Zu Beginn der Arbeit wird ein kurzer Überblick über die Entwicklung der systemischen Therapieform gegeben und es finden sich einige Definitionen und Erklärungen, die für das Verständnis der Arbeit und die Heranführung an das Thema wichtig sind. Anschließend folgt eine Einführung in den sozialen Konstruktionismus nach KENNETH J. GERGEN, der sich mit der Frage beschäftigt, wie Menschen im Austausch miteinander „Wirklichkeit“ erzeugen, die dann im Rahmen therapeutischer Prozesse im Sinne einer geringeren Belastung oder eines größeren Entwicklungsrahmens für den Klienten auch umgestaltet werden kann.
Für die narrative Therapie ist dieser Gedanke unverzichtbar, denn wenn Realität durch Sprache konstruierbar ist, lassen sich Probleme aus einem anderen als dem gewohnten Blickwinkel betrachten und können dadurch an negativer Bedeutung verlieren. DAVID EPSTON und MICHAEL WHITE, die beiden Hauptvertreter der narrativen Therapie, greifen diese Idee auf. In ihrer Therapieform lassen sich Ängste, die sie metaphorisch als „Monster“ bezeichnen, mit Sprache „bändigen“. In der Ausführung dieses Ansatzes, finden sich einige Beispiele aus der Praxis – auch bezogen auf die Arbeit mit Kindern, die der Verdeutlichung und Anschauung dienen.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Systemische Beratung
2.1 Definition: Beratung
2.2 Definition: Systemische Beratung
2.3 Historischer Hintergrund: Systemische Beratung - Narrative Therapie
2.4 Systemisches Verständnis von Problemen
2.5 Die Bedeutung der Sprache in der Therapie und die Rolle des Therapeuten
3 Sozialer Konstruktionismus - KENNETH J. GERGEN
3.1 Konstruktionismus und Konstruktivismus
3.2 Einführung in die Gedanken KENNETH J. GERGENs
3.3 Objektivität und Wahrheit im Verständnis des sozialen Konstruktionismus
3.4 Narratives Paradigma
4 EPSTON / WHITE : Der narrative Ansatz in der Familientherapie
4.1 Einführung
4.2 Externalisierung
4.3 Einmalige Ereignisfolgen
4.4 Transformation von Erzählungen
4.5 Das geschriebene Wort in der Therapie
4.6 „Monster zähmen“ - Narrativer Ansatz zum Umgang mit Kinderängsten
5 Schluss
6 Literaturverzeichnis
1 Einleitung
Die Idee für das Thema dieser Arbeit hat sich über eine längere Phase hinweg entwickelt. Die Wurzeln liegen vermutlich schon in meiner Kindheit und der Begeisterung für die Übermittlung von Werten und Lehren in Fabeln. Es fasziniert mich, was Sprache im Grunde schon seit Jahrhunderten beim Menschen bewirken kann. Geweckt wurde mein Interesse dann erneut beim Lesen des Buches: „Komm, ich erzähl Dir eine Geschichte“ von JORGE BUCAY, in dem eine Therapie beschrieben wird, die nur aus dem Erzählen von Geschichten voller Lebensweisheiten besteht. Im Seminar „Systemische Konzepte in der Beratung“ stellte Marc Weinhardt in der ersten Sitzung im Rahmen des Seminarplans kurz die in Australien und Neuseeland entstandene narrative Therapie vor, woraufhin ich mich sofort mit Begeisterung dem Thema widmete.
Zu Beginn der Arbeit wird ein kurzer Überblick über die Entwicklung dieser Therapieform gegeben und es finden sich einige Definitionen und Erklärungen, die für das Verständnis der Arbeit und die Heranführung an das Thema wichtig sind. Anschließend folgt eine Einführung in den sozialen Konstruktionismus nach KENNETH J. GERGEN, der sich mit der Frage beschäftigt, wie Menschen im Austausch miteinander „Wirklichkeit“ erzeugen, die dann im Rahmen therapeutischer Prozesse im Sinne einer geringeren Belastung oder eines größeren Entwicklungsrahmens für den Klienten auch umgestaltet werden kann.
Für die narrative Therapie ist dieser Gedanke unverzichtbar, denn wenn Realität durch Sprache konstruierbar ist, lassen sich Probleme aus einem anderen als dem gewohnten Blickwinkel betrachten und können dadurch an negativer Bedeutung verlieren. DAVID EPSTON und MICHAEL WHITE, die beiden Hauptvertreter der narrativen Therapie, greifen diese Idee auf. In ihrer Therapieform lassen sich Ängste, die sie metaphorisch als „Monster“ bezeichnen, mit Sprache „bändigen“. In der Ausführung dieses Ansatzes, finden sich einige Beispiele aus der Praxis - auch bezogen auf die Arbeit mit Kindern, die der Verdeutlichung und Anschauung dienen.
Da die Sprache in dieser Arbeit eine Schlüsselstellung einnimmt, erlaube ich mir gelegentlich Sprichwörter und Aphorismen als besonders intensive Form des Ausdrucks von Gedanken einzufügen. Ferner möchte ich anmerken, dass mit der in der Arbeit verwendeten männlichen Form der Bezeichnung von Personen stets sowohl das weibliche als auch das männliche Geschlecht gemeint ist.
