Das Auffinden einer adäquaten Untersuchungsmethode bei der Analyse von verfilmter Literatur gestaltet sich äußerst schwierig. Zwar wurde das Hierarchieproblem zwischen „hochwertiger“ Literatur und „trivialem“ Film mittlerweile abgelegt, es ergibt sich jedoch heute eine unüberschaubare Vielzahl von Filmanalysemethoden.
In der Forschungsliteratur wird eine Unmenge von Analyseinstrumentarien angeboten. Es ist die Rede von marxistischer, soziologischer, strukturalistischer, filmhistorischer, filmographischer, morphologischer, genetischer, psychologischer, statistischer Filmanalyse, ideologiekritischer Inhaltsanalyse und tiefenhermeneutischer Medienanalyse. Dies ließe sich noch eine Weile fortführen.
Als Problem zeigt sich bei den meisten Analyseformen, dass die Forscher nur auf Einzelaspekte eingehen oder sich im eigenen Methodengestrüpp verzetteln, weil sie die Methode vor den Zweck stellen und das Eigentliche, nämlich den Film, außer acht lassen.
Zweckmäßiger, als auf einer einzelnen Methode zu beharren, erscheint ein Verbund von mehreren, auf den speziellen Film zugeschnittenen Methoden, als eine Möglichkeit etwas über einen Film auszusagen, was sich weder in Einzelaspekten verläuft, noch die Hybris eines immer richtigen und passenden Zugangs begeht. Hierbei sollte eher deskriptiv-analytisch als normativ vorgegangen werden.
Die Methode sollte nicht primär der eigenen Gültigkeit wegen erfolgen. Aus diesen Gründen wird eine Untersuchungsmethode mit Textanalysecharakter verwebdet, welche zwischen Form und Inhalt trennt und versucht auf die jeweils spezifischen Elemente der Übersetzung ins andere Medium einzugehen.
Inhaltsverzeichnis
I. Einleitung: Kino versus Literatur?
II. Allgemeine Probleme der Literaturverfilmung
1. Unterschiedlichkeit der Medien Literatur und Film
1.1 Unterschiedliche äußere Strukturen
1.2 Unterschiedliche erzählerische Mittel
2. Verschiedene Möglichkeiten der Literaturverfilmung
III. Homo faber– HOMO FABER
1. Entstehungsgeschichte / Hintergründe
1.1 Homo faber, der Roman
1.2 HOMO FABER / VOYAGER, der Film
2. Formale Aspekte
2.1 Erzählstruktur des Romans
2.1.1 Rückblenden, Vorausdeutungen
2.1.2 Tagebuchform des Romans
2.2 Erzählstruktur des Films
2.2.1 Rückblenden im Film
2.2.2 Erhalt der Berichtform
2.3 Erzählperspektive des Romans
2.4 Erzählperspektive des Films
2.5 Erzählstil Frischs
2.5.1 Alltagssprache
2.5.2 Mechanismen der Gefühlsabwehr
2.5.3 Sprachbilder
2.6 Erzählstil Schlöndorffs
2.6.1 Techniker-Sprache im Film
2.6.2 Ausdruck der Abwehrhaltung
2.6.3 Sprach-Bilder
3. Inhaltliche Aspekte
3.1 Motivkreise im Roman
3.1.1 „Technik – Natur“
3.1.2 „Mann – Frau“
3.1.3 „Zufall – Schicksal“
3.2 Umsetzung der Motive im Film
3.2.1 „Technik – Natur“
3.2.2 „Mann – Frau“
3.2.3 „Zufall – Schicksal“
3.3 Figuren im Roman
3.3.1 Faber, die Romanfigur
3.3.2 Die Filmfigur Faber
3.3.3 Hanna im Roman
3.3.5 Sabeth im Roman
3.3.6 Sabeth im Film
