Eine Deutung der Texte Kafkas gestaltet sich stets schwierig, sind sie durch Metaphern doch so offen gehalten, dass ein jeder das Leerstellenpotential selbständig füllen muss und Kafkas Werk deshalb je nach Rezipient verschieden ausgelegt werden kann. Dementsprechend ergeben sich eine Vielzahl relevanter Interpretationsansätze und daraus resultierender Deutungen, die alle gerechtfertigt werden können. Jedoch darf nicht vergessen werden, dass keiner dieser Ansätze, ja keine einzige Deutung der Texte Kafkas einen Absolutheitsanspruch zu erfüllen im Stande ist. Dazu ist seine Prosa entschieden zu vielschichtig und komplex, als dass eine Interpretation das Werk in seiner Gesamtheit fassen könnte. Doch dies soll auch gar nicht Anspruch oder Ziel sein, vielmehr muss einer Eindimensionalität der Deutung vorgebeugt werden. Sicherlich ist einzuräumen, dass Kafkas Werk weit mehr thematisiert, als die Beziehung zu seinem Vater, da auch er im Kontext seiner Epoche lebte, zeitspezifischen literarischen Strömungen wie dem Expressionismus, aber auch sozialen und wirtschaftlichen Umbrüchen ausgesetzt war und dem jüdischen Glauben angehörte, der auf Kafkas Literatur ohne Zweifel eine wichtige Auswirkung hatte. Deshalb soll das Werk durch die Anwendung einer Kombination des werkimmanenten und biografischen Ansatzes nicht eindeutig determiniert werden, vielmehr scheint diese Vorgehensweise in Anbetracht der Themenstellung und des zu untersuchenden Sachverhaltes des Versuchs der Auseinandersetzung mit der väterlichen Herrschaft als sinnvoll, obwohl dadurch unvermeidlich andere wichtige im Text enthaltene Inhalte unberücksichtigt bleiben müssen. Jedoch sind Einschränkungen der Relevanz des biographischen Ansatzes zu betonen. Es darf hierbei nie von einer Gleichsetzung von Biografie und Werk ausgegangen werden. Nicht von einem identischen Abbildungsverhältnis ist also die Rede; eher besteht sein literarisches Opus aus Bruchstücken seiner eigenen Lebensproblematik, die durch neue Anordnung ein völlig neues Bild ergeben und für Kafka die Funktion eines Experimentierfeldes bieten. Wie sich dieses neue Bild darstellt, durch welche stilistischen Mittel es erzeugt wird und auf welche Weise dieses Experimentierfeld in der Auseinandersetzung mit der väterlichen Herrschaft genutzt wurde, soll im Folgenden untersucht werden.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung: Relevanz des biografischen Interpretationsansatzes bei Kafkas Literatur
