Das Ende des Ersten Weltkriegs markiert in der deutschen Geschichte eine wichtige Zäsur. Das Wilhelminische Kaiserreich war vergangen, eine Zeit des Umbruchs und der Neuordnung brach an. Jenseits der konkreten realpolitischen Ereignisse, wie z. B. der Novemberrevolution, der Ausrufung der Weimarer Republik oder des Friedensvertrags von Versaille, brachen überlieferte Gesellschaftsstrukturen auf. Die Vergangenheit hatte Risse bekommen, man diskutierte über grundlegende Neuregelungen für die Zukunft.
Die so genannte »Euthanasie-Debatte« der frühen Weimarer Jahre ist als ein spezielles Fragment dieser gesellschafts- und sozialpolitischen Umwälzungen zu sehen und spielt sich hauptsächlich im Bereich der Psychiatrie und des psychiatrischen Anstaltswesens ab. Die Diskussion begann 1920, als der Jurist Karl Binding und der Psychiater Alfred Hoche eine Schrift mit dem Titel »Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens« veröffentlichten. Dieser Text und eine Anzahl von Vorträgen, Rezensionen und Diskussionsbeiträgen, die in den darauf folgenden Jahren entstanden, sind Gegenstand der vorliegenden Arbeit. Als Schlusspunkt der Debatte wird das Jahr 1925 gewählt, als das Buch »Das Problem der Abkürzung „lebensunwerten“ Lebens« von Elwald Meltzer erscheint. Meltzers Schrift ist zu verstehen als eine direkte Gegenschrift zu Binding und Hoche.
Die heutige historische Auseinandersetzung mit der Debatte ist oftmals ein Streit um Worte. So muss der Zweck der Bezeichnung »Euthanasie-Debatte« in Frage gestellt werden, da sie dem eigentlichen Kern der ausschlaggebenden Schrift von Binding und Hoche nicht gerecht wird. Es geht den Autoren nicht um einen „schönen Tod“, nicht um Mitgefühl und nicht um das Recht des Individuums auf den eigenen Freitod, auch wenn es Textstellen gibt, die diesen Eindruck erwecken können. Der Begriff »Euthanasie« ist also fragwürdig. Binding und Hoche sprechen sich für eine Vernichtung von Menschenleben aus, staatlich organisiert und ökonomisch orientiert. Ins Blickfeld geraten dabei psychisch kranke und geistig behinderte Menschen. Aus diesem Grund wurde für die Diskussion die Bezeichnung „Binding-Hoche-Debatte“ gewählt, auf diese Art gebunden an jene Personen, die die Diskussion auslösten. Man wird dem Inhalt der Debatte gerechter, wenn man in ihrem Zusammenhang das verschleiernde Wort »Euthanasie« fallen lässt.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens
2.1. Karl Binding: »Rechtliche Ausführung«
2.3. Zusammenfassung
3. Reaktionen
3.1. Vorträge und Diskussionen: Klee, Straßmann und Haenel
3.2. Rezensionen und kritische Bemerkungen
3.2.1. Argumente der Befürworter: Gaupp und Borchardt
3.2.2. Argumente der Gegner: Bresler, Brennecke und Wauschkuhn
3.3. Ewald Meltzer
4. Lesarten
4.1. Der Hungerwinter 1916/
4.2. Die Finanzkrise und die öffentlichen Anstalten
4.3. Der Wille zur Reform
4.4. Soziale Hygiene
5. Schlussbetrachtung
Anhang
Quellenverzeichnis
Literaturverzeichnis
Schema: Bindings Verfahren für einen »Freigebungsausschuß
1. Einleitung
Das Ende des Ersten Weltkriegs markiert in der deutschen Geschichte eine wichtige Zäsur. Das Wilhelminische Kaiserreich war vergangen, eine Zeit des Umbruchs und der Neuordnung brach an. Jenseits der konkreten realpolitischen Ereignisse, wie z.B. der Novemberrevolution, der Ausrufung der Weimarer Republik oder des Friedensvertrags von Versaille, brachen überlieferte Gesellschaftsstrukturen auf. Die Vergangenheit hatte Risse bekommen, man diskutierte über grundlegende Neuregelungen für die Zukunft.
