Mit der vorliegenden Arbeit möchte ich in Anlehnung an den Aufsatz von Robert Matthias Erdbeer Der Einkaufsbummel als Horrortrip den höchst enigmatischen Text Irmelin Rose (1914) von Robert Müller durch die Verwendung eines diskurstheoretischen Interpretationsansatzes erhellen. Jedoch soll im Gegensatz zum Ansatz Erdbeers nicht der ‚Schaufenster-Diskurs’ des beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts für die Analyse herangezogen 1 , sondern der Versuch unternommen werden, die Verarbeitung der ökonomischen und geldtheoretischen Diskurse der Jahrhundertwende in der Erzählung aufzuzeigen. Dabei stehen die Fragen im Mittelpunkt, wie die Erzählung den ökonomischen Diskurs nutzt, um ihrer eigene Poetologie und die Krise der Sprache in der Moderne zu reflektieren, und wie dieser das Erzählverfahren des Textes, seine Semiotik, seine Metaphorik und seine Struktur verändert. Zunächst werde ich in einem methodologischen Abschnitt die theoretischen Voraussetzungen eines Vergleichs zwischen literarischem und ökonomischem Diskurs erläutern. Nach einem kurzen Exkurs über Robert Müllers Verhältnis zum ökonomischen Raum der Großstadt widmet sich die Arbeit der Analyse der Erzählung und dem darin hervortretenden geldtheoretischen Diskurs der Jahrhundertwende am Beispiel der Philosophie des Geldes (1900) von Georg Simmel. Einer Einführung in Simmels Hauptwerk folgend, werden die Bezüge zwischen der Erzählung und dem monetären und ökonomischen Diskurs in drei Schritten herausgearbeitet. In einem ersten Schritt interpretiert die Untersuchung Irmelins Einkaufsverhalten und Verhältnis zu den Dingen als Ausdruck der Logik des Monetären. Es wird die These aufgestellt, dass Irmelin selbst als Verkörperung des Prinzips des Geldes als unendliche Möglichkeit gelesen werden kann, das zu einer Rastlosigkeit des Begehrens führt. Jedoch erscheint Irmelin durch ihre fehlende Distanz zu den Dingen und damit durch ihre Unfähigkeit zu einer ökonomischen Wertung als Fremdkörper des geldwirtschaftlichen Systems. In einem zweiten Schritt wird auf die Bedeutung von Irmelins Tod und dessen Beziehung zum ökonomischen System eingegangen und die Frage erörtert, ob sich der Tod in der Erzählung als unverrechenbare Individualität dem ökonomischen System entzieht oder ob er in dieses eingebunden ist. [...]
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Methodologische Vorbemerkungen: Zum Verhältnis von Ökonomie und Literatur
3 Analyse der Erzählung Irmelin Rose
3.1 Die Logik des Monetären
3.2 Tausch und Tod
3.3 Poetologische Reflexion des ökonomischen Diskurses
4 Schluss
5 Literaturverzeichnis
1 Einleitung
Mit der vorliegenden Arbeit möchte ich in Anlehnung an den Aufsatz von Robert Matthias Erdbeer Der Einkaufsbummel als Horrortrip den höchst enigmatischen Text Irmelin Rose (1914) von Robert Müller durch die Verwendung eines diskurstheoretischen Interpretationsansatzes erhellen. Jedoch soll im Gegensatz zum Ansatz Erdbeers nicht der ‚Schaufenster-Diskurs’ des beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts für die Analyse herangezogen[1], sondern der Versuch unternommen werden, die Verarbeitung der ökonomischen und geldtheoretischen Diskurse der Jahrhundertwende in der Erzählung aufzuzeigen. Dabei stehen die Fragen im Mittelpunkt, wie die Erzählung den ökonomischen Diskurs nutzt, um ihrer eigene Poetologie und die Krise der Sprache in der Moderne zu reflektieren, und wie dieser das Erzählverfahren des Textes, seine Semiotik, seine Metaphorik und seine Struktur verändert.