2 „Die Verwandlung“
2.1 Entstehungsgeschichte
2.2 Figurenkonstellation
2.2.1 Gregor, der Käfer
2.2.2 Die Herrschaft des Herrn Samsa
2.2.3 Frau Samsa als Spiegel der Macht des Mannes
2.2.4 Die Gegenspielerin Grete
2.3 Stilistische Analyse
2.3.1 Darstellung der äußeren und inneren Realität der Figuren
durch Erzählverhalten und Perspektive
2.3.2 Verwandlungs- und Käfermotiv
2.3.3 Elemente des Komischen als Überwindungsstrategie der Herrschaft
3 „Brief an den Vater“
3.1 Entstehungsgeschichte
3.2 Bestandteile des Vater-Sohn-Konflikts
3.2.1 Kafkas Darstellung der Beziehung zum Vater
3.2.2 Kafkas Beschreibung der Rolle seiner Mutter
3.2.3 Heiratsversuche als Ablösung von der väterlichen Herrschaft
3.2.4 Bedeutung des Schreibens für den Lösungsprozess
3.3 Autobiografisches Dokument oder literarische Fiktion?
3.3.1 Stilistische Analyse zum Beweis der literarischen Fiktion
3.3.2 Mögliche Intention des Autors
4 Analogien zwischen der „Verwandlung“ und dem „Brief an den Vater“
4.1 Inhaltliche Parallelen
4.2 Gemeinsame Strategie der literarischen Auseinandersetzung
5 Schluss: Bewertung des Erfolgs der Versuche der Auseinandersetzung mit der väterlichen Herrschaft
6 Anmerkungen
7 Bibliografische Angaben
1 Einleitung Relevanz des biografischen Interpretationsansatzes bei Kafkas Literatur
Eine Deutung der Texte Kafkas gestaltet sich stets schwierig, sind sie durch Metaphern doch so offen gehalten, dass ein jeder das Leerstellenpotential selbständig füllen muss und Kafkas Werk deshalb je nach Rezipient verschieden ausgelegt werden kann. Dementsprechend ergeben sich eine Vielzahl relevanter Interpretationsansätze und daraus resultierender Deutungen, die alle gerechtfertigt werden können.[i] Jedoch darf nicht vergessen werden, dass keiner dieser Ansätze, ja keine einzige Deutung der Texte Kafkas einen Absolutheitsanspruch zu erfüllen im Stande ist. Dazu ist seine Prosa entschieden zu vielschichtig und komplex, als dass eine Interpretation das Werk in seiner Gesamtheit fassen könnte. Doch dies soll auch gar nicht Anspruch oder Ziel sein, vielmehr muss einer Eindimensionalität der Deutung vorgebeugt werden. Sicherlich ist einzuräumen, dass Kafkas Werk weit mehr thematisiert, als die Beziehung zu seinem Vater, da auch er im Kontext seiner Epoche lebte, zeitspezifischen literarischen Strömungen wie dem Expressionismus, aber auch sozialen und wirtschaftlichen Umbrüchen ausgesetzt war und dem jüdischen Glauben angehörte, der auf Kafkas Literatur ohne Zweifel eine wichtige Auswirkung hatte. Deshalb soll das Werk durch die Anwendung einer Kombination des werkimmanenten und biografischen Ansatzes nicht eindeutig determiniert werden, vielmehr scheint diese Vorgehensweise in Anbetracht der Themenstellung und des zu untersuchenden Sachverhaltes des Versuchs der Auseinandersetzung mit der väterlichen Herrschaft als sinnvoll, obwohl dadurch unvermeidlich andere wichtige im Text enthaltene Inhalte unberücksichtigt bleiben müssen. Jedoch sind Einschränkungen der Relevanz des biographischen Ansatzes zu betonen. Es darf hierbei nie von einer Gleichsetzung von Biografie und Werk ausgegangen werden. Nicht von einem identischen Abbildungsverhältnis ist also die Rede; eher besteht sein literarisches Opus aus Bruchstücken seiner eigenen Lebensproblematik, die durch neue Anordnung ein völlig neues Bild ergeben und für Kafka die Funktion eines Experimentierfeldes bieten.[ii] Wie sich dieses neue Bild darstellt, durch welche stilistischen Mittel es erzeugt wird und auf welche Weise dieses Experimentierfeld in der Auseinandersetzung mit der väterlichen Herrschaft genutzt wurde, soll im Folgenden untersucht werden. Daher ist auch, wie Emrich in seinem Werk „Geist und Widergeist“ zu der Problematik des biografischen Ansatzes bemerkt, „nicht das Werk [...] aus dem Vaterkomplex kausal abzuleiten und zu erklären, sondern umgekehrt, der Vaterkomplex durch das Werk zu interpretieren“[iii]. Es soll also durch die Analyse des Werkes versucht werden, dem realen Konflikt zwischen Vater und Sohn zu begegnen.