Die so genannte »Euthanasie-Debatte« der frühen Weimarer Jahre ist als ein spezielles Fragment dieser gesellschafts- und sozialpolitischen Umwälzungen zu sehen und spielt sich hauptsächlich im Bereich der Psychiatrie und des psychiatrischen Anstaltswesens ab. Die Diskussion begann 1920, als der Jurist Karl Binding und der Psychiater Alfred Hoche eine Schrift mit dem Titel »Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens« veröffentlichten. Dieser Text und eine Anzahl von Vorträgen, Rezensionen und Diskussionsbeiträgen, die in den darauf folgenden Jahren entstanden, sind Gegenstand der vorliegenden Arbeit. Als Schlusspunkt der Debatte wird das Jahr 1925 gewählt, als das Buch »Das Problem der Abkürzung „lebensunwerten“ Lebens« von Elwald Meltzer erscheint. Meltzers Schrift ist zu verstehen als eine direkte Gegenschrift zu Binding und Hoche.[1]
Die heutige historische Auseinandersetzung mit der Debatte ist oftmals ein Streit um Worte. So muss der Zweck der Bezeichnung »Euthanasie-Debatte« in Frage gestellt werden, da sie dem eigentlichen Kern der ausschlaggebenden Schrift von Binding und Hoche nicht gerecht wird. Es geht den Autoren nicht um einen „schönen Tod“, nicht um Mitgefühl und nicht um das Recht des Individuums auf den eigenen Freitod, auch wenn es Textstellen gibt, die diesen Eindruck erwecken können. Der Begriff »Euthanasie« ist also fragwürdig. Binding und Hoche sprechen sich für eine Vernichtung von Menschenleben aus, staatlich organisiert und ökonomisch orientiert. Ins Blickfeld geraten dabei psychisch kranke und geistig behinderte Menschen. Aus diesem Grund wurde für die Diskussion die Bezeichnung „Binding-Hoche-Debatte“ gewählt, auf diese Art gebunden an jene Personen, die die Diskussion auslösten. Man wird dem Inhalt der Debatte gerechter, wenn man in ihrem Zusammenhang das verschleiernde Wort »Euthanasie« fallen lässt.
Die Wahl des Zeitraums von1920 bis1925 ist selbstverständlich subjektiv, sie erfolgt jedoch nicht willkürlich. Die Diskussion um die Forderungen von Binding und Hoche war nach 1925 nicht abgeschlossen. Die Wahl des Zeitraums erklärt sich aus der damit verbundenen Fragestellung und ist sozusagen ein Teil von ihr. Bei vielen Autoren, die die Binding-Hoche-Debatte behandeln, taucht sie in einem größeren Rahmen auf, beinahe immer in Zusammenhang mit den Verbrechen der Nationalsozialisten, konkret: der »Aktion T4«, der »Kindereuthanasie« oder der »dezentralen Euthanasie«. Dieser Rahmen ist ohne Frage sinnvoll. Aus heutiger Sicht erscheint es fast unmöglich, Bindings und Hoches Schrift zu lesen, ohne an die NS-Verbrechen zu denken. Die beiden Autoren sind zweifellos als Vordenker der NS-Vernichtungspolitik in den Anstalten zu sehen.
Im gleichen Jahr, als »Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens« erschien, wurde die NSDAP gegründet. Sie war 1920 noch eine unbekannte kleine Partei, die sich eben erst im Raum München situiert hatte und noch keine bedeutende Rolle auf der Bühne der deutschen Politik spielte. Mit Binding, Hoche und den Auseinandersetzungen in der deutschen Psychiatrie hatte sie zum damaligen Zeitpunkt nichts zu tun. Es zeigt sich, dass eine Betrachtung der Binding-Hoche-Debatte in Zusammenhang mit dem Dritten Reich dann erfolgt, wenn die »Euthanasie«-Verbrechen der NS-Zeit erklärt werden sollen.
Die vorliegende Arbeit verfolgt jedoch ein anderes Ziel, bei dem die Folgen der NS-Zeit in den Hintergrund treten, ohne sie gar relativieren zu wollen. Die Binding-Hoche-Debatte wird als singuläres historisches Ereignis verstanden, das sich aus einem ganz bestimmten Kontext heraus entwickelte. Es steht die Frage im Mittelpunkt, welche Ursachen der Binding-Hoche-Debatte zugrunde lagen. Welche Umstände haben dazu geführt, dass in den ersten Jahren der Weimarer Republik die Binding-Hoche-Debatte so geführt wurde, wie sie geführt wurde? Welche Argumente verwendeten dabei Gegner und Befürworter bei der Auseinandersetzung? Wie sind ihre Standpunkte zu erklären? Gab es eventuell, trotz aller Widersprüche, einen gemeinsamen Nenner der Debattierenden?
