„Es ist 6 Uhr Abends, die Tagesarbeit ist beendigt. Ich kann jetzt einen Spatziergang machen; oder ich kann in den Klub gehen; ich kann auch auf den Thurm steigen, die Sonne untergehn zu sehn; ich kann auch ins Theater gehen; ich kann auch diesen, oder aber jenen Freund besuchen; ja, ich kann auch zum Thor hinauslaufen, in die weite Welt, und nie wiederkommen. Das Alles steht allein bei mir, ich habe völlige Freiheit dazu; thue jedoch davon jetzt nichts, sondern gehe ebenso freiwillig nach Hause, zu meiner Frau.“ Woher kommt dieses Gefühl, dass uns Tag für Tag, Stunde um Stunde begleitet? Warum fühlen wir uns in Entscheidungsmomenten derart frei, mehrere Handlungsoptionen zu haben, wenn wir am Ende doch nur das eine tun? Man könnte soviel mit seinem Leben anfangen, bleibt in Wahrheit jedoch in Gewohnheiten und Pflichten verankert. Warum scheinen all diese Möglichkeiten nur in der Vorstellung zu existieren? Wenn es darum geht, sie in der Realität umzusetzen, stößt man sehr schnell an seine Grenzen. Im Rückblick auf vergangene Taten, erscheint es einem vielmehr so, als hätte es nur diesen einen Weg für einen gegeben. Doch niemand käme auf die Idee zu glauben, dass dies immer so ist. Jeder macht im Laufe seines Lebens die manchmal äußerst traumatisierende Erfahrung, von anderen Menschen enttäuscht oder betrogen zu werden. Immer wenn eine Person uns verletzt, fragen wir nach den Ursachen ihres Verhaltens. Wir versuchen verborgene Motive aufzudecken und uns ihre Handlungsweise zu erklären. Wir fragen aber auch, warum der Betreffende nicht anders gehandelt hat und es entstehen in uns Gefühle des Misstrauens, der Angst und des Vorwurfs. Vielleicht war die Person betrunken, konnte ihre Triebe nicht kontrollieren oder wusste es einfach nicht besser. Egal welcher Grund das Verhalten scheinbar erklärt, wir neigen dazu, den anderen auf seine unmoralische Handlungsweise aufmerksam zu machen. Die Erfahrung zeigt jedoch, dass eine moralische Belehrung in nicht allen Fällen eine Änderung des Verhaltens bewirken kann oder die Verinnerlichung der neuen Einsicht ein äußerst langfristiges Unternehmen darstellt. Aber wie kann das sein, wenn jeder „frei“ in seinen Entscheidungen ist? Auf der einen Seite ist das Gefühl der Freiheit eine Selbstverständlichkeit, auf der anderen Seite spüren wir jedoch auch instinktiv, dass irgendetwas diese Freiheit zu bedrohen scheint. Aber was? [...]
Inhaltsverzeichnis
I. EINFÜHRUNG
1. Problemstellung
2. Vorgehensweise
3. Begriffsklärung
II. INTERNE KRITIK
1. Der Irrgarten
2. Bedingte Freiheit
2.1 Handeln und Wollen
2.2 Freie Entscheidungen
2.3 Erfahrungen der Unfreiheit
2.4 Kritische Anmerkungen
3. Unbedingte Freiheit
3.1 Argumente für unbedingte Freiheit
3.2 Die falsche Fährte
3.3 Begriffliche Überprüfung
3.4 Freiheit von innen und von außen
3.5 Kritische Anmerkungen
4. Angeeignete Freiheit
4.1 Der artikulierte Wille
4.2 Der verstandene Wille
4.3 Der gebilligte Wille
4.4 Das Geheimnis der „Selbst“-Bestimmung
4.5 Kritische Anmerkungen
5. Abschlusskritik
III. EXTERNE KRITIK
1. Nicht alle Wege führen nach Rom
1.1 Ein Problem der Methode?
1.2 Der andere Weg
2. Leib-Seele-Problem
2.1 Dualismus und Monismus
2.2 Argumente gegen den Interaktionismus
2.3 Argumente gegen die Identitätstheorie
2.4 Leib-Seele-Problem - gelöst?
2.5 Bieris Auflösungsvorschlag
2.6 Die Naturalisierung der Willensfreiheit
3. Der Geist fiel nicht vom Himmel
3.1 Der freie Wille - ein Evolutionsprodukt?
3.2 Das „halbdurchlässige“ Paradoxon
3.3 Kleine Evolution des „bewussten“ Gehirns
4. Der freie Wille auf dem Prüfstand
4.1 Die Illusion des „klaren Verstandes“
4.2 Warum Einsicht so schwer zu erkennen ist
4.3 Hängt alles von einer halben Sekunde ab?
4.4 Gründe vs. Ursachen
4.5 Das Gefühl der Urheberschaft
5. Zusammenfassung
IV. AUSBLICK
I. EINFÜHRUNG
1. Problemstellung
„Es ist 6 Uhr Abends, die Tagesarbeit ist beendigt. Ich kann jetzt einen Spatziergang machen; oder ich kann in den Klub gehen; ich kann auch auf den Thurm steigen, die Sonne untergehn zu sehn; ich kann auch ins Theater gehen; ich kann auch diesen, oder aber jenen Freund besuchen; ja, ich kann auch zum Thor hinauslaufen, in die weite Welt, und nie wiederkommen. Das Alles steht allein bei mir, ich habe völlige Freiheit dazu; thue jedoch davon jetzt nichts, sondern gehe ebenso freiwillig nach Hause, zu meiner Frau.“1
Woher kommt dieses Gefühl, dass uns Tag für Tag, Stunde um Stunde begleitet? Warum fühlen wir uns in Entscheidungsmomenten derart frei, mehrere Handlungsoptionen zu haben, wenn wir am Ende doch nur das eine tun? Man könnte soviel mit seinem Leben anfangen, bleibt in Wahrheit jedoch in Gewohnheiten und Pflichten verankert. Warum scheinen all diese Möglichkeiten nur in der Vorstellung zu existieren? Wenn es darum geht, sie in der Realität umzusetzen, stößt man sehr schnell an seine Grenzen. Im Rückblick auf vergangene Taten, erscheint es einem vielmehr so, als hätte es nur diesen einen Weg für einen gegeben. Doch niemand käme auf die Idee zu glauben, dass dies immer so ist.
Jeder macht im Laufe seines Lebens die manchmal äußerst traumatisierende Erfahrung, von anderen Menschen enttäuscht oder betrogen zu werden. Immer wenn eine Person uns verletzt, fragen wir nach den Ursachen ihres Verhaltens. Wir versuchen verborgene Motive aufzude- cken und uns ihre Handlungsweise zu erklären. Wir fragen aber auch, warum der Betreffende nicht anders gehandelt hat und es entstehen in uns Gefühle des Misstrauens, der Angst und des Vorwurfs. Vielleicht war die Person betrunken, konnte ihre Triebe nicht kontrollieren oder wusste es einfach nicht besser. Egal welcher Grund das Verhalten scheinbar erklärt, wir neigen dazu, den anderen auf seine unmoralische Handlungsweise aufmerksam zu machen. Die Erfahrung zeigt jedoch, dass eine moralische Belehrung in nicht allen Fällen eine Ände- rung des Verhaltens bewirken kann oder die Verinnerlichung der neuen Einsicht ein äußerst langfristiges Unternehmen darstellt. Aber wie kann das sein, wenn jeder „frei“ in seinen Ent- scheidungen ist?
Auf der einen Seite ist das Gefühl der Freiheit eine Selbstverständlichkeit, auf der anderen Seite spüren wir jedoch auch instinktiv, dass irgendetwas diese Freiheit zu bedrohen scheint. Aber was?
Der Feind hat einen Namen: Determinismus2. Nach Edwards „ist der Determinismus die allgemeine These, die besagt, dass für alles, was geschieht, es Bedingungen derart gibt, dass im Falle ihres Bestehens nichts anderes geschehen könnte.“3
Wenn das Zusammenwirken unterschiedlicher Bedingungen, nur eine mögliche Zukunft zulässt, dann ist Willensfreiheit im Sinne echter Handlungsalternativen ausgeschlossen. Es wäre vorprogrammiert, was wir zu einem x-beliebigen Zeitpunkt machen und nichts ändert etwas an dieser Tatsache. Das bedeutet nicht nur, dass sich jede unserer Entscheidungen auf ganz bestimmte Ursachen zurückführen lässt, sondern ebenso, dass alle voraus liegenden Ereignisse unseres Lebens bereits zum Zeitpunkt unserer Geburt feststehen.
Der Determinismus greift die menschliche Existenz an ihrer empfindlichsten Stelle an. Er stellt all das in Frage, was uns jeden Tag aufs Neue vorantreibt und motiviert: Die Möglichkeit mit den eigenen Wünschen, Träumen und Zielen etwas in der Welt ausrichten zu können. Wie soll man sich dieser fundamentalen Problematik jetzt am besten nähern? Fest steht, dass man behutsam vorgehen muss, um keine voreiligen Schlüsse zu ziehen. Das könnte nämlich fatale Folgen haben. Es steht eine Menge auf dem Spiel!
Aus diesem Grund widme ich mich im ersten Teil dieser Examensarbeit einem Philosophen, der uns versichert, dass es keinen Grund zur Sorge gibt. Willensfreiheit ist nicht einfach eine Illusion, sondern eine Eigenschaft, die uns erst zu dem macht, was wir sind: Personen, die frei über ihre Zukunft bestimmen können.
2. Vorgehensweise
Peter Bieri ist Professor für Philosophie an der Freien Universität Berlin und verfasst neben philosophischen Werken auch Romane. In einem seiner Hauptwerke „Das Handwerk der Freiheit“, welches die Grundlage dieser Arbeit bildet, verfährt er ganz nach dem Motto: „Ich denke, also bin ich frei“. Bieri argumentiert als analytischer Philosoph für die Freiheit unseres Willens, indem er versucht, Klarheit im Begriffschaos der 2000 Jahre alten Problematik zu schaffen. Nach seiner Meinung, „hängt alles davon ab, was wir mit Freiheit meinen“. Für Bieri ist der Wille dann frei, „wenn er sich unserem Urteil darüber fügt, was zu wollen richtig ist“ und er ist hingegen unfrei, „wenn Urteil und Wille auseinander fallen“.4
Es wird im Folgenden darum gehen, Bieris postulierte Freiheit auf Herz und Nieren zu prüfen und die Plausibilität seiner Argumentationsweise zu ergründen. Wenn sich die Basis seiner Vermutung dabei als zu vage herausstellen sollte, müssen wir einen Weg finden, der Willensfreiheit mit zuverlässigeren Mitteln auf die Spur zu kommen.