Zunächst werde ich in einem methodologischen Abschnitt die theoretischen Voraussetzungen eines Vergleichs zwischen literarischem und ökonomischem Diskurs erläutern. Nach einem kurzen Exkurs über Robert Müllers Verhältnis zum ökonomischen Raum der Großstadt widmet sich die Arbeit der Analyse der Erzählung und dem darin hervortretenden geldtheoretischen Diskurs der Jahrhundertwende am Beispiel der Philosophie des Geldes (1900) von Georg Simmel. Einer Einführung in Simmels Hauptwerk folgend, werden die Bezüge zwischen der Erzählung und dem monetären und ökonomischen Diskurs in drei Schritten herausgearbeitet. In einem ersten Schritt interpretiert die Untersuchung Irmelins Einkaufsverhalten und Verhältnis zu den Dingen als Ausdruck der Logik des Monetären. Es wird die These aufgestellt, dass Irmelin selbst als Verkörperung des Prinzips des Geldes als unendliche Möglichkeit gelesen werden kann, das zu einer Rastlosigkeit des Begehrens führt. Jedoch erscheint Irmelin durch ihre fehlende Distanz zu den Dingen und damit durch ihre Unfähigkeit zu einer ökonomischen Wertung als Fremdkörper des geldwirtschaftlichen Systems. In einem zweiten Schritt wird auf die Bedeutung von Irmelins Tod und dessen Beziehung zum ökonomischen System eingegangen und die Frage erörtert, ob sich der Tod in der Erzählung als unverrechenbare Individualität dem ökonomischen System entzieht oder ob er in dieses eingebunden ist. In einem dritten Schritt soll erläutert werden, wie die Erzählung den ökonomischen Diskurs nutzt, um ihre eigene Poetologie zu reflektieren, und wie sie diesen zugleich durch die Reflexion über das Ökonomische umformt und mitgestaltet.
2 Methodologische Vorbemerkungen: Zum Verhältnis von Ökonomie und Literatur
Gerade Wirtschaft und Literatur gelten als nicht verbundene, getrennte und voneinander unabhängige Bereiche, zumindest wenn es nach dem Selbstverständnis beider Wissenschaften geht. Und wenn überhaupt ein Verhältnis zwischen beiden angenommen wird, so ist es meist das der Opposition. Die „Geisteswissenschaftler, die ja nicht umsonst so heißen wollen, [halten es] lieber mit dem Geist als mit dem unfeinen, geistlosen, ja schnöden Mammon“[2], um die Unabhängigkeit der Literatur von wirtschaftlichen Zwängen zu behaupten. Und Wirtschaftswissenschaftler grenzen ihren eigenen, als pragmatisch und objektiv verstandenen Arbeitsbereich gern vom literarischen als schöngeistig, beliebig und unwissenschaftlich ab. Im Folgenden soll erläutert werden, warum ein Dialog zwischen den Disziplinen für beide Seiten dennoch fruchtbar ist und wie, auf welcher theoretischen Grundlage Literatur und Ökonomie überhaupt verglichen und in Beziehung zueinander gesetzt werden können.
Als Ausgangspunkt dient die auf das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit ausgerichtete Fragestellung von Moritz Baßler: „[A]ls was, auf welcher Basis, auf welchem methodischen Tableau [können] solche ‚lebensweltlichen’ Bezüge [wie die des wirtschaftlichen Austausches und der Geldwirtschaft] denn Objekte wissenschaftlicher Analyse und vergleichender Betrachtung werden“[3] und mit einem literarisch-fiktionalen Text in Beziehung gesetzt werden? Baßler beruft sich zur Lösung dieser Frage auf einen semiotischen Kulturbegriff, der lebensweltliche, kulturelle (und damit auch ökonomische) Ereignisse und Handlungen als Texte aus Signifikanten begreift, die im System der Kultur Bedeutung tragen und hervorbringen. Also lautet die Antwort, dass in der vorliegenden Arbeit ökonomische und literarische Phänomene auf einer textuellen Ebene des Vergleiches in Anlehnung an das Verständnis des New Historicism zusammen betrachtet werden können. Der Ansatz des New Historicism untersucht „die Herkunft der sprachlichen, inhaltlichen und rhetorischen Elemente von Kunstwerken“[4] und verfolgt „die ‚Fäden’, die aus den unterschiedlichsten kulturellen Bereichen in einen Text hinein[] und auch wieder aus ihm hinaus[führen]“[5]. Der partikulare literarische Text wird dabei in den Bezug zu jeweils partikularen geschichtlichen, philosophischen, ökonomischen und populären Texten