdorf auszuüben. Zusätzlich gab er die Zeitschrift „Die Freie Schulgemeinde“ heraus, womit er seine Ziele in der Öffentlichkeit expliziter vertreten konnte, d.h. die Initiierung mehrerer Schulgemeinden und die Motivierung der Jugend zur Revolutionierung des alten Schulwesens. In der radikalen Schülerzeitschrift “Der Anfang“ predigte er seine Idee der Jugendkultur. (siehe auch Punkt 10: Die Jugend)
1913 versuchte er erneut eine Freie Schulgemeinde zu gründen. Dieser Versuch scheiterte jedoch.
[...]
[1] Im Bildungsbürgertum des 20. Jahrhunderts spielte die griechische Antike eine zentrale Rolle. Die klassische Kultur galt als Norm für die Bildung. Vgl. Maasen, Thijs: Pädagogischer Eros. Gustav Wyneken und die Freie Schulgemeinde Wickersdorf. Band 6. Berlin: Verlag rosa Winkel 1995, S. 19
Bildungsbürgertum: protestantischer Stand der Gebildeten, der sich im 19. Jahrhundert in der deutschen Gesellschaft herausbildete mit Distanz zur aristokratischen Machtelite und gegen das in der Industrialisierung entstandene Wirtschaftsbürgertum; nach dem Ersten Weltkrieg schnelle Abnahme des Einflusses
[2] vgl. Maasen, T.: Pädagogischer Eros. Gustav Wyneken und die Freie Schulgemeinde Wickersdorf. Band 6. Berlin: Verlag rosa Winkel 1995 S. 20
[3] ebd., S. 21
[4] ebd., S. 22
[5] Forciert durch Langbehns Rembrandt-Buch, welches zum einen die Vernunft und die moderne Wissenschaft ablehnt und zum anderen die Veränderung der modernen Gesellschaft fordert, entsteht eine Bildungs- und Kulturkritik, mit der Überzeugung, dass Wissenschaft und Intellektualismus die deutsche Kultur zerstörten und nur durch Kunst eine neue germanische Gesellschaft entstünde. Diese Bildungskritik verbreitete sich am Anfang des 20. Jahrhunderts in verschiedenen Reformbewegungen. Wyneken sah in der Jugend den Retter der Kultur.
[6] Gründer des Landerziehungsheimes Ilsenburg war Hermann Lietz.
[7] Maasen, T.: a.a.O., S. 25f
[8] Neuer Leiter der Freien Schulgemeinde wurde Martin Luserke.
[9] der Bund gehörte zu einer Reihe von weltanschaulich motivierten Bünden in der Kulturbewegung Anfang dieses Jahrhunderts.
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