Meine Vorgehensweise möchte ich im Folgenden transparent machen. Ich werde mich auf die zuvor beschriebene Weise in der folgenden Interpretation der „Verwandlung“ und des „Brief an den Vater“ dem wahren Gehalt der Vater-Sohn-Problematik annähern und vor allem die Mittel der Strategie der Auseinandersetzung mit der väterlichen Herrschaft offen legen. Sodann werde ich untersuchen, durch welche stilistischen Techniken Kafka Elemente seiner Biografie im Werk verarbeitet und welche Funktion und Zweck diese Verarbeitung für Kafka bietet. Meine Arbeit wird dann in der Frage gipfeln, ob die Auseinandersetzung mit der väterlichen Herrschaft durch Kafkas Literatur als erfolgreich zu bewerten ist und welche Kriterien zu dieser Bewertung herangezogen werden können.
2 „Die Verwandlung“
2.1 Entstehungsgeschichte
Kafkas Werk „Die Verwandlung“ entstand zwischen dem 17. November und dem 7. Dezember 1912, also in einer relativ kurzen Schaffensperiode von nur 3 Wochen. Diese höchst abschreckend wirkende Erzählung war ihm, wie er selbst an seine damalige Verlobte Felice Bauer am ersten Tag der Entstehung schrieb, „im Jammer im Bett eingefallen“[iv], nachdem er lange vergeblich auf eine Nachricht seiner Felice über den Stand ihrer Beziehung gewartet hatte. Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang auch die Ausgangssituation der „Verwandlung“, die ebenfalls mit dem Erwachen des Protagonisten Gregor Samsa als Käfer in seinem Bett beginnt. Zugleich markiert eben dieses Entstehungsjahr der Verwandlung (1912) das Durchbruchsjahr Kafkas, in dem er sich endgültig für ein Dasein als Schriftsteller entschied und seiner so verhassten Angestelltenexistenz langsam den Rücken zukehrte.[v] Unter anderem mag sicherlich auch seine Erzählung zu dieser für ihn so wichtigen Entscheidung beigetragen haben, schreibt er ihr doch, wie all seinen Werken, die aus ihm, nicht ohne Qual, förmlich „herausdrangen“, eine „kathartische Funktion“[vi] zu. Gleichzeitig verbindet sich die so erreichte Reinigung seiner selbst mit einem Gefühl sexueller Erregung, die ihn in der Zeit der Produktion seiner Erzählung in rauschhafte Zustände versetzte. Die kurze Entstehungsphase der „Verwandlung“ lässt sich somit erklären und die Bedeutung des Schreibens für seine Existenz nachvollziehen, die Kafka selbst mit der Wichtigkeit der Schwangerschaft für eine Frau verglich.[vii] Daher war auch die „Geburt“ der „Verwandlung“ für Kafkas Entwicklung sowohl als Schriftsteller als auch als Mensch unerlässlich, was unter anderem durch diese Hausarbeit bewiesen werden soll.
2.2 Figurenkonstellation
2.2.1 Gregor, der Käfer
Der Charakter Gregors spiegelt die Thematik der „Verwandlung“, den Versuch der Ablösung von familiären Strukturen des patriarchalischen Elternhauses und das gleichzeitige ständige Zurückfallen in infantile Abhängigkeit zu den Eltern wider.[viii] In seiner Vorgeschichte ist Gregor nicht nur als Händler wirtschaftlich unabhängig, sondern kommt zusätzlich für den Unterhalt seiner Familie auf. Er erscheint also äußerlich zumindest ökonomisch als Oberhaupt der Familie. Auch das Photo aus seiner Militärzeit, auf dem sein Blick „Respekt für seine Haltung und Uniform“ (V S.111) verlangt, scheint seine Überlegenheit zu bestätigen. Jedoch beschreiben diese Fakten nur den oberflächlichen Eindruck einer Überlegenheit auf Grund seiner physischen Stärke und seiner Stellung im Beruf. Dieser Schein lässt sich aber nicht lange aufrechterhalten, wird doch durch Gregors