gestellt, um verallgemeinernde, vereinfachende Metanarrationen über eine Epoche, die problematische und abweichende Strömungen ausblenden, zu vermeiden. So erscheint das einst als autonom angenommene literarische Kunstwerk als Teil eines umfassenderen Textes der Kultur, als eingebunden in den Zusammenhang eines Feldes synchroner Texte, die an dem Diskurs einer Zeitspanne partizipieren. Der Vorteil der literaturwissenschaftlichen Methode des Historical Criticism liegt durch seinen semiotischen Kulturbegriff vor allem in der Möglichkeit, auch den Diskurs populärer und wissenschaftlicher Texte z. B. der ökonomischen Theorie, die zuvor nicht im Zusammenhang mit Literatur gesehen wurden, in der Poesie aufzuspüren. Durch diese Neu-Kontextualisierung kann die Interpretation nicht nur zu völlig neuen Lesarten gelangen, sondern auch die Partizipation der Literatur an gesellschaftlichen Diskursen und deren Formung und Beeinflussung durch die poetische Reflexion offen gelegt werden.[6]
Um jedoch nicht nur das wirtschaftliche Handeln, sondern auch die Wirtschaftstheorie als Teil des kulturellen Kontextes begreifen zu können, muss die Ökonomie im Sinne des New Economic Criticism als diskursiv geformte Kulturwissenschaft verstanden werden, die durch Narrative, Rhetorik und Metaphorik Bedeutung erzeugt. Der New Economic Criticism untersucht als poststrukturalistische Bewegung in den Wirtschaftswissenschaften „the use of metaphors in economic analysis“[7] und identifiziert „dominant metaphors shaping economic arguments“[8]. Ziel ist die Dekonstruktion der ökonomischen Theorie, die Offenlegung ihrer Annahmen und die Erlangung von Akzeptanz der diskursiven Konstruktion der Wissenschaft im Gegensatz zu ihrem Selbstverständnis als objektive Naturwissenschaft: „To claim that metaphors are fundamental to economic claims is trite for those relatively few economists who think of knowledge as discursive.”[9] Jedoch ist das Selbstverständnis der Wirtschaftswissenschaft durch Objektivität, Positivismus sowie mathematische und statistische Überprüfbarkeit geprägt und es herrscht noch immer die Überzeugung vor, „that economists are convinced by facts (always established by careful observation […]) and logic (reliable, unemotional, and often intricate)“[10]. Im Bezug auf ökonomische Metaphorik stimmen wohl die meisten Wirtschaftswissenschaftler mit Hobbes überein, “that to use words metaphorically is to encourage deception, because we are thereby using words in senses different from what they really mean“[11] und folgen der Annahme, dass sprachliche Bilder nur Ablenkungen von der soliden, wissenschaftlichen Grundlage durch Logik und Fakten darstellen. Wie der Aufsatz von Browne und Quinn zeigt, bedient sich die Ökonomie zur Erläuterung ihrer Theorie jedoch ausgiebig literarischer Metaphern wie zum Beispiel der Robinsonade und transportiert damit bestimmte, literarisch erzeugte und ökonomisch umgewertete Bedeutungen, deren Aufschlüsselung implizite Annahmen und Argumentationsstrukturen der Ökonomie transparent machen könnte. Ein Dialog mit der Literaturwissenschaft bringt somit auch der Volkswirtschaftslehre neue Erkenntnisse über ihre eigene Wissenschaft, vorausgesetzt, dass sie Interesse an diesen kritischen Einsichten hat und diese nicht als Gefährdung ihrer wissenschaftlichen Legitimation begreift.
Wie schon in der Einleitung angedeutet, wird in der vorliegenden Arbeit als partikularer ‚ökonomischer’ Text nicht ein populärer, sondern mit der Philosophie des Geldes von Simmel ein wissenschaftlicher Text herangezogen, der die ökonomischen Gegenstände des Geldes, des Wertes und des Tausches aus einem philosophischen Erkenntnisinteresse heraus betrachtet. Obwohl es sich bei Simmels Hauptwerk um keinen dezidiert ökonomischen Text handelt, wähle ich gezielt diese Arbeit, weil ich annehme, dass das darin entfaltete wertrelativistische Verständnis des Geldes den monetären Diskurs des beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts maßgeblich geprägt hat[12] und sich dieser im literarischen Verfahren der Erzählung widerspiegelt.
