Wir leben in einem sozialen Gefüge, welches sich selber den Titel einer Leistungsgesellschaft auferlegt. Leistung wird dabei zu einem höchst differenzierenden Mittel, das perspektivisch eine sehr große Tragweite für das gesamte Leben haben kann. Bisher war Schule der stille Lieferant für diese geforderten Kompetenzen. Doch spätestens seit PISA rückt die Schule wieder ins Visier einer breiten Öffentlichkeit, die plötzlich ein viel stärkeres Interesse an Bildungsfragen hat, denn der internationale Vergleich der zukünftigen Leistungsträger und das formal nicht so gute Abschneiden, werfen ein negativen Schatten auf dieses Land und sein Eigenverständnis. Es wird der Ruf nach Reformen laut, und alles muss sich schnellstmöglich an den nun nachgewiesen Besten orientieren, um schnell wieder die Schatten zu erhellen. Die Schule wird reformiert, ein Prozess der so nicht ungewöhnlich, doch in diesem Fall sehr einseitig ausgerichtet ist. Ziel ist Leistung und Kompetenz zu produzieren und dies unter dem sich nun regelmäßig wiederholenden Vergleichsmittel PISA.
Was macht aber Leistung in der Schule aus? Was bedeutet eine Note für einen Schüler wirklich? Was verbirgt sich hinter dem schulischen Leistungsbegriff und ist dieser überhaupt in Einklang mit den Wünschen der Gesellschaft zu bringe? Diese Fragen sollen im Folgenden näher ergründet werden. Dabei führt der Blick als erstes zurück in die Vergangenheit und beleuchtet die Entstehungsgeschichte des Zeugnisses und der Zensur. Es soll im Weiteren versucht werden, die Beurteilungspraxis näher zu beschreiben, um darüber auch mögliche Schwächen herauszufiltern. Die aktuelle Schulsituation soll schließlich am Beispiel des Mathematikunterrichtes der Grundschule aufgezeigt werden.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1. Die Funktion der Schule aus gesellschaftlicher Sicht
2. Die Geschichte des Zeugnisses
2.1. Das Benefizienzeugnis
2.2. Das Reifezeugnis
2.3. Das Abgangszeugnis
2.4. Das periodische Zeugnis
3. Die Entstehungsgeschichte der Zensur
3.1. Die Zensur im schulischen Kontext
3.2. Zusammenfassung unter der Betrachtung der Entwicklung von unterschiedlichen Funktionen des Zeugnisses und der Zensur
3.2.1. Die Orientierungs- und Berichtfunktion
3.2.2. Die pädagogische Funktion
4. Die Zeugnisregelung in der Bundesrepublik und in Sachsen
4.1. § 19 Halbjahresinformationen
4.2. § 20 Jahreszeugnisse
4.3. § 21 Bildungsempfehlung
5. Leistung
5.1. Leistung im Kontext Schule
5.2. Leistung als Prinzip der Gesellschaft
5.3. Ansatz eines pädagogischen Leistungsbegriffes
5.3.1. Leistung mit produkt- und prozessorientiertem Charakter
5.3.2. Leistung in der Schule bedeutet individuelles und zugleich soziales Lernen
5.3.3. Leistung als problemmotiviertes Prinzip
5.3.4 Leistung als norm- und zweckbezogenes Mittel der Schule
5.3.5. Die Schulleistung unterliegt stets einer Eigen- und Fremdbewertung
5.3.6. Annerkennung und Ermutigung über den Leistungsbegriff
5.2. Zusammenfassung
6. Die Qualität von Leistungsbeurteilung
6.1. Die Bezugnormenfindung
6.1.1. Die subjektorientierte (individuelle) Bezugsnorm
6.1.2. Die lernzielorientiert (sachliche) Bezugsnorm
6.1.3. Die vergleichsorientierte (soziale) Bezugsnorm
6.2. Zusammenfassung unter Berücksichtigung der pädagogischen Umsetzung
7. Gütekriterien der Qualitätssicherung von Messergebnissen
7.1. Objektivität
7.2. Reliabilität
7.3. Validität
8. Urteilsfehler
8.1. Der Hof- oder Heloeffekt
8.2. Der Erwartungseffekt (Pygmalioneffekt)
8.3. Die unterschiedlichen Beurteilungstendenzen
8.4. Der Projektionsfehler
8.5. Zusammenfassung unter Berücksichtigung des Wunsches, die Note als exaktes Instrument zu sehen
9. Die Kritik an der Zensur: Zwei Begründungen
10. Die aktuelle Beurteilungspraxis im Fach Mathematik -Anforderungen an die moderne Grundschule-
10.1. Begriffdifferenzierung von Leistungsbeurteilung und Leistungsbewertung
10.1.1. Leistungsbeurteilung
10.1.2. Leistungsbewertung
10.2. Leistungsbegriff im aktuellen Mathematikunterricht
10.3. Formen der Leistungsmessung im Mathematikunterricht der Grundschule
10.3.1. Die mündliche Leistungsmessung
10.3.1.1. Durchführung von mündlichen Leistungsmessungen
10.3.2. Die Klassenarbeit
10.3.2.1. Erarbeiten einer Klassenarbeit für die Grundschule
10.3.2.2. Durchführung einer Klassenarbeit
10.3.2.3. Bewertung einer Klassenarbeit
10.4 Zusammenfassung
11. Die Suche nach Alternativen
Schlussbemerkung
Literaturverzeichnis
Ehrenwörtliche Erklärung
Einleitung
Wir leben in einem sozialen Gefüge, welches sich selber den Titel einer Leistungsgesellschaft auferlegt. Leistung wird dabei zu einem höchst differenzierenden Mittel, das perspektivisch eine sehr große Tragweite für das gesamte Leben haben kann. Bisher war Schule der stille Lieferant für diese geforderten Kompetenzen. Doch spätestens seit PISA rückt die Schule wieder ins Visier einer breiten Öffentlichkeit, die plötzlich ein viel stärkeres Interesse an Bildungsfragen hat, denn der internationale Vergleich der zukünftigen Leistungsträger und das formal nicht so gute Abschneiden, werfen ein negativen Schatten auf dieses Land und sein Eigenverständnis. Es wird der Ruf nach Reformen laut, und alles muss sich schnellstmöglich an den nun nachgewiesen Besten orientieren, um schnell wieder die Schatten zu erhellen. Die Schule wird reformiert, ein Prozess der so nicht ungewöhnlich, doch in diesem Fall sehr einseitig ausgerichtet ist. Ziel ist Leistung und Kompetenz zu produzieren und dies unter dem sich nun regelmäßig wiederholenden Vergleichsmittel PISA.
