Der Tod kam auch später noch oft zu Inge Müller. Er ging jedoch stets an ihr vorbei und letztendlich leer aus. Denn sie hat den Tod gewählt. Sie hat diese Entscheidung getroffen. Fraglich ist jedoch, ob es ihre Entscheidung war. Die Frage ist, ob sie wirklich wählen und frei entscheiden konnte, oder ob sie nur diese eine Wahl treffen konnte. Dem Tod entronnen im Bombenkrieg des Zweiten Weltkriegs fühlte sie sich als „zufällig Übriggebliebene“. Ein zufälliges Leben und Weiterleben versagt gegen den aufgeschobenen Tod. Der Wille zum Leben ist bodenlos und ziellos, wenn die Berechtigung zum Leben zufällig erteilt wird. Der Überlebende als Übriggebliebener fühlt sich schuldig, nicht auserwählt. Das Leben wird zum Kampf. Für Inge Müller wurde er zu einem „mehrjährigen Todeskampf“ [Müller 1985:126, Nachwort], der im Juni 1966 sein Ende fand und keinen Sieger hatte, der sich als Sieger fühlte. „Kein Feuer kein Gott wir selber / Legen uns ins Grab.“ [Müller 1985:93] Ein Jahr nach dem Tod Inge Müllers schreibt Heinz Czechowski seine ersten Gedichte über eine Stadt im Bombenkrieg. Für Inge Müller war es Berlin, für Czechowski Dresden: eine Stadt in Deutschland, eine Stadt vernichtet durch den Bombenkrieg, doch die Stadt, die als Inbegriff des Unbegreifbaren gilt. Die im „Feuer versunkene Stadt“ [Czechowski 1990:13], die schon zu Czechowskis Geburt „den Feuern geweiht“ [Czechowski 1990:13] war, wurde „ausgetilgt in einer Nacht“ [Czechowski 1990:28]. Vom Dach des Elternhauses kann Heinz Czechowski zwar sehen, aber nur erahnen, was wirklich in dieser Nacht passiert, durch die bedeutungslose Zurufe gehen: „Wir sind verschont!“ [Czechowski 1990:26]. Rufe ohne Bedeutung, da niemand weiß, wie lange man verschont bleibt. [...]
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
I. Der Bombenkrieg als Leerstelle
Deutschsprachige Autoren der Nachkriegszeit
Die These W.G. Sebalds
Die Diskussion
II. Der Bombenkrieg und die Folgen
Traumatisierung und Trauerarbeit
Das Verhältnis der Generationen
III. Der Bombenkrieg und die DDR
Die Literatur der DDR
Heinz Czechowski
Inge Müller
Schlußbemerkungen
Literaturverzeichnis
„Sondern dafür zu sorgen, / Eine gute Welt verlassen zu können. / Wie aber, / Wo doch täglich ein neues / Damoklesschwert über unsere Köpfe / Gehängt wird ? / Sic transit gloria mundi,/ Begleitet von den Mazurken Chopins, / Maschinengewehrsalven, Rauchpilzen, / Der aMoll-Fuge oder / Diesem Gedicht, geschrieben /Gegen die Vergeblichkeit.“Heinz Czechowski, Sic transit gloria mundi „Mich trägst du nicht, Tod, ich mach mich schwer / Bis sie kommen und graben / Bis sie mich haben / Du gehst leer.“Inge Müller, Unterm Schutt II
Einleitung
Der Tod kam auch später noch oft zu Inge Müller. Er ging jedoch stets an ihr vorbei und letzt- endlich leer aus. Denn sie hat den Tod gewählt. Sie hat diese Entscheidung getroffen. Fraglich ist jedoch, ob es ihre Entscheidung war. Die Frage ist, ob sie wirklich wählen und frei entscheiden konnte, oder ob sie nur diese eine Wahl treffen konnte. Dem Tod entronnen im Bombenkrieg des Zweiten Weltkriegs fühlte sie sich als „zufällig Übriggebliebene“. Ein zufälliges Leben und Weiterleben versagt gegen den aufgeschobenen Tod. Der Wille zum Leben ist bodenlos und ziellos, wenn die Berechtigung zum Leben zufällig erteilt wird.