3.4 Mythologischer Hintergrund im Roman
3.4.1 Ödipus
3.4.2 Demeter-Kore-Motiv
3.4.3 Archetyp „Mutter“
3.5 Übertragung in den Film
3.5.1 Ödipus
3.5.2 Demeter-Kore
3.5.3 Archetyp Mutter
3.6 Intention des Romans
3.7 Intentionsverlagerung durch inhaltliche Veränderungen
3.7.1 Auslassungen
3.7.2 Inhaltliche Varianzen
3.7.3 Intentionsverlagerung bei der Verfilmung
IV. Effi Briest / Fontane Effi Briest
1 Entstehung / Hintergründe
1.1 Effi Briest, der Roman
1.2 FONTANE EFFI BRIEST, der Film
2. Formale Aspekte
2.1 Erzählstruktur bei Fontane
2.2 Erzählstruktur des Films
2.3 Erzählperspektive bei Fontane
2.4 Erzählperspektive bei Fassbinder
2.5 Erzählstil Fontanes
2.6 Erzählstil Fassbinders
3. Inhaltliche Aspekte
3.1 Motive im Roman
3.1.1 Die Ehe
3.1.2 Die Ehre
3.1.3 Gesellschaft versus Individuum
3.2 Symbolhafte Motive
3.2.1 Das Unheimliche
3.2.2 Das Schaukel-Motiv
3.2.3 Wasser / Sumpf
3.3 Motivumsetzung im Film
3.3.1 Umgang mit dem Motiv Ehe
3.3.2 Umsetzung des Ehrbegriffs
3.3.3 Gesellschaft versus Individuum bei Fassbinder
3.4 Umsetzung der symbolhaften Motive
3.4.1 Das Unheimliche
3.4.2 Das Schaukelmotiv
3.4.3 Wasser / Sumpf
3.4.4 Statuen
3.5 Figuren bei Fontane
3.5.1 Effi Briest
3.5.2 Innstetten
3.5.3 Crampas
3.5.4 Effis Eltern
3.5.5 Johanna und Roswitha
3.6 Figuren im Film
3.6.1 Schauspielführung
3.6.2 Effi Briest
3.6.3 Innstetten
3.6.4 Crampas
3.6.5 Die Eltern
3.6.6 Johanna und Roswitha
3.7 Intention des Romans
3.8 Treue zum Original und eigener Anspruch: Fassbinders Intention
V. Intentionsvermittlung bei Schlöndorff und Fassbinder
VI. Schlussbetrachtungen
Quellenverzeichnis
Primärliteratur
Filme
Sekundärliteratur
Zu Max Frisch und „Homo faber“
Zu Schlöndorff und „HOMO FABER“
Zeitungsartikel zu Schlöndorffs Verfilmung
Zu Fassbinder und “Fontane Effi Briest”
Zeitungsartikel zu Fassbinders Verfilmung
Maria)
Anhang A: Sequenzprotokoll zu HOMO FABER von Volker Schlöndorff
Anhang B:
Anhang C: Bildbeispiele
Bildbeispiele aus HOMO FABER
I. Einleitung: Kino versus Literatur?
Als Louis Lumière 1896 einen Film nach Motiven aus Goethes Faust produzierte, war der Film als solcher gerade ein Jahr alt. Gegen die Widerstände der traditionellen Künste, wie der Literatur oder der Malerei, die der neuen Kunstform der Kinematographie ihre Kunstfähigkeit absprachen, entwickelte sich der Film rasant weiter. Als sich die Auflösungsängste der alten Künste allmählich gelegt hatten, entwickelte sich eine fruchtbare Beziehung zwischen dem Kino und der übrigen Kunst. Im ersten Jahrzehnt des vergangenen Jahrhunderts entstand sodann eine tiefe Verbindung zwischen Literatur und Film. Das Genre der Literaturverfilmung etablierte sich und somit bewegte sich die Kinematographie auf die Literatur zu. Andersherum fingen berühmte Theaterschauspieler an, in Filmen aufzutreten und der Herausgeber Kurt Pinthus sammelte mit seinem „Kinobuch“ Beiträge namhafter Autoren, wie Else Lasker-Schüler oder Max Brod, für das Kino.