3 Analyse der Erzählung Irmelin Rose
Im Rahmen einer diskursgeschichtlichen Analyse ist es zwar nicht zwingend notwendig, die biographischen Verflechtungen des Autors Robert Müller mit dem diskursiven Feld der Ökonomie aufzuzeigen, um dem Ansatz zusätzliche Plausibilität zu verleihen. Trotzdem sollen einige interessante Aspekte über Müllers Verhältnis zum ökonomischen Raum der Großstadt an dieser Stelle hervorgehoben werden. Der biographische Bezug ist vor allem deshalb spannend, weil Robert Müller als Schriftsteller und Unternehmer Literatur und Ökonomie als interdependente Bereiche anerkennt und diese Einsicht in sein literarisches und ökonomisches Handeln einbezieht. Müller verstand sich selbst als „ ‚Kulturunternehmer’, dessen Aufgabe in der Mobilisierung des Kollektivs für die Belange der avantgardistischen Kunstform“[13] bestand, die er durch mediale und werbetechnische Expertise vorantrieb. Neben der eigenen literarischen und essayistischen Produktion gab er vor allem verschiedene publizistische Organe heraus, die er als Plattform seiner künstlerischen Ideen nutzte. 1919 gründete Müller durch die „Aneignung ökonomischen Wissens und ihre Transformation in die Praxis“[14] mit seinem kaufmännisch versierten Bruder Erwin die ‚Literarische Vertriebs- und Propaganda-Gesellschaft mbH’ Literaria und 1924 den ‚Atlantischen Verlag’. Die Gründung dieser Konzerne steht jedoch durch sein revolutionäres Unternehmenskonzept nicht im Widerspruch zu „Müllers vorwiegend kritische[m] Verhältnis zum ökonomischen Raum der großen Stadt“[15]. Ihm war wie Simmel bewusst, dass die Moderne durch geldwirtschaftliche Mechanismen gesteuert wird, die intellektuelle und kulturelle Leistungen in den Hintergrund drängen. Er reagierte jedoch auf diese Erkenntnis nicht mit einer generellen Ablehnung des Marktes, sondern forderte den modernen Intellektuellen dazu auf, von der Marktwirtschaft zu profitieren. Nach Müller, so schreibt Köster, führen „[a]llein die Assimilation des Schriftstellers an eine ihn umgebende marktwirtschaftliche Wirklichkeit und die konsequente Nutzung des ökonomischen Getriebes […] zum Schutz des literarischen Produzenten vor den ausbeuterischen Mechanismen des Großstadtmarktes“[16]. Der Literat müsse also an wirtschaftlichen Prozessen teilnehmen, um diese aktiv zugunsten der Literatur umzugestalten. Ziel der Verlagsgründungen war es, die Regeln des urbanen Kapitalmarktes, die auf das künstlerische Schaffen einwirken, durch die eigene Unternehmenstätigkeit zu beeinflussen, um eine kleine, vom Kapital unabhängige Enklave für die freie literarische Arbeit zu schaffen.
3.1 Die Logik des Monetären
Zu Beginn der Analyse des geldwirtschaftlichen Diskurses in Irmelin Rose sollen in einer kurzen Zusammenfassung der Philosophie des Geldes von Georg Simmel deren Kernthesen, Aufbau und Methodik erörtert werden, um anschließend zur Analyse der Erzählung übergehen zu können. Die Untersuchung des geldwirtschaftlichen Diskurses in der Erzählung anhand der Philosophie des Geldes zeigt, dass Irmelin selbst als Verkörperung des Prinzips des Geldes als unendliche Möglichkeit und potenziertes Mittel gelesen werden kann. Die Logik des Geldes führt bei Irmelin zur Rastlosigkeit des Begehrens durch das Fehlen eines Endpunkts des Genusses und beschleunigt das Tempo des Konsums in Analogie zur allgemeinen Erhöhung des Lebenstempos. Die Erzählung zeigt darüber hinaus die Unmöglichkeit von Individualität angesichts der unentrinnbaren Eingebundenheit in das System des Tausches auf und läßt die Illusion von Individualität als erst durch den Tausch und im Gegensatz zum Prinzip des Ökonomischen erzeugtes Moment erscheinen. Irmelin ist durch die fehlende Distanz zu den Dingen, die ihr emotionales Einkaufserlebnis prägt, und durch die Vorstellung eines individuellen Wertes der Dinge nicht zu einer ökonomischen Wertung im Sinne Simmels fähig, die jedes Ding exakt durch Geld substituierbar macht. Daher erscheint sie als auszusondernder Fremdkörper des geldwirtschaftlichen Systems.