Als Vertreter der analytischen Sprachphilosophie glaubt Bieri nämlich, in Anlehnung an Wittgenstein, philosophische Probleme allein auf dem Wege einer Analyse der Sprache und Begriffe (auf)lösen zu können. Seiner Meinung nach ist der Streit um unsere Willensfreiheit lediglich ein Scheinproblem, welches durch den falschen Gebrauch von Sprache entstanden ist.5
Ich werde am Ende die Existenz der Willensfreiheit weder beweisen noch widerlegen können. Ich kann lediglich das Vorgehen eines Philosophen kritisch überprüfen, der von sich selbst behauptet, ein Stück Willensfreiheit durch logische Sprachanalyse ausgemacht zu haben. Bereits der zaghaft formulierte Untertitel „Über die Entdeckung des eigenen Willens“ lässt auf die Unsicherheit bezüglich seiner Errungenschaft schließen. Ich gehe davon aus, beim Abklopfen seiner Annahme und Vorgehensweise auf schwerwiegende Hohlstellen zu stoßen. Diese kritische Überprüfung erfolgt im 2. Teil, der internen Kritik.
Um das Fundament meiner Kritik ausreichend zu festigen, werde ich im 3. Kapitel, der exter- nen Kritik, zunächst begründen, warum ich Bieris Standpunkt, die Philosophie könnte auto- nom das Problem der Willensfreiheit „auflösen“, nicht vertrete. Als alternative Strategie wer- de ich Erkenntnisse aus den empirischen Wissenschaften hinzuziehen, vorzugsweise aus der Neurobiologie, und demonstrieren, warum eine interdisziplinäre Zusammenarbeit notwendig ist, wenn man an einer Antwort interessiert ist, die sowohl plausibel als auch in sich kohärent ist.6
Es wird sich im Laufe der Arbeit zeigen, dass der Weg nicht immer so linear verläuft, wie es soeben beschrieben wurde. Bieri baut seine Argumentation auf einigen Zusatzannahmen auf, die nicht einfach unkommentiert dahin gestellt werden können und daher einer näheren Hin- terfragung bedürfen. Nichtsdestotrotz kann ich viele Themen, die sich mit dem der Willens- freiheit notwendig überschneiden, nur am Rande berühren. Diese Arbeit hat keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Dennoch werde ich alles dafür tun, Bieri nicht einfach nur zu kritisieren, sondern eine Erklärung dafür zu finden, wie er sich 500 Seiten lang verzweifelt an eine Illusi- on klammern konnte.
3. Begriffsklärung
Für viele Philosophen besteht die eigentliche Schwierigkeit im Hinblick auf die Willensfreiheitsdiskussion darin, diesen Begriff zu definieren. Daher ist es sinnvoll eine Definition von Willensfreiheit einzuführen, die weit genug ist, sowohl alltägliche und philosophische als auch wesentliche Intuitionen diesbezüglich zu umfassen.7
Bevor man sich für die richtige Methode beim Aufspüren von Willensfreiheit entscheidet, muss aus diesem Grunde zunächst geklärt werden, wonach man überhaupt zu suchen meint. Die Problematik ist eng mit dem Verantwortungs- und Schuldbegriff verbunden, und daher stellt sich die Frage nach den notwendigen Bedingungen, die einer Person zu ausreichend Freiheit in diesem Sinne verhelfen.
Doch zuvor sei erwähnt, was mit Willensfreiheit nicht gemeint ist:
Handlungsfreiheit besteht in Abgrenzung zur Willensfreiheit darin, so handeln zu können, wie man handeln will. Handlungsunfrei ist man hingegen bei Einwirkung von äußeren Zwän- gen, bei fehlenden Handlungsoptionen oder etwa mangelnder Fähigkeiten, wie beim Versuch des Fliegens ohne technische Hilfsmittel.
Handlungsmöglichkeiten können durch die Intervention anderer Personen, durch Naturereig- nisse oder Krankheit, aber auch durch gesellschaftliche und gesetzliche Normen und Regeln eingeschränkt sein. So kann beispielsweise der Aufenthalt in einem Gefängnis, die heimliche Verabreichung von Drogen, stark eintretender Hagel, die Nebenwirkungen einer Chemothera- pie oder die Angst vor gesellschaftlichem Ausschluss bei Nichteinhaltung der ungeschriebe- nen Verhaltensnormen, das Wirksamwerden des Willens der betroffenen Person verhindern. Das Vorhandensein von ausreichend Handlungsmöglichkeiten reicht für das Verantwortlich- machen einer Person jedoch nicht aus, da diese Tatsache nichts darüber aussagt, wie der hand- lungswirksame Wille der Person zustande gekommen ist. Abschließend lässt sich also festhal- ten, dass Handlungsfreiheit gegeben ist, wenn Handlungen vom Wollen abhängen und man nicht daran gehindert wird, das zu tun, was man tun will. Für den weiteren Verlauf dieser Ar- beit ist dieser Begriff jedoch nicht weiter relevant.8
Beim Begriff der Willensfreiheit werden dagegen die Bedingungen untersucht, unter denen der handlungswirksame Wille zustande kommt. Beim Auffinden relevanter Kriterien orientiere ich mich hierbei an Walters Komponententheorie, die eine Festlegung auf eine bestimmte These im Willensfreiheitsstreit umgeht, indem sie unterschiedlich starke Auslegungen und verschiedene Kombinationsmöglichkeiten der einzelnen Komponenten zulässt. Die drei Komponenten der Willensfreiheit lauten9:
1. Alternativität (Freiheit im Sinne von Anderskönnen)
2. Intelligibilität (aus verständlichen Gründen aktiv handeln)
3. Urheberschaft (Ursprung im Selbst)
1. Wir gehen selbstverständlich davon aus, dass wir uns in bestimmten Situationen auch anders entscheiden könnten. Wenn ich heute Broccoli mit Kartoffeln esse und mich morgen für Pizza mit Parmaschinken entscheide, beweist diese Tatsache noch lang nicht mein „An- derskönnen“, auch wenn die Ausgangssituationen sehr ähnlich sind. Die Frage nach der Wil- lensfreiheit beinhaltet nicht, ob ich unter ähnlichen Bedingungen anders handeln könnte, son- dern ob überhaupt irgendein Mensch unter identischen Bedingungen in einer bestimmten Si- tuation anders entscheiden und handeln könnte, als er es tatsächlich tut. Empirisch lässt sich diese Frage leider nicht beantworten, da wir nicht dieselben Bedingungen einer Situation beliebig wieder herstellen können.
Dennoch ist es sinnvoll und notwendig diese Frage zu stellen, wie sich im weiteren Verlauf dieser Arbeit zeigen wird. Außerdem muss geklärt werden, ob eine abgeschwächte Form dieser Komponente ebenfalls akzeptabel ist.10
2. Zur Willensfreiheit gehört jedoch weiterhin, dass meine Entscheidungen mir und anderen ausreichend transparent und verständlich erscheinen. Handlungen aus dem Bauch heraus, ohne vorangehende Überlegung oder blinde Entscheidungen aus Liebe, zählen nicht gerade zu den Vorgängen, die sich durch plausible Gründe unserer „Vernunft“ erklären lassen. Vielmehr gehört zu einem freien Willen, dass die betreffende Person sich der Gründe ihres Handelns im Klaren ist, in der Phantasie verschiedene Möglichkeiten und deren Folgen durchspielen kann und in diesem Bewusstsein gezielt eine Entscheidung trifft, die andere Menschen ebenso nachvollziehen können.11
3. Um einen Menschen jedoch sinnvoll als „willensfrei“ zu bezeichnen, ist es notwendig die Urheberschaft als dritte Komponente hinzuzunehmen. Damit ist gemeint, dass unsere Ent- scheidungen bei uns liegen, dass wir selbst Urheber unserer Handlungen sind. Als sogenann- ter Erstauslöser bin ich fähig, meine Begierden zu überwinden, traumatischen Ereignissen aus meiner Kindheit zuwiderzuhandeln, mich über vergangene Beeinflussungen durch Personen zu erheben und mich für die Werte und Normen unserer Gesellschaft zu entscheiden.12
Offen bleibt an dieser Stelle, was genau unter „Selbst“ und der damit verbundenen Fähigkeit, selbständig und unabhängig Handlungen zu initiieren, zu verstehen ist. Klar ist hingegen, dass man einer Person aufgrund dieser Fähigkeit Verantwortung zuschreibt. „Sollen setzt Können voraus“ und somit wird deutlich, dass moralische Verantwortlichkeit von der Freiheit unseres Willens abhängt.13
Die Legitimation dieser Kriterien bestätigt ein Blick auf das Grundsatzurteil des Bundesgerichtshofs vom 18.3.1952, das Willensfreiheit als notwendige Bedingung für die Vorwerfbarkeit einer Tat voraussetzt:
„Strafe setzt Schuld voraus. Schuld ist Vorwerfbarkeit. Mit dem Unwerturteil der Schuld wird dem Täter vorgeworfen, dass er sich nicht rechtmäßig verhalten, dass er sich für das Unrecht entschieden hat, obwohl er sich rechtmäßig verhalten, sich für das Recht hätte entscheiden können. Der innere Grund des Schuldvorwurfs liegt dar- in, dass der Mensch [...] befähigt ist, sich für das Recht und gegen das Unrecht zu entscheiden.“14
Beim Strafrecht wird vorausgesetzt, dass der Täter Alternativen hatte und sich somit anders hätte entscheiden können und es lediglich an ihm selbst lag, dass er diese nicht genutzt hat. Auch wenn sich mittlerweile ein abgeschwächtes Vergeltungsstrafrecht durchgesetzt hat und Strafe in vielen Fällen als eine Art Therapie und Resozialisierungsmaßnahme angesehen wird, ist die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit ein wesentliches Kriterium um die persönliche Zu- rechnung bei Straftaten zu beurteilen. Die Einsichtsfähigkeit entspricht der Komponente der Intelligibilität und im weiteren Verlauf werde ich begründen, warum gerade diese Fähigkeit sehr stark gefährdet ist. Zwangsläufig stellt sich dann die Frage, ob eine Voraussetzung dieser Art überhaupt zu erfüllen ist.