Der Überlebende als Übriggebliebener fühlt sich schuldig, nicht auserwählt. Das Leben wird zum Kampf. Für Inge Müller wurde er zu einem „mehrjährigen Todeskampf“ [Müller 1985:126, Nachwort], der im Juni 1966 sein Ende fand und keinen Sieger hatte, der sich als Sieger fühlte. „Kein Feuer kein Gott wir selber / Legen uns ins Grab.“ [Müller 1985:93]
Ein Jahr nach dem Tod Inge Müllers schreibt Heinz Czechowski seine ersten Gedichte über eine Stadt im Bombenkrieg. Für Inge Müller war es Berlin, für Czechowski Dresden: eine Stadt in Deutschland, eine Stadt vernichtet durch den Bombenkrieg, doch die Stadt, die als Inbegriff des Unbegreifbaren gilt. Die im „Feuer versunkene Stadt“ [Czechowski 1990:13], die schon zu Czechowskis Geburt „den Feuern geweiht“ [Czechowski 1990:13] war, wurde „ausgetilgt in einer Nacht“ [Czechowski 1990:28]. Vom Dach des Elternhauses kann Heinz Czechowski zwar sehen, aber nur erahnen, was wirklich in dieser Nacht passiert, durch die bedeutungslose Zurufe gehen: „Wir sind verschont!“ [Czechowski 1990:26]. Rufe ohne Bedeutung, da niemand weiß, wie lange man verschont bleibt. Verschonung, nicht Rettung, ist das Stichwort, da die gegenwärtige Situation nicht als fremdverschuldet begriffen wird, sondern als Wartezeit auf eine Strafe, die von keiner erfaßbaren Instanz gefällt und in Form von Bomben durch die Alliierten vollstreckt wird.
Die deutsche Bevölkerung macht sich durch Tat und Nicht-Tat schuldig, wird bestraft und als Tätervolk betitelt, muß sich selbst und den Opfern Unbeschreibliches erklären und empfindet eine Scham, die Aufarbeitung und Trauerarbeit auf unbekannte Zeit unmöglich macht. Doch wer oder was ist die deutsche Bevölkerung? Wer fühlt sich im Februar 1945 als Deutscher? Die Kollektivschuldthese liefert keine Antwort auf diese Frage. Wenn die Täterfrage beantwortet ist, kann die Opferfrage vorerst nicht mehr gestellt werden. Doch wenn sie gestellt wird, sind mehr als fünf Jahrzehnte vergangen.
Lothar Kettenacker hat sie in seinem Buch auf der Titelseite formuliert: „Ein Volk von Opfern?“. Dieser Titel artikuliert eine vorsichtige Frage innerhalb einer sozialen und historischen Debatte, die erst vor einigen Jahren durch W.G. Sebald und Jörg Friedrich ausgelöst wurde und in der Öffentlichkeit zu kontroversen Meinungen führte. Die zunächst auf Bipolarität (Luftkrieg und Literatur) beschränkte Diskussion Sebalds wurde durch die steigende Zahl an Meinungen und Kommentaren ausgeweitet. Historiker, Schriftsteller, Journalisten und Publizisten versammelten sich gedanklich an einem Tisch und diskutierten über eine Mischung aus Analysen, Berichten und persönlichen Erfahrungen.