Äußerungen seine „kriecherische“ Position im hierarchisch geprägten Arbeitsleben und seine mangelnde Integrität deutlich, zeichnet sich seine Gespaltenheit in inneres und äußeres Leben ab. Denn auch schon vor seiner Verwandlung ist er innerlich ein Gefangener der Erwartungen seiner Familie an ihn und besonders seines Vaters. So hält ihn bis jetzt nur das Pflichtgefühl seinen Eltern gegenüber davon ab, den belastenden Beruf zu kündigen. Er ist im Grunde Arbeitssklave seiner Familie. Aus schlechtem Gewissen heraus, die finanzielle „Schuld seiner Eltern“ (V S.99) an den ehemaligen Chef des Vaters ableisten zu müssen, hat er dessen berufliche Laufbahn eingeschlagen. Jedoch merkt er selbst, dass sich durch seine Aufopferung für die Familie „eine besondere Wärme [...] nicht mehr ergeben wollte“ (V S.124), dass er seiner Familie trotz seines Pflichtgefühls schon entfremdet ist. Er bleibt hingegen trotz der spürbaren Ablehnung der Familie in ihren Banden verhaftet, da sie und seine Verpflichtung an den Beruf ihm eine gewisse Sicherheit bieten, die es verhindert, dass er seinem Leben eigene Maßstäbe setzen muss.[ix] Es ist sozusagen eine Flucht in die Bequemlichkeit der kindlichen Abhängigkeit, in der keine Notwendigkeit für eine konsequente Entscheidung, eine entgültige Bloßstellung seiner Belange gefordert wird. Um niemals eine Loslösung von beruflichen Zwängen zu erlangen, macht er durch unbefriedigende Leistungen auf sich aufmerksam (vgl. V S. 106), flieht also vor dem beruflichen Erfolg, der ihm doch durch Aufstieg ein schnelleres Abzahlen der Schuld ermöglichen könnte und bewegt sich letztendlich in seiner Hin- und Hergerissenheit nicht vom Fleck.[x] Trotzdem sind innerlich die Wünsche nach Selbständigkeit und nach Loslösung von der Verantwortung vorhanden und bewirken einen ständigen Konflikt zwischen geistiger, geheimer und physischer, alltäglicher Realität.
Eben diese Diskrepanz zwischen Gregors realer Gestalt und seinem Denken wird durch die Verwandlung in das Ungeziefer explizit und kompromisslos überwunden. Er hat nun auch körperlich den verachtenswerten und abschreckend wirkenden Status erreicht, den die Familie schon zuvor in ihm sah, richtet diese Verachtung als Selbstmissachtung gegen sich selbst und unterwirft sich vollkommen. So reagiert er mit Verständnis auf die Information des Vaters, er habe aus Gregors Verdiensten ein „kleines Vermögen“ (V S.125) angespart, das Gregor vielleicht näher an seine Unabhängigkeit vom Vater hätte bringen können. Er räumt ein, es wäre „jetzt [...] zweifellos besser so, wie es der Vater eingerichtet hatte“ (V S.125), fügt sich also als Sohn der alleinigen Beurteilung des Vaters. Außerdem ist Gregors „Meinung darüber, dass er verschwinden müsse, [...] womöglich noch entschiedener, als die seiner Schwester“ (V S.155) und somit die Belastung und Plage seiner Existenz für die Familie für ihn nachvollziehbar. Zu Beginn, kurz nach der Verwandlung, versucht Gregor zwar noch, seine neue Existenz zu verdrängen (vgl. V S.96), als temporäres Unwohlsein zu deuten (vgl. V S.97), seine beruflichen Pflichten zu erfüllen (vgl. V S.98) und später seine menschlichen Verhaltensweisen im Kampf um seine Möbel zu erhalten (vgl. V S.132ff). Doch die Verteidigung seiner menschlichen Existenz schlägt fehl. Eine Übernahme der tierischen Eigenschaften ist unausweichlich und der Widerstand dagegen hat in seiner drastischen Konsequenz im Apfelbombardement die Vernichtung des Sohnes durch den Vater zur Folge.