Ziel dieser Arbeit ist es, nicht nur bezüglich des deutschen Strafrechts die vorausgesetzte Wil- lensfreiheit in Frage zu stellen, sondern die Existenz von Willensfreiheit im Allgemeinen zu hinterfragen und dies unter angeführten Indizien der Neurowissenschaften zu begründen.
Die zentrale Fragenstellung orientiert sich hierbei an folgenden Punkten15:
1. Gelingt es Bieri Willensfreiheit im Rahmen der drei Komponenten plausibel zu begründen?
2. Reicht die vermeintlich gefundene Freiheit aus, um Menschen für ihre Handlungen verantwortlich zu machen und sowohl positive als auch negative soziale Reaktionen diesbezüglich zu rechtfertigen?
II. INTERNE KRITIK
1. Das Labyrinth
„Es gibt zu jedem Zeitpunkt nur eine einzige mögliche Zukunft. Um sich eine Abweichung vom tatsächlichen Weltverlauf vorstellen zu können, müsste man entweder annehmen, dass die Vergangenheit anders gewesen wäre, als sie tatsächlich war, oder dass die Gesetze anders wären, als sie tatsächlich sind.“1
So beschreibt Bieri den Determinismus und erklärt eine Seite zuvor, dass wir immer nach Bedingungen suchen, um uns Phänomene in der Welt zu erklären. Dass wir manche Ereignis- se nicht verstehen, liegt an den uns unbekannten Bedingungen, die es ermöglichten, dass sie überhaupt zu Stande kamen. Mit dieser Theorie lässt sich auch das Handeln seines Hauptdar- stellers Rodion Raskolnikov erklären, der den Protagonisten in Dostojewskis Roman Verbre- chen und Strafe mimt. Dieser ermordet eine Pfandleiherin und Dostojewski gibt sich alle Mü- he, die Innenwelt Raskolnikovs mit samt seinen Motiven so darzustellen, dass dem Leser ein- leuchtet, wie es zu dieser Tat kommen konnte. Die Motive unseres Handelns haben nämlich Vorbedingungen und so kann man Dinge sehr weit zurückverfolgen. Geht man auf dieser Zeitleiste in die andere Richtung, ergibt sich, dass alles Zukünftige zwangsläufig geschieht und durch das Aufdecken von Bedingungen verständlich gemacht werden kann.2
Leider passt diese Annahme mit unserer Idee von Freiheit nicht zusammen. Aus unserer In- nenperspektive erscheinen uns Entscheidungen alles andere als festgelegt. Wir sind hierbei der Gegenwart und Zukunft zugewandt und scheren uns nicht um mögliche Vorbedingungen, die unser Handeln beeinflussen, gar dieses notwendig zutreffen lassen. Im Bezug auf unsere Entscheidungen offenbart sich eine „Vielfalt möglicher Verzweigungen“ und während wir überlegen und verschiedene Handlungsmöglichkeiten durchspielen, sind wir von der Offen- heit unserer Zukunft felsenfest überzeugt. „Wenn schon zum voraus feststünde, was ich tun werde: Was hätte es dann für einen Sinn, darüber nachzudenken, was ich tun will?“ Aus der Innenperspektive verstieße es gegen jede Logik, sich vorzustellen, man hätte keine Wahl. Wir verstehen uns als Urheber unserer Handlungen und selbst, wenn man im Nachhinein auf ver- gangene Entscheidungen zurückblickt, ist klar, dass man sich auch anders hätte entscheiden können.3
Die Idee der freien Entscheidung ist weiterhin eng mit der Idee der Verantwortung verknüpft. Wenn wir andere Menschen für ihr Handeln verurteilen, so nehmen wir die Innenperspektive ein und setzen selbstverständlich voraus, dass jemand auch anders hätte handeln können. Irre werden von uns hingegen nicht zur Rechenschaft gezogen, da wir sie aus der Außenperspek- tive als unfreie Menschen betrachten und sie unserer Meinung nach nichts für ihr Tun können. Aber uns selbst gegenüber solch eine Perspektive einzunehmen, die uns jede freie Entschei- dung abspricht, ist unvorstellbar. So, wie wir dem Irren nicht böse sein können, so würde auch jede empörende Empfindung uns oder anderen gegenüber ihre Wirkung verlieren und sich nicht länger rechtfertigen lassen.4
Nun stellt sich jedoch die Frage, wie man diese unterschiedlichen Annahmen unter einen Hut bekommt. Auf der einen Seite steht die „Idee einer verständlichen, bedingten und gesetzmä- ßigen Welt“ und auf der anderen Seite die „Erinnerung an unsere Freiheitserfahrung, die in den Ideen der Urheberschaft, der Entscheidung zwischen verschiedenen Möglichkeiten und der Verantwortung ihren Ausdruck findet“. Beide Gedankengänge sind in sich schlüssig und obwohl sie sich widersprechen „brauchen wir beide, um uns und unsere Stellung in der Welt zu artikulieren“. Diese Unstimmigkeit fällt nicht vom Himmel, sondern entsteht durch unser Denken. „Muss man deshalb nicht doch erwarten, dass dieses Denken sie auch zu bereinigen vermag?“5 Das wird sich zeigen.
2. Bedingte Freiheit
Als Erstes untersucht Bieri die Ideen und Begriffe, die mit der Willensfreiheit verknüpft sind, um einen Überblick vom Labyrinth zu erhalten. Die zu untersuchenden Worte betrachtet er hierbei „in Aktion“, wie man sie tatsächlich verwendet und nicht, wie sie in Wörterbüchern erklärt sind. „Die Logik ihrer Verwendung ist Ausgangspunkt und Beleg für die Dinge, die wir über eine Idee [...] sagen.“ Hierbei ist unsere sprachliche Sensibilität zwar nicht unfehlbar, aber „wenn sie in einer übersichtlichen Beziehung zur Logik der entsprechenden Wörter steht“, können andere unsere Auskünfte über eine Idee nachvollziehen und sogar überprüfen.6
2.1 Handeln und Wollen
Was macht eine Handlung zu einem bewussten und aktiven Tun? Zunächst einmal muss man das, was man tut, auch wirklich wollen. Wenn Herr X auf Glatteis ausrutscht und seine Freundin dabei mit zu Boden reißt, dann war das keine Handlung, die von seinem Willen ge- leitet wurde. Um sich als Urheber einer Tat zu verstehen, muss man diese folglich als „Aus- druck des eigenen Willens“ erleben. Ähnlich ergibt auch Raskolnikovs Handlung einen Sinn: Er verlässt sein Haus, geht zur Pfandleiherin und schlägt sie tot, weil er von seinem mörderi- schen Willen geleitet wird. Wir verstehen seine Tat, da sein Wille unmittelbar mit der ausge- führten Handlung zusammenhängt. Ohne Wille, keine Urheberschaft. Somit ist die Bedingt- heit unserer Handlungen durch unseren Willen eine gewichtige Voraussetzung für erlebte Urheberschaft. Hinzukommt, dass wir aus der Innenperspektive heraus den handlungswirk- samen Willen immer „als Verwirklichung einer Möglichkeit unter anderen “ erleben. Dabei steht die Bedingung unserer Tat durch unseren Willen in keinem Widerspruch zu dem erleb- ten Freiheitsgefühl, dass uns einen gewissen Bewegungsspielraum eröffnet. Im Gegenteil, kommen Handlungen ohne unseren Willen zustande, so „kann nicht von Freiheit die Rede sein“.7
Soweit, so gut. Da kann man Bieri nur zustimmen. Leider ist dies jedoch die falsche Stelle, an welcher Willensfreiheit auszumachen ist. Dass eine Handlung vom Willen abhängen muss, um jemandem Urheberschaft zuzusprechen, ist logisch, sagt jedoch nichts über das Zustandekommen dieses Willens und somit über seine potentielle Freiheit aus.
Bieri sagt weiterhin, dass „wir den Begriff des Willens erfunden haben, um die Idee des Han- delns entwickeln zu können“. Man kann dass als eine Art Kettenreaktion verstehen. Am An- fang gibt es verschiedene Wünsche, die ein jeder von uns hat, die jedoch erst zum Willen werden, wenn man durch Überlegung die Bereitschaft entwickelt, diesen Wunsch tatsächlich auszuführen. Ich wünsche mir ein neues Auto, den Weltfrieden, ein gutes Resultat am Ende meiner Examensarbeit und vieles mehr. Für ein neues Auto bräuchte ich zunächst das nötige Geld, zum Weltfrieden werde ich als Einzelkämpferin nur geringfügig etwas beitragen kön- nen, aber was diese Examensarbeit angeht, so liegt es weitestgehend an mir, mit ausreichend Anstrengung ein gutes Ergebnis zu erzielen. Würde ich, anstatt fleißig an meiner Arbeit zu schreiben, in den Urlaub fliegen oder mich anderweitig beschäftigen, wäre es nicht mein Wil- le gut abzuschneiden, sondern lediglich ein stiller Wunsch, der anderen untergeordnet ist. Der Wille ist folglich „ein Zusammenspiel von Wunsch, Überzeugung, Überlegung und Bereit- schaft, und diese innere Struktur macht uns für unser Handeln verantwortlich“.8
Aber was genau besitzt an dieser „inneren Struktur“ den Funken Verantwortlichkeit, den wir uns und anderen zuzuschreiben meinen? Ist er in unserer Überzeugung zu finden oder verhilft uns etwa allein der Verstand zu Willensfreiheit?