Aus literaturwissenschaftlicher Sicht wurde Sebalds These der unzureichenden und unpassenden Darstellung der realen Verhältnisse nach dem Zweiten Weltkrieg folgendermaßen diskutiert: Gibt es diese literarische „Lücke“ in der deutschen Geschichte? Hat die deutsche Nachkriegsliteratur vor den Schilderungen des Bombenkrieges kapituliert? Führt die „Schmerzensspur der Erlebnisse“ über die Grenze des Individuums hinaus in das kollektive Bewußtsein, oder ist die Aufarbeitung und Verarbeitung dieser traumatischen Erfahrungen und Erleidnisse ein tabuisiertes und verschwiegenes Thema? War bisher nur der Raum der Familie ein angemessener und berechtigter Ort des Sprechens? Welche Autoren hat Sebald in seinem Essay nicht erwähnt? Welche Autoren sind vergessen, vielleicht sogar verdrängt? Die beiden letzten Fragen wurden meiner Meinung nach nur unzureichend und marginal behandelt und sollen zu einer weiteren wichtigen Frage führen, an der sich diese Untersuchung orientieren wird: Welche Rolle spielt die Literatur der DDR in dieser Debatte? Denn nur selten ging der Blick über den sprichwörtlichen Tellerrand der Debatte hinaus. Der mögliche Blick in den Osten der Bundesrepublik wurde nicht gewagt.1 Müssen wieder fünfzig Jahre vergehen, damit über dieses Kapitel der deutschen Geschichte gesprochen werden kann? Das Thema der folgenden Untersuchung ist ein interessantes und, was sehr erfreulich ist, ein aktuelles Thema, dessen Weiterführung sinnvoll und notwendig ist.2 Gegenstand dieser Untersuchung sind Gedichte und Texte von Inge Müller und Heinz Czechowski unter Einbeziehung ausgewählter Sekundärliteratur. Im Vorfeld dieser Analyse werde ich mich einführend mit den Themen Nachkriegsliteratur, Luftkrieg und Trauma beschäftigen, um adäquat den notwendigen Hintergrund für die thematische Bearbeitung zu schaffen. Es soll gezeigt werden, daß die vernachlässigten DDR-Literaten einen erheblichen Beitrag zu den Kernaspekten Luftkrieg (Folgen und Aufarbeitung) und literarische Umsetzung (Darstellung des Gesehenen und Miterlebten) geliefert haben und somit die Wichtigkeit und Aktualität der DDR-Literatur deutlich wird.
„Und kein Mensch weiß, wovon ich rede, wenn ich davon rede, wie überhaupt alle, wie es scheint, ihr Gedächtnis verloren haben, die vielen zerstörten Häuser und getöteten Menschen von damals betreffend, alles vergessen haben oder nichts mehr davon wissen wollen, wenn man sie darauf anspricht, und komme ich heute in die Stadt, rede ich doch immer wieder die Leute nach dieser fürchterlichen Zeit an, aber sie reagieren kopfschüttelnd.“
Thomas Bernhard, Die Ursache
I. Der Bombenkrieg als Leerstelle
Deutschsprachige Autoren der Nachkriegszeit
Thomas Bernhard erzählt in dem ersten Band seiner Autobiographie von den prägenden Ereignissen seiner Jugend in Salzburg. Erst im Oktober 1944 wird die bis zu diesem Zeitpunkt verschonte Kulturstadt Salzburg von alliierten Bombern attackiert. Der unausgesprochene und insgeheime, durch Neugierde genährte Wunsch der Schüler, mit einem „solchen Luft- oder Bomben- oder Terrorangriff als tats Ächliches Erlebnis konfrontiert zu sein“ [Bernhard 2002:30], wird in diesem Herbst zur Realität. Diese Umsetzung ist eine Konfrontation mit einer unabdingbar-tatsächlichen Situation: „auf einmal war ich mit der absoluten Brutalität des Krieges konfrontiert, gleichzeitig von dieser Ungeheuerlichkeit fasziniert und verharrte minutenlang“ [Bernhard 2002:34]. Die Phantasie findet in der Wirklichkeit nur selten Bestätigung - vieles muß erst erlebt und gesehen werden. Nur sechs Jahre zuvor gab Hitler durch die Verkündung vom „Anschluß“ Österreichs an das Deutsche Reich die Möglichkeit für diese Bombenangriffe. Die bejubelte Verkündung auf dem Wiener Heldenplatz wurde außerhalb der Autobiographie in Bernhards gleichnamigen Stück thematisiert - der Bombenkrieg nicht. Die fortwährenden Angstzustände der Bevölkerung sind nach Kriegsende Aufbau und Reform gewichen. Vielleicht könnte Bernhard jetzt, im Zustand einer „historischen Distanz“, gegen, respektive für die „tauben Ohren“ schreiben - ein Stück über die „Ungeheuerlichkeit des Krieges als Elementarverbrechen“ [Bernhard 2002:76].
