In germanistischen Fachbibliotheken füllen sich die Regale mit Interpretationsansätzen zu dem Werke Franz Kafkas. Im Laufe der Jahrzehnte hat die Deutung von den Texten des berühmten jüdischen Schriftstellers aus Prag eine Eigendynamik entwickelt, die schon selber einer Reflexion bedarf. 1 Es ist beinahe unmöglich geworden, die gesamte Fachliteratur zu Franz Kafka zu überblicken. Wer Kafka interpretiert, verrät dabei oft Vieles über sich selbst und nur wenig über Franz Kafka. Lediglich eine Groborientierung darf versucht werden, um nicht im Meer der Sekundärliteratur unterzugehen. In dieser Hinsicht waren die Untersuchungen von Malcolm Pasley, Klaus Wagenbach und Hartmut Binder für diese Arbeit besonders hilfreich. Die vorliegende Arbeit hat das kurze Stück Heimkehr von Franz Kafka zum Thema. Nach einer kurzen Einführung, die die Entstehung des Textes im biographischen Kontext beleuchtet, soll der Frage nachgegangen werden, warum der heimkehrende Sohn nicht wagt, die Küchentür zu öffnen. Der Heimkehrer zögert, als er an der Schwelle zu seinem ehemaligen Zuhause, dem Hof seines Vaters, angelangt ist. Es wird nach Gründen gefragt und zur Unterstützung ein Text von Georg Simmel herangezogen, der die Tür als Element der Kunst thematisiert. Dieser Arbeit liegt die These zugrunde, dass Kafka der Darstellung von Schwellensituationen große Bedeutung beimaß. Nachdem Simmels Text in aller Knappheit wiedergegeben wurde, setzt die Untersuchung bei Kafkas Heimkehr an. Die verwendete Methode versucht dabei Gegensätze aufzuzeigen, die die Optionen der Heimkehr, den Raum, die Zeit und das Vater-Sohn-Verhältnis aufgreifen. Es wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass andere Ansätze der Wissenschaft vernachlässigt werden. Genannt seien beispielsweise die Verbindung zum biblischen Gleichnis vom „Verlorenen Sohn“ (Lukas 15, 11-32) oder eine Betrachtung hinsichtlich Kafkas Beziehung zu seinem Vater Hermann. Versuche dieser Art hätten den Rahmen dieser Arbeit gesprengt. [...]
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Der Berliner Winter 1923/24 - Zur Textgenese
3. Georg Simmel: Brücke und Tür (1909)
4. Schwellensituationen
4.1. Die Heimkehr - Handlungsoptionen
4.2. Innen- und Außenansicht
4.3. Die Vergangenheit der Gegenwart
4.4. Vater und Sohn
5. Schlussbetrachtung
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
In germanistischen Fachbibliotheken füllen sich die Regale mit Interpretationsansätzen zu dem Werke Franz Kafkas. Im Laufe der Jahrzehnte hat die Deutung von den Texten des berühmten jüdischen Schriftstellers aus Prag eine Eigendynamik entwickelt, die schon selber einer Reflexion bedarf.[1] Es ist beinahe unmöglich geworden, die gesamte Fachliteratur zu Franz Kafka zu überblicken. Wer Kafka interpretiert, verrät dabei oft Vieles über sich selbst und nur wenig über Franz Kafka. Lediglich eine Groborientierung darf versucht werden, um nicht im Meer der Sekundärliteratur unterzugehen. In dieser Hinsicht waren die Untersuchungen von Malcolm Pasley, Klaus Wagenbach und Hartmut Binder für diese Arbeit besonders hilfreich.
Die vorliegende Arbeit hat das kurze Stück Heimkehr von Franz Kafka zum Thema. Nach einer kurzen Einführung, die die Entstehung des Textes im biographischen Kontext beleuchtet, soll der Frage nachgegangen werden, warum der heimkehrende Sohn nicht wagt, die Küchentür zu öffnen. Der Heimkehrer zögert, als er an der Schwelle zu seinem ehemaligen Zuhause, dem Hof seines Vaters, angelangt ist. Es wird nach Gründen gefragt und zur Unterstützung ein Text von Georg Simmel herangezogen, der die Tür als Element der Kunst thematisiert. Dieser Arbeit liegt die These zugrunde, dass Kafka der Darstellung von Schwellensituationen große Bedeutung beimaß. Nachdem Simmels Text in aller Knappheit wiedergegeben wurde, setzt die Untersuchung bei Kafkas Heimkehr an. Die verwendete Methode versucht dabei Gegensätze aufzuzeigen, die die Optionen der Heimkehr, den Raum, die Zeit und das Vater-Sohn-Verhältnis aufgreifen.
Es wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass andere Ansätze der Wissenschaft vernachlässigt werden. Genannt seien beispielsweise die Verbindung zum biblischen Gleichnis vom „Verlorenen Sohn“ (Lukas 15, 11-32) oder eine Betrachtung hinsichtlich Kafkas Beziehung zu seinem Vater Hermann. Versuche dieser Art hätten den Rahmen dieser Arbeit gesprengt.