2.2 Freie Entscheidungen
„Unsere Freiheit ist die Freiheit, uns für oder gegen etwas entscheiden zu können.“ Bieri ist der Meinung, dass wir unseren Willen durch Nachdenken und Überlegen beeinflussen können und dass wir selbst darüber bestimmen, wie unser Wille sein soll. Die Machtausübung des Denkens auf unseren Willen lässt uns zum Urheber unseres Handelns werden. Sie bestimmt darüber hinaus das Ausmaß unserer Willensfreiheit. Dies trifft angeblich auch bei substantiel- len Entscheidungen zu, bei denen es nicht nur um die alltägliche Wahl zwischen schwarzen oder weißen Socken geht. Selbst bei Entscheidungen, die unser gesamtes Leben verändern, wie der Berufswahl, Familiengründungsplänen, einer Subkulturzugehörigkeit oder Auswan- derungsvisionen, bestimmen wir ganz allein über den Verlauf unserer Zukunft und vor allem über unsere persönliche Identität. Ich entscheide, welche Wünsche zu meinem Willen werden; ich entscheide, wie ich von anderen betrachtet werden möchte; ich entscheide als Architekt meiner Persönlichkeit über die Anordnung einzelner Komponenten meiner Identität. Aber wie genau mache ich das?9
1. Mit viel Phantasie, sagt Bieri. Indem man gedanklich verschiedene Handlungsmög- lichkeiten durchspielt, sich parallel wahrscheinliche Gefühlsregungen vorstellt und einem die Folgen einer Entscheidung bewusst werden. Frau X überlegt beispielsweise, ob sie Kranken- schwester werden soll. Sie hilft gerne Menschen und Schichtarbeit macht ihr nichts aus. Je- doch kann sie kein Blut oder Erbrochenes sehen. Bei dem Gedanken daran wird ihr ganz übel. Da man als Krankenschwester tagtäglich damit zu tun hat, verwirft sie diese Möglichkeit und sucht sich stattdessen einen alternativen Beruf. Phantasie hilft einem dabei, sich in eine mög- liche Zukunft hinein zu projizieren und manchmal sogar verborgene Wünsche ans Tageslicht zu führen. Mit der dadurch gewonnenen Selbsterkenntnis kann man zu einer Umgestaltung seiner Persönlichkeit beitragen und die Freiheit des Willens vergrößern.10
2. Als weitere Voraussetzung für eine freie Entscheidung nennt Bieri die Fähigkeit, „ei- nen bestimmten Wunsch und Willen haben oder nicht haben“ zu wollen. Man kann sich folg- lich nicht nur über seine Gedanken und Meinungen bewusst werden, sondern diese selbst bestimmen. Ein kritischer Abstand hilft einem, einen Schritt zurückzutreten, höherstufige Wünsche zu bewerten und sie dann durch den Willen handlungswirksam werden zu lassen. Dieser innere Abstand ermöglicht es, nüchtern und distanziert einen vern ünftigen Blick auf Wünsche zu werfen und verhindert, dass es zu einer blind ausgeführten Handlung kommt.11
3. Außerdem gehört zu dem Gefühl Urheber unseres Willens zu sein, dass die Zukunft offen ist und es an uns liegt, wie sie am Ende aussehen wird. Besonders bei folgenschweren Entscheidungen wird deutlich, wie qualvoll unsere Freiheit sein kann, wenn wir zwischen triftigen Argumenten hin und her schwanken und uns nicht so recht entscheiden können. Wir verfluchen sie, weil es angenehmer wäre, jemand würde uns diese Entscheidung abnehmen. Insgeheim brauchen wir jedoch diese Qual, um uns als Subjekt zu erleben, und würden uns gegen eine Fremdbestimmung unseres Willens zur Wehr setzen.
Die Offenheit der Zukunft belegt Bieri an folgenden Komponenten: Wir greifen bewusst in die Bildung des Willens ein, unsere Entscheidungen sind widerrufbar und wir können unseren Willen auch in eine gegenläufige Richtung lenken. „Solange wir überlegen und uns Alternati- ven vorstellen, ist die Willensbildung nicht abgeschlossen“ und kann bis zu einer endgültigen Festlegung immer von neuem verändert werden.12
Natürlich fühlen wir uns frei in unseren Entscheidungen während wir verschiedene Argumen- te gegeneinander abwägen und bewusst überlegen, was wir wirklich tun wollen. Tatsache ist dennoch, dass wir in diesem Prozess nicht erst Überzeugungen von uns willkürlich ausbilden, sondern bereits vorhandene Wünsche und Prinzipien an die Oberfläche befördern. Herr X steht beispielsweise vor der schweren Entscheidung seine todkranke Mutter entweder in ein Sterbehospiz zu übergeben oder sie für die letzten Tage, Wochen oder Monate in ihrer ge- wohnten Umgebung zu lassen. Egal wie viele Gründe sich für das Sterbehospiz ergeben, be- reits am Anfang seiner Überlegung steht eigentlich fest, dass sie zu Hause sterben wird. Auch wenn es die mühevollere Variante darstellt und er seinen Alltag komplett umstellen muss. Herr X könnte es nie übers Herz bringen, sie in fremden Händen sterben zu lassen. Dieser Wunsch ist so stark, dass er bereit ist, alle notwendigen Strapazen auf sich zu nehmen, das war ihm nur nicht bewusst. Es ist durchaus plausibel anzunehmen, dass von Vornherein feststand, was Herr X wollen wird. Und darum geht es doch bei der Frage nach Willensfrei- heit, ob man auch etwas anderes hätte wollen können oder etwa nicht?
Aber selbst davon ist Bieri überzeugt. „Ich hätte auch etwas anderes wollen können“, aller- dings nur, wenn „ich anders geurteilt hätte“. Bieri hängt unsere vermeintliche Freiheit an Be- dingungen, die ihrerseits wieder von Bedingungen abhängen. „Die Freiheit des Willens liegt darin, dass er auf ganz bestimmte Weise bedingt ist: durch unser Denken und Urteilen.“ Es ist also nicht wirklich unser Wille, der frei ist. Erst die Verbindung des bedingten Willens mit der Urteilsfähigkeit verhilft uns zu einer freien Entscheidung. Mein Wille f ügt sich meinem Urteil, darin liegt meine Freiheit.13
Kann das des Rätsels Lösung sein?
Um anders zu urteilen, müssen allerdings die Bedingungen der Ausgangssituation auch anders liegen. Herr X hätte sich etwa nur für das Sterbehospiz entscheiden können, wenn ihm die Zeit zur Pflege gefehlt hätte oder der Wunsch, seine Mutter in den Tod zu begleiten, nicht so gewichtig gewesen wäre. Was nützen fiktive Bedingungen, wenn sie im Moment der Entscheidung keinerlei Relevanz zeigen?
2.3 Erfahrungen der Unfreiheit
Um seinen Freiheitsbegriff plausibel zu machen, zeigt Bieri im nächsten Abschnitt, wann wir uns im Gegensatz zu freien Momenten unfrei fühlen. Im Prinzip fühlt man sich nämlich im- mer nur dann unfrei, wenn Wille und Urteil auseinander fallen oder ein selbständiges Denken völlig übergangen wird. Das Letztere ist etwa beim Getriebenen der Fall, der keine Entschei- dungen selbst trifft und sich einfach auf dem Strom des Lebens treiben lässt. Er reagiert auf äußere Einwirkungen, vermag aber nicht mehr aus sich selbst heraus Dinge zu bewegen. Da das Überlegen wegfällt, wird der Wille nur noch von äußeren Umständen beeinflusst und ent- zieht sich jeglicher Freiheit. Er passt sich zwar fließend all dem an, was auf ihn einströmt, aber es ist eine „Wandelbarkeit ohne Führung“ und daher stolpert der Getriebene seiner Zu- kunft einfach unkontrolliert entgegen.14
Auch der gedankliche Mitläufer ist zum selbständigen Denken nicht fähig und lässt sich in seiner Willensbildung mehr durch die Meinung anderer beeinflussen. Er glaubt, seine Über- zeugung entstamme seinem Selbst, dabei handelt es sich lediglich um imitierte Meinungen der Menschen aus seinem Umfeld. Der zwanghafte Wille lässt sich hingegen gar nicht durch das Denken und Urteilen beeinflussen oder lenken. Bei einer Drogensucht wird beispielsweise ein Wille handlungswirksam, der sich der rationalen Kontrolle völlig entzieht. Trotz des Wis- sens über die Wirkung von Drogen, fühlt sich ein Abhängiger seinem unkontrollierbaren und fremden Willen ohnmächtig ausgeliefert. Er schafft es nicht, „einen Willen zu entwickeln“, der seiner Überlegung entspricht, denn der zwanghafte Wille ist „unbelehrbar“ und sozusagen immun gegen gemachte Erfahrungen.15
Bieri begründet im darauf folgenden Abschnitt, warum unterschiedliche Zeiterfahrungen als Indiz für Unfreiheit dienen können. Über diesen Teil lässt sich festhalten, dass sich „unser Zeiterleben unter dem Druck von Unfreiheit erheblich verformt“. Der Getriebene erlebt so eine sehr „flache Gegenwart“. Da ihm bewusste Entscheidungen völlig fremd sind und ihm sowohl der Bezug zur Vergangenheit als auch zur Zukunft abhanden gekommen ist, lebt er einfach unbewusst in den Tag hinein. Der gedankliche Mitläufer empfindet hingegen ein ziemlich langweiliges Zeitgefühl, weil seine Überzeugungen nicht seinem Selbst entspringen und die Ansichten anderer gelebt werden.
Beim Zwanghaften handelt sich um aufgeschobene Zeit. Er leidet unter dem Verlust einer offenen Zukunft, da sich sein unbelehrbarer Wille jeglicher Kontrolle entzieht. Seine Gegen- wart besteht aus vergeblichem Warten darauf, dass der fremde Wille verschwindet und der Entwicklung seines wirklichen Willens endlich die Türen geöffnet werden. Alle Beispiele zeigen laut Bieri deutlich, dass Unfreiheit als Kontrast zu erlebter Freiheit unsere Zeitwahr- nehmung äußerst verzerrt.16
2.4 Kritische Anmerkungen
Im zweiten Abschnitt von Bieris Bedingter Freiheit, „Tun und lassen, was man will“, welches ich im bisherigen Verlauf übersprungen habe, liegt der Kern meiner Kritik.