„Zündstoff fürs eigene Gedächtnis“ [Kästner 1980:10] forderte Erich Kästner von seinen Tagebuchnotizen. Ziel war ein „großer Roman“ der Jahre 1933 bis 1945. „Aber ich habe ihn nicht geschrieben.“ [Kästner 1980:11] Die Möglichkeit, diesen Roman zu schreiben, hat Kästner auf persönlicher und allgemeiner Ebene angezweifelt:
„Das Tausendjährige Reich hat nicht das Zeug zum großen Roman. [...] Man kann eine zwölf Jahre anschwellende Millionenliste von Opfern und Henkern architektonisch nicht gliedern. Man kann Statistik nicht komponieren. Wer es unternähme, brächte keinen großen Roman zustande, sondern ein unter künstlerischen Gesichtspunkten angeordnetes, also deformiertes blutiges Adreßbuch, voll erfundener Adressen und falscher Namen.“ [Kästner 1980:11]
Der Weg zur Bewältigung der Vergangenheit ist durch das Vergessen der Vergangenheit blockiert.3 Doch das Vergessen ersetzt nicht die Bewältigung. Kästner stellt sein Notizbuch in das Regal zurück, schreibt keinen großen oder kleinen Roman und entzieht sich der Verantwortung durch Übertragung der Verantwortung - eine Mahnung:
„Jene Vergangenheit, die unbewältigte, gleicht einem ruhelosen Gespenst, das durch unsere Tage und Träume irrt und [...] darauf wartet, daß wir es anblicken, anreden und anhören. Daß wir, zu Tode erschrocken, die Schlafmütze über die Augen und Ohren ziehen, hilft nichts. Es ist die falsche Methode. [...] Die Vergangenheit muß reden, und wir müssen zuhören. Vorher werden wir keine Ruhe finden.“ [Kästner 1980:13]
Kästner fordert simultanes Reden und Hören. Denn die Vergangenheit kann nur durch die ausgesprochene Erinnerung der Beteiligten besprochen und bearbeitet werden. „Seid unbequem, seid Sand, nicht das Öl im Getriebe der Welt“ [Eich 1968:190] lautet die Forderung Günter Eichs an die Überlebenden und Nachgeborenen. „Das Auge des Schriftstellers sollte menschlich und unbestechlich sein“ [Böll 1978:34] proklamiert Heinrich Böll in seinem Essay Bekenntnis zur Trümmerliteratur.
„Es ist unsere Aufgabe, daran zu erinnern, daß der Mensch nicht nur existiert, um verwaltet zu werden - und daß die Zerstörungen in unserer Welt nicht nur äußerer Art sind und nicht so geringfügiger Natur, daß man sich anmaßen kann, sie in wenigen Jahren zu heilen.“ [Böll 1978:35]
Die Forderungen und Mahnungen kreisen unnachgiebig um die Schlagworte Vergangenheit, Erinnern, Aufarbeitung. Die Problematik ergibt sich bei der Umsetzung des Gesehenen in eine schriftliche Darstellung. Die Problematik wird verschärft durch einen Anfang ohne Wurzeln auf dem schwankenden Boden der Vergangenheit. Die Devise lautet loslassen und gleichzeitig festhalten. Nach der Flucht vor der Gegenwart folgt die Flucht vor der Vergangenheit - ungeduldig, mit dem Alten brechend und stets auf der Suche nach einer „neuen Sprache“.
„Wer schreibt für uns eine neue Harmonielehre? Wir brauchen keine wohltemperierten Klaviere mehr. [...] Wir brauchen keine Dichter mit guter Grammatik. Zu guter Grammatik fehlt uns die Geduld. Wir brauchen die mit dem heißen geschluchzten Gefühl.
Die zu Baum Baum sagen und zu Weib Weib sagen und ja sagen und nein sagen: laut und deutlich und dreifach und ohne Konjunktiv.“ [Borchert 1949:310] Borchert appelliert in seinem Manifest an die Menschen und an die Liebe. Die „gigantische Wüste, die Deutschland heißt“ [Borchert 1949:313], soll geliebt werden und Grund zum Leben sein. „Dies Deutschland lieben wir nun. Und jetzt am meisten. Und um Deutschland wollen wir nicht sterben. Um Deutschland wollen wir leben.“ [Borchert 1949:313] Die Liebe als einzige konstante und ehrliche Größe für eine hoffnungsschwache, orientierungslose Generation der Ankunft, der Abschied und Heimkehr verweigert wird.4 Borchert schreibt mit einem eindringlichen Pathos und beschwört den Abschied, den es nicht gegeben hat, der aber notwendig ist, um anzukommen. Der Text über den Abschied ersetzt den Abschied - der Abschied vom Abschied, weil nur noch die Ankunft zählt, die ohne Schmerz ist und als Ziel nicht über den Weg entscheidet, der noch ungewiß ist. Der Weg endete für Wolfgang Borchert bereits 1947.