Das Kino konnte sich etablieren und hat die übrigen Kunstformen in der Breite seiner Wahrnehmung, vor allem durch seinen Nachfolger das Fernsehen, weit überflügelt. Heute finden sich kaum noch generelle Vorbehalte gegen die Literaturverfilmung. Dass der Film weniger hochwertige Kunst als die Literatur sei und sich dem Maßstab der „Werktreue“ stellen müsse, ist eine Aussage die zunehmend der Vergangenheit angehört. Die Adaption von Literatur im Film wird heute als eigenständige medienspezifische Ausformung der Literatur gesehen.
Einen großen Beitrag zu dieser Entwicklung leistete das Neue Deutsche Kino. Eine Reihe von jungen Autoren, Regisseuren und Produzenten schloss sich Anfang der sechziger Jahre zusammen, um eine Kampfansage gegen die herrschende Filmpraxis zu machen und den „ neuen deutschen Spielfilm “ zu schaffen. Hierbei sollten die „ Freiheit von der Beeinflussung durch kommerzielle Partner “, von „ branchenüblichen Konventionen “, von der „ Bevormundung durch Interessensgruppen “[1] im Mittelpunkt stehen. Daraus resultierte auch eine neue Sichtweise der Literaturverfilmung. Die Privilegierung einer möglichst „werkgetreuen“ Verfilmung, die meist in einer relativ naiven Nacherzählung des Inhalts der literarischen Vorlage bestand, wich einem individuellen Ansatz, bei dem der Regisseur als aktualisierender Interpretant auftrat.
Zu diesen Regisseuren gehören sowohl Rainer Werner Fassbinder als auch Volker Schlöndorff. Schlöndorff, dessen erster Kinofilm Der junge Törless ihm den Bundesfilmpreis und auch den Preis der Internationalen Filmkritik in Cannes einbrachte, drehte eine Reihe von Literaturverfilmungen. So adaptierte er Kleists Michael Kohlhaas, Bölls Die verlorene Ehre der Katharina Blum und auch Grass Die Blechtromme l, für die er, als erster deutscher Regisseur seit 1927, einen Oscar erhielt. Auch Fassbinder zeichnete sich durch mehrere Literaturverfilmungen aus. Seine Adaption von Fontanes Effi Briest setzte 1974 neue Maßstäbe bei der Verfilmung von Literatur. Mit der Verfilmung von Max Frischs Homo faber gelang es Schlöndorff 1991 die schicksalhafte Geschichte über Zufall und Fügung einem sehr breiten Publikum darzubieten.
In beiden Filmen ist das zentrale Moment der Handlung die Beziehung zwischen einem älteren Mann und einem Mädchen und deren tragisches Ende. Ansonsten lassen sich kaum zwei so verschiedenartige Literaturverfilmungen finden, was sowohl die Herangehensweise, als auch die Ausführung betrifft. Sie sollen als Exempel dienen bei einer Untersuchung, die feststellen will, wie Literatur in ein anderes Medium übersetzt werden kann. Die, schon im Vorfeld deutlich hervortretende Divergenz der Verfilmungen soll dabei einen möglichst umfassenden Einblick in das Feld der Literaturverfilmung geben.