Bei solchen Fragen wird ein Blick auf die Zeit vor 1920 unvermeidlich. Der historische Rahmen, den viele Autoren eröffnen, fällt dabei sehr unterschiedlich aus. Ernst Klee beispielsweise beginnt seine Untersuchung im Jahre 1859, als in London »Die Entstehung der Arten« von Charles Darwin erscheint. Ihn interessiert im Vorfeld der Binding-Hoche-Debatte die Entwicklung der sozialdarwinistischen Ideologie.[2] Bei Hans-Walter Schmuhl, dessen Ursachenforschung breiter angelegt ist als bei Klee, markiert das Erscheinen von »Das Recht auf den Tod« von Alfred Jost im Jahre 1895 den Beginn der Entwicklung. In sein Blickfeld gerät die innerdeutsche Debatte um Sterbehilfe und die Veränderung, die sie nach dem Ersten Weltkrieg erfahren hat.[3] Henry Friedlander spannt einen Rahmen, der in der Mitte des 19.Jahrhunderts einsetzt und der „Ideologie der Ungleichheit“ nachgeht.[4] Michael Schwarz beginnt ebenfalls 1895 bei Alfred Jost[5], und Michael Burleigh setzt seine ersten Bezugspunkte Ende des 19. Jahrhunderts.[6]
Wer sich mit den Ursachen der Binding-Hoche-Debatte auseinandersetzt, stößt unweigerlich auf ein Geflecht von Ereignissen und Denkrichtungen, die oft ineinander übergehen und sich gegenseitig beeinflussen. Die Schwierigkeiten des Historikers bei der Erklärung der ursächlichen Umstände spiegeln sich eigentümlich wieder in den hier untersuchten Quellen. Oft sind auch hier die Bezugspunkte höchst unterschiedlich, die Perspektiven und Argumentationslinien liegen weit auseinander. Zunächst erscheint es also sinnvoll, die Forderungen von Binding und Hoche sowie die Argumente ihrer Befürworter und Gegner näher zu betrachten, um sich danach schrittweise der Klärung der Ursachen zuzuwenden.
2. Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens
Im Felix Meiner Verlag Leipzig erscheint 1920 eine Schrift mit dem Titel »Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form«. Die Autoren des nur 62 Seiten dicken Büchleins sind der Jurist Karl Binding (1841-1920) und der Psychiater Alfred Hoche (1856-1944). Hoche ist Professor für Psychiatrie in Freiburg. Binding lebt nach einer Lehrtätigkeit als Straf- und Verfassungsrechtler ebenfalls in Freiburg.[7] Beide, insbesondere der ältere Binding, gelten gemeinhin als Kompetenzen auf ihrem Gebiet. In »Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens« sprechen sich die Autoren für eine straffreie Tötung bestimmter Personengruppen aus.
2.1. Karl Binding: »Rechtliche Ausführung
»Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens« besteht aus zwei Aufsätzen. Unter dem Titel »Rechtliche Ausführung« äußert sich zunächst Karl Binding.[8] Nach einer längeren Einführung, die sich mit Selbstmord, dem Töten im Krieg und der Notwehr beschäftigt, kommt er schließlich zum eigentlichen Thema. Im Gewand eines erfahrenen Juristen trachtet er danach, verschiedene Personengruppen zu definieren, deren Tötung straffrei sein soll. Anschließend stellt er ein konkretes Verfahren vor, in dem ein staatlicher „Freigebungsausschuß“ über die straffreie Tötung entscheidet.
Die erste Gruppe, die Binding benennt, betrifft „die zufolge Krankheit oder Verwundung unrettbar Verlorenen, die im vollen Verständnis ihrer Lage den dringenden Wunsch nach Erlösung besitzen und ihn in irgendeiner Weise zu erkennen gegeben haben.“[9] Die zweite Gruppebetrifft die „unheilbar Blödsinnigen - einerlei ob sie so geboren oder [...] im letzten Stadium ihres Leidens so geworden sind.“[10] Die dritte Gruppe (von Binding als „Mittelgruppe“ bezeichnet) betrifft „geistig gesunde Persönlichkeiten, die durch irgendein Ereignis [...] bewußtlos geworden sind und die, wenn sie aus ihrer Bewußtlosigkeit noch einmal erwachen sollten, zu einem namenlosen Elend erwachen würden.“[11]
Bereits nach dieser kurzen Zusammenfassung der ersten Seiten ist ein Einschub notwendig, um das bisher Gesagte richtig einzuordnen und sich dem Blickwinkel des Autoren nicht unwillentlich anzupassen. Auf zwei problematische Punkte sei an dieser Stelle verwiesen.