Simmel stellt in seiner philosophischen Betrachtung und Analyse des ökonomischen Gegenstandes des Geldes die zentrale These auf, dass das Geld als bewegende Kraft der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung fungiere. Dabei sei es nicht nur als „Einzelheit“ in diese Prozesse eingebunden, sondern offenbare sich „als Symbol der wesentlichen Bewegungsformen derselben“[17]. So versucht Simmel, die Prinzipien der gesellschaftlichen und historischen Entwicklung aus der Logik des Geldes als der Kerneinheit der Moderne heraus zu begründen.[18] Dem Geld kommt laut Simmel eine Doppelrolle zu. Auf der einen Seite diene es gemäß der Grenznutzentheorie, die von einem reinen Nennwert des Geldes ohne materiellen Eigenwert ausgeht, als reines Zeichen des relativen Tauschwertes. Auf der anderen Seite jedoch sei „das Geld im wirtschaftlichen Prozeß ein eigenständiger Wert, von dem erhebliche Wirkungen auf das reale Wirtschaftswachstum ausgehen“[19]. Simmels Theorie stellt somit die ökonomische Annahme einer Neutralität des Geldes und die klassische Dichotomie in Frage, der zufolge rein monetäre Phänomene keinen Einfluss auf das reale Wirtschaftsgeschehen ausüben. Die moderne Gesellschaft habe „in dem Gelde ebenso den real wirksamen Träger wie das abspiegelnde Symbol seiner Formen und Bewegungen gefunden“ (PdG, 716). Der Grund für die Entstehung von Wert liegt Simmel zufolge nicht, wie es die Arbeitswertlehre von Smith und Marx behauptet, im Substanziellen und Seienden des Objekts, sondern ergibt sich erst aus der Beziehung des Objekts zum Subjekt, das diesem eine Wertung verleiht: „[S]o scheint als Grund der Wertung nur das Subjekt […].“ (PdG, 28). Der Nutzen und die Bedürfnisbefriedigung als Ziel des Subjekts und die Nützlichkeit als Eigenschaft des Objekts, das Begehren des Subjekts und die Distanz zum Objekt schaffen zwischen beiden eine relationale Beziehung, die erst eine Bewertung des Objekts hervorbringt. „Das so zustande gekommene Objekt, charakterisiert durch den Abstand vom Subjekt, den dessen Begehren ebenso feststellt wie zu überwinden sucht – heißt uns ein Wert. Der Augenblick des Genusses selbst, in dem Subjekt und Objekt ihre Gegensätze verlöschen, konsumiert gleichsam den Wert; er entsteht erst wieder in der Trennung vom Subjekt, als Gegenüber, als Objekt.“ (PdG, 34) Weder dem Subjekt noch dem Objekt wird von Simmel substanzielle Eigenständigkeit zugestanden. Vielmehr definierten sie sich durcheinander und entstünden erst durch die Wechselwirkung von Begehren und Distanz, also als Wertung. „Es gibt […] kein Selbstbewusstsein des Subjekts unabhängig vom Begehren des Objekts.“[20] Jeder Wert sei daher nicht auf eine grundlegende Kategorie reduzierbar, sondern besitze nur eine relative Gültigkeit, die sich aus dem Verhältnis und den Wechselwirkungen der Dinge herleite. Die philosophische Grundposition seines Werkes ist somit der Wertrelativismus. Die moderne Gesellschaft befinde sich durch die relativierende Funktion des Geldes als Träger und Symbol des Veränderungsprozesses in einem „Übergang[] von der Festigkeit und Absolutheit der Weltinhalte zu ihrer Auflösung in Bewegung und Relation“ (PdG, 95). Die Relativität des Wertes und des Geldes wird somit zum Ausdruck einer relativen Deutung der Welt. Das Geld ist Zeichen und Verwirklichung dieser Relativität: „Je mehr das Leben der Gesellschaft ein geldwirtschaftliches wird, desto wirksamer und deutlicher prägt sich in dem bewussten Leben der relativistische Charakter des Seins aus, da das Geld nichts anderes ist, als die in einem Sondergebilde verkörperte Relativität der wirtschaftlichen Gegenstände, die ihren Wert bedeutet.“ (PdG, 716)
Bei der Analyse der Erzählung folge ich Simmel in der Annahme, dass das Geld als absolutes Mittel die Kerneinheit der Moderne darstellt. Deshalb liegt der ökonomische Gelddiskurs dem Großstadtdiskurs, dem des Verkehrs, der Waren, der Werbung und der Masse zugrunde. Dieser bildet die Basis oder zumindest immer ein Element der anderen Diskurse und spiegelt sich in diesen wider.