Bei der Analyse von Literaturverfilmungen stößt die Literaturwissenschaft zeitweise an ihre Grenzen:
„Stets behauptet das Bild sein Eigenrecht, und da es nicht sprachlich organisiert ist, vermag die Sprache es niemals vollständig verfügbar zu machen.“[2]
Das Auffinden einer adäquaten Untersuchungsmethode bei der Analyse von verfilmter Literatur gestaltet sich äußerst schwierig. Zwar wurde das Hierarchieproblem zwischen „hochwertiger“ Literatur und „trivialem“ Film mittlerweile abgelegt, es ergibt sich jedoch heute eine unüberschaubare Vielzahl von Filmanalysemethoden. In der Forschungsliteratur wird eine Unmenge von Analyseinstrumentarien angeboten. Es ist die Rede von marxistischer, soziologischer, strukturalistischer, filmhistorischer, filmographischer, morphologischer, genetischer, psychologischer, statistischer Filmanalyse, ideologiekritischer Inhaltsanalyse und tiefenhermeneutischer Medienanalyse[3]. Dies ließe sich noch eine Weile fortführen.[4] Als Problem zeigt sich bei den meisten Analyseformen, dass die Forscher nur auf Einzelaspekte eingehen oder sich im eigenen Methodengestrüpp verzetteln, weil sie die Methode vor den Zweck stellen und das Eigentliche, nämlich den Film, außer acht lassen. Literaturwissenschaftler etwa vergessen oft, dass sie sich in diesem Fall nicht mit Literatur, sondern mit dem Medium Film befassen. Verschafft man sich einen Überblick über die aktuelle Forschungssituation im Feld der Literaturverfilmung, so ergibt sich schnell, dass ein allgemein einheitlicher und überzeugender Zugang wohl utopisch bleiben muss. Zweckmäßiger, als auf einer einzelnen Methode zu beharren, erscheint ein Verbund von mehreren, auf den speziellen Film zugeschnittenen Methoden, als eine Möglichkeit etwas über einen Film auszusagen, was sich weder in Einzelaspekten verläuft, noch die Hybris eines immer richtigen und passenden Zugangs begeht. Hierbei sollte eher deskriptiv-analytisch als normativ vorgegangen werden. Die Methode sollte nicht primär der eigenen Gültigkeit wegen erfolgen. Hauptzweck der Untersuchung muss die Vertiefung des Wissens um das betreffende Werk sein.
Aus diesen Gründen entscheide ich mich für eine Untersuchungsmethode mit Textanalysecharakter, welche zwischen Form und Inhalt trennt und versucht auf die jeweils spezifischen Elemente der Übersetzung ins andere Medium einzugehen. Ich werde mich zunächst den allgemeinen Problemen der Literaturverfilmung zuwenden um eine Ausgangsposition zu schaffen.
Die Untersuchung der beiden Verfilmungen verläuft nach einem gleichbleibenden Muster: Zunächst werde ich mich mit der Entstehung der Werke, also des jeweiligen Buches, wie auch des Filmes befassen. Anschließend werde ich auf die formalen Merkmale der Vorlage und deren Umsetzung in das andere Medium übergehen. Hierzu gehören die Erzählstruktur, die Erzählperspektive und der Erzählstil. Die inhaltliche Analyse, bei der ich die Aspekte Motive, Figurenkonstruktion und Intention des jeweiligen Werkes, sowie deren Umsetzung im Film untersuchen werde, ergibt den dritten Teil der Arbeit. Schließlich sollen die Ergebnisse der vorangegangenen Untersuchung gegenübergestellt, die jeweilige Wirkungsabsicht der Regisseure hinterfragt und die Erfüllung der beiden intentionellen Ansprüche der beiden Filme geprüft werden. Der Anhang soll anhand eines Sequenzprotokolls den Zugang zu den Filmen erleichtern und die den Filmen entnommenen Fotos sollen beispielhafte Szenen auch visuell erläutern.
II. Allgemeine Probleme der Literaturverfilmung
1. Unterschiedlichkeit der Medien Literatur und Film
„Wer sich mit Literaturverfilmungen beschäftigt, muss sich dem Vorwurf der ‚Grenzüberschreitung’ gefallen lassen: der Filmwissenschaftler, weil er es auch mit Buchliteratur zu tun hat; der Literaturwissenschaftler, weil er weiß, dass‚ verfilmte Literatur’ in erster Linie Film ist.“[5]
Eine ernsthafte und objektive Analyse der filmischen Literaturadaption setzt die Erkenntnis voraus, dass es sich bei Vorlage und Verfilmung um zwei verschiedene Informationsträger handelt. Ist dies nicht der Fall, läuft man Gefahr, Untersuchungsinstrumentarien zu verwenden, die dem Gegenstand nicht angemessen sind.