2 Systemische Beratung
2.1 Definition: Beratung
Der Begriff Beratung wird von verschiedenen Autoren sehr unterschiedlich aufgefasst. FROMMANN/SCHRAMM/THIERSCH begreifen Beratung sehr allgemein als Hilfestellung im Leben, zum Beispiel im Alltagsgeschehen der Familie, in der Freundschaft, im Beruf aber auch im Umgang mit professionellen Beratern. Dabei gibt es die unterschiedlichsten Variationen von Sorgfalt, Verbindlichkeit, Intensität und Absicht (vgl. 1976: 715). Der Beratungsprozess wird hier als wechselseitig beschrieben: „Beratung geschieht ebenso durch das, was der eine dem anderen erzählt, wie dadurch, wie er reagiert, zuhört, nachfragt, weghört“ (ebd.).
KÖNIG/VOLMER betonen im Taschenbuch der Pädagogik, dass sich die sozialpädagogische Beratung als eine zentrale Interaktionsform immer mehr ausweitet, da durch die zunehmende Komplexität in unserer Gesellschaft es dem Einzelnen und der Gruppe immer schwerer fällt, Situationen zu durchschauen und Auswege zu finden. Also wird auch hier die Beratung als Hilfestellung gesehen, die Ratsuchenden vor allem Unterstützung bei schwierigen Entscheidungen bietet, ohne dabei die Eigenverantwortung des Betroffenen zu begrenzen (vgl. 1996: 122).
HORNSTEIN geht in seiner Definition von Beratung besonders auf den Aspekt der Freiwilligkeit ein. „Das Grundmuster einer Beratungssituation besteht darin, dass jemand, der ein Problem hat und damit nicht zu Rande kommt, bereit und willens ist, sich von einem anderen bezüglich dieses Problems in einem Gespräch helfen zu lassen, dabei kann dieser ‚jemand’ auch eine Gruppe sein“ (1977: 37). Die Begriffe „Beratung“ und „Therapie“ dürfen in dem Kontext dieser Arbeit als Synonym verstanden werden, wie es auch in der Fachliteratur durchaus üblich ist (vgl. SCHLIPPE/SCHWEITZER 1996: 15).
2.2 Definition: Systemische Beratung
Eine Definition für die systemische Beratung zu formulieren bereitet einige Schwierigkeiten, denn es handelt sich hierbei um eine relativ junge Disziplin, die aus vielen verschiedenen Schulen erwachsen ist, sich ständig weiterentwickelt und verändert. Auch in den Lehrbüchern lässt sich keine eindeutige Definition finden, daher soll der Versuch hier eine Definition zu geben nur als vager Umriss eines sehr komplexen Denkansatzes verstanden werden.
Die systemische Beratung basiert auf einer ganzheitlichen Sichtweise, die zu vermeiden versucht, sich in Details einer Angelegenheit zu verlieren und stattdessen eher den Gesamtkontext betrachtet. Meist nehmen an der Therapie die Konfliktpartner des Ratsuchenden teil, so zum Beispiel die Familie, da die systemische Sichtweise immer auch das Umfeld und die Zusammenhänge eines Problems beachtet. Dadurch wird ermöglicht, komplexe Erscheinungen besser zu begreifen und viele verschiedene Sichtweisen aufzuzeigen. Der Mensch wird in diesem Verständnis von Beratung als autonomes Wesen verstanden, der nicht von außen steuerbar ist und als „Experte seiner selbst“ gilt, denn niemand kennt ihn besser als er sich selbst.
Bedeutend an der systemischen Vorgehensweise ist, die Autonomie zu wahren und auch bei der Problembewältigung lediglich die vorhandenen kognitiven sowie interaktiven Ressourcen des Ratsuchenden zu aktivieren, nicht aber fremde, normative oder objektivierende Muster mit einfließen zu lassen.
Das fundamentale Handwerkszeug der systemischen Beratung ist der öffnende Dialog, der weitere, mögliche Sichtweisen auf die eingebrachte Problemlage „eröffnet“ und bei dem Therapeuten Respekt, Unvoreingenommenheit, Interesse und Wertschätzung der bisherigen Lebensstrategien des Klienten voraussetzt. Ziel der systemischen Therapie ist es, einen sozialen Kontext herzustellen, in dem die gewünschte Veränderung Platz findet. Die Aufgabe des Therapeuten ist es, die Möglichkeiten aller Beteiligten wahrzunehmen und diese zu erweitern. Die Veränderung sollte durch den Klienten selber vorgenommen und nicht von außen, also durch den Berater forciert werden.
Die Methoden der systemischen Beratung sind mannigfaltig, es gibt verschiedene Team-Techniken, Rituale und Vorgehensweisen wie das zirkuläre Fragen und viele andere mehr, in dieser Arbeit werden jedoch nur die narrativen Methoden weiter erläutert (vgl. hierzu insgesamt SCHLIPPE/SCHWEITZER 1996: passim; WENZEL 2003: www.systemische-beratung.de ; ROTTHAUS 2005: http://www.dgsf.org/themen/ was-heisst-systemisch).
2.3 Historischer Hintergrund: Systemische Beratung - Narrative Therapie
Die Entstehung der systemischen Therapie ist eher als ein Prozess zu betrachten, dessen Wurzeln bis in die Anfänge der Psychotherapiegeschichte reichen. Erst in den 1950er Jahren wandten sich die ersten Therapeuten unabhängig voneinander der Arbeit mit Familien zu (vgl. SCHLIPPE/SCHWEITZER 1996: 17).
Auslöser hierfür war die Resignation über die hohe Rückfallquote bei anderen Therapieformen. Zunehmend deutlicher sah man, in wie hohem Maße die Familie in die Problematik eines erkrankten Menschen eingebunden sind. So kam es dazu, dass viele Therapeuten ihre Aufmerksamkeit vermehrt auf die Familien ihrer Patienten richteten und nicht nur auf das Individuum selbst (vgl. ROTTHAUS 2005: http://www.dgsf.org/themen/was-heisst-systemisch/historisches.html/view).