Über fünfzig Jahre später äußert Dieter Forte: „Sprache hat man dafür nicht. [...] In der Sprache muß man behutsam vorgehen, die Elastizität finden“ [Forte 2003:153].5 Die orientierungslose Ungeduld der frühen Nachkriegszeit ist einer kritisch-analytischen Geduld gewichen. Versuche werden nicht unternommen, sondern versucht. Das Schreiben über die Vergangenheit als Schreiben der Vergangenheit ist tückisch und fordernd.
„Ich habe sehr viel gestrichen, weil ich nicht eine Aneinanderreihung von Schrecken wollte, das kann man den Menschen in einem Roman nicht zumuten. Ich habe versucht, aus einer distanzierten Nähe zu beschreiben [...]. Tolstoi beschreibt in ,Krieg und Frieden‘ einmal ein Typhuslazarett, das reicht, man muß nicht noch viele andere Lazarette beschreiben. Es wiederholt sich in seinem Grauen. Und der Schrecken ist irgendwann nicht mehr steigerbar. Überhaupt ist das sehr schwer zu erzählen.“ [Forte 2003:153]6
Scheinbar ermöglicht das Fortschreiten der Zeit zwar gesellschaftliche und moralische Veränderungen, räumt dem Auge des Betrachters historische Distanz ein und versetzt die Grenze des Erzählbaren - doch die Sprache dazu liefert die Zeit nicht. Die Sprache muß der Mensch suchen, finden, entwickeln. Die Erfahrungen und Schrecken des Zweiten Weltkriegs wurden vergessen. Und das Vergessen wurde verschwiegen.
„Es wurde doch eigentlich alles verschwiegen, die wenigen Ansätze, die es gab, endeten schnell in einer selbstgefälligen Literatur, das Trauma wurde zu einem Tabu. [...] Das Trauma verwandelte sich vor dem Hintergrund des nun kalten Krieges in ein Tabu.“ [Forte 2003:162]
Dieter Forte initiiert mit dieser Aussage drei Fragen. Wurde tatsächlich geschwiegen? Inwieweit genügt in diesem Zusammenhang der umgangssprachlich genutzte, nicht definierte Begriff „Trauma“? Wurde das Trauma, die Traumatisierung der deutschen Bevölkerung durch den Krieg bzw. Bombenkrieg, infolge des Kalten Krieges mit einem Tabu belegt? Die beiden letzten Fragen werden in den folgenden Kapiteln behandeln. Die erste Frage gestaltet sich aufgrund einer starken Verallgemeinerung mehrdeutig und zieht weitere Fragen nach sich. Das Problem: schriftliche Aussagen können gesichtet und analysiert werden - mündliche Aussagen sind abhängig von den Erinnerungen der Zeitzeugen. Das Gesagte, oder vielmehr das Gehörte, verändert mit den Jahren unumgänglich Form und Inhalt. Das Geschriebene hingegen verändert sich nicht. Es kann im Laufe der Jahre allenfalls unterschiedlich interpretiert werden.
Den Autoren der Nachkriegszeit wurde der Vorwurf gemacht, der „Redefinition ihres Selbstverständnisses“ [Sebald 2003:7] gegenüber einer „Darstellung der realen Verhältnisse“ [Sebald 2003:7] den Vorzug gewährt zu haben: die Legitimation und Integration der Literaten innerhalb der Nachkriegsgesellschaft als Grundlage für ein Künstlerverständnis, welches die eigene Person in der literarischen Praxis thematisiert und fokussiert.