2.2.2 Die Herrschaft des Herrn Samsa
Auch Gregors Vater durchläuft innerhalb der Geschichte eine Verwandlung, die aber, wie auch die Gregors, nur ein Nach-Außen-Kehren der inneren Beziehung der beiden bedeutet. Der „gesunde, aber alte Mann“ (V S.126) hatte auf Grund seines geschäftlichen Niedergangs und seines müßiggängerischen Lebens „viel Fett angesetzt“ (V. S.126). Ihm sind durch Gregors Rolle des Ernährers der Familie die natürlichen Grundlagen der „väterlichen Macht, die aus der doppelten Wurzel seiner ökonomischen Position und seiner juristisch sekundierten physischen Stärke hervorgeht“[xi], entzogen worden. Doch obwohl der Vater zuvor physisch unterlegen ist, sich bei „den seltenen gemeinsamen Spaziergängen [...] mit stets vorsichtig aufgesetztem Krückstock [...] vorwärts arbeitete“ (V S.137) weiß er doch, wie er es erreichen kann, dass er, „wenn er etwas sagen wollte, fast immer stillstand und seine Begleiter um sich versammelte“ (V S.137). Die patriarchalische Machtstellung des Herrn Samsa ist schon früher latent vorhanden gewesen; mehr noch hat seine physische Schwäche indirekt Gregors berufliche Stärke gefordert, der aus schlechtem Gewissen, übertriebener Rücksichtnahme und Sorge die väterliche Laufbahn eingeschlagen hat, um die finanzielle Schuld des Vaters an seinen Chef zurückzuzahlen. Da sich Herr Samsa seiner psychischen Stärke seit jeher sicher ist, kann er Gregors Pflichtbewusstsein gnadenlos ausnutzen. Er ist sich des „natürlichen Abhängigkeitsverhältnisses“[xii] durch die väterliche Zeugung und des „zusätzlichen Mangels an persönlicher Reife“ Gregors bewusst, steht aber zugleich in einem ökonomischen Abhängigkeitsverhältnis zu Gregor, wodurch die Herrschaft eine geradezu perverse Form annimmt. So klopft er denn auch an Gregors Tür am Tag der Verwandlung „schwach, aber mit der Faust“ (V S.99), wodurch nochmals die Ambivalenz der Beziehung betont wird. Nach der Verwandlung Gregors jedoch vollzieht sich ein Rollentausch, verkehren sich die Verhältnisse. Aus der vorherigen psychischen Machtposition und Stärke des Vaters erwächst eine physische und ökonomische.
Ebenso wird psychische Brutalität zu physischer, kehrt sich das Innere der Person nach Außen. Herr Samsa, der sich vor kurzem noch „recht schwerfällig“ (V S.126) gab, ist nun nach der Verwandlung „recht gut aufgerichtet“ (V S.137), blickt mit seinen „schwarzen Augen frisch und aufmerksam hervor“ (V S.137) und hat eine Stelle als Diener (V S.141) angenommen, obwohl er früher zur Morgenstunde „müde im Bett vergraben lag“ (V S.137). Im Weiteren vereitelt der damals so schwache Vater, jetzt erstarkt, gnadenlos jeden Ausbruchsversuch Gregors. Herr Samsa stampft mit den Füßen „wie ein Wilder“ (V S.115) und versetzt ihm einen „wahrhaft erlösenden starken Stoß“ (V S.116), um Gregor in sein Zimmer zu zwingen. Seine körperliche Brutalität gegen das Ungeziefer gipfelt im Bombardement desselben mit Äpfeln, wobei Gregor die tödliche Wunde zugefügt wird, die letztendlich zu seinem Dahinscheiden führt. Durch diese Tat macht Herr Samsa nun endgültig seine Verwandlung vom alten Greis zum uneingeschränkten Herrscher über die Familie durch die endgültige Verwandlung seines Sohnes vollkommen, nimmt ihm jede Chance, seine menschliche Existenz wiederzuerlangen und bleibt im Machtkampf um die Vorrangstellung in der Familie der ewig Überlegene.