„Es wäre dies eine Abbildung mit inadäquaten Mitteln, so als ob man eine
Beethoven-Symphonie als Luftdruckkurve abbildete.“[6]
Ein grundlegender Unterschied zwischen Literatur und Film ist etwa, dass die Literatur nicht fähig ist, tatsächlich mimetisch[7] zu erzählen. Das heißt: erst durch den Umweg über die Sprache kommt die Handlung (Diegese) zum Leser. Natürlich sind der Ton und das Bild beim Film ebenso Codes der Vermittlung wie es die Sprache, beziehungsweise die Schrift ist, jedoch ist der Zugang des Zuschauers zur Geschichte eines Films viel direkter, da er nahezu ohne „Umsetzungsarbeit“ auskommt. Es handelt sich um einen ähnlich direkt emotionalen Zugang wie denjenigen, den die Musik dem Zuhörer bietet.
Kanzog sieht den Film als Text und untermauert damit seine These, auch auf den Film die Textanalyse anwenden zu können.
„Die Grundbestimmung des Wortes ‚Text’ (Weben, Gewebe, Zusammenfügen, Zusammenhang) legt es darüber hinaus nahe, dem Film
insgesamt einen eigenen Textstatus zuzuerkennen.“[8]
Er betrachtet den Film als Träger von Zeichen. Die folgende Grafik soll die verschiedenen Zeichenebenen des Films verdeutlichen:
Zeichenstatus des Films (nach Kanzog):
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Ein Film als zeitlich organisierte Kombination von visuellen und auditiven Zeichen ist zu definieren als eigenständiges Werk mit einem speziellen ästhetischen Status.[9]
Die Forschung geht bei der Eigenständigkeit eines Films teilweise sogar soweit zu behaupten, dass sich ein Vergleich von Vorlage und Film aufgrund der Autonomie des Films ausschließt.[10]
Die Literaturverfilmung gilt heute als „eigenständige medienspezifische Ausformung der literarischen Fiktion“.[11]
Vergleicht man eine filmische Umsetzung mit ihrer literarischen Vorlage, ist die Anerkennung der Verschiedenartigkeit der Ausdrucksmittel, der unterschiedlichen Diskurse und Kodierungen von größter Relevanz, um nicht am zentralen Problem der Transformation vorbeizuschrammen.
1.1 Unterschiedliche äußere Strukturen
Zwischen Film und Literatur bestehen diverse formale Unterschiede. So ist ein Kinofilm, bedingt durch seine Erzählzeit von etwa eineinhalb Stunden, in der Regel nicht in der Lage, auch nur einen sehr kurzen Roman von knapp zweihundert Seiten ohne Reduzierung des Inhalts, des Gehalts und der Form zu übertragen:
„(...) der kommerzielle Film kann die zeitliche Spanne eines Romans nicht reproduzieren. Ein Drehbuch hat durchschnittlich 125 – 150 Typoskript – Seiten, ein landläufiger Roman das Vierfache. Handlungsdetails gehen fast regelmäßig bei der Übertragung vom Buch zum Film verloren.”[12]
Ein weiterer formaler Unterschied zwischen Film und Literatur ist die Art der Wahrnehmung: Übermittlungsträger der Information sind beim Film Bild und Ton. Die Literatur vermittelt ihren Inhalt allein durch die Sprache. Von besonderer Relevanz im Hinblick auf die unterschiedlichen Wahrnehmungsformen von Film und Literatur ist die festgelegte Wahrnehmungsgeschwindigkeit beim Film. Auch auf die Fixierung des Ortes, der Zeit und den chronologischen Ablauf der Wahrnehmung hat der Zuschauer keinen Einfluss – bei einem Buch hat der Leser die freie Entscheidung, wann er wo wie schnell liest, oder ob er einen Teil des Buches zweimal liest.