Anders als beispielsweise bei der Psychoanalyse lässt sich die systemische Therapie also nicht auf einen Begründer zurückführen. Die ersten Bewegungen zu einer neuen Sichtweise gingen von Gregory Bateson und den Kollegen Haley, Weakland und Frey in Palo Alto aus. Sie entdecken den Zusammenhang zwischen der Schizophrenie einer Patientin und ihrem Umfeld.
Daraufhin entwickelten sie Kategorien, um die Eigenschaften von Beziehungen, dynamische Prozesse und die wechselseitige Abhängigkeit innerhalb von System- Umwelt-Beziehungen zu erfassen. Immer mehr vertrat man die Ansicht, dass es erfolgsversprechender ist, ein Interaktionssystem zu therapieren als einen Menschen allein, da die Kommunikation in einem System leichter zu beobachten ist, als die Gedanken- und Gefühlswelten innerhalb eines Menschen und so umfassend die Ursachen möglicher Störungen erkannt werden können. Der Therapeut versucht also nun eher von einem externen Standpunkt aus das System zu beleuchten statt ausschließlich Veränderung innerhalb eines Individuums hervorzurufen.
Mara Selvini Palazzoli, Boscolo, Checchin und Prata bildeten eine Arbeitsgruppe aus der das so genannte „Mailländer Modell“ entstand. Die Leitlinien und Grundprinzipien dieses Modells bestimmen heute die bereits beschriebene Grundhaltung der systemischen Theorie.
Besonders zeichnend ist das Setting dieses Therapiemodells. Anfangs arbeiten zwei Therapeuten mit der Familie, zwei weitere beobachten den Prozess durch einen Einwegspiegel. Zwischen den beiden Teilteams besteht reger Kontakt während der Sitzungen. Gegen Ende der Sitzungen bespricht sich das Beraterteam in einem Nebenraum um den Ratsuchenden anschließend Feedback zu geben (vgl. hierzu insgesamt SCHLIPPE/SCHWEITZER 1996: 18-33; ROTTHAUS 2005: http://www.dgsf.org/themen/was-heisst-systemisch/historisches.html/view).
Die narrative Therapie ist in das Feld der systemischen Therapie einzuordnen und wurzelt historisch in der so genannten „konstruktivistischen Wende“ dieser Therapieform. Sie hat viele Ähnlichkeiten mit den grundlegenden Prämissen klientenzentrierter Beratung. Von einem eigenständigen Paradigma narrativer Therapie lässt sich etwa ab Mitte der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts sprechen. GERGEN bezeichnet das 1990 entstandene Werk von EPSTON / WHITE als „bahnbrechend“ im narrativen Bereich (vgl. SCHLIPPE/SCHWEITZER 1996: 39-42, 79; GERGEN 2002: 215).
2.4 Systemisches Verständnis von Problemen
„Wer ein Problem definiert, hat es schon halb gelöst.“ JULIAN HUXLEY Das Alltagsverständnis von dem Begriff „Problem“ ist sehr weitläufig, darum ist es sinnvoll, zunächst einmal zu beschreiben, was in der systemischen Therapie mit diesem Begriff gemeint ist. SCHLIPPE/SCHWEITZER definieren wie folgt: „Ein Problem ist etwas, das von jemandem einerseits als unerwünschter und veränderungsbedürftiger Zustand angesehen wird, andererseits aber auch als prinzipiell veränderbar“ (1996: 103). Befindet sich ein Mensch in einer Situation, die ihn unzufrieden macht, er willens ist eine Umgestaltung vorzunehmen und auch weiß, dass es grundsätzlich möglich ist das Störende zu verändern, liegt ein Problem im Sinne dieses Therapieansatzes vor.
Auf diese Prämissen der vorangegangenen Definition gehen die Autoren näher ein und leiten hieraus einige ihrer Lösungswege ab. So nehmen sie an: Wird eine Gegebenheit von mehreren Menschen als ein „Zustand“ beschrieben, gewinnt sie durch die vermehrte Aufmerksamkeit an Bedeutung. Dadurch wird diese Gegebenheit solange aufrechterhalten und wiederum als „unveränderter Zustand“ beschrieben, bis sie sich letztlich zu einem Problem verhärtet (vgl. ebd.). Für eine solche Entwicklung sind immer auch Beobachter notwendig, die die Situation wahrnehmen und ihr eine Bedeutung zuschreiben. Auch die beiden Begriffe „unerwünscht“ und „veränderungsbedürftig“ sind dabei von großer Bedeutung, denn um als Problem zu gelten, muss ein „Zustand“ vorerst von mindestens einer Person mit diesen Attributen bezeichnet werden. Darüber hinaus muss den Autoren nach ein Zustand von einigen „am Problemprozess beteiligten Personen“ (ebd.) als „veränderbar“ aufgefasst werden, um überhaupt veränderbar zu sein.
Die analytische Aufspaltung des Problembegriffs ist hilfreich, denn im Beratungsprozess ist es wichtig, die genaue Entstehung eines Problems nachvollziehen zu können (vgl. ebd.). Viele systemische Berater gehen von einem „problemdeterminierten System“ aus. Das bedeutet, dass ein System, welches beispielsweise eine Familie aber auch eine Firma sein kann, nicht ein Problem hat, sondern dass ein Problem ein System hervorbringt, zu dem alle Faktoren zählen, die das Problem betreffen, wie zum Beispiel die Handlungen der Beteiligten in der Schule, das Vorgehen eines Arztes oder eine Verhaltensweise des Ratsuchenden (vgl. SCHLIPPE/SCHWEITZER 1996: 102). Man versucht also das breite Spektrum eines Problems zu erfassen, wobei es sich in der systemischen Beratung um Probleme sehr unterschiedlicher Art handeln kann.