„War die ältere Garde der sogenannten inneren Emigration vornehmlich damit beschäftigt, sich ein neues Ansehen zu geben, [...] so war die jüngere Generation der gerade heimgekehrten Autoren dermaßen fixiert auf ihre eigenen, immer wieder in Sentimentalitäten und Larmoyanz abgleitenden Erlebnisberichte aus dem Krieg, daß sie kaum ein Auge zu haben schien für die allerorten sichtbaren Schrecken der Zeit.“ [Sebald 2003:17]
Dieter Forte und W.G. Sebald markieren die Generation unmittelbar vor und nach dem Zweiten Weltkrieg. Tanja Dückers gehört der Enkelgeneration an. Ihre Frage nach der „Lücke“ in der deutschen Literatur ist zugleich eine Generationenfrage: „,Fehlt‘ die NS-Zeit in den Romanen der ,Enkelgeneration‘?“ [Dückers 2004:53] Die in ihrem Essay Spuren suchen formulierte Frage nach dem Umgang mit der „Last der Vergangenheit“ wird in ihrem Roman Himmelskörper als „Sog der Vergangenheit“ [Dückers 2003:316] beschrieben. Die Frage, ob über dieses Kapitel der deutschen Vergangenheit geschrieben werden soll, wurde bereits vor fünfzig Jahren mit einem verpflichtendem „ja“ beantwortet. Allerdings ist die Frage nach dem „wie“ und „wer“ noch nicht beantwortet. Die Pflicht des Schreibens wird als „Last des Schreibens“ empfunden.
Das Verhältnis der Generationen erschwert die Aufarbeitung der Vergangenheit. Die exemplarisch dargestellten Aussagen und Meinungen verdeutlichen die Konflikte und Probleme der deutschen Literatur nach dem Zweiten Weltkrieg und eröffnen ein Verständnis für die Brisanz und Aktualität von Sebalds These.
Die These W.G. Sebalds
Der ausschlaggebende und vieldiskutierte Essay Luftkrieg und Literatur hat nach seiner Veröffentlichung eine weitreichende und kontroverse Debatte ausgelöst. Die eingeschränkte Fragestellung und Zielsetzung Sebalds wurde aufgebrochen. Die (auf einer anderen Ebene) angelegte Untersuchung einer „Naturgeschichte der Zerstörung“7 wurde von den Kritikern ebenso übersehen wie die Tatsache, daß eine eindeutige und umfassende Analyse nicht im Interesse Sebalds stand.8 So wurde zunächst nicht das Thema zum Gegenstand der Diskussion, sondern der Text. Die provozierende These Sebalds evozierte den Kontrollverlust einer erregten Debatte. Mit herausfordernd artikulierten Ansichten begründet Sebald seine These der „Lücke“ in der deutschen Literatur. Die „einzigartige Vernichtungsaktion“ [Sebald 2003:11] des area bombing während des Zweiten Weltkriegs „scheint kaum eine Schmerzensspur hinterlassen zu haben im kollektiven Bewußtsein“ [Sebald 2003:12] der deutschen Nation. Nach Sebalds Auffassung ist ein perfekt funktionierender „Mechanismus der Verdrängung“ [Sebald 2003:19] die Erklärung für das „nahezu gänzliche Fehlen von tieferen Verstörungen im Seelenleben der deutschen Nation“ [Sebald 2003:19]. Durch den „Schock des Erlebten“ [Sebald 2003:31] hat die „Erinnerungsfähigkeit teilweise ausgesetzt oder arbeitete nach einem willkürlichen Raster“ [Sebald 2003: 31].