1. Bieri geht davon aus, dass Raskolnikov in seinem Handeln frei ist, als er die Pfandlei- herin ermordet. Sie zu erschlagen, ist nämlich nicht das einzige, was er tun kann. Um an Geld zu kommen, könnte er sich nämlich auch „energisch nach Arbeit umsehen, vom Geld des zu- künftigen Schwagers leben oder eine Bank überfallen“. Im Sinne dieser Handlungsfreiheit hat Raskolnikov eine offene Zukunft vor sich, als er zur Tat schreitet. „Frei war ein vergangenes Tun nur dann, wenn der Täter damals auch anders hätte handeln können.“17 (Bieri 2003, 45) Wie in der Begriffsklärung gezeigt wurde, ist Handlungsfreiheit zwar notwendig, um den ei- genen Willen handlungswirksam werden zu lassen, dennoch sagt sie nichts über das Zustan- dekommen des Willens aus. Die möglichen Alternativen, die Bieri in Bezug auf Raskolnikovs Entscheidung nennt, sind für seine scheinbar offene Zukunft irrelevant. In seine Überlegung wurden sie nicht miteinbezogen und was nützen Möglichkeiten, die keinerlei Rolle spielen?
2. Weiterhin schreibt Bieri, dass das Ausmaß des Bewegungsspielraums von den äußeren Umständen abhängt, von den Mitteln, die mir zur Verfügung stehen und von meinen persönli- chen Fähigkeiten. Dieser begrenzte Spielraum bildet die Plattform meines Willens und es gilt: „Ob ich das eine tue oder etwas anderes, hängt ausschließlich daran, was ich will.“ Und so gelangt Bieri zu seiner Annahme, dass wir anders gehandelt hätten, wenn wir etwas anderes gewollt hätten.18
Problematisch ist, dass er Handlungen von einem Willen abhängig macht, der wiederum „von Dingen abhängt, die nicht in unserer Verfügungsgewalt liegen“. „Es hängt also nicht allein von uns ab, was wir wollen. Stört uns das?“ Bieri verneint diese Frage. Wir können unseren Willen nur auf Dinge richten, die in dieser Welt auch vorhanden sind. „Die Grenzen die dem Willen durch die Welt gezogen werden, sind kein Hindernis für die Freiheit, sondern deren Voraussetzung.“19
Die Welt legt somit das Angebot fest und „der Rest liegt bei mir“. Das bedeutet, dass körper- liche Bedürfnisse meine Willensbildung beeinflussen, z.B. wenn ich Hunger habe oder friere. Außerdem bestimmen meine Gefühle, ob ich panisch aus einem brennenden Haus renne, vol- ler Mitgefühl einem Bettler Geld gebe oder voller Hass jemanden töte. Ferner legen mein Charakter und meine gemachten Erfahrungen fest, was zu meinem handlungswirksamen Wil- len werden kann und besonders „seelische Verletzungen stellen die Weichen für den weiteren Verlauf meines Willens“. „All diese Dinge geben einer Person ihr inneres Profil, das in der Begegnung mit den Umständen eher den einen als den anderen Willen zeitigt. Beeinträchtigt diese Tatsache jedoch unsere Freiheit? „Ist sie ein Grund zur Klage?“ Auch diese Frage ver- neint Bieri, denn erst „ein Wille, der in einer Innenwelt mit festen Konturen verankert ist, macht ihn zum Willen einer bestimmten Person“. Auch hier ist „die Begrenzung unseres Wol- lens kein Hindernis für die Freiheit, sondern deren Voraussetzung“.20
Seine Argumentation ist unschlüssig, da er seine Annahme in einem konditionalen Satzgefüge formuliert. Sein „anders hätte handeln können“ hängt nämlich vom „Wollen“ ab, das auch wiederum bedingt ist, wie er selbst sagt. Wenn die Umstände andere gewesen wären, hätte ich etwas anderes gewollt. Aber wer vermag es in wichtigen Entscheidungsmomenten, die Ausgangsbedingungen zu verändern oder seine Gefühle wie Angst oder Wut einfach abzustellen? Damit sein Argument funktioniert, müsste man entweder die Vergangenheit oder die Naturgesetze verändern können. Für Bieri ist Bedingtheit und Freiheit dennoch miteinander verträglich. Folglich muss er plausibel begründen, wie dies geschehen kann.21
Im Prinzip deckt man die Fehlbarkeit seines Arguments auf, wenn man folgende Annahme zurückverfolgt:
Um die Behauptung „Herr X hätte Mathematik studieren können“ plausibel zu rechtfertigen, hätte sowohl die reale Möglichkeit (finanzielle Mittel und Zusage von der Universität) als auch die entsprechende Fähigkeit (ausreichend mathematisches Verständnis) gegeben sein müssen.
Es hat jedoch einen spezifischen Grund, warum Herr X vor zwanzig Jahren eine Tischlerlehre und kein Mathematikstudium begonnen hat. Als entscheidende Komponente kommt nämlich noch die Motivation hinzu. Herr X fand nie Vergnügen am logischen Denken und wäre aus diesem Grund nie auf die Idee gekommen Mathematik zu studieren, auch wenn er gute Chancen gehabt hätte ein Studium erfolgreich zu absolvieren.
Scheinbar reicht es nicht aus, dass nur eine der vielen Bedingungen erfüllt ist. Wenn es not- wendig ist, sowohl die Möglichkeit, Fähigkeit als auch die nötige Motivation zu besitzen, um einen handlungswirksamen Willen zu entwickeln, bleibt es bei einer vagen Vermutung, vom Zutreffen einer Bedingung, auf das tatsächliche Zustandekommen einer Handlung zu schlie- ßen und ein „ falls die anderen beiden Bedingungen auch gegeben sind“ still vorauszusetzen.22 Wie kann es sein, wenn sich alle vergangenen Entscheidungen auf Bedingungen zurückführen lassen, dass Bieri dennoch behauptet, wir könnten anders handeln, entscheiden und wollen, als wir es tatsächlich tun? Immer wenn ich mir wünsche, die Zeit zurückdrehen zu können, weil mir ein schwerwiegender Fehler unterlaufen ist, wird mir die Sinnlosigkeit dieses Wun- sches bewusst. Ich wäre wieder in der gleichen Situation, mit denselben inneren und äußeren Bedingungen, den gleichen Gefühlen, Gedanken und Überlegungen. Was nützt mir das? Würde ich mich jetzt plötzlich anders verhalten? Nein, denn hierfür wäre es nötig, dass ich meine Einsicht aus der Zukunft in die Vergangenheit mitnehmen könnte. Mit diesem Gedan- kenexperiment möchte ich verdeutlichen, dass es sehr unwahrscheinlich ist, dass wir unter identischen Bedingungen unterschiedliche Entscheidungen treffen.
Die Frage ob wir uns unter identischen Bedingungen auch anders entscheiden könnten, als wir es tun, werde ich im weiteren Verlauf als das Problem der Alternativität bezeichnen. Es macht einen meiner Hauptkritikpunkte an Bieris These aus.
3. Ein weiteres Problem liegt in seiner Annahme, „unser Wille sei frei, wenn er sich unserem Urteil darüber fügt, was zu wollen richtig ist“.23
In uns brodeln viele bewusste und unbewusste Wünsche, von denen manche stärker sind als die anderen. Dringt nun ein solch starker Wunsch in unsere Gedankenwelt ein, entscheiden wir unter der Kontrolle unserer rationalen Fähigkeit des Denkens und Überlegens, ob er tat- sächlich in einen handlungswirksamen Willen umgewandelt, verändert oder ganz zurückge- wiesen werden soll. Bieri macht die Freiheit unseres Willens von dieser Fähigkeit des rationa- len Abwägens abhängig. In Bezug auf innere Zwänge oder sexuelle Phantasien kann unser Urteil dem Willen gegenüber machtlos sein.
Diese Art von Unfreiheit kann Bieris Theorie erklären und plausibel machen. Was passiert aber, wenn aggressive Gefühle in einem Mann aufsteigen und dieser selbst nach längerem Überlegen der Meinung ist, dass seine Frau eine Tracht Prügel verdient hat und zuschlägt? Nach Bieris Formel hätte er aus einem freien Willen heraus gehandelt. Wenn jemand sein ganzes Leben gelehrt wurde, Konflikte mit Gewalt einzudämmen, dann lautet sein Urteil selbst nach gründlichem Abwägen, dass sein „Zuschlagen“richtig ist. Ist dieser Mann nun frei oder unfrei? Spätestens jetzt wird sichtbar, wie problematisch Bieris These ist. Wer entscheidet darüber, was zu wollen richtig ist und was nicht?
Wenn wir es selbst sind, dann ist auch der Wille eines sexuellen Straftäters frei, solang seine Phantasien durch sein Urteil, als richtig und angemessen befunden werden. Dies bedeutet, dass nach Bieris Schema offenbar manche Handlungen als frei bezeichnet werden, obwohl sie es gar nicht sind.24
Selbst wenn man diesen Zusatz außer Acht lässt, ist die These äußerst kritisch zu hinterfragen. Im Prinzip verlagert Bieri den Sitz unserer Willensfreiheit von unseren Trieben, Begierden und Wünschen auf unsere Rationalität um. Urteilsfähigkeit ist wiederum von unserer Ver- nunft abhängig. Zum vernünftigen Urteilen gehört, dass ich über Gründe, die für oder gegen eine Handlung sprechen, nachdenken kann. Außerdem muss ich mir mögliche Handlungen, deren Folgen und bestimmte Situationen gedanklich vorstellen können, um herauszufinden, wie andere und ich mich selbst dann fühlen würden. Diese Voraussetzung hat Bieri mit der Phantasie begründet. Aber macht uns diese Tatsache allein schon frei? Sie unterscheidet uns vielleicht vom Tier, bei dem wir davon ausgehen, dass es gänzlich von Trieben und Instinkten gesteuert wird. Wenn sich der Determinismus jedoch bewahrheiten sollte, dann unterliegt ihm, neben unseren Wünschen und Affekten, auch unsere Vernunfttätigkeit.