[...]
[1] Vgl. Erdbeer, Robert Matthias: Der Einkaufsbummel als Horrortrip. Ein diskursgeschichtlicher Versuch zur Attraktionskultur in Robert Müllers Erzählung Irmelin Rose (1914). In: Hofmannsthal-Jahrbuch zur europäische Moderne 8 (2000), S. 311 – 355.
[2] Hörisch, Jochen: Kopf oder Zahl. Die Poesie des Geldes. Frankfurt a. M. 1996, S. 22.
[3] Baßler, Moritz: New Historicism, Cultural Materialism und Cultural Studies. In: Konzepte der Kulturwissenschaften. Theoretische Grundlagen – Ansätze – Perspektiven. Hrsg. von Ansgar Nünning und Vera Nünning. Stuttgart 2003, S. 148.
[4] Baßler 2003, S. 134.
[5] Ebd., S. 134.
[6] Vgl. ebd., S. 136.
[7] Browne, M. Neil/ Quinn, J. Kevin: Dominant Economic Metaphors and the Postmodern Subversion of the Subject. In: Woodmansee, Martha/ Osteen, Marc (Hg.): The New Economic Criticism. Studies at the Intersection of Literature and Economics. London 1999, S. 131.
[8] Browne/ Quinn 1999, S. 134.
[9] Ebd., S. 133.
[10] Ebd., S. 133.
[11] Ebd., S. 133.
[12] Leider kann im Rahmen dieser Arbeit nicht detailliert auf die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen der Philosophie des Geldes und der nationalökonomischen Theorie dieser Epoche eingegangen werden. Dazu sei verwiesen auf: Backhaus, Jürgen G./ Stadermann, Hans-Joachim (Hg.): Georg Simmels Philosophie des Geldes. Einhundert Jahre danach. Marburg 2000.
[13] Köster, Thomas: Bilderschrift Großstadt. Studien zum Werk Robert Müllers. Paderborn 1995, S. 28.
[14] Köster 1995, S. 32.
[15] Ebd., S. 35.
[16] Ebd., S. 35.
[17] Simmel, Georg: Philosophie des Geldes (1900). Gesamtausgabe Bd. 6. Hrsg. von David P. Frisby und Klaus Christian Köhnke. Frankfurt a. M. 1989, S. 12. Im Nachfolgenden wird aus dem Buch im fortlaufenden Text unter Nennung von (PdG, Seitenzahl) zitiert.
[18] Vgl. Von Flotow, Paschen: Geld, Wirtschaft und Gesellschaft. Georg Simmels Philosophie des Geldes. Frankfurt a. M. 1995, S. 9.
[19] Flotow 1995, S. 8.
[20] Ebd., S. 35.
- Arbeit zitieren
- Anne-Christin Sievers (Autor:in), 2006, Irmelin und die Logik des Monetären - Zur Verhandlung des ökonomischen und geldtheoretischen Diskurses in der Erzählung Irmelin Rose (1914) von Robert Müller , München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/64882
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