„Trotz der angestrengten Bemühung um die sogenannte Bewältigung der Vergangenheit scheint es mir, als seien wir Deutsche heute ein auffallend geschichtsblindes und traditionsloses Volk. Ein passioniertes Interesse an unseren früheren Lebensformen und den Spezifika der eigenen Zivilisation [...] kennen wir nicht. Und wenn wir unseren Blick zurückwenden, insbesondere auf die Jahre 1930 bis 1950, so ist es immer ein Hinsehen und Wegschauen zugleich. Die Hervorbringungen der deutschen Autoren nach dem Krieg sind darum vielfach bestimmt von einem halben oder falschen Bewußtsein [...].“ [Sebald 2003:6]
Das „anscheinend unbeschadete Weiterfunktionieren der Normalsprache“ [Sebald 2003:32] erweckt bei Sebald den Zweifel an der Authentizität der verschriftlichten Erfahrungen. Einschlägige und wiederkehrende Formulierungen der Autoren sind Kennzeichen und Mittel einer „Geste zur Abwehr der Erinnerung“ [Sebald 2003:32]. Die durch „Überladung und Lähmung der Denk- und Gefühlskapazität“ [Sebald 2003:33] hervorgerufene umfassende Apathie manifestiere sich in den Berichten als phlegmatisches Zitieren bedeutungsloser Floskeln. Zudem erliegen viele Romane, die unmittelbar nach Kriegsende entstanden sind, der Versuchung, die „realen Schrecken der Zeit durch Abstraktionskunst und metaphysischen Schwindel zum Verschwinden zu bringen“ [Sebald 2003:56]. Nach Sebald trifft dies auf die Romane Nekyia von Hans Erich Nossack und Die Stadt hinter dem Strom von Hermann Kasack zu. Peter de Mendelssohns Romanfragment Die Kathedrale empfindet Sebald als „Seite um Seite sich fortsetzende[r] Peinlichkeiten“ [Sebald 2003:59] und Arno Schmidts Kurzroman Aus dem Leben eines Faun als Werk der „linguistischen Laubsägearbeit“ [Sebald 2003:64] eines „Hobbybastlers“ [Sebald 2003:64].9
Die Problematik der erwähnten Romane liegt für Sebald - unabhängig von seiner persönlichen Kritik - in der adäquaten Darstellung der Wirklichkeit. Die „Traumatisierung in den Seelen“ [Sebald 2003:95] und das unantastbare „Recht zu schweigen“ [Sebald 2003:95] sind Störfaktoren bei Sprachfindung und Literarisierungsprozeß. Das Recht zu Schweigen beinhalte das Desinteresse an den Autoren, die, jenseits der primären Forderung nach Qualität, das Bedürfnis haben, gehört zu werden. So entsteht in der Nachkriegszeit die traurige „Kategorie der verschollenen Werke“ [Sebald 2003:100].10 Für Sebald ist dies ein weiteres Argument für seine abschließende These.
„Jedenfalls ist die These, daß es uns bisher nicht gelungen ist, die Schrecken des Luftkriegs durch historische oder literarische Darstellungen ins öffentliche Bewußtsein zu heben, nicht leicht zu entkräften.“ [Sebald 2003:100]
[...]
1 Nach meinem Kenntnisstand gibt es zwei Ausnahmen: [Güntner 1998] und [Deckert 2004].
2 Aus diesem Grund verstehe ich diese Untersuchung als eine „einführende Untersuchung“. Zudem bietet der mögliche Rahmen bzw. Umfang dieser Untersuchung einer komplexen und umfassenden Bearbeitung dieses Themas keine ausreichende Grundlage.
3 Vgl. Kästner 1980:12.
4 Vgl. Borchert 1949:59 (Generation ohne Abschied).
5 Dieter Forte hat in seinem Roman Der Junge mit den blutigen Schuhen die Bombenangriffe auf seine Heimatstadt Düsseldorf beschrieben.
6 Gespräch zwischen Volker Hage und Dieter Forte im Februar 2000.
7 Vgl. Sebald 2003:40.
8 Sebald 2003:84: „Ich bin mir durchaus bewußt, daß meine unsystematischen Notizen der Komplexität des Gegenstands nicht gerecht werden, glaube aber, daß sie [...] Einblicke in die Art eröffnen, in welcher das individuelle, das kollektive und das kulturelle Gedächtnis mit Erfahrungen umgehen [...].
9 Sebald geht auf weitere Autoren und Bücher ein (bspw. Der Engel schwieg von Heinrich Böll) und erwähnt die Arbeiten von Friedrich Reck, Gert Ledig, Alexander Kluge und Jörg Friedrich. Diese werden hier jedoch nicht behandelt.
10 Bsp: Die unverzagte Stadt von Otto Erich Kiesel, Die Vergeltung von Gert Ledig und Der Engel schwieg von Heinrich Böll (Vgl. Sebald 2003:18 und Sebald 2003:100).
- Citation du texte
- Marcel Heuwinkel (Auteur), 2004, Gegen die Vergeblichkeit - Die Literatur der DDR und der Bombenkrieg des Zweiten Weltkriegs: Eine einführende Untersuchung am Beispiel von Inge Müller und Heinz Czechowski, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/65041
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