2. Der Berliner Winter 1923/24 - Zur Textgenese
Franz Kafkas Heimkehr ordnet sich in die lange Reihe seiner Texte ein, die nur mit viel Glück vor der Vergessenheit gerettet wurden. Dass dieses Bruchstück seines literarischen Schaffens nicht der Vernichtung anheim fiel, ist zu einem großen Teil der Verdienst Max Brods. Er widersetzte sich nicht nur Kafkas testamentarischen Anweisungen, seinen Nachlass zu vernichten, sondern floh auch mit einer Anzahl Schriften seines Freundes vor den Nazionalsozialisten. Nicht alles konnte er retten, vieles fiel der Gestapo in die Hände und wurde vernichtet.
Im Exil arbeitete Max Brod daran, den Nachlass seines Freundes zu editieren und zu veröffentlichen. Der hier behandelte Text findet sich in Franz Kafkas Aufzeichnungen ohne Überschrift wieder. Der Titel Heimkehr wurde von Max Brod bei der Bearbeitung hinzugefügt. So tauchte Heimkehr erstmals 1936 wieder auf, im fünften Band der Gesammelten Schriften . Der Text war nun zum ersten Mal einem breiteren Lesepublikum zugänglich. Franz Kafka hatte dagegen nie an den Druck dieses Textes gedacht, seinem Willen folgend wäre die Schrift nach seinem Tod vernichtet worden.[2]
Die Entstehung der Heimkehr lässt sich inzwischen relativ genau einordnen. Offensichtlich verfasste Kafka den Text zwischen Ende November 1923 und Anfang Januar 1924.[3] Gemessen am Rahmen seiner schriftstellerischen Gesamtarbeit zählt Heimkehr zu Kafkas Spätwerk, das von dem vorangehenden Schaffensprozess durch eine Ruhepause getrennt wird. In der Zeit von 1917 bis 1920 schrieb Kafka kaum, danach lässt sich - bis zu seinem Tod 1924 - die letzte Schaffensperiode seines Lebens festmachen. Andere Texte aus jener Zeit, die mehr Beachtung bei der Wissenschaft gewonnen haben, sind Ein Hungerkünstler (erstmals veröffentlicht: 1922) und Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse (erstmals veröffentlicht: 1924) sowie eine Reihe kleinerer Texte, wie z.B. Von den Gleichnissen , Eine kleine Frau und Der Bau .[4]
Franz Kafka war vierzig Jahre alt, als er Heimkehr schrieb. Er lebte damals gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin Dora Diamant (Dora Dymant) im Berliner Stadtteil Steglitz. Beide hatten sich im vorangehenden Sommer in Müritz an der Ostsee kennen gelernt, wo Kafka die Ferienkolonie des Berliner Jüdischen Volksheimes besuchte. Dora arbeitete dort als Helferin.
Die Zeit mit Dora Diamant in Berlin war für Kafka von großer Gegensätzlichkeit geprägt. Rückblickend formen die äußeren Umstände ein trostloses Bild seiner damaligen Lebensituation: es war Winter, die Inflation peinigte die Bevölkerung, Lebensmittel und Brennstoff waren knapp, zudem schwächte die Erkrankung an Tuberkulose Kafka physisch. Dora und er lebten in großer Armut, mit Lebensmittelpaketen aus Prag wurde versucht, das Schlimmste abzuwenden. Im November müssen Dora und Franz die Wohnung in der Miquelstraße 8 verlassen und ziehen um in die Grunewaldstraße 13. In dem neu gewonnenen Domizil notiert er die Heimkehr in ein blaues Schulheft, vielleicht im Licht der eigens von ihm erwähnten Petroleumlampe, die angeschafft worden war, weil man die Stromrechnung nicht mehr bezahlen konnte. Husten, Schwäche und die Schmerzen der Tuberkulose im Kehlkopf suchen Kafka heim.
Über die innere Verfassung Kafkas in diesen Tagen ist nur schwer zu urteilen. Max Brod erwähnt, dass er die neu gewonnene Selbstständigkeit genoss.[5] Darüber hinaus mag ihm die Beziehung zu der „natürlichen, naiven und hilfsbereiten“[6] Dora Diamant Aufwind gegeben haben. Auf eine gewisse glückliche Innerlichkeit deutet seine geistige Arbeit jener Zeit hin. Kafka liest viel und beschäftigt sich u.a. mit dem für die Heimkehr nicht unbedeutenden Alten Testament , in dem das Gleichnis vom „Verlorenen Sohn“ enthalten ist. Hinzu kommt sein wiedererwachtes Interesse an der Malerei. Auch eine Monographie über Rembrandt von Georg Simmel gehört in der Berliner Zeit zu Kafkas Lektüreauswahl. (Ohne dieses Detail überzubewerten, muss zur Kenntnis genommen werden, dass Kafka Simmel als Autor kannte und laß. Ob sich sein Interesse auch auf den dieser Arbeit zugrunde liegenden Text Brücke und Tür erstreckte, muss offen gelassen werden.) Zu Kafkas geistiger Tätigkeit in dieser Zeit gehörte außerdem der Besuch von Vorlesungen an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums.[7]
3. Georg Simmel: Brücke und Tür (1909)
Am 15.September 1909 erschien in dem Berliner Morgenblatt Der Tag ein Aufsatz von Georg Simmel mit dem Titel Brücke und Tür .[8] Der Philosoph und Soziologe Simmel (1.3.1858-26.9.1918) setzt sich in diesem Text mit den Begriffen Brücke und Tür auseinander, erfasst sie als abstrakte Einheiten und unterstellt ihnen einen metaphysischen Sinn. Seine Argumentation verläuft weitgehend dialektisch. Er setzt das Jenseits und das Diesseits der Brücke bzw. das Drinnen und Draußen der Tür gegeneinander und unterstreicht die Untrennbarkeit dieser Begriffe. Ohne das eine gäbe es auch das andere nicht. Worauf seine Arbeit abzielt, wird zwischen den Zeilen deutlich: ihm liegt daran, vornehmlich der Architektur und der Malerei eine theoretische Basis zu liefern, auf der die Elemente Brücke und Tür sinnvoll betrachtet werden können. Zu Simmels dialektischer Argumentationslinie gesellt sich eine philosophische und soziologische Herangehensweise, um die Elemente Brücke und Tür als etwas von Menschenhand Gemachtes zu erfassen.