Bieri beschreibt unsere scheinbare Willensfreiheit, als wenn die Vernunft klar und objektiv über aufkommende Emotionen und Wünsche urteilen könnte. Seiner Ansicht nach sind wir frei, wenn unser gedankliches Überlegen bewusst unerw ünschte Wünsche unterdrückt und nur diejenigen durchlässt, die mit unserem Urteil übereinstimmen. Seine Annahme ist schwierig mit der Tatsache zu vereinbaren, dass Denken und Fühlen sich gegenseitig stark beeinflussen. Gefühle lassen sich nicht ohne weiteres kontrollieren und werden daher auch als „automati- scher Gemütszustand“ bezeichnet. Sie sind wiederum eng mit unseren Gedankenabläufen verknüpft. Negative Gedanken können daher auch negative Gefühle hervorrufen und andererseits kann ein „gedrückter Gemütszustand“ negative Gedanken auslösen.25 Es ist sehr fraglich, ob wir überhaupt richtig urteilen können, wenn Gefühle mit Denkprozessen notwendig einhergehen.
Der bewusste Denkprozess ist an automatische Gedankenabläufe im Unterbewusstsein gekoppelt, die wiederum von Erinnerungen und Wahrnehmungen stark beeinflusst werden. Es ist zweifelhaft, ob die „Tätigkeit der Vernunft“ als Argument, die Willensfreiheit plausibel zu rechtfertigen, überhaupt haltbar ist.26
4. Ferner ist es schwierig Willensfreiheit im Kontrast zu vermeintlich erlebten Unfrei- heitsmomenten zu begründen. Erstens baut Bieri diesen Abschnitt auf seiner nicht ausrei- chend begründeten Rationalitätsthese auf und zweitens ist es sehr schwierig, eine saubere Li- nie zwischen scheinbarer Freiheit und Unfreiheit zu ziehen. Als Kriterium für erlebte Unfrei- heit nennt Bieri den Wegfall des selbständigen Denkens. Der gedankliche Mitläufer über- nimmt etwa die Ideen anderer, ohne seine eigenen dabei zu berücksichtigen. Doch wo genau fängt diese Art von Mitläufertum an und wo hört sie auf? Menschen werden tagtäglich in ih- rem Wollen von anderen inspiriert und beeinflusst, ob sie es nun wahrhaben wollen oder nicht. Selbst beim eigenständigen Denken kann man diese Art vom Übernehmen fremder Ge- danken nicht ausschließen und daher bleibt es äußerst fragwürdig, ob die Zeiterfahrung als sicherer Beurteilungsmaßstab für Unfreiheit angesehen werden sollte.
Außerdem lässt sich nicht immer eindeutig entscheiden, ob der Mitläufer beispielsweise tat- sächlich dermaßen gelangweilt ist, wie Bieri es behauptet. Vielleicht ist ihm sein Mitläufer- tum gar nicht bewusst und er genießt die Zeit, die er mit scheinbar Gleichgesinnten verbrin- gen kann.
Unser Zeitsinn ist ein sehr subjektives Erleben von aufeinander folgenden Ereignissen und „hat nichts mit Wahrnehmungsgegenständen zu tun“. Es ist also egal, was für Denkinhalte unseren Willen bilden und woher sie stammen. Die Entwicklung des Zeitsinns ist weiterhin abhängig von der Kultur und kann sich daher unterschiedlich stark ausprägen. Jedes Volk und jede Kulturepoche hat eine andere Einstellung zur Zeit und ihrem Erleben. Aufgrund der fehlenden Objektivität kann dieses Argument demzufolge nicht überzeugen.27
3. Unbedingte Freiheit
Im ersten Teil des Buches hat Bieri die Bedingtheit unseres Willens als Voraussetzung für Willensfreiheit genannt, die uns erst zum Urheber unserer Handlungen macht. Diese Bedingt- heit ist in zweierlei Hinsicht zu betrachten: Erstens ist unser Wille aufgrund innerer und äuße- rer Umstände auf ganz bestimmte Weise bedingt und zweitens wird er selbst zu etwas Bedin- gendem, nämlich wenn er einen Wunsch handlungswirksam werden lässt. Wir sind frei in unseren Entscheidungen, wenn unser Denken und Urteilen Einfluss auf das Wollen und Tun zu nehmen vermag. „Unzweifelhaft ist, dass wir diese Freiheit besitzen. Es besitzt sie nicht jeder, und wer sie besitzt, besitzt sie nicht zu jeder Zeit. Aber insgesamt betrachtet sind wir dieser Freiheit fähig. Doch genügt sie uns, diese Freiheit? Oder fehlt in dem bisherigen Bild etwas Wesentliches?“ Ja, die Geschichte ist noch lange nicht zu Ende. „Wir haben den intuiti- ven Reichtum unserer Freiheitserfahrung bei weitem noch nicht ausgeschöpft“, schreibt Bieri am Anfang des zweiten Teils. Es reicht jedoch nicht, die bisherige Geschichte fortzuführen, es bedarf nämlich eines neuen Ansatzes, „um diejenige Freiheit einfangen zu können, um die es uns eigentlich geht“.28
In diesem Teil geht Bieri auf die Vorstellung ein, die wir normalerweise unter Freiheit verstehen: die Abwesenheit von Bedingtheit. Wir verstehen unseren Willen erst als wahrhaft frei, wenn er von keinen Vorbedingungen abhängt und in den Lauf der Welt einzugreifen vermag, ohne dieser unterworfen zu sein. Er ist daher „ein unbewegter Beweger“. Ob wir tatsächlich über einen unbedingten Willen verfügen, ist schwierig zu lösen. Daher ist es sinnvoller zu fragen, ob die Idee der Person die Idee der unbedingten Freiheit überhaupt voraussetzt. Doch zunächst versucht Bieri zu klären, wie man überhaupt auf die Idee der Unbedingtheit unseres Willens als Voraussetzung für Freiheit kommen kann.29
3.1 Argumente für unbedingte Freiheit
Normalerweise wird der Mord von Raskolnikov als eine freie Handlung anerkannt, da ihm weder weitere Handlungsmöglichkeiten versperrt waren, noch sein Wille aus Zwang oder aus einem Affekt heraus entstanden ist. Bieri behauptet nun, dass Raskolnikov, während er mit seinen Mordgedanken zum Haus der Pfandleiherin geht, jederzeit seinen Entschluss noch zu- rücknehmen kann. Würde ihm ein Funken Feigheit in den Sinn kommen, brächte ihn das un- ter Umständen zum Umkehren. Für ihn gilt folgende Verkettung von Bedingungen: „Hätte er anders überlegt, so hätte er sich anders entschieden; hätte er sich anders entschieden, so hätte er etwas anderes gewollt; hätte er etwas anderes gewollt, so hätte er etwas anderes getan. Für das, was er wollte und tat, gab es also einen Spielraum verschiedener Möglichkeiten [...].“30 An dieser Stelle ist kritisch anzumerken, dass Bieri die Möglichkeiten des Handlungsspiel- raums ebenso auf mögliche Willensbildungen überträgt und beide grundverschiedenen Begrif- fe erneut miteinander vermengt.
Ferner heißt es, dass „jede einzelne Bedingung nur variieren kann, wenn auch eine andere Bedingung variiert“. Wie kann man also aufgrund dieser fundamentalen Abhängigkeiten noch von Freiheit sprechen? Raskolnikovs Überlegungen hätten nämlich eine andere Richtung ein- schlagen müssen, damit sich sein Wille anders entwickelt hätte. Aber mit seiner ganz be- stimmten Lebensgeschichte und unter den gegebenen Umständen, konnte sich nur dieser eine Wille entwickeln und handlungswirksam werden. Schließlich kann Raskolnikov nichts dafür, dass er ausgerechnet in diese Gesellschaft hineingeboren und nicht von anderen Erfahrungen geprägt wurde. „Und so lag es nicht an ihm, dass die Dinge kamen, wie sie kamen, angefan- gen mit den Vorbedingungen seiner Geburt über seine persönliche Entwicklung bis hin zu seinen skrupellosen Gedanken, seinem mörderischen Willen und seiner ruchlosen Tat.“31
Lässt sich die Annahme einer offenen Zukunft überhaupt noch halten? Es stünde schon im Voraus fest, was wir zu einem bestimmten Zeitpunkt wollen werden und das bedeutet ein Leben in vollständiger Ohnmacht.
1. Tatsache ist allerdings, dass wir uns als Personen in unserem Wollen und Tun in kei- ner Weise derartig ohnmächtig fühlen, weil wir Macht über unseren Willen haben und einer wirklich offenen Zukunft entgegen schreiten. Zur Idee des Personseins gehört, dass wir über eine echte Wahl in unseren alltäglichen Entscheidungen verfügen. Automatisch gehört dann aber auch die Idee der unbedingten Freiheit dazu, da der bedingte Wille all diese Komponenten nicht zulässt. Und daher gilt: „Wenn sich jemand als Person versteht, muss er sich in seinem Willen als unbedingt frei halten. Wir verstehen uns als Personen. Also müssen wir uns in unserem Willen für unbedingt frei halten.“32
2. Weiterhin begründet Bieri das Entstehen von der Unbedingtheit des Willens in unserer Vorstellung aufgrund der Tatsache, dass wir uns als überlegende Personen verstehen. Als Ü- berlegender wäge ich verschiedene Möglichkeiten ab, für die ich mich entscheiden könnte. Voraussetzung ist, dass diese Möglichkeiten real sind und nicht nur in meiner Vorstellung existieren. Um von wirklicher Freiheit zu sprechen, muss man unter identischen Bedingungen ganz unterschiedliches wollen können. Die bedingte Freiheit erfüllt diese Voraussetzung je- doch nicht, und kann somit nicht das letzte Wort sein. Zur Idee des Überlegens gehört folg- lich, dass man verschiedene Möglichkeiten zur Auswahl hat und an die Existenz dieses Spiel- raums glaubt. Daher wäre es auch unlogisch, „dass jemand überlegend eine Entscheidung vorbereitet und im selben Atemzug behauptet, es gebe für ihn nur eine einzige Möglichkeit“. Also muss man eine widersprüchliche Überzeugung aufgeben und da wir nicht leugnen kön- nen, dass wir überlegende Personen sind, muss die Vorstellung der einzigen Möglichkeit fallengelassen werden. Auf diese Weise, so Bieri, werden wir „zum Verfechter der unbeding- ten Freiheit“, ob wir es wollen oder nicht.33
3. Die Idee der unbedingten Freiheit verlangt aber auch, dass der Wille ungebunden ist. „Es soll jedes Mal von neuem eine offene Frage sein, ob Überlegen und Phantasie überhaupt Einfluss auf ihn nehmen und welche Überlegungen und inneren Bilder es sind, die den Ein- fluss bekommen.“ Freiheit bedeutet, dass ich einen Abstand gegenüber meinen Gedanken aufbauen und ihren Verlauf bewusst lenken kann. Ein bedingter Wille lässt Freiheit in dem eben genannten Sinne nicht zu. Nun kann Bieri dem Argument für die unbedingte Freiheit seine endgültige Form geben: Es gehört zur Idee des Personseins, dass wir selbst darüber bestimmen, ob Entscheidungen handlungswirksam werden oder nicht. Dies setzt allerdings voraus, dass der Wille unbedingt frei ist.