Allgemein kann das Ziel der Beratung als der Versuch angesehen werden, „von einem Problem-Zustand zu einem Nicht-Problem-Zustand, also zu einer Lösung zu kommen“ (SCHLIPPE/SCHWEITZER 1996: 104).
Die Wege zur Lösung können unterschiedlich beschaffen sein. Zum einen kann versucht werden, ganz neue „Zustände“ in die Wege zu leiten oder aber die bisherigen Prozesse neu zu bewerten und sie dadurch positiv zu besetzen. Eine andere Möglichkeit sehen SCHLIPPE/ SCHWEITZER darin, das „Unveränderbare“ akzeptieren zu lernen (vgl. ebd.).
2.5 Die Bedeutung der Sprache in der Therapie und die Rolle des Therapeuten
„Der Mensch ist Mensch nur durch Sprache.“
JOHANN GOTTFRIED VON HERDER
Menschliche Systeme werden über Sprache erzeugt und erhalten. Auch das therapeutische System ist ein menschliches, welches HARLENE ANDERSON als „linguistisches Ereignis“ (1992: 196) beschreibt, das durch Austauschen von Gedanken und Ideen sowie ein ständiges aufeinander Eingehen stattfindet. Die Beratung selbst besteht im Grunde also ausschließlich aus Kommunikation. Die Aufgabe des Beraters ist es, Raum für diese Kommunikation zu schaffen. Dazu ist es wichtig, dass der Therapeut auf der kulturellen und kognitiven Ebene des Klienten bleibt, das beinhaltet auch, dass er die Sprache des Klienten versteht und spricht. Er sollte sich als wertschätzender Zuhörer präsentieren, der nicht zu schell versteht und dessen Fragen stets neue Fragen aufwerfen (vgl. 1992: 196). „Der Therapeut ist ein Experte im Fragenstellen von einer Position des Nichtwissens. Solch eine Position trägt zur Entwicklung von neuen Erzählungen bei, erlaubt neue Bedeutungen und dadurch Veränderung“ (ebd.). Die Zahl der Ideen und Sichtweisen sollte sich im Laufe der Beratung steigern, nicht aber zu weit von den Denkansätzen des Klienten abweichen, damit dieser sich darin identifizieren kann.
STEVE DE SHAZER vertritt den Standpunkt, dass das, was ein Klient ausspricht, nicht zwingend das sein muss, was er tatsächlich meint, sondern mit seinen Worten nur an der „Oberfläche“ von dem bleibt, was er tatsächlich sagen möchte. Beratung ist also ein Hilfsmittel, tiefere Gedanken ans Licht zu bringen. DE SHAZER zieht hier den Vergleich zu einem guten Kriminalroman, in dem die Ermittler auf Grund der vorliegenden aber lückenhaften Fakten versuchen herauszubekommen, was wirklich am Tatort passierte - aber auch zu Freud, dessen Suche nach Erklärungen für bestimmte Phänomene ihn immer tiefer ins Unterbewusstsein des Menschen brachte (vgl. 1996: 34).
DE SHAZER geht wie ANDERSON davon aus, dass das Verständnis der Sprache als „sozial und intersubjektiv konstruiert“ (ANDERSON 1992: 195) ist und Worten stets mehr als nur eine Bedeutung beigemessen werden kann (vgl. DE SHAZER 1996: 31). Was bedeutet das nun für die Möglichkeiten der Beratung? Zu der Rolle des Therapeuten in der systemischen Beratung gehört ein gemeinsames Suchen mit dem Klienten nach neuen Sichtweisen.
In SALMAN RUSHDIES Erzählung „Harun und das Meer der Geschichten“ entwickelt sich gegen Ende hin ein Dialog zwischen dem Protagonisten Harun und einem seiner Wegbegleiter, dem Walroß.
„‚Happy-Ends kommen in Geschichten, genau wie im Leben, viel seltener vor, als die Menschen sich das vorstellen. Man könnte fast sagen, sie sind die Ausnahme nicht die Regel.’ ‚Dann hab ich also doch recht gehabt’, gab Harun zurück, ‚und das war’s.’ ‚Aber eben weil Happy-Ends immer so selten sind’, fuhr das Walroß gelassen fort, ’haben wir … gelernt, sie künstlich herzustellen. Mit einfachen Worten: Wir können sie erfinden.“ (1991: 236) Möglichweise birgt das wirkliche Leben ja doch eine Vielzahl von kleinen und großen „Happy-Ends“, die wir lediglich aufgrund unseres eingeschränkten Blickwinkels nicht wahrnehmen oder nutzen. Dann wäre das Konstruieren neuer Blickwinkel kein Erfinden, sondern vielmehr ein Entdecken, das uns Wirklichkeit neu begreifen lässt.
„Das Leben ist bezaubernd, man muss es nur durch die richtige Brille sehen.“ ALEXANDRE DUMAS
3 Sozialer Konstruktionismus - KENNETH J. GERGEN
3.1 Konstruktionismus und Konstruktivismus
Die folgenden Kapitel beschäftigen sich mit dem sozialen Konstruktionismus. Dazu sollen eingangs die beiden Begriffe Konstruktionismus und Konstruktivismus gegenüber gestellt werden. In beiden Positionen wird davon ausgegangen, dass jegliches Wissen über den Menschen selbst, aber auch über die Welt in der er lebt, „das Resultat von Konstruktionsprozessen“ (GERGEN 2002: 4) ist und letztlich eine objektive Realität grundsätzlich unfassbar ist (vgl. SCHLIPPE/ SCHWEITZER 1996: 78).
