Heinrich von Kleist verwendet in seinen Erzählungen relativ viele weibliche Figuren, von denen jede ganz individuelle Charaktermerkmale aufweist und eine mehr oder weniger zentrale Rolle in der jeweiligen Erzählung einnimmt. Es lässt sich schon vorwegnehmen, dass Kleist keineswegs stereotype weibliche Charaktere einsetzt, sondern dass all diese Protagonistinnen und weiblichen Nebenfiguren ein hohes Maß an Komplexität aufweisen. Nicht zuletzt scheinen sie so unergründlich zu sein, da Kleist die Innenwelt seiner Charaktere kaum offenbart.
Dennoch möchte ich in dieser Arbeit versuchen, das Bild der Frau in Kleists Erzählungen zu entschlüsseln und auf anschauliche Art und Weise darzustellen. Ich werde einzelne Cha-raktere aufgrund von Parallelen zwischen ihnen bestimmten Archetypen zuordnen. Hierbei wird sich zeigen, dass diese Charaktere trotz ihrer Komplexität zwar vielleicht keinem starren Muster folgen, aber dennoch auf dem Hintergrund eines bestimmten Frauenbildes, das Kleist bewusst oder unbewusst als Basis für seine weiblichen Charaktere benutzt, dargestellt werden.
In meinen Ausführungen werde ich die folgenden Charaktere aus Kleists Erzählungen, denen jeweils eine Abkürzung für das Zitieren zugeordnet wird (siehe auch Bibliographie), analysieren. Aufgrund des beschränkten Umfangs dieser Arbeit, können leider nicht alle Charaktere berücksichtigt werden. Das Bild der Frau soll jedoch an den zentralen und aussagekräftigsten weiblichen Charakteren festgemacht werden.
a) Das Bettelweib von Locarno (BL): Bettelweib, Marquise
b) Das Erdbeben in Chili (EC): Donna Josephe
c) Der Findling (FI): Elvire
d) Die Marquise von O… (MO): Marquise von O…
e) Die Verlobung von St. Domingo (VD): Toni, Babekan
f) Der Zweikampf (ZW): Wittib Littegarde von Auerstein, Rosalie
g) Die Heilige Cäcilie oder die Gewalt der Musik (HC): Schwester Antonia
h) Michael Kohlhaas (MK): Elisabeth, Zigeunerin
Im Folgenden werde ich aufzeigen, inwiefern die Frau einerseits als das starke und andererseits als das schwache Geschlecht beschrieben und ebenso inwiefern die Frau in Kleists Erzählungen positiv dargestellt wird. Die einzelnen Beobachtungen sollen zunächst getrennt voneinander betrachtet werden und anschließend zu einem finalen Ergebnis zusammengefasst werden.
Inhaltsverzeichnis
1. Die Analyse der Archetypen
2. Das Opfer
3. Die Verurteilte
4. Die innerlich Zerrüttete
5. Das Ziel sexueller Begierde
6. Die Souveräne - Die Kluge, Intuitive, Tapfere
7. Die Rächerin
8. Die Erlöste
9. Positive/negative Darstellung
10. Die Frau zwischen Hilflosigkeit und Überlegenheit
11. Bibliographie
1. Die Analyse der Archetypen
Heinrich von Kleist verwendet in seinen Erzählungen relativ viele weibliche Figuren, von denen jede ganz individuelle Charaktermerkmale aufweist und eine mehr oder weniger zentrale Rolle in der jeweiligen Erzählung einnimmt. Es lässt sich schon vorwegnehmen, dass Kleist keineswegs stereotype weibliche Charaktere einsetzt, sondern dass all diese Protagonistinnen und weiblichen Nebenfiguren ein hohes Maß an Komplexität aufweisen. Nicht zuletzt scheinen sie so unergründlich zu sein, da Kleist die Innenwelt seiner Charaktere kaum offenbart.