Was macht aber Leistung in der Schule aus? Was bedeutet eine Note für einen Schüler wirklich? Was verbirgt sich hinter dem schulischen Leistungsbegriff und ist dieser überhaupt in Einklang mit den Wünschen der Gesellschaft zu bringe? Diese Fragen sollen im Folgenden näher ergründet werden. Dabei führt der Blick als erstes zurück in die Vergangenheit und beleuchtet die Entstehungsgeschichte des Zeugnisses und der Zensur. Es soll im Weiteren versucht werden, die Beurteilungspraxis näher zu beschreiben, um darüber auch mögliche Schwächen herauszufiltern. Die aktuelle Schulsituation soll schließlich am Beispiel des Mathematikunterrichtes der Grundschule aufgezeigt werden.
1. Die Funktion der Schule aus gesellschaftlicher Sicht
Meiner Ausarbeitung und der eigentlichen Betrachtung der geschichtlichen Entwicklung von Leistungsmessung möchte ich einen kurzen Überblick über die der Schule zugetragenen gesellschaftlichen Funktionen voranführen. Unsere heutige Gesellschaft sieht drei Hauptaufgaben, die eine Schule erfüllen muss, und die so auch unter der Bevölkerung eine breite Akzeptanz finden. Es handelt sich dabei um Selektion, Integration und um die Aufgabe der Qualifikation. Diesen drei Funktionsbausteinen ist ein gemeinsames Ziel impliziert, “die Reproduktion und Weiterentwicklung der Gesellschaft”.[1] Aus dieser Sicht ist eine moderne Gesellschaft, also auch unsere Leistungsgesellschaft immer wieder auf gut ausgebildete Menschen angewiesen, die die vorhandenen Normen und Regeln als Basis nehmen und im positiven Sinn weiterentwickeln. Im Grunde kann man hier einen gewissen Selbstzweck entdecken, der die Bildung nicht unbedingt nur aus Gnädigkeit für seine Bürger zugänglich macht. Bei der ersten kurzen Einführung in die drei Funktionen, die im Laufe dieser Arbeit eine immer tieferer Definition erfahren, beziehe ich mich auf eine Zusammenstellung, die von Fend erarbeitet und strukturiert wurde.
Er rechnet der Qualifikationsfunktion folgenden Ziele zu: Die Schule soll einem Schüler die allgemeinen und beruflichen Qualifikationen vermitteln, die ihm in der Gesellschaft helfen sollen, am Arbeitsmarkt teilnehmen zu können. Die Leistungsmessung und Leistungsbewertung durch das Lehrpersonal hilft, diese Qualifikationen zu gradieren und vergleichbar zu machen.
Eng verbunden mit dieser Funktion ist die Selektion, die im Grunde direkt aus der Qualifikationsaufgabe hervor geht . Selektion hat die Aufgabe die Schüler nach ihrem individuellen Leistungsstand zu trennen. Über die erbrachten Leistungen, gemessen mit Hilfe von Tests, erlangen die Schüler die Berechtigung zu bestimmten Schullaufbahnen, was schlussendlich den Selektionscharakter trägt. Es erfolgt eine Verteilung der Schüler auf die einzelnen Schultypen unter Berücksichtigung ihrer Qualifikation. Hier setzten viele Kritiker ihre Argumentationen an, die die in der Schule gewählten Zeitpunkte der Selektion als zu früh darstellen. Da ein Kind, vor allem im Alter von zehn Jahren, dem Zeitpunkt, an dem der Weg auf das Gymnasium geebnet wird, sich noch mitten im Prozess der körperlichen und geistigen Entwicklung befindet und sichere Prognosen noch nicht möglich sind. Zudem ist nachgewiesen, dass sich bestimmte Fähigkeiten, die zur Qualifikation für den Gymnasiumsbesuch führen können, in Wechselwirkung mit der Umwelt recht schnell entwickeln können.[2] Es kommt durch diese Praxis zudem zu einer viel zu frühen Aufteilung der Schüler in Gruppen von Gewinnern und Verlierern. Es sollte sich den Schülern vielmehr eine Revisionsmöglichkeit bieten, damit sie auch noch zu einem späteren Zeitpunkt die Möglichkeit bekommen, einen höheren Schulbildungsweg einzuschlagen zu können und somit auch bessere soziale Chancen sich zu erarbeiten.[3] Es wird jetzt schon deutlich, wie stark Schule und Schullaufbahn Einfluss auf das gesamte Leben haben, darum soll diese Funktion und die damit verbundenen Tests später noch näher beleuchtet werden, da es hier gilt, ein Höchstmass an Objektivität zu erlangen, da ein schulische Selektion in dem weiterem Leben auch zu einer sozialen Selektion werden kann, wie sich schon kurz in der angeführten Kritik widerspiegelt. Die Messinstrumente der Leistung müssen also streng beurteilt werden.