Der Unterschied liegt in der Auffassung zur Besonderheit dieses Wissens, denn der radikale Konstruktivismus geht davon aus, dass alles Wissen und alle Erfahrung subjektgebunden ist, also nur in der Vorstellung eines einzelnen Menschen existiert. Dies wird auch als „[prinzipielle] Geschlossenheit kognitiver Systeme“ (GERGEN 2002: 5) bezeichnet.
Der soziale Konstruktionismus hingegen sieht alles Wissens und alle Erfahrung als sozial eingebunden. Das bedeutet, dass kognitive oder mentale Prozesse nicht innerhalb einer einzigen Person konstruiert werden, sondern hieran zwei oder mehr Personen beteiligt sind, also im intersubjektiven Bereich liegen (vgl. ebd.).
Verdeutlicht wird diese Divergenz von dem Autor trefflich mit der Descart'schen Vorstellung: „Ich denke, also bin ich“, durch den der radikale Konstruktivismus gut zum Ausdruck gebracht werden kann. Wohingegen der soziale Konstruktionismus besser durch die Variante „Ich kommuniziere, also bin ich“ veranschaulicht werden kann (vgl. ebd.).
Der soziale Konstruktionismus beschäftigt sich also mit der Frage, wie Menschen in Interaktion Wirklichkeit und Sinn erzeugen. Damit ist ein direkter Bezug zu therapeutischen Prozessen gegeben. Das Einwirken auf die Wirklichkeit des Klienten erscheint somit eher möglich als dieses beim Konzept des radikalen Konstruktivismus gesehen wird, der den intersubjektiven Zugang zu der individuell konstruierten Wirklichkeit zunächst offen lässt.
3.2 Einführung in die Gedanken KENNETH J. GERGENs
KENNETH J. GERGEN geht davon aus, dass sich die Verbindungen zwischen Welt und Wort gelockert haben und es daher stets nicht nur eine, sondern verschiedene Wahrheiten geben kann, je nach Kultur, Zeit und Kontext. Unsere Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft produzieren wir in unseren Interaktionen stets selbst. So wird nicht nur unsere Wahrnehmung, sondern auch die dadurch hergestellte, subjektive Wirklichkeit durch unsere Sprache determiniert.
Aus GERGENS Sicht haben einstimmige Monologe einen unterdrückenden Charakter, daher versucht er eine Vielzahl an möglichen Sichtweisen zu konstruieren, die auf der Suche nach einer Lösung alle mit einbezogen werden sollten, um so den Handlungsspielraum zu erweitern.
Um hier Unstimmigkeiten über ein mögliches „richtig oder falsch“ zu vermeiden, bevorzugt GERGEN Kommunikationsformen, die von vornherein von vielen möglichen Perspektiven ausgehen. Da er davon ausgeht, dass Wirklichkeit im Dialog entsteht, eröffnen sich für die Therapie ganz neue Möglichkeiten. Somit ist der soziale Konstruktionismus das Fundament des narrativen Ansatzes der systemischen Therapie (vgl. hierzu insgesamt GERGEN 2002: passim).
„Alle Gedanken sind bereits im Kopf, wie alle Statuen bereits im Marmor sind. Der Verstand entdeckt sie lediglich.“
CARLO DOSSI
3.3 Objektivität und Wahrheit im Verständnis des sozialen Konstruktionismus
Wenn Menschen über Dinge berichten, gehen sie oftmals davon aus, dass sie der Wahrheit entsprechen, und dass es sich um eine objektive Betrachtungsweise handelt. Dies wird sowohl im Sinne der systemischen Therapie in Frage gestellt als auch im Sinne des sozialen Konstruktionismus. GERGEN beschäftigt sich mit der Frage, wie der Mensch zu einer solchen Annahme kommt und behauptet, dass der Mensch „Phänomene genau [betrachtet] und in exakter Weise über diese Beobachtungen [berichtet]“ (2002:26) und dies veranlasse ihn dazu davon auszugehen, dieses Wissen sei objektiv. Die Wahrnehmung der Phänomene allerdings ist subjektiv geprägt durch Erfahrungen und Werte. GERGEN vertieft diese Annahme durch ein Beispiel, indem er seinen Schreibtisch beschreibt: „In meiner Welt besteht dieser Schreibtisch aus mahagonifarbener, etwa 40 Kilogramm schwerer fester, geruchsfreier Materie“ (ebd.). Dann zeigt er auf, wie verschiedene Wissenschaftler diese Sichtweise erweitern oder auch korrigieren würden.
„Eine Atomphysikerin klärt mich darüber auf, dass dieser Tisch keineswegs aus fester Materie besteht…Der Psychologe sagt mir, der Tisch habe keine Farbe (da die Erfahrung von Farbe durch auf der Retina reflektierte Lichtwellen entsteht)…Schließlich weist mich der Biologe darauf hin, dass mein Geruchssinn weitaus schlechter ist als jener meines Hundes, für den der Tisch eine Fülle olfaktorischer Informationen bietet. Ich kann noch so genau beobachten und dennoch würden sich mir keine dieser Erkenntnisse erschließen“ (ebd.).