Zunächst sei angemerkt, dass Binding versucht, eine Umdeutung des Gesetzes vorzunehmen. Ihm ist bewusst, dass das Gesetz unter bestimmten Voraussetzungen den Mord an einem Menschen nicht bestraft, zum Beispiel bei Notwehr oder im Kriegfall. Das Gesetz gibt vor, wann ein Mord an einem Menschen straffrei bleibt. Bindings grundsätzliches Rechtsverständnis sieht jedoch anders aus: Nach seinem Empfinden gibt das Gesetz vor, wann ein Mord an einem Menschen gestattet ist. Ein feiner, aber gravierender Unterschied, den Binding bewusst versucht umzudeuten. Er bemüht sich, dem Leser eine Art implizite Handlungsaufforderung nahezulegen. Als nächsten Schritt, infolge dieser Auffassung, spricht er sich dafür aus, die unterstellte legale Erlaubnis zum Töten auszuweiten. Ihm hier eine gewisse (technokratisch ummantelte) Mordlust zu unterstellen, liegt nicht fern.
Als zweiter problematischer Punkt ist die Schwierigkeit zu nennen, die bei Bindings Abgrenzung der betroffenen Personengruppen entsteht. Denn so klar und eindeutig, wie sie vielleicht erscheinen mögen, sind seine Gruppendefinitionen bei weitem nicht. Zur ersten Gruppeführt er an, dass es gleichgültig sei, ob die jeweilige Person unter unerträglichen Schmerzen oder unter Hoffnungslosigkeit leide. Tödliche Krankheit oder Verwundung als entscheidender Maßstab werden somit relativiert. Ebenso ist es Binding gleichgültig, ob eine Person gerettet werden könnte, wenn „günstigere Verhältnisse“ bestünden. „Unrettbar ist [...] nicht in absolutem Sinne, sondern in konkreter Lage zu verstehen.“[12] Entgegen seiner ersten Äußerung ist es also unwichtig, ob jemand krank oder verwundet ist oder ob ihm geholfen werden könnte. Wen also meint er?
Binding gibt an, sich bei der Auswahl der Personengruppen von zwei Motiven leiten zu lassen: von Mitleid und von Vernunft.
„Daraus ergibt sich aber eine Folgerung als unbedingt notwendig: die volle Achtung des Lebenswillens aller, auch der kränksten und gequältesten und nutzlosesten Menschen.“[13]
Lange hält Binding mit diesem Leitspruch nicht durch. Dass es mit seinem Mitleid nicht weit her ist, wird schon einige Seiten weiter deutlich. Der zweiten Gruppe, den „unheilbar Blödsinnigen“, unterstellt er „keinen Lebenswillen, der gebrochen werden müßte.“ „Sie haben weder den Willen zu leben, noch zu sterben.“[14] Auf einmal spielt es auch keine Rolle mehr, ob jemand den Wunsch hat zu sterben. Sich nicht äußern zu können, genügt schon, um keinen Lebenswillen zu haben. Verblümt durch poetische Phrasen, durch Appelle an eine „höhere Sittlichkeit“ und an „Heroismus“ spricht sich Binding für die Tötung von Geisteskranken aus. Mitleid und moralisches Empfinden, wie er es fordert, spielen bei seinen Überlegungen bestenfalls eine untergeordnete Rolle. Oft dienen solche Argumente nur der Emotionalisierung zugunsten der Meinung des Autoren, kurz: sie dienen der Verschleierung.
Nun scheint es schwierig, Bindings Intention exakt zu fassen. Hinter scheinbarer Sachlichkeit und Logik schlummern unzählige Widersprüche. Am Ende sieht es so aus, als würde jede Aussage durch eine andere relativiert oder aufgehoben werden. Mit der Frage, was Binding unter „vernünftigem Handeln“ versteht, gelingt es jedoch, den Text fassbar zu machen.
Vernünftiges Handeln ist bei Binding gleichzusetzen mit ökonomisch orientiertem Handeln. In diesem Zusammenhang taucht auch der binäre Maßstab »lebenswert- lebensunwert« auf. Die »lebensunwerten« Personengruppen, für die er eine stattlich legitimierte Tötung in Betracht zieht, haben - wenn man einige kleine Widersprüche beiseite lässt - alle gemein, dass sie aufgrund einer Einschränkung nicht arbeiten können und hilfsbedürftig sind. Das trifft sowohl auf die „unrettbar Verlorenen“ als auch auf die „unheilbar Blödsinnigen“ und Bewusstlosen zu. Bindings ablehnende Haltung erfolgt aus zwei Blickwinkeln.