Dennoch möchte ich in dieser Arbeit versuchen, das Bild der Frau in Kleists Erzählungen zu entschlüsseln und auf anschauliche Art und Weise darzustellen. Ich werde einzelne Cha-raktere aufgrund von Parallelen zwischen ihnen bestimmten Archetypen zuordnen. Hierbei wird sich zeigen, dass diese Charaktere trotz ihrer Komplexität zwar vielleicht keinem starren Muster folgen, aber dennoch auf dem Hintergrund eines bestimmten Frauenbildes, das Kleist bewusst oder unbewusst als Basis für seine weiblichen Charaktere benutzt, dargestellt werden.
In meinen Ausführungen werde ich die folgenden Charaktere aus Kleists Erzählungen, denen jeweils eine Abkürzung für das Zitieren zugeordnet wird (siehe auch Bibliographie), analysieren. Aufgrund des beschränkten Umfangs dieser Arbeit, können leider nicht alle Charaktere berücksichtigt werden. Das Bild der Frau soll jedoch an den zentralen und aussagekräftigsten weiblichen Charakteren festgemacht werden.
a) Das Bettelweib von Locarno (BL): Bettelweib, Marquise
b) Das Erdbeben in Chili (EC): Donna Josephe
c) Der Findling (FI): Elvire
d) Die Marquise von O… (MO): Marquise von O…
e) Die Verlobung von St. Domingo (VD): Toni, Babekan
f) Der Zweikampf (ZW): Wittib Littegarde von Auerstein, Rosalie
g) Die Heilige Cäcilie oder die Gewalt der Musik (HC): Schwester Antonia
h) Michael Kohlhaas (MK): Elisabeth, Zigeunerin
Im Folgenden werde ich aufzeigen, inwiefern die Frau einerseits als das starke und andererseits als das schwache Geschlecht beschrieben und ebenso inwiefern die Frau in Kleists Erzählungen positiv dargestellt wird. Die einzelnen Beobachtungen sollen zunächst getrennt voneinander betrachtet werden und anschließend zu einem finalen Ergebnis zusammengefasst werden.
2. Das Opfer
Eines der ersten Dinge, die den Leserinnen und Lesern bei der Lektüre von Kleists Erzählungen wohl auffallen wird, ist die große physische Gewalt, welche die weiblichen Charaktere erfahren. Diese Gewalt geht abgesehen von der Erkrankung von Schwester Antonia stets auf Männer zurück. Da hier das Hauptaugenmerk jedoch auf den weiblichen Charakteren liegt, sollen die Handlungen der männlichen Charaktere hier wie auch in den weiteren Kapiteln nicht vertieft betrachtet werden.
Das alte und kranke Bettelweib von Locarno wird von einer Frau, nämlich der Marquise, als sie bettelnd vor ihrer Türe steht, aufgenommen und lässt sich an einem Platz im Haus nieder. Doch als der Marquese nach Hause kommt,
„befahl [er] der Frau unwillig, aus dem Winkel, in welchem sie lag, aufzustehen, und sich hinter den Ofen zu verfügen. Die Frau, da sie sich erhob, glitschte mit der Krücke auf dem glatten Boden aus, und beschädigte sich, auf eine gefährliche Weise, das Kreuz; dergestalt, daß sie […] hinter den Ofen aber, unter Stöhnen und Ächzen niedersank und verschied“ (BL, S. 225).
Donna Josephe wird aufgrund ihrer unehelichen Schwangerschaft zum Tode verurteilt, kann jedoch durch ein Erdbeben der Vollstreckung des Urteils entkommen und beschließt nach einem Aufenthalt in einem Tal mit ihrem Geliebten, Jeronimo Rugera, sowie deren Bekannten Don Fernando mit seinem Baby und Donna Constanze in die Kirche zu gehen. Dort schaukelt sich die Situation immer mehr hoch bis die tobenden Menschen auf sie losgehen. Hier opfert sich Donna Josephe auf heroische Weise für das kleine Kind und wird grausam getötet:
„Doch da er [Don Fernando] die Menge, die auf ihn eindrang nicht überwältigen konnte: leben Sie wohl, Don Fernando mit den Kindern! rief Josephe – und: hier mordet mich, ihr blutdürstenden Tiger! und stürzte sich freiwillig unter sie, um dem Kampf ein Ende zu machen. Meister Pedrillo schlug sie mit der Keule nieder. Darauf ganz mit ihrem Blute besprützt: schickt ihr den Bastard zur Hölle nach! rief er […]“ (EC, S. 180-181).