Die Naturwissenschaften genießen im Allgemeinen große Anerkennung, und gelten als objektiv. Der soziale Konstruktionismus stellt nicht nur die alltäglichen Wahrheiten und Formen der Objektivität in Frage, sondern auch die der Wissenschaft, denn auch diese beschränkt sich auf eine spezielle Sichtweise und kann somit keine „universelle Wahrheit“ mehr für sich beanspruchen (2002:27).
Wie also kann Wahrheit verstanden werden? Im folgenden Kapitel soll GERGENs Annahme weiter abgebildet werden und ihr Stellenwert für die Therapie verdeutlicht werden.
„Durch Wörter kommunizieren wir, was wir für wahr halten“ (2002: 34)
3.4 Narratives Paradigma
„Achte auf Deine Gedanken, denn sie werden Worte. Achte auf Deine Worte, denn sie werden Handlungen. Achte auf Deine Handlungen, denn sie werden Gewohnheiten. Achte auf Deine Gewohnheiten, denn sie werden Dein Charakter. Achte auf Deinen Charakter, denn er wird Dein Schicksal.“ TALMUD
Die Sprache ist also eines der Hauptinstrumente des sozialen Konstruktionismus und kann in der Therapie verwendet werden, um alternative Welten für den Ratsuchenden zu entwerfen. Dies wird nicht als ausschließlich positiv wahrgenommen, weil es auch Sicherheiten nimmt, wenn Überzeugungen in Frage gestellt werden. Dennoch sehen die meisten Menschen diesen Faktor als Chance (vgl. GERGEN 2002: 67). GERGEN stellt in diesem Zusammenhang vier Arbeitshypothesen auf.
„1. Die Begriffe, mit denen wir die Welt und uns selbst verstehen, ergeben sich nicht zwangsläufig aus dem, was ist.’“
„2. Wie wir beschreiben, erklären und darstellen leitet sich aus Beziehungen ab.“
„3. So, wie wir beschreiben, erklären oder anderweitig darstellen, so gestalten wir unsere Zukunft.“
„4. Das Nachdenken über unsere Formen des Verstehens ist für unser zukünftiges Wohlergehen von entscheidender Bedeutung“
(GERGEN 2002:66-69; Hervorhebung im Original).
GERGENS Aussagen verdeutlichen noch einmal, worum es im sozialen Konstruktionismus geht. Es ist zwar möglich durch Interaktion Wirklichkeit zu erzeugen, dennoch ist es nicht möglich eine „unabhängige Welt“ (2002:66) darzustellen. Wobei hier die Interaktion sich nicht nur auf Sprache, die eine wesentliche Basis für das ganze Sozialleben bildet, beschränkt, sondern auch das übrige Verhalten mit einbezieht. Die vierte These GERGENS kann geradezu als Appell aufgefasst werden, denn wenn die Sprache einen so großen Teil unseres Lebens ausmacht und es möglich ist die eigene Zukunft aktiv durch sie zu gestalten, sollten wir ihr mehr Bedeutung beimessen und uns bewusster mit ihr beschäftigen (vgl. 2002: 66-70).
„Unsere Zukunft wird geschaffen durch unseren alltäglichen Austausch und all die beiläufigen Bemerkungen, lustigen Geschichten und normalen Gespräche in Familien, Freundschaften und Organisationen“ (GERGEN 2002: 84).
„Unser Leben ist das, wozu unser Denken es macht.“ MARC AUREL
4 EPSTON / WHITE : Der narrative Ansatz in der Familientherapie
4.1 Einführung
Der narrative Ansatz „erleichtert eine ‚Neufassung’ unserer Lebensgeschichte und unserer Beziehungen“ (WHITE/EPSTON 1990: 60).
Die narrative Therapie lässt sich als einen dreiphasigen Prozess verstehen, der sich in chronologischen Sequenzen aufspaltet.
In der ersten Phase des therapeutischen Dialogs geht es zunächst darum, dass der Klient Abstand zu der problembelasteten Geschichte, die sein Leben dominiert, gewinnt. In diesem Zusammenhang ist das Externalisieren von Problemen, welches in einem späteren Kapitel genauer beschrieben wird, von großer Bedeutung. In einer zweiten Phase suchen Klient und Therapeut nach Ausnahmen, also Situationen, in der die Beschwerde nicht auftritt und Widerstandsleistungen gegen dominierende Probleme, an dieser Stelle wird auch nach alternativen Erzählmöglichkeiten dieser Geschichten gesucht.
Die dritte und letzte Phase widmet sich der Verankerung und Verdichtung alternativer Lösungs- und Erzählstrategien, wobei dem sozialen Umfeld des Klienten die wesentliche Funktion der Zeugenschaft rund um das veränderte Erzählen zukommt.
Die elementaren Methodiken der narrativen Therapie wurden vor allem durch EPSTON / WHITE entwickelt. Erzählende Interventionsformen nehmen in dieser Therapieform eine Schlüsselstellung ein. Hierzu zählen besonders die Externalisierung, das Geschichtenerzählen, der Gebrauch metaphorischer Sprache und das Erstellen von Briefen und Dokumenten (vgl. hierzu insgesamt WHITE/EPSTON 1990: passim).
4.2 Externalisierung
Die Externalisierung soll Menschen helfen, sich von „problembefrachteten Beschreibungen ihres Lebens und ihrer Beziehungen zu lösen“ (WHITE/EPSTON 1990: 19). Dies, so beschreiben WHITE/EPSTON, erreicht man durch Objektivierung und gelegentlich auch durch Personifizierung des Problems. Durch diesen Vorgang „verselbstständigt sich das Problem und löst sich damit von dem Menschen (…) ab (…) und [wird] dadurch weniger belastend und einschränkend“ (1990: 55).