Die Integrationsfunktion oder auch Legitimationsfunktion hat zur Aufgabe, den Schülern Werte und Normen zu vermitteln, die in der jeweiligen Gesellschaft bestehen, um zu gewährleisten, dass sie sich nach der Schulzeit in die Gesellschaft eingliedern können und dies eben nicht nur über den Leistungsgedanken. Dies bezieht sich sowohl auf Einstellungen und Verhaltensweisen wie z.B. Pünktlichkeit als auch auf Grundwerte des politischen Systems, welches sich bei uns in einer Demokratie widerspiegelt.[4] Schüler sollen aber auch ein Verständnis dafür bekommen, dass sich gute schulische Leistungen positiv auf das restliche Leben auswirken und das es gerecht ist, dass Schüler mit guten Leistungen später auch andere Wegen gehen können, im Vergleich zu Schülern mit schlechteren Qualifikationen. Dieses Verständnis für Selektion muss langsam aufgebaut werden und sollte immer mit dem Aufzeigen von Chancen verbunden werden, die man mit seiner eigenen Position innerhalb der qualifikationsbedingten Selektion hat.
Zusammenfassend sind diese Funktionen sehr starke Pole, die den Schulalltag eines jeden Kindes beeinflussen und in gewisse Richtungen lenken können. Dazu kommen dann noch Studien, wie PISA oder TIMSS, die alles in einen bildungspolitischen Aspekt rücken, der unter Umständen nichts mit der Schulalltagswirklichkeit der Kinder zu tun hat. Es ist also sehr wichtig, eine Sensibilisierung für diese Problematik zu bekommen, um all diesen Ansprüchen gerecht zu werden und vor allem im Sinn des Schülers und dessen fairen Beurteilung, wozu immer auch die Selbstreflektion des Urteilenden gehört.
2. Die Geschichte des Zeugnisses
“Das Schulzeugnis in seiner Grundkonzeption ist gar kein ursprüngliches Hilfsmittel der Schule, sondern primär ein solches einer bürokratisierten, nationalstaatlich organisierten Gesellschaft im Dienste des Nachwuchses auf Grundlage des Leistungsprinzips.” (Walter Dohse, 1964)
Betrachtet man den Begriff des Schulzeugnisses, so wird einem in der Literatur meist keine oder nur eine oberflächliche Klärung dieses Wortes aus pädagogischer Sicht zu ermitteln sein. Dies ist wohl damit zu erklären, dass jeder in seinem Leben mit Zeugnissen in Berührung kommt und somit ein gewisses Grundverständnis dafür vorhanden ist, was keine weitere Differenzierung und Erklärung nötig macht.
Es soll trotzdem versucht werden einen näheren Einblick in den Begriff Zeugnis und seine Ausprägungsformen zu bringen. Zudem möchte ich anführen, dass bei der Literaturrecherche unter den Kapiteln, die sich mit der Zeugnishistorie beschäftigen, so gut wie immer Herr Dohse zitiert wird. Meine Zusammenstellung wird sich diesem Trend anschließen. Die Grundlage meiner Ausführungen bildet ebenfalls die Arbeit von Herrn Walter Dohse.
Der ursprüngliche Begriffsgehalt des Wortes Zeugnis ergründet sich aus dem Gerichtswesen. Es bedeutet in diesem Sprachgebrauch als Fachtermine “Zusammenführung vor Gericht” und stammt aus dem deutschen Wortgut des 13.Jahrhunderts[5].
Ursprung des Zeugnisses, welches den Gehalt trägt, den wir ihm heute beimessen und als selbstverständlich hinnehmen, liegt im 16. Jahrhundert an den höheren Schulen des damaligen Bildungswesens. Der tiefere Blick in die Geschichte lässt dabei vier Formen von Beurteilungen erkennen, die man als Grundformen auffassen kann. Es gibt geschichtlich gesehen keine Wurzel aller heutigen Zeugnisformen. Es fand keine einlinige Entwicklung statt. Vielmehr herrscht ein Nebeneinander der vier Grundformen, die wir so zum Teil heute noch vorfinden und die zu meist eigenständig sind, aber auch miteinander verbunden wirkten und wirken. Die Grundformen lassen sich wie folgt benennen: 1. das Benefizienzeugnis, 2. das Reifezeugnis, 3. das Abgangszeugnis, 4. das periodische Zeugnis.
2.1. Das Benefizienzeugnis
Die ersten Quellen, die auf den Gebrauch von Zeugnissen verweisen bzw. diesen ein gewisses Gewicht beimessen, stammen aus dem 16. Jahrhundert. Grundmerkmal und inhaltliches Bindeglied dieser Zeugnisse war, dass sie auf Bitten von armen Schülern ausgestellt wurden und nicht allgemein und verbindlich waren. Sie konnten also formal in unterschiedlichen Gestaltungsformen auftreten, da sie nicht an regulierende Vorschriften gebunden waren. Sie dienten den Schülern aus armem Elternhaus als Chance für den Eintritt in eine höhere Schule über Freiplätze, Freitische oder Stipendien. Inhalt dieser Zeugnisse waren zu dieser Zeit aber nicht Leistungen in bestimmten Fächern, wie es uns unser heutiges Zeugnisverständnis vorgibt, sondern vielmehr wurde Zeugnis über einen gewissen Reifegrad des Kindes abgelegt. Eine Rolle dabei spielten meist die Punkte Ordnung und Fleiß, zudem eine Beurteilung über den Gesamteindruck des Kindes. Der Bewerber muss “ein guet gezeugnus” “seines Fleiß, frombarkeit, gehorsames vnd ganzen wandels”[6] haben lautet es in einer zeitgenössischen Quelle. In der Regel fielen diese Schreiben, verfasst in lateinischer Sprache, sehr vorteilhaft für den zu Beurteilenden aus, um ihnen eine wirkliche Chance zu gewähren. Ursprung und Verfasser dieser Empfehlungsschreiben war die Kirche dieser Zeit. Eine Perfektionierung dieser Form der Zeugnisabgabe fand sich in den folgenden Jahren in vielen Jesuitenorden. Erst später wurde diese Form auch vom Staat übernommen, wobei er auch gleichzeitig zum Empfänger dieser Zeugnisse wurde. Der Staat wurde zum “Dritten” zum Adressat des Zeugnisses, welches dem Beurteilten gewissen soziale Vorteile bringen kann, er stellt aber gleichzeitig die Regeln und Richtlinien auf. Der Staat ist im selben Atemzug Auftraggeber und Bürge des Zeugnisses[7].