Um Simmels Text für eine Betrachtung von Franz Kafkas Heimkehr heranziehen zu können, müssen zunächst einige Dinge verdeutlicht werden. Zunächst eine Einschränkung: Simmels Überlegungen zur Brücke werden an dieser Stelle nur am Rande erwähnt, da das für Kafkas Heimkehr wesentliche Element die Tür ist. Simmel betrachtete die Tür zunächst als ein Objekt, das von Menschen geschaffen wird. Sie liegt somit außerhalb des Natürlichen und ist künstlich. Als nächsten Schritt erhebt er das künstliche Ding Tür in die Sphäre der Kunst. Die Tür wird in der Kunst verwendet, um etwas zu transportieren. Sie erhält somit eine Aussage, die zu ihrem alltäglichen Gebrauchswert hinzukommt. An dieser Stelle erhebt Simmel die Tür in den Rang einer Sache, die - neben ihrer offensichtlichen Funktion - einen metaphysischen Hintergrund besitzt. Als Drittes wagt Simmel vorsichtige Versuche, die Sphäre der Kunst, in der sich das Ding Tür bewegt, näher zu spezifizieren. Seine Beispiele stammen aus der Malerei und der Architektur, doch es wäre sicherlich unhaltbar zu unterstellen, dass ihm der Gedanke an Literatur fern gelegen hätte. Um Simmels Überlegungen für Kafkas Heimkehr nutzbar zu machen, muss eine derartige Erweiterung vorgenommen werden. Unbeachtet bleibt der Umstand, dass Simmel nicht explizit von Literatur spricht, wenn er der Tür einen metaphysischen Kontext zuordnet. Im Hinblick auf seine Grundüberlegungen, die sich nur mit einem allgemeinen Begriff Kunst beschäftigen, wird hier unterstellt, dass es trotzdem möglich ist, einen Bezug zwischen Simmels Text und Kafkas Heimkehr herzustellen. (Im Gegenzug wird ebenso unterstellt, dass es sich bei Kafkas Heimkehr um etwas Künstliches handelt, also um etwas absolut nicht Zufälliges oder von der Natur Geschaffenes - was offensichtlich der Fall ist.)
[...]
[1] vgl. Henel, IngeborgC., Die Deutbarkeit von Kafkas Werken (1967), in: Politzer, Heinz(Hg.), Franz Kafka, Darmstadt 1973 (S.406-430).
[2] Malcolm Pasley zieht einen Vergleich zwischen einem geborenen Kind und einem Kafka-Text, die beide erst als „kompletter Organismus“ einen Namen bzw. Titel erhalten, um dann eine „mögliche Reise in die weitere Welt“ anzutreten. vgl. Pasley, Malcolm, »Die Schrift ist unveränderlich...«. Essays zu Kafka, Frankfurta.M.1995 (S.115).
[3] Hermes, Roger(Hg.), Franz Kafka. Die Erzählungen. Und andere ausgewählte Prosa. Frankfurta.M.2002 (S.574).
[4] Binder, Hartmut (Hg.), Kafka Handbuch, Bd.2, Stuttgart 1979 (S.236-241).
[5] Brod, Max, Über Franz Kafka, Frankfurta.M.1966 (S.175-176).
[6] s. Wagenbach, Klaus(Hg.), Franz Kafka. Ein Lesebuch mit Bildern, Reinbek2003 (S.148).
[7] Binder, Hartmut (Hg.), Kafka Handbuch, Bd.2, Stuttgart 1979 (S.578-581).
[8] Simmel, Georg, Brücke und Tür, in: Der Tag. Moderne illustrierte Zeitung Nr.683, Berlin1909 (S.1-3).
- Citation du texte
- Christopher Bünte (Auteur), 2005, 'Kalt steht Stück neben Stück' - Zur Gegensätzlichkeit in Franz Kafkas 'Heimkehr', Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/65099
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