SCHLIPPE/SCHWEITZER betonen die besondere Funktion der Externalisierung, die festgefahrene Position eines Klienten, selbst das Problem zu sein, zu lockern (vgl. 1996: 169f). Der wohl meist zitierte Satz in diesem Kontext ist:
„Nicht die Person oder die Beziehung, sondern das Problem [ist] das Problem“ (WHITE/EPSTON 1990: 57).
Die zuvor benannte erste Phase der narrativen Therapie wird durch eine „Befragung“ eingeleitet. Diesen Vorgang beschreibt WHITE sehr detailliert in seinem Aufsatz: „Der Vorgang der Befragung“. Das Problem, welches die Familie in die Therapie führt, soll auf zwei verschiedene Weisen dargestellt werden. Zum einen soll „der Einfluss des Problems auf das Leben und die Beziehungen untereinander“ beschrieben werden, zum anderen „der Einfluss der Familienmitglieder und ihrer Beziehung untereinander auf die Existenz des Problems“ (1989: 114).
Durch die zweite Darstellung, wird ein Prozess eingeleitet mit Hilfe dessen gemeinsam eine „externalisierte Beschreibung des eigentlichen Problems“ gefunden werden soll (vgl. ebd.).
Die entschärfende Wirkung der Externalisierung, bei „unproduktiven zwischenmenschlichen Konflikten, einschließlich der Diskussion, wer ‚schuld’ ist“ (ebd.), wird als besonderer Vorzug betont. Auch das „Gefühl des Versagens“, welches sich bei vielen Klienten als „Reaktion auf den Fortbestand des Problems auch nach vergeblichen Lösungsversuchen“ (ebd.) einstellt, wird abgeschwächt und dafür werden neue Möglichkeiten hervorgebracht, um das Leben und die Beziehungen der Betroffenen wirksam von der Schwierigkeit zu befreien. Dies hilft den Menschen, insgesamt mit ernsthaften Problemen gelassener und effektiver umzugehen (vgl. ebd.).
SCHLIPPE/SCHWEITZER fassen mögliche Externalisierungsfragen zum Feststellen des Ausmaßes des Einflusses des Problems in Anlehnung an WHITE zusammen:
- Wie wirkt das Problem auf dein Leben ein?
- Wie hat es dein Selbstbild beeinflusst? x Wie deine persönlichen Beziehungen?
- Welche Einflüsse haben diese Sichtweisen auf dein Leben allgemein und auf den Umgang mit anderen Menschen im besonderen?
- Wie bist du in diese Sichtweise eingeführt worden? Wodurch hast du dich zu dieser Sichtweise einladen/ verführen lassen?
- Bist du denn überhaupt einverstanden, dass diese Geschichten dein heutiges Leben bestimmen und beeinflussen?
- Welche Erfahrungen widersprechen diesen Geschichten? Wo gibt es Ausnahmen?
- Historisierung: ‚Wenn ich als Zuschauer damals dein Leben mitverfolgt hätte, was könnte ich erlebt haben, das mir erklären könnte, wie du zu dem fähig warst, was du da geschafft hast (=die Ausnahme)?’ oder ‚Wer von all den Personen, die dich als jungen Menschen gekannt haben, wäre am wenigsten erstaunt darüber, dass du zu diesem Schritt fähig warst, dich den Problemen entgegenzustellen, die dir das Leben schwermachen?’
(SCHLIPPE/SCHWEITZER 1996: 172)
Ein sehr bekanntes Beispiel von WHITE ist der Fall des sechsjährigen Nick, der unter Enkopresis litt.
„Kaum ein Tag verging ohne ‚Unfall’ (…) Schlimmer war jedoch, dass Nick sich mit seinem Dreck’ angefreundet hatte. Der Dreck war sein Spielgefährte geworden. Er pflegte ihn an den Wänden ‚abzustreifen’, ihn in Schubladen zu verschmieren und zu Kügelchen zu formen, die er hinter Regale und Kleiderschränke schnippte; er hatte es sogar fertig gebracht, ihn unter den Küchentisch zu kleben“ (WHITE/EPSTON 1990: 61).
Das Problem wurde personifiziert und als „Sneaky Poo“ bezeichnet, der Kontext wurde also verändert und somit war nicht länger das Kind das Problem, sondern das Problem selbst konnte in den Blick genommen werden. WHITE arbeitete die Auswirkungen heraus, die das Problem auf das Familienleben hatte, indem er der Familie Fragen stellte. Zum einen isolierte das Problem Nick, denn keiner seiner Schulkameraden wollte mit ihm zu tun haben, was dazu führte, dass ihn niemand richtig kannte und nicht bemerkt wurde, wie klug er eigentlich war. Zum anderen zweifelte Nicks Mutter an sich als Person und der Vater sonderte sich ebenfalls ab, da es ihm peinlich war, bei seinen Freuden und Kollegen über seinen Sohn zu reden. Auch in der gesamten Familiensituation hatte das Problem enorme Auswirkungen, da der „Dreck“ alle Freude verhinderte und das Hauptaugenmerk im Alltag bekam.
Die Fragen halfen der Familie dabei, den Druck abzulassen und sich nun als „gemeinsames Opfer von ‚Sneaky Poo’“ wahrzunehmen. Im nächsten Schritt suchte WHITE gemeinsam mit der Familie nach Ausnahmesituationen, um die es im nächsten Kapitel gehen soll, in denen die Familie eben nicht zum Opfer wurde (vgl. hierzu insgesamt WHITE/EPSTON 1990: 61f; SCHLIPPE/SCHWEITZER 1996: 170f).