Ein Beispiel für diese Praxis ist die Anordnung von 1559 in Wittberg, die Pfarrherr und Schulmeister anhält, Bewerber “mit fleiß examinieren, alsdann, vnd so sie den also, wie oblagt, geschickt befinden (darinnen sie gut auffsehens haben sollen, das sie kein vntauglicher, vergeblich in vnkosten füren) je seines ingenenij, erditionis vnd morum literas testimoniales geben”[8]. Ein solches Zeugnis förderte vorrangig die soziale Stellung des armen Schülers, der die Möglichkeit bekam, über Stipendien höhere Schulen zu besuchen. Zu dieser Zeit war es für Kinder aus bemittelten Klassen kein Problem in höhere Bildungseinrichtungen zu gelangen, sie benötigten dazu keinen Nachweis über ihren Bildungsgrad, einzig die soziale Stellung war ausschlaggebend. Höhere Bildung war eher der Spielball der Reichen, den sie aus reiner Lust annehmen konnten. Mit dem Hintergrund zu zeigen, dass man es sich leisten konnte. Bildung wurde nicht als wichtiges Gut geschweige denn als Chance gesehen. Die Benefizienzeugnisse waren aber für Kinder aus armen Hause die Chance, solche sozialen Grenzen zu überschreiten, differenzierten aber gleichzeitig nach Leistung und Eignung. In diesem Zusammenhang lässt sich auch zum ersten Mal deutlich machen, dass im Ursprung des Zeugnisses, kein pädagogischer Gehalt verankert war, sondern vielmehr eine soziale Funktion. In diesem Fall war die soziale Funktion die der Grenzenüberwindung, was über diese Stipendien erfolgen konnte. Das Zeugnis in dieser Zeit ist noch der absolute Ausnahmefall und Kinder aus gutem Hause blieben fast völlig unberührt von ihnen. Der Charakter wird nur durch den Erhalt von Benefizien geprägt. Zu dieser Zeit war alles, was darüber hinausgeht, ein Eingriff in die Elternrechte gegenüber dem Kind. Zeugnissen konnten Empfehlungen darstellen, aber nie verbindlich wirken. Eltern armer Kinder sahen sich so einer Verschiebung des natürlichen Elternrechtes ausgesetzt, was in Richtung des Zuwachs der Autorität des Staates wies. Der Staat kontrollierte in diesem Sinne zum ersten Mal seine Anwärter auf mögliche spätere höhere Posten, die durch ein Studium ermöglicht werden. Diese Zeit bietet aus heutiger Sicht den ersten langsamen Übergang vom Einzelfall zum Regelfall. Die Schule bekommt langsam mehr Einfluss[9] ; einen Einfluss, der auf ein höheres Maß an Erwartungen geknüpft war.
Ein wichtiger Punkt in diesem Geschichtsabriss ist, dass das Zeugnis von Anfang an einen amtlichen Charakter trägt. So ist zum Beispiel das Stipendium und die Zulassung zu diesem nur die mittelbare Funktion des Benefizienzeugnisses, vielmehr ist es lediglich die schriftlich Fixierung und Beglaubigung eines Prüfungsergebnisses[10]. Um diese erbrachte Leistung und somit den Wahrheitsgehalt des Schriftstückes auch anderen zu vermitteln, die nicht unmittelbar bei der Prüfung anwesend waren, trat an die Stelle eines persönlichen Schwurs die Beglaubigung durch Unterschrift und Siegel. Zur Untermauerung des Wahrheitsgehaltes eines Zeugnisses wurde es üblich, dass eine Abschrift beim Konsistorium aufbewahrt wurde, um mögliche Betrugsversuche zu vereiteln. Das Zeugnis wurde zu einer eidlichen Versicherung über Verhalten und Leistung einer Person Dritten gegenüber und bekam seine autoritative Kraft durch die Unterschrift des Rektors[11].
2.2. Das Reifezeugnis
Als Sonderform des Benefizienzeugnisses wuchs etwas später das Reifezeugnis. Zu dieser Zeit wurde eine Auslese der Bewerber für ein Studium an Universitäten immer dringlicher, denn sie wurden immer voller. Bis zu diesem Zeitpunkt kam es einzig bei den auf Stipendien und Freitischen angewiesenen Schülern aus ärmeren Schichten zu strengen Kontrollen, die eine Eignung für ein Studium beurteilten. Die Auslese zu diesem Zeitpunkt war also vorrangig noch eine soziale Auslese und diese wiederum nur auf eine sehr kleine Studentenschicht begrenzt. Gleichzeitig sollte dieses Reifezeugnis eine Entlastung für die Universitäten bedeuten, da sie ihre Eignungstests nicht mehr durchführen mussten, die sehr viel Zeit raubten und bei zu großem Andrang auch nur unbefriedigend oberflächlich ausfallen konnten. Vielmehr konnten sie auf die staatlich determinierten Zeugnisse zurückweisen, die Aussagen über den tatsächlichen Reifegrades eines Schülers beinhalteten. Dieses Verfahren wurde im Lauf der Zeit immer mehr zum üblichen Standart und nicht zuletzt der Staat hat es zu dieser Zeit zum Brauch erhoben. Der Staat ist dabei auf der Suche und Selektion seiner zukünftigen geistigen Elite. Man darf also nicht unbedingt eine ethisch geprägte Gleichberechtigungsbewegung aller Schichten, gefördert durch den Staat, dahinter sehen. Die Schule sieht in diesem Prozess ihre Chance in Bezug auf die Hebung ihres eigenen Ansehens innerhalb des Staates.