Elvire erleidet einen Schock als ihr ihr Adoptivsohn Nicolo in einer Nacht als genuesischer Ritters verkleidet begegnet (dazu mehr in Kapitel 4 – Die innerlich Zerrüttete). Nicolo beobachtet eines Tages, wie sie vor dem Bild eines genuesischen Ritters kniet und den Namen Colino seufzt. Zunächst denkt er, er wäre gemeint (da durch Buchstabenumstellung aus Nicolo der Name Colino wird). Als er dann jedoch herausfindet, dass es sich bei dem Mann auf dem Bild um Aloysius, Marqis von Monteferrat, mit dem Zunamen Colino handelt, treiben ihn „Beschämung, Wollust und Rache“ zu einem „satanischen Plan“ (FI, S. 244). Erneut verkleidet er sich und trifft – diesmal gewollt – auf Elvire und versetzt ihr diesmal einen Schock, der sie in ein so heftiges Fieber verfallen lässt, dass sie schließlich daran stirbt.
Die Marquise von O… stirbt zwar nicht, erleidet aber auf andere Weise physische Gewalt im höchsten Ausmaße. Als russische Truppen das Anwesen ihrer Familie besetzen, wird sie von mehreren Soldaten körperlich misshandelt und beinahe vergewaltigt. Glücklicherweise schreitet ein Offizier, der Graf F., ein. Sie sieht in ihm ihren Retter, doch als sie bewusstlos zu Boden sinkt, vergewaltigt er sie. Diese Handlung, wird auf eine interessante Art und Weise dargestellt, nämlich durch einen Gedankenstrich:
„[Er] führte sie […] in den anderen, von der Flamme noch nicht ergriffenen, Flügel des Palastes, wo sie auch völlig bewusstlos niedersank. Hier – traf er, da bald darauf ihre erschrockenen Frauen erschienen Anstalten, einen Arzt zu rufen“ (MO, S. 118).
Toni wird von Gustav getötet, weil er fälschlicherweise glaubt, sie habe ihn hintergangen. Ohne jede Vorwarnung, ohne jeden Versuch eines Gesprächs erschießt er sie.
„als Toni, den Knaben Seppy auf dem Arm, an der Hand Herrn Strömlis, in das Zimmer trat. Gustav wechselte bei diesem Anblick die Farbe; er hielt sich, indem er aufstand, als ob er umsinken wollte, an den Leibern der Freunde fest; und ehe die Jünglinge noch wußten, was er mit dem Pistol, das er ihnen jetzt aus der Hand nahm, anfangen wollte: drückte er dasselbe schon, knirschend vor Wut, gegen Toni ab. Der Schuß war ihr mitten durch die Brust gegangen; und da sie, mit einem gebrochenen Laut des Schmerzes, noch einige Schritte gegen ihn tat, und sodann […] vor ihm niedersank“ (VD, S. 221).
Elisabeth schlägt ihrem Mann Michael Kohlhaas vor, für ihn die Bittschrift in der Sache gegen den Junker Wenzel von Tronka dem Landesherrn zu überbringen, und wird dabei durch einen Unfall von einer Wache getötet:
„Es schien, sie hatte sich zu dreist an die Person des Landesherrn vorgedrängt, und, ohne Verschulden desselben, von dem bloßen rohen Eifer einer Wache, die ihn umringte, einen Stoß mit dem Schaft einer Lanze vor die Brust erhalten. Wenigstens berichteten die Leute so, die sie, in bewusstlosem Zustand, gegen Abend in den Gasthof brachten; denn sie selbst konnte, von dem aus dem Mund vorquellendem Blut gehindert, wenig sprechen“ (MK, S. 27).
Zurück im Haus der Familie erliegt sie dann ihren Verletzungen.
Auch Schwester Antonia stirbt, wenn auch nicht durch Verschulden einer anderen Figur, sondern an einem heftigen Nervenfieber.
[...]
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- Stefan Hinterholzer (Autor), 2006, Das Bild der Frau in Kleists Erzählungen - Eine Analyse der weiblichen Archetypen, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/65847
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