4.3 Einmalige Ereignisfolgen
Oftmals sehen Hilfesuchende nichts anderes mehr als ihr Problem und glauben, dass das Problem ihr Leben ausnahmslos dominiert. Sie konstruieren sich eine eigene Welt durch das wiederholte Erzählen des Problems. Mit der Suche nach Ausnahmen beginnt die Dekonstruktion dieser Sichtweise (vgl. SCHLIPPE/ SCHWEITZER 1996: 171).
Die vorangegangene Betrachtung des Problems im Hinblick auf die Einwirkungen auf das Leben des Klienten erlaubt dem Therapeuten nun diese Suche nach Ausnahmen einzuleiten, beispielsweise durch die Frage: Können sie sich an eine Situation erinnern, in der das Problem nicht aufgetreten ist?
Das Ziel ist es, diesen Ausnahmen, die man auch „einmalige Ereignisfolgen“ nennt, nun eine neue Bedeutung zuzuschreiben. Dies kann mit Hilfe weiterer Fragen gelingen, die diese neuartigen Geschichten weiter ausbauen (vgl. WHITE/EPSTON 1990: 59f).
Bezieht man sich auf einmalige Ereignisfolgen der Vergangenheit, kommt es vor, dass der Klient anfangs nicht in der Lage ist, von der problembelasteten Geschichte genügend Abstand zu nehmen um diesem Ereignis eine neue Bedeutung beizumessen. In diesem Fall sollte der Therapeut den Klienten ermutigen, sich an weitere Ereignisse zu erinnern und ihm Hilfestellung geben (vgl. WHITE/EPSTON 1990: 72-82).
Es kann vorkommen, dass sich Ausnahmen während des Gesprächs ergeben, meist bemerken die Klienten dies nicht, so dass auch hier der Therapeut darauf aufmerksam machen muss, den Klienten stärken und ermutigen muss, nach weiteren Ausnahmen zu suchen. WHITE/EPSTON bringen ein Beispiel aus der Praxis: Der Therapeut fragt im Verlauf einer Erzählung: „‚Überrascht Sie das nicht?’ - ‚Ja, ich denke schon ..Ja, natürlich!’ - ‚Was bedeutet das Ihrer Meinung nach?’“ (1990: 77).
Um weitere Ausnahmen in der Zukunft hervorzurufen, sind folgende Fragen oftmals hilfreich: „‚Sie sehen so aus, als wollten Sie etwas dagegen unternehmen. (…) Was können Sie tun, um ihr Leben in den Griff zu bekommen?’“ (ebd.). Wird der Klient bestärkt, werden Ausnahmen wahrscheinlicher: „‚Wie haben Sie das geschafft? Das hätte ich in dieser Phase nicht erwartet.’“ (ebd.).
Wenn es dem Klienten nicht gelingt, im Sinne der einmaligen Ereignisfolgen eine Ausnahme zu finden, dann kann die so genannte Wunderfrage gestellt werden: „Wenn das Problem durch ein Wunder über Nacht weg wäre: Woran könnte man erkennen, dass es passiert ist?“ (SCHLIPPE/ SCHWEITZER 1996: 159). Die Wunderfrage hat zwei Vorzüge, einerseits ist sie unverbindlich, da der Hilfesuchende für diese Veränderung nicht selbst verantwortlich wäre und andererseits, merkt er, dass die Folgen des Wunders realistische und handfeste Resultate sein könnten. Als Folge auf die Wunderfrage kann man je nach Situation vereinbaren, dass man sich in einem bestimmten Zeitfenster so verhält, als wäre das Wunder eingetreten (vgl. ebd.).
Im Falle von Nick stellte WHITE die Frage: „Gab es noch Zeiten, in denen ihr den hinterhältigen Dreckmacher besiegt habt, ihm nicht gehorcht habt, wo er euch aufforderte, Nick auszuschimpfen und ihr euch geweigert habt, und statt dessen ihm ein anderes Angebot gemacht habt?“ (SCHLIPPE/ SCHWEITZER 1996: 171). Nick konnte sich daraufhin an verschiedene Momente erinnern, in denen er keine Lust hatte, dem Dreckmacher zu gehorchen. Auch die Mutter erkannte einige Situationen, wo sie ihren Ärger einfach vergaß und das Radio anschaltete. Der Vater konnte für sich keine Ausnahme festmachen, nahm sich aber vor bald mit jemanden über Nick zu sprechen (vgl. ebd.).
4.4 Transformation von Erzählungen
„Wir müssen erkennen, welche Kraft darin liegt, Dinge einmal anders darzustellen. Durch die Macht der Sprache können neue und andere Dinge ermöglicht und mit Bedeutung versehen werden. Zu dieser Erkenntnis gelangen wir jedoch erst, wenn wir unser Repertoire an alternativen Beschreibungen erweitern und nicht länger nach der einen, einzig wahren Beschreibung suchen.“
RICHARD RORTY Kontingenz, Ironie und Solidarität
Das Leben besteht in der Sichtweise der narrativen Therapie aus Geschichten, aus dem was Menschen sich erzählen. Nicht nur Kulturen werden so aufrechterhalten, auch die persönliche Lebensgeschichte eines jeden Menschen. Kommt ein Kind zur Welt, beginnt ein Leben. Was aber als Erwachsener aus der Kindheit bleibt, sind neben den eigenen Erinnerungen hauptsächlich Geschichten, die ihm aus seinem und aus dem Leben seiner Vorfahren berichtet werden.
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- Daniela Becker (Author), 2006, Narrative Beratung und Therapie im Kontext systemischer Ansätze, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/65058
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