Gesetzlichen Halt und zudem wieder deutlicher Ausdruck des Anwachsens des staatlichen Interesses an Bildung kommt mit dem Edikt von 1788 in Preußen. Mit diesem wird offiziell das auf Prüfung basierende Reifezeugnis eingeführt. Anfänglich hat dies zwar noch keine durchschlagende Bedeutung, da immer noch, trotz attestierter Unreife, dem Vormund freistand, ihr Kind auf eine Universität zu schicken. Das Zeugnis dieser Zeit hat also vorwiegend eine “beratende Funktion ohne zwingenden Charakter”[12].
Im Jahr 1812 wird von Humboldt eine Reifeprüfungsordnung erarbeitet, die über drei Prädikatgruppen I bis III die Tüchtigkeit für den Universitätsbesuch bestimmen sollte. Diese Bestimmung sollte sich aber auch nur zu einer formalen Voraussetzung entwickeln, da selbst mit Nr. III, dem Zeugnis der Untüchtigkeit, der Besuch der Universität möglich blieb.[13] Das Zeugnis hat zu dieser Zeit primär einen rein formalen Charakter, denn nachweislich studierte die Mehrzahl mit einem Prädikat III[14].
Der Prozess der Bindung an ein Reifezeugnis als allgemeingültige und verbindliche Zugangsvoraussetzung für die Universität und damit die Abhebung vom reinen Benefizienzeugnis erfolgt nur sehr langsam und zudem in den einzelnen deutschen Bundesländern unterschiedlich. Auch eine Fakultäten spezifische Entwicklung ist im Nachgang zuerkenne. So wird in Braunschweig bereits 1839 das Reifezeugnis zur unbedingten Voraussetzung für die Philologen, für die Mediziner 1844, für die Theologen und Juristen dagegen erst 1861[15]. Aus diesen Zahlen wird deutlich, wie eng die Interessenlage des Staates an die Beurteilung geknüpft war. Die Kraft des Zeugnisses ist umso größer, umso mehr der spätere Beruf unmittelbar mit dem Staat und seiner Autorität zutun hat. Zudem spielen sicher auch Nachfrage, Bedarf und immer noch die soziale Herkunft des Studierenden eine Rolle. Im geschichtlichen Kontext wird mit dem Reifezeugnis ein weiterer Schritt hin zu sozialer Gerechtigkeit geebnet. Über ein gewisses Leistungsprinzip wird der mögliche soziale Aufstieg maßgebend mitbestimmt und zudem auch bestimmbar gemacht.
Das Reifezeugnis ist zu diesem Zeitpunkt ein Nachweis, der die Reife für eine akademische Weiterbildung bescheinigt. Im weiteren Verlauf soll sich diese Funktion dann immer weiter festigen und zudem in ihrem Handlungsrahmen erweitern. Das Reifezeugnis wird zum Ausweis der erfolgreichen Aneignung des durch die Lehrpläne der verschiedenartigen Anstalten erforderlichen Wissens- und Bildungsstoffes, wobei gleichzeitig die sittliche Reife des abgehenden Schülers für die nun anhebende freiere Studien- und Lebensführung durch bisherige Lehrer zu bescheinigen ist[16]. Auf Grundlage der von Humboldt entwickelten Reifeprüfungsordnung entstehen die Gymnasien, die als Vorbereitungsanstalt für die Universität zum Normaltyp der höheren Schule werden. Schon früh baute sich darauf ein Berechtigungskampf über der Vergabe von Zeugnissen, die das Studium an Universitäten erlauben, von unterschiedlichen Schulformen auf, der so bis heute anhält.
2.3. Das Abgangszeugnis
Das Abgangszeugnis entwickelte sich parallel zum Reifezeugnis und Benefizienzeugnis an der höheren Schule. Es diente ursprünglich als Nachweis des Besuches einer Schule, wenn man diese vorzeitig verließ, wechselte oder einen völligen Abbruch der Schullaufbahn anstrebte.
Wurzeln findet man für diese Zeugnisform ebenfalls im 16. Jahrhundert und wird im Laufe der Geschichte schnell zur Voraussetzung für die weitere Beschulung bei einem Umzug. Exemplarisch für diese Praxis steht die Verordnung für Direktoren aus dem Jahr 1756, in der die Rektoren angewiesen werden, “keinen schüler, der von einer anderen schule il lande kommt, ohne ein solches Zeugnis in ihre schule aufzunehmen“[17].
Das Abgangszeugnis hat Zeit seiner Existenz mit einer sehr geringen Wertschätzung zu kämpfen, was besonders heute deutlich wird. Dies steht in Verbindung mit der fehlenden Berechtigungsfunktion. Dem wird versucht entgegen zu wirken, indem man die Chance auf eine Prüfung zur nachträglichen Erlangung eines Mittelschulabschlusses bietet[18].