Auf der einen Seite können die entsprechenden Personen nicht arbeiten. Nach seiner Auffassung leisten sie keinen Beitrag für die Gesellschaft und sind damit wertlos:
„Ihr Leben ist absolut zwecklos, aber sie empfinden es nicht als unerträglich. Für ihre Angehörigen wie für die Gesellschaft bilden sie eine furchtbar schwere Belastung. Ihr Tod reißt nicht die geringste Lücke - außer vielleicht im Gefühl der Mutter oder der treuen Pflegerin.“[15]
Auf der anderen Seite binden diese hilfsbedürftigen Menschen durch ihre Existenz Arbeitskraft an sich, die anderweitig besser verwendet werden könnte.
„Da sie großer Pflege bedürfen, geben sie Anlaß, daß ein Menschenberuf entsteht, der darin aufgeht, absolut lebensunwertes Leben für Jahre und Jahrzehnte zu fristen. Daß darin eine furchtbare Widersinnigkeit, ein Mißbrauch der Lebenskraft zu ihrer unwürdigen Zwecken, enthalten ist, lässt sich schwer leugnen.“[16]
Binding will hier dem Leser eine Doppelbelastung der Gesellschaft durch pflegebedürftige Menschen suggerieren. Sein Vorschlag zur Lösung dieses angeblichen Problems ist die gesetzlich geregelte Vernichtung. Sein Hauptaugenmerk fällt an dieser Stelle auf behinderte Personen. Spätestens hier wird deutlich, dass Bindings Mitleid bestenfalls so weit reicht, wie es die Staatskasse gestattet.
[...]
[1] Neben den behandelten Quellen könnten noch zahlreiche andere Texte aus jener Zeit herangezogen werden. Die hier getroffene Auswahl darf also nicht als vollständig angesehen werden. Weitere Quellen finden sich z.B. bei Kaiser, Jochen-Christoph/Nowak, Kurt/ Schwartz, Michael: Eugenik, Sterilisation, »Euthanasie«. Politische Biologie in Deutschland 1895-1945. Eine Dokumentation, Berlin1992 (S.79-95) oder in der Psychiatrisch-Neurologischen Wochenschrift. Verbandsorgan des Reichsverbands beamteter deutscher Irrenärzte, 21.-25.Jahrgang (1919-1923).
[2] Klee, Ernst: »Euthanasie« im NS-Staat. Die »Vernichtung lebensunwerten Lebens«, Frankfurt a.M.1983.
[3] Schmuhl, Hans-Walter: Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie. Von der Verhütung zur Vernichtung »lebensunwerten Lebens«, 1890-1945 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 75), Göttingen1987.
[4] Friedlander, Henry: Der Weg zum NS-Genozid. Von der Euthanasie zur Endlösung, Berlin1997.
[5] Schwartz, Michael: „Euthanasie“-Debatten in Deutschland (1895-1945), in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 46 (1998).
[6] Burleigh, Michael: Tod und Erlösung. Euthanasie in Deutschland 1900-1945, Zürich2002.
[7] vgl. Burleigh, Michael: Tod und Erlösung. Euthanasie in Deutschland 1900-1945, Zürich2002 (S.27).
[8] Binding, Karl/Hoche, Alfred: Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form, Leipzig 1920 (S.3-41).
[9] s. Binding, Karl/Hoche, Alfred: Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form, Leipzig 1920 (S.29-31).
[10] s. Binding, Karl/Hoche, Alfred: Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form, Leipzig 1920 (S.31-32).
[11] s. Binding, Karl/Hoche, Alfred: Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form, Leipzig 1920 (S.33-34).
[12] s. Binding, Karl/Hoche, Alfred: Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form, Leipzig 1920 (S.29).
[13] s. Binding, Karl/Hoche, Alfred: Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form, Leipzig 1920 (S.28).
[14] s. Binding, Karl/Hoche, Alfred: Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form, Leipzig 1920 (S.31).
[15] s. Binding, Karl/Hoche, Alfred: Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form, Leipzig 1920 (S.31).
[16] s. Binding, Karl/Hoche, Alfred: Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form, Leipzig 1920 (S.31-32).
- Quote paper
- Christopher Bünte (Author), 2006, Die Debatte um "die Vernichtung lebensunwerten Lebens" in der frühen Weimarer Republik, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/65098
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