Und daher gilt wieder: „Wenn sich jemand als Person versteht, muss er sich in seinem Willen für unbedingt frei halten. Wir verstehen uns als Personen. Also müssen wir uns in unserem Willen für unbedingt frei halten.“34
4. Die Freiheit der allgegenwärtigen Bedingtheit scheint also in Wirklichkeit keine echte Freiheit zu sein, so dass wir den Gedanken der Unbedingtheit entwickeln mussten, um unsere Freiheit zu retten. Zur Idee des Personseins gehört überdies der Aspekt der Urheberschaft, wie im Kapitel der bedingten Freiheit dargestellt wurde. Erst wenn wir unseren Willen selbst bestimmen können, sind wir Urheber unserer Entscheidungen. Doch das Bild der Urheber- schaft beginnt zu zerbröckeln, wenn wir uns das Entstehen des Willens genauer ansehen. So- lang er einfach ein Ereignis unter anderen in einer langen Kette von Bedingungen ist, kann er der Idee der Urheberschaft nicht gerecht werden. Folglich kann uns nur ein unbedingter Wille, ein so genannter „unbewegter Beweger“, echte Urheberschaft verleihen. Bedingte Freiheit verhindert außerdem, dass man andere für ihre Taten verantwortlich machen kann. Um je- manden zur Verantwortung zu ziehen, muss derjenige nämlich „die Regeln kennen und die Wahl haben“, sich bewusst für oder gegen eine Handlung zu entscheiden. Dafür reicht es nicht aus, sein Handeln vom Überlegen abhängig zu machen, denn Überlegungen haben wie- derum auch eine Vorgeschichte, die festlegt, wie man nachdenkt und urteilt. Zur Idee des Per- sonseins gehört aber, dass uns Moral oder Unmoral nicht lediglich „zustößt wie eine Grippe“, sondern dass wir Menschen zur Rechenschaft ziehen können, wenn sie gegen die „Regeln“ verstoßen haben. Wenn die Bedingtheit all dies nicht zulässt, so „müssen wir automatisch an die unbedingte Freiheit des Willens glauben“. Urheberschaft und Verantwortlichkeit gehören definitiv zur Idee des Personseins. Wenn ein bedingter Wille jedoch diese Aspekte nicht ge- währleistet, so muss Freiheit in einem unbedingten Willen bestehen.35
5. Das Argument der unbedingten Freiheit lässt sich ferner mit unseren moralischen Empfindungen begründen. Wir empfinden Reue, Scham oder werden vom schlechten Gewis- sen geplagt, sobald eine Handlung unserem Urteil nach „nicht in Ordnung“ war. Auf der an- deren Seite bringen wir jemandem besonderen Respekt aber auch Achtung entgegen, wenn er sich „trotz gegenteiliger Wünsche eine moralische Handlung abringt“. Diese moralische Emp- findung ist jedoch nur unter der Voraussetzung denkbar, dass wir uns als freie Menschen begreifen, die verantwortlich handeln.
Bedingte Freiheit würde keine moralische Empörung ausreichend rechtfertigen, obwohl dies auch zur Idee des Personseins gehört. Unsere Erwartungen und Gefühle in Bezug auf das menschliche Miteinander sind ein Indiz für das Vorhandensein von unbedingter Freiheit.36
6. „Die Überlegungen, die wir bisher betrachtet haben, versuchen zu beweisen, dass wir durch unser Verständnis von uns als Personen dazu gezwungen werden, an eine Freiheit des Willens im Sinne seiner Unbedingtheit zu glauben.“ Dies impliziert die Fähigkeit, ohne Vorbedingungen etwas Neues anzustoßen. Man vollzieht jeden Tag spontan Handlungen, die man genauso gut auch unterlassen könnte. Das Gefühl der Spontaneität durchzieht jede unserer Entscheidungen und die Freiheitserfahrung lehrt uns, dass man nach allem Überlegen immer noch etwas anderes tun könnte. Außerdem besitzen Personen die Fähigkeit, einen inneren Abstand zu ihren Gedanken und Wünschen aufbauen zu können. „Es wäre töricht, diese Fähigkeiten zu leugnen, und wer ihre Reichweite auf die bedingte Freiheit einschränkt, [...], macht sich der Blindheit dem Phänomen gegenüber schuldig.“37
An dieser Stelle fasse ich Bieris Argumente zusammen, die eine unbedingte Freiheit des Willens scheinbar notwendig machen. Denn Bedingtheit:
1. bedeutet Ohnmacht (keine offene Zukunft)
2. macht das Überlegen sinnlos (keine „echten“ Möglichkeiten)
3. verhindert die Einflussnahme auf den Verlauf von Gedanken und deren Wirksamwerden
4. verhindert Urheberschaft und Verantwortlichkeit
5. rechtfertigt keine moralischen Erwartungen
6. stimmt nicht mit unserem Freiheitsgefühl überein
3.2 Die falsche Fährte
Die Idee der unbedingten Freiheit ist sehr „mächtig“, wie Bieri es nennt. Trotz der vielfältigen Argumente wird allerdings nicht ganz deutlich, für was sie steht. Denn was genau ist ein Wil- le, „der in den Lauf der Welt einzugreifen vermag, ohne ihm selbst unterworfen zu sein“? „Und wie wäre es, einen unbedingt freien Willen zu haben? Wäre es wirklich eine Erfahrung von Freiheit?“38
„Es wäre ein Alptraum“, sagt Bieri. Ein unbedingter Wille wäre nämlich völlig losgelöst von Charakter, Gedanken, Gefühlen und Erinnerungen. Er wäre ein Wille ohne ursächlichen Zu- sammenhang und gegen jede Logik. Weiterhin wäre er „meilenweit von der Erfahrung der Urheberschaft entfernt“, da wir ihn nicht länger selbst beeinflussen und lenken könnten. Jedes Überlegen wäre überflüssig, das Phänomen des Entscheidens eine Illusion und das bedeutet: „Die anspruchsvolle Freiheit im Sinne der Unbedingtheit würde uns die bescheidene Freiheit der Entscheidung wegnehmen, denn wir können nicht beides haben: die Beeinflussbarkeit und die Unbeeinflussbarkeit des Willens.“ Da es aber gerade der Einfluss des Überlegens auf den Willen ist, der unsere Urheberschaft ausmacht, könnten wir uns nie als Urheber eines unbe- dingten Willens begreifen. Bieri hat uns absichtlich auf eine falsche Fährte gelockt und Frei- heit von Merkmalen der Unbedingtheit abhängig gemacht, die eigentlich unserem Verständnis nach der Unfreiheit zuzurechnen sind: „Unbeeinflussbarkeit, fehlende Urheberschaft und empfundene Fremdheit bezüglich des plötzlich entstandenen Willens.“ Weiterhin wäre ein unbedingter Wille „unbelehrbar, unverständlich und vor allem unberechenbar“. Er käme aus dem Nichts, bliebe daher ein ewiges Rätsel und wäre in keiner Weise vorauszusagen. Das menschliche Miteinander wäre zudem voll von Misstrauen, Angst und Vorsicht, weil das Verhalten anderer jederzeit abrupt wechseln könnte. „Die Erfahrung eines unbedingt freien Willens wäre also in vielen Hinsichten überhaupt nicht das, was wir uns als Erfahrung von Freiheit vorstellen.“ Nicht die Bedingtheit unseres Willens löst Ohnmachtsgefühle in uns aus, sondern ganz im Gegenteil seine Unbedingtheit.39
3.3 Begriffliche Überprüfung
Ein Wille zeichnet sich durch „Bestimmtheit und persönliche Zugehörigkeit“ aus, indem er „durch viele Dinge bedingt ist und von vielen Dingen abhängt“. Die Begrenztheit des Wollens gibt dem Willen erst seine Bestimmtheit und Individualität. Problematisch ist, dass es sich dabei um einen relativ eingeschränkten Spielraum handelt: „Damit der Wille variieren kann, muss etwas anderes variieren.“ Beeinträchtigt dies aber wirklich unsere Freiheit? Nein. Es schien nur, als bräuchten wir einen absolut uneingeschränkten Spielraum. Aber das war ledig- lich ein Täuschungsmanöver von Bieri, um dem unbedingten Willen „trotz seiner Los- gelöstheit einen bestimmten Gehalt zuzuschreiben“. Solch einen Gehalt kann es aber allein schon aus begrifflichen Gründen nicht geben, wie Bieri meint. Ein unbedingter Wille, der in keinerlei Zusammenhang mit persönlichen Wünschen und Vorstellungen steht, ist im Grunde gar kein Wille.40
Daraus zieht Bieri folgenden Schluss:
„ Es ist ein fundamentaler Fehler, den Unterschied zwischen Freiheit und Unfreiheit des Willens mit dem Kontrast zwischen Unbedingtheit und Bedingtheit in Verbin dung zu bringen. “ 41