2.4. Das periodische Zeugnis
Im Gegensatz zu allen anderen Zeugnisarten und Zeugnisformen, die bisher beschrieben wurden und die alle samt beim Abgang von der Schule ausgestellt werden, handelt es sich beim periodischen Zeugnis um eines, welches in regelmäßigen Zeiträumen im Laufe eines Schuljahres erteilt und ausgestellt wird. Schon im 16. Jahrhundert findet man bei den Jesuiten diese Form der Beurteilung in bestimmten Intervallen, was gleichzeitig deutlich macht, dass es sich dabei ebenfalls um eine Form handelt, die parallel und eigenständig zu den anderen ihre Entwicklung nahm. Schon früh in der Entwicklung des Zeugnisse war klar beziehungsweise es ergab sich von selbst, dass Schule und Schulbildung in gewissen Schritten abläuft und somit auch abgestuft und in zeitlich vorgegeben Intervallen eine Beurteilung erfolgen muss. Eine Art Nahziel wurde geschaffen, was als Anreiz für das eigentliche Ziel, den Abschluss, stand. Zudem sind die dadurch entstehenden Kontrollmöglichkeit nicht zu verachten. Anreizfunktion und Kontrollfunktion finden in den Schultypen unterschiedliche Ausprägung. In den Elementarschulen herrscht die Kontrollfunktion vor, wogegen bei den höheren Schulen der Anreiz das primäre und pädagogische Ziel ist. Schon früh taucht die Prüfung und damit verbunden Versetzung in einer jährlich zweimaligen Periodik auf[19]. Im Laufe der Geschichte kam es aber auch zu deutlichen Schwankungen der Periodik. Es gibt Quellen, die von wöchentlicher bis jährlicher Zeugnisverteilung berichten. Immer am dominantesten war aber das Quartalszeugnis.
Ein auf deutlich kurze Zwischenräume erteiltes “Sittenzeugnis”, welches Aussagen über die allgemeine Haltung des Schülers trägt, findet sich vorrangig im 18. und 19. Jahrhundert. Dazu gehören auch die in der Mitte des 19. Jahrhunderts am letzten Wochentag üblichen Zensurstunden in Form eines Sittengerichtes. Das Zeugnis wird hier schnell zu einem Mittel der Strafe und verliert seinen eigentlichen Charakter. Mit der Zeit wurde die Kritik an wöchentlichen und auch an den monatlich ausgestellten Zeugnissen immer größer, da offensichtlich immer fragwürdiger wurde, ob diese wirklich noch sachlich Bericht erstatten. Am Rande bemerkt sollte noch gesagt werden, dass es auch Bewegungen gegen das Weihnachtszeugnis gab, weil man das wichtigste Familienfest in Gefahr sah. Nach unterschiedlichen Versuchen, was die Anzahl der Zeugnisse angeht, wobei die Zahl der Zeugnisse immer zwischen 2 und 4 lag, hat sich heute auf 2 Zeugnisse eingependelt. Dabei hat das Halbjahreszeugnis einen informatorischen Charakter und die Endjahreszeugnisse entscheiden über eine mögliche Versetzung in die nächste Klassenstufe[20].
3. Die Entstehungsgeschichte der Zensur
“Zensuren geben eine leicht faßliche Übersicht über den Leistungsquerschnitt in einem bestimmten Zeitraum und, aneinandergereiht, eine vergleichbare Übersicht im Längsschnitt der Entwicklung.” (Johannes Zielinski, 1961)
Ein wichtiger Bestandteil eines jeden Zeugnisses sind die Zensuren, die umgekehrt heute für jeden den eigentlichen Charakter eines Zeugnisses ausmachen. Der Ursprung der Zensur liegt weit zurück in der Geschichte und ist auch noch deutlich vor der Entwicklung des Zeugnisses anzusiedeln. Ursprünglich stammt der Begriff Zensur aus dem alten Rom. In diesem war sie eine staatspolitische Einrichtung, dass die Aufgabe hatte, Vermögensschätzungen unter der Bevölkerung vorzunehmen. Die “c e n s u r a” war das Amt des Zensors, eine hochangesehene Person, die auf fünf Jahre in ihr Amt gewählt wurde. Diesem Amtsinhaber war zum einen eine hohe Macht in polizeilichen Angelegenheiten beigemessen, darüber hinaus aber auch eine Kontrollfunktion für den Senat. Der Zensor wachte “über die öffentliche und private Lebensführung der Bürger“[21] und wenn er Verschwender oder mutwillige Schuldner fand, hatte er das Recht, diese aus dem Senat zu verstoßen. Der Begriff “censere” steht dabei für den Wert schätzen oder begutachten, wobei die Bürger entsprechend Ihrem Vermögen, ihrer Geburt und ihrer sittlichen Führung auf die Stände des Bürgers, Ritters und Senats verteilt wurden[22] [23]. Zudem wurden von dem Zensor die Steuerabgaben überwacht, wobei die Höhe des zu entrichtenden Betrages von ihm eingeschätzt wurde und er die Bürger in einer fünffachen Stufung klassifizierte und einordnete. In der weiteren Entwicklung dehnte sich das Anwendungsfeld des Begriffes Zensur immer weiter aus. Er bekam Bedeutung innerhalb des Schulwesens, aber auch bei der Beurteilung von künstlerischen Produkten und Sendungen des Rundfunks, Fernsehens und Internets.
3.1. Die Zensur im schulischen Kontext
Der Begriff der Zensur ist erst spät in den Gebrauch der schulischen Bildung gekommen und im historischen Kontext etwa gleich dem Entstehen der Zeugnisse im 16. Jahrhundert zu datieren. In der Regel wird die Zensur immer mit der Ziffernote in Verbindung gebracht. Diese Verknüpfung steht in direkter Verbindung mit einer Schulpraxis, die in den Anfängen des Schulwesens zu finden war. Der historische Hintergrund ist dabei der Rangplatz, der auch als “Wurzelform der Zensur”[24] gelten darf. Die Schüler wurden zu dieser Zeit nach ihrem persönlichen Vermögen, einen gelernten Stoff besser oder schlechter wiederzugeben, in eine individuelle Rangfolge gebracht[25]. Die Rangfolge wird durch die Sitzordnung im Klassenraum sichtbar zum Ausdruck gebracht. Ausgehend von dieser Rangplatzordnung, die durch die Leistungsbeurteilung des Lehrers entstand, entwickelte sich die Symbolisierung der Leistungsstufe durch die Zahl[26]. Aus dieser Zeit stammt auch der Ausdruck “Versetzung”, denn tatsächlich wurden die Schüler entsprechend ihrer Klassenrangleistung sitzplatzseitig umgesetzt[27]. Die Zahl als Hilfsmittel der Lokation und rangmäßigen Ordnung fand schnell ihre Berechtigung im Schulwesen. Neben der optischen und verbalen Beurteilung kam es im 16. Jahrhundert dann zu den ersten schriftlich fixierten Beurteilungen. Der “Primus”, “Ehrenplatz”, und die “Arme-Sünder-Bank”, Begriffe der Rangordnung in der Klasse, wurden durch schriftliche Zensuren ergänzt. “Zensuren traten als “Reihenzensuren” in linearer und punktueller Stufung auf (z.B. entsprechend der Klassenstärke von 1 bis X) oder als “Zonenzensur” (z.B. durch die Verknüpfung von einer bestimmten Anzahl von Rangplätzen mit einer Zensur), die Zeugniszensur wurde damit zum wesentlichen Bestandteil des Schulzeugnisses”[28].