[xiii] Jedoch wird im Laufe der Erzählung klar, dass die Unterwürfigkeit Gregors, die unter anderem in seinem „kriecherischen“ und um Gunst buhlenden Verhältnis zum Prokuristen Ausdruck findet, vom Vater selbst ererbt wurde, der in seinem Verhalten zu den drei Zimmerherren die gleichen Charakteristika zeigt.[xiv] Beim Spiel der Violine Gretes räumt er unverzüglich ein, es könne „sofort eingestellt werden“ (V S.148), wenn es die Herren störe, und er begegnet ihnen „mit einer einzigen Verbeugung, die Kappe in der Hand“ (V S. 147). Auch dadurch ist Gregor, in verwandtschaftlichem Abhängigkeitsverhältnis gebunden, wieder nur der Sohn des Vaters. Trotz der Brutalität des Herrn Samsa sind die „Bockigkeit, die Grobschlächtigkeit und das rücksichtslose Auftreten [...] Durchschnittseigenschaften eines kleinbürgerlichen Vaters“[xv] zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Samsas Verhalten angesichts der ihm entgegentretenden Realität ist so nachvollziehbar. Diese Zurückhaltung Kafkas in der Darstellung des Herrschers entstammt vermutlich einer stilistischen Überlegung, um die Diskrepanz zwischen dem realistisch wirkenden Vater und dem Käfer noch größer erscheinen zu lassen.[xvi]
[...]
[i] Vgl. Pfeiffer, Joachim: Franz Kafka. Die Verwandlung/Brief an den Vater. Interpretiert von Joachim Pfeiffer. München: Oldenbourg 1998 (1. Auflage), S.11ff.
[ii] Vgl. Matz, Wolfgang: „Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer. Motive zu einer Lektüre von Kafkas ‚Verwandlung’.“ In: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Text und Kritik. Sonderband. Franz Kafka. München: Edition Text und Kritik 1994, S. 80.
[iii] Emrich, Wilhelm: Geist und Widergeist. Wahrheit und Lüge der Literatur. Studien. Frankfurt am Main: o.V. 1965. S.312. Zit. nach: Bödeker, Karl-Bernhard: Frau und Familie im erzählerischen Werk Kafkas. Frankfurt am Main und Bern: Lang 1974, S.160.
[iv] Pfeiffer 1998, S.28.
[v] Vgl. Ebd., S.26.
[vi] Ebd., S.29.
[vii] Vgl. Ebd., S.26.
[viii] Vgl. Ebd., S.78ff.
[ix] Vgl. Schlingmann, Carsten: „Die Verwandlung“. In: Interpretationen zu Franz Kafka. Hrsg. von Rupert Hirschenauer/Albrecht Weber. München: Oldenbourg 1976 (6. Auflage), S.97.
[x] Vgl. Politzer, Heinz: Franz Kafka. Der Künstler. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1978 (1. Auflage), S.113.
[xi] Horkheimer, Max (Hrsg.): Studien über Autorität und Familie. Forschungsberichte aus dem Institut für Sozialforschung. Paris: o. V. 1936. S.57. Zit. nach: Bödeker, Karl-Bernhard: Frau und Familie im erzählerischen Werk Kafkas. Frankfurt am Main und Bern: Lang 1974, S.115.
[xii] Bödeker, Karl-Bernhard: Frau und Familie im erzählerischen Werk Kafkas. Frankfurt am Main und Bern: Lang 1974, S.46.
[xiii] Vgl. Matz 1994, S.79.
[xiv] Vgl. Pfeiffer 1998, S.70.
[xv] Politzer 1978, S.17.
[xvi] Vgl. Ebd., S.117.
- Quote paper
- Anne-Christin Sievers (Author), 2000, Franz Kafka: "Brief an den Vater" und "Die Verwandlung" - Zwei Versuche der Auseinandersetzung mit der väterlichen Herrschaft, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/64963
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