Er möchte damit verständlich machen, dass man „Freiheit in der Abwesenheit von Bedingt- heit am falschen Ort sucht“. Bieri ist sich nun sicher, dass wir „alles, was uns an der Freiheit des Willens wichtig ist, im Rahmen durchgängiger Bedingtheit bekommen können“.42 Wie konnte es aber zu solch einem fundamentalen Irrtum kommen? Laut Bieri handelt es sich nicht nur um einen „simplen Denkfehler“, sondern um ein „systematisches Missverständnis“, welches es aufzudecken gilt. „Der am leichtesten zugängliche Irrtum ist die Missdeutung von Wörtern.“ Bieri meint, dass wir vor allem den Begriff der Bedingtheit durch seine „assoziative Umgebung dramatisieren“. Er steht scheinbar im Kontrast zur Freiheit und engt unseren Be- wegungsspielraum ein. Nimmt man den Begriff der Abhängigkeit als eine weitere assoziierte Bedeutung von Bedingtheit hinzu, verstärkt sich dieses Gefühl. Alle Dinge, die mich in ir- gendeiner Weise abhängig machen, bedeuten nämlich meistens Unfreiheit. Weiterhin macht eine „Bedingung das Bedingte notwendig “. Wenn Bedingungen festlegen, was zu einem be- stimmten Zeitpunkt geschehen wird, kann nicht von Freiheit die Rede sein.43
1. „Das Muster hinter dieser sprachlichen Suggestion“ beruht auf einer falschen Annah- me. Die Bedingung des Willens bedeutet eigentlich nur, „dass bestimmte Dinge innerhalb und außerhalb einer Person der Fall sein m üssen, damit es überhaupt einen bestimmten Willen geben kann“. Diese Tatsache mit Freiheit oder Unfreiheit in Verbindung zu bringen ist Bieris Ansicht nach ein „logischer Fehlschluss“. Den einflussreichsten Fehler erzeugt die Annahme der Notwendigkeit. Man verfälscht den Gedanken der Bedingtheit, wenn man ihn mit Zwang gleichsetzt. Es ist ein Unterschied, ob ein Bankräuber den Kassierer zwingt ihm das Geld zu geben oder ob Benzin sich entzündet, sobald es mit Feuer in Berührung kommt. Das eine Bei- spiel geht auf einen Willen zurück, das andere nicht. Die Tatsache, dass Benzin und Feuer naturgesetzlich miteinander verknüpft sind und eine Entzündung notwendigerweise erfolgt, wenn „beide Phänomene zusammen auftreten“, hat nichts mit Freiheit oder Unfreiheit zu tun. Es handelt sich um einen nüchternen und persönlichen Sachverhalt: „das gemeinsame Auftre- ten von Phänomenen.“ Nichts anderes passiert bei der Beeinflussung des Willens durch Vor- bedingungen. Der Wille wird weder zu etwas gezwungen noch genötigt. „Die Angst vor der Bedingtheit des Willens, wenn sie eine Angst vor Zwang ist, beruht auf einem Kategorienfeh- ler.“44
2. Mit diesem Wissen verlieren wir das erste gedankliche Motiv für die Forderung nach einer unbedingten Freiheit. Ein weiteres geht bei der näheren Untersuchung der „Sprache der Ohnmacht“ verloren. Das bisher beschriebene Ohnmachtsgefühl gibt es nämlich gar nicht. Die Willensbildung von Raskolnikov lässt sich beispielsweise Stück für Stück zurückverfol- gen, so dass sein Mord an der Pfandleiherin als „ unvermeidlich, unabänderlich und unaus- weichlich “ erschien. Die Bedingtheit der aufeinander folgenden Schritte ist jedoch kein Indiz für Unfreiheit. Um von Ohnmacht sprechen zu können, müssen drei Voraussetzungen erfüllt sein: Erstens muss der Grund der Ohnmacht von einem selbst verschieden sein. Man kann sich nur etwas anderem gegenüber ohnmächtig ausgeliefert fühlen, einer Lawine zum Bei- spiel. Zweitens ist ein so genanntes „bedrohliches Geschehen“ in seinem „kausalen Verlauf“ nicht vom Opfer beeinflussbar. Drittens versucht man der Lawine zu entkommen und somit den Antrieb für die erlebte Ohnmacht zu stoppen. Alle Merkmale sind allerdings von denen des Willens verschieden. Ein freier Wille gehört nämlich zu unserem Selbst und steht uns nicht als etwas Fremdes gegenüber. Weiterhin sind wir fähig ihn durch Gedanken- und Ur- teilsbildung zu beeinflussen. Außerdem erleben wir als frei Wollende den Willen nicht als etwas, das wir vergeblich aufzuhalten versuchen.
Mit dieser Argumentation glaubt Bieri eine Ohnmacht im Zusammenhang mit bedingter Freiheit „begrifflich unmöglich“ gemacht zu haben.45
3. Der Sog einer unbedingten Freiheit ist trotz der bisherigen Argumentation noch nicht ganz verschwunden. Neben sprachlichen Missdeutungen müssen zusätzlich intuitive Fehl- schlüsse korrigiert werden. Ein Argument besagte, dass bedingte Freiheit keine Urheberschaft zulässt. Der Wille sei aufgrund seiner Bedingtheit „bloß ein inneres Geschehnis unter anderen Geschehnissen“ und gewährleiste daher keine Urheberschaft. Er stoße jemanden einfach zu, ohne dass man dagegen etwas unternehmen könnte. Unbedingte Freiheit verspricht aber auch keine Urheberschaft. Was nun? Wir müssen scheinbar „in die Person hineingehen“, um he- rauszufinden, ob der Wille tatsächlich nur ein Geschehnis ist. Der Wille wird normalerweise der ganzen Person oder dem wollenden Subjekt zugeschrieben. Sucht man lediglich im Inne- ren nach einer Antwort, so wird man laut Bieri keine finden. Dies wäre ein fundamentaler Fehler, da Urheberschaft begrifflich nicht im Inneren einer Person vorhanden ist.46
„Alle Ideen und begrifflichen Unterscheidungen sind von uns f ür bestimmte Zusammenhänge gemacht worden und können außerhalb ihrer nicht angewandt werden, ohne unsinnige Fragen zu erzeugen. So ist es mit der Idee der Urheberschaft, des Subjekts und der Unterscheidung zwischen gewolltem Tun und bloßem Geschehen. Sie sind gemacht, um über ganze Personen zu sprechen, und verlieren ihren Sinn, wenn sie auf Phänomene im Inneren der Person ange- wandt werden.“47
Außerdem schien ein absoluter Fluchtpunkt nötig, um die Idee der Urheberschaft zu retten. Tatsächlich reicht der im ersten Teil beschriebene innere Abstand aus, um sich im Entscheidungsprozess von unerwünschten Gedanken distanzieren zu können. Ein reines Subjekt ist in Bezug auf unsere Freiheit weder notwendig noch begrifflich möglich. Diese Idee fordert eine Instanz innerhalb der Person, die sich unabhängig von allem für oder gegen eine Entscheidung entscheidet. Eine unsinnige Forderung, wie Bieri findet. Sie macht die Idee einer unbedingten Freiheit endgültig unplausibel.48
[...]
1 Schopenhauer 1839/1986, 561
2 1. Lehre von der kausalen [Vor]bestimmtheit allen Geschehens. 2. die der Willensfreiheit widersprechende Lehre von der Bestimmung des Willens durch innere od. äußere Ursachen; vgl. Duden-Fremdwörterbuch, 7. Auflage
3 Edwards 1967, 359
4 Bieri 2005, 125
5 Metzler 1999, 563
6 vgl. Beckermann 2000, 3ff
7 vgl. Walter 1999, 18ff
8 Guckes 2003, 33ff
9 Walter 1999, 66
10 ebd., 29ff
11 ebd., 48ff
12 Honderich 1995, 64f
13 Walter 1999, 58
14 Entscheidungen des Bundesgerichtshof in Strafsachen, Bd. 2, S. 200f; zitiert nach Pothast 1987, 322
15 Pothast 1987, 20
1 Bieri 2001, 16
2 vgl. ebd., 16ff
3 vgl. ebd., 19f
4 vgl. ebd., 20f
5 vgl. ebd., 21ff
6 vgl. dazu Bieri 2001, 29f
7 vgl. ebd., 31-36
8 vgl. ebd., 36-42
9 vgl. dazu Bieri 2001, 54-65
10 vgl. ebd., 65-70
11 vgl. ebd., 71f
12 vgl. ebd., 73-78
13 vgl., ebd., 79-83
14 vgl. dazu Bieri 2001, 84-90
15 vgl. ebd., 93-109
16 vgl. ebd., 127-143
17 Bieri 2001, 45
18 vgl. ebd., 49f
19 vgl. ebd., 50f
20 vgl. ebd., 51ff
21 vgl. dazu Guckes 2003, 44f
22 vgl. dazu Austin 1978, 189ff
23 Bieri 2005, 125
24 vgl. dazu Walter 1999, 89
25 vgl. dazu Wegner 1989, 153ff
26 vgl. ebd., 71
27 vgl. dazu Oeser/Seitelberger 1988, 89f
28 vgl. dazu Bieri 2001, 167
29 vgl. ebd., 168ff
30 Bieri 2001, 175
31 ebd., 178
32 ebd., 182
33 vgl. ebd., 182-187
34 vgl. ebd., 189ff
35 vgl. ebd., 192-211
36 vgl. ebd., 212-222
37 vgl. ebd., 222-228
38 Bieri 2001, 229
39 vgl. ebd., 230-239
40 vgl. Bieri 2001, 239ff
41 ebd., 243
42 vgl. ebd., 242ff
43 vgl. ebd., 247-252
44 vgl. ebd., 252ff
45 vgl. ebd., 255-264
46 vgl. ebd., 264ff
47 ebd., 267
48 vgl. ebd., 270ff
- Quote paper
- Angelika Gergel (Author), 2006, Zum Problem der Willensfreiheit. Eine Kritik an Peter Bieri, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/66172
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