Die frühsten Quellen, die auf Zensurengebung verweisen, stammen aus dem Jahr 1530 und sind in der sächsischen Schulordnung zu finden, die vorsah, dass “alle halbe Jahre ein Examen der Knaben in der Schule in Beisein des Pfarrers, desgleichen des Bürgermeisters […] gehalten werden soll[29]. Zu bemerken bleibt aber wiederum, dass diese Zeugnisse und Noten mehr den Charakter eines “Sittenspiegels” des Bewerbes als den eines “ Leistungsspiegels” hatten[30].
In 16.Jahrundert findet sich nun auch die erste Aufstellung von Beurteilungen, die in Form von Ziffern wiedergeben werden können. In den “Regulae communes professoribus classium inferiorum” findet sich eine Staffelung der Zensurenskala in sechs Stufen[31]:
- 1 = optimus
- 2 = bonus
- 3 = mediocris
- 4 = dubius
- 5 = retinendus
- 6 = rejiciendus
Im weiteren Verlauf der Geschichte setzte sich die Ziffernzensur immer weiter durch, wobei es bei dem Entwicklungsprozess zu neuen Variationen innerhalb der Stufung der Skalen kam. Ich möchte im Folgenden nur einen kleine Übersicht der unterschiedlichen Phasen der Skalenentwicklung geben, die der sehr ausführlichen Bearbeitung dieses Themas durch Walter Dohse entnommen ist[32].
Um 1850 gab es eine dreistufige Skala:
- 1 = über dem Mittelmaß
- 2 = Mittelmaß
- 3 = unter dem Mittelmaß
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ging die Entwicklung hin zur vierstufigen Skala:
- 1 = recht gut
- 2 = gut
- 3 = ziemlich gut
- 4 = schlecht
Darauf baute in den folgenden Jahren eine fünfstufige Notenfolge in der Schule auf, die die dreistufige wie folgt ergänzt: I, II a, II, II b, III
Innerhalb der einzelnen Bundesländer Deutschlands kam es zu dieser Zeit auch zu regionalen Unterschieden in der Ausprägungsform der Notenskalierung. So wurde in Hamburg zum Beispiel folgende Prädikatverteilung für Schulleistung proklamiert:
- I = sehr gut
- II = gut
- III = genügend
- IV = mangelhaft
- V = nicht genügend
Das Zeugnis wurde immer mehr zur Ansammlung von Noten, die gleichsam dem Schüler ein Urteil über sein eigenes Vermögen möglich machen sollte. Zudem wurde das Zeugnis immer mehr zur Ortsbestimmung eines Schülers innerhalb des Schulkörpers. Die Zensur auf dem Zeugnis trägt zweierlei Funktion. Zum einen soll sie die erbrachte Leistung dokumentieren und gleichzeitig ermahnen, weiter alles dafür zu tun, dass dieser Zensurenbestand erhalten bleibt. Auf der anderen Seite trägt die Note aber auch einen großen Tadel in sich, der wiederum auf die sittlichen Wurzelaussagen der Urformen des Zeugnisses verweisen[33]. Es kam in der folge zu einer Tendenz, die Zeugnisnoten deutlicher zu differenzieren. Es wurde eine vierstufige Zensurenskala eingeführt, die für die Beurteilung des “Betragen” gedacht war.
- I = sehr lobenswert
- II = lobenswürdig
- III = nicht tadelfrei
- IV = sehr unbefriedigend
Unter dem Einfluss des nationalsozialistischen Regimes 1933 wurden der Schule und ihrer Beurteilung von Schülern völlig neue Aspekte zuteil. Bedeutsam wurde nun die “körperliche, geistige und völkische Gesamteignung”, für deren Feststellung vier Leistungsstufen genügen sollten, deren Gültigkeit auf das gesamte Reich ausgedehnt wurde[34].
- 1 = sehr gut
- 2 = gut
- 3 = genügend
- 4 = nicht genügend
Deutlich wird in dieser Zusammenstellung, dass die Wertigkeit und Schichtung der reinen Leistungsnoten und Beurteilungen über sittliches Verhalten immer in direkten Bezug zu dem herrschenden Staat steht, der als “Dritter” auch Adressat der Zeugnisse ist.
Ungeachtet des ideologischen Hintergrunds dieser Beurteilungsform wurde auch schnell ihre Schwäche offensichtlich, die Wilhelm Trute wie folgt aufzeigt:
1. Die Note “genügend” umfasst einen zu weiten Raum (fast gute und fast nicht genügende Leistungen wurden durch sie fixiert)
2. Die Note “nicht genügend” differenziert zu wenig (mangelhaft, nicht vollausreichendes Wissen und völlig unzureichende Leistung wurden hier zusammengefasst)[35]
Die Reaktion auf diese Kritik folgte im Jahr 1938, in dem im gesamten Schulsystem des Reiches die sechsstufige Leistungsskala Gültigkeit bekam:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Nach Beendigung des II. Weltkrieges dauerte es bis zum Jahr 1968, bevor durch die Kultusministerkonferenz eine einheitliche Struktur gefunden wurde, die eine Definitionsgrundlage für alle Schulleistungsurteile schaffte. Das Zensurenmodell soll sechs Stufen beinhalten. Diese galt in der Bundesrepublik Deutschland. In der DDR war durch die Richtlinie für die Kontrolle der Leistung der Schüler im Unterricht im Jahr 1949 und die Verordnung zur Durchführung von Abschlussprüfungen in den Grundschulen der Deutschen Demokratischen Republik und der dazugehörigen Notenskala die fünfstufige Beurteilung eingeführt wurden[37].
Der sechsstufigen Beurteilungsskala der Bundesrepublik, wie sie so nach der Wiedervereinigung auch für gesamt Deutschland zugrunde gelegt wird, erhält folgende Definition, die von den Anforderungen des Unterrichtes her interpretiert wird.
- Sehr gut (1) Die Note “sehr gut” soll erteilt werden, wenn die
Leistung den Anforderungen in besonderem Maße entspricht.
- Gut (2) Die Note “gut” soll erteilt werden, wenn die
Leistung
den Anforderungen voll entspricht.
- Befriedigend (3) Die Note “befriedigend” soll erteilt werden,
wenn die Leistung im Allgemeinen den Anforderungen entspricht.
- Ausreichend (4) Die Note “ausreichend” soll erteilt werden, wenn die Leistung zwar Mängel aufweist, aber
im Ganzen den Anforderungen noch
entspricht.
- Mangelhaft (5) Die Note “mangelhaft” soll erteilt werden, wenn die Leistung den Anforderungen nicht
entspricht, jedoch erkennen läßt, dass die notwendigen Grundkenntnisse vorhanden sind und die Mängel in absehbarer Zeit behoben werden können.
- Ungenügend (6) Die Note “ungenügend” soll erteilt werden,
wenn die Leistung den Anforderungen nicht entspricht und selbst die Grundkenntnisse so lückenhaft sind, dass die Mängel in absehbarer Zeit nicht behoben werden können.[38]
[...]
[1] Schulpädagogik, Meyer (1997), S.305
[2] Vgl. Leistung in der Schule, Schröder (1990), S.50
[3] Vgl. Leistung entwickeln, überprüfen und beurteilen, Sacher (2001), S.9
[4] Vgl. Theorie der Schule, Fend (1981), S.19-39
[5] Vgl. Das Schulzeugnis, Dohse (1963), S.5
[6] Das Schulzeugnis, Dohse (1963), S.13
[7] Vgl. Die Fragwürdigkeit der Zensurengebung, Ingenkamp (1971), S.42-45
[8] Das Schulzeugnis, Dohse, S.11
[9] Vgl. Das Schulzeugnis, Dohse (1963), S.14
[10] Vgl. Das Schulzeugnis, Dohse (1963), S.13
[11] Vgl. Das Schulzeugnis, Dohse (1963), S.13
[12] Vgl. Das Schulzeugnis, Dohse (1963), S.16
[13] Vgl. Das Schulzeugnis, Dohse (1963), S.16
[14] Vgl. Das Schulzeugnis, Dohse (1963), S.14-16
[15] Das Schulzeugnis, Dohse (1963), S.16
[16] Vgl. Das Schulzeugnis, Dohse (1963), S.17
[17] Vgl. Das Schulzeugnis, Dohse (1963), S.29
[18] Vgl. Das Schulzeugnis, Dohse (1963), S.29
[19] Vgl. Das Schulzeugnis, Dohse (1963), S.32
[20] Vgl. Die Fragwürdigkeit der Zensurengebung, Ingenkamp (1971), S.42-45
[21] Wesen und Bedeutung der Schulzeugnisse und ihre pädagogische und psychologische Auswertung, Sost (1921), S.1
[22] Vgl. Das Schulzeugnis, Dohse (1963) S.44
[23] Vgl. Handbuch Zensur und Zeugnis in der Schule, Ziegenspeck (1999) S.65
[24] Das Schulzeugnis, Dohse (1963), S.46
[25] Vgl. Handbuch Zensur und Zeugnis in der Schule, Ziegenspeck (1999), S.73
[26] Vgl. Das Schulzeugnis, Dohse (1963), S.46
[27] Vgl. Handbuch Zensur und Zeugnis in der Schule, Ziegenspeck (1999), S.73
[28] Handbuch Zensur und Zeugnis in der Schule, Ziegenspeck (1999), S.73
[29] Sächsische Schulordnung von 1530, zitiert in: Zensur, Zeugnis, Schulzeugnis, Kleinert (1951) S.919
[30] Vgl. Handbuch Zensur und Zeugnis in der Schule, Ziegenspeck (1999), S.66
[31] Vgl. Das Schulzeugnis, Dohse (1963), S.49
[32] Vgl. Das Schulzeugnis, Dohse (1963), S.44-68
[33] Vgl. Handbuch Zensur und Zeugnis in der Schule, Ziegenspeck (1999), S.75
[34] Amtsblatt des Reichsministers für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung (1935)
[35] Das Schulzeugnis im dritten Reich, Trute (1934) S.265
[36] Das Schulzeugnis, Dohse (1963), S.51
[37] Vgl. Probleme der Zensurengebung, Berndt (1951), S.13
[38] Beschluß der ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder 3.10.1968
- Quote paper
- Maik Graf (Author), 2006, Historische Sichtweise auf Leistung und Beurteilung und Ableitung für die gegenwärtige Praxis am Beispiel des Mathematikunterrichts der Grundschule, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/65649
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