Sehr klar gehen Literatur und Film auch beim Aspekt der Produktionsbedingungen auseinander. Beim Film steht eine ganze Heerschar von Personen, die künstlerisch auf den Film einwirken (Drehbuchautor, Regisseur, Kameramann, Cutter...), dem einzelnen Autor des Buches, vielleicht noch einem Lektor, gegenüber. Der Film ist also immer, weit mehr als das Buch, ein Gemeinschaftsprodukt. Zudem ist ein Film nicht ohne großen finanziellen Aufwand zu verwirklichen. Die Finanzierung erfolgt gewöhnlich durch einen oder mehrere Produzenten, die das wirtschaftliche Risiko der Produktion tragen. Folglich nehmen diese Geldgeber Einfluss auf den Film, um ihre Interessen zu sichern. Zur Sicherstellung der Einspielergebnisse kann es etwa beim Drehbuch zu Änderungen kommen, die zwar nicht der Vorlage, jedoch der Zielgruppe entsprechen.
1.2 Unterschiedliche erzählerische Mittel
Neben den Übermittlungsträgern Bild und Ton versus Grafik (s. II.2.1) lassen sich an mehreren Aspekten die unterschiedlichen erzählerischen Mittel von Film und Literatur aufzeigen. Erscheinen auf einer Ebene noch Momente, in denen Film und Literatur sehr verwandte Techniken des Erzählens benutzen können, wie etwa die Brechung des chronologischen Erzählens oder die Verwendung von Stilmitteln, zum Beispiel Metaphern, so gibt es für den Film Phänomene, die aus der Literatur nicht übertragbar sind, wie etwa die „Mittelbarkeit“. Der Film zeigt dem Zuschauer immer ein bestimmtes Bild der handelnden Figuren. In der Literatur ist es möglich, den Protagonisten während der gesamten Handlung nicht ein einziges Mal äußerlich zu beschreiben und trotzdem ein genaues Bild von ihm zu liefern. Der Film wiederum zeigt Möglichkeiten auf, welche die Literatur nicht besitzt. So können im Film etwa Bild und Ton in ihrer Information gegeneinander laufen und so eine neue Perspektive eröffnen. Durch den Einsatz von emotionalisierender Musik kann ein Bild völlig verschiedene Aussagen erhalten.
2. Verschiedene Möglichkeiten der Literaturverfilmung
Bei der Filmkritik im allgemeinen und auch lange Zeit in der Forschungsliteratur fand sich der Begriff der „Werktreue“ als Kriterium der Beurteilung von Literaturverfilmungen. Heute lässt sich feststellen, dass die Zahl möglicher „Konkretisationen“ nicht fixierbar ist und ein „interpretativer Werkbezug“[13] als Kriterium bei der Analyse von Literaturadaptionen weit mehr angemessen ist als der Begriff der „Werktreue“.
Heuristisch lassen sich vier verschiedene Arten der Transformation von Literatur zum Film abgrenzen:
1. Der Versuch der Analogisierung: Bei dieser Art von Adaption kann es dazu kommen, dass Literatur nur bebildert wird: Der Film hält sich an den Handlungsstrang, die Figurenkonstellation und übernimmt seine Dialoge wörtlich aus der Vorlage, lässt aber die Verschiedenheit der beiden Medien außer Acht.[14]
Da eine Eins-zu-Eins-Übersetzung nicht möglich ist, weil es sich um verschiedene Medien handelt, muss der Filmemacher versuchen, die Substanz der literarischen Vorlage mit den Mitteln des Films darzustellen. Hierbei steht die Transformation der Form-Inhaltsbeziehung der Vorlage im Vordergrund. Ihr Sinn und ihre spezifische Wirkungsweise wird erfasst; ein neues, aber analoges Werk entsteht. Nicht nur das erzählte Geschehen, auch das Erzählgeschehen, nicht nur das Was, auch das Wie der Darstellung werden transformiert. Die sinngerechte Umsetzung im Hinblick auf ihre semiotische, ästhetische und soziologische Adäquatheit setzt die Erfassung des „Werkganzen“ voraus.
[...]
[1] Vgl. Das Oberhausener Manifest. In: Gast 1993, S. 46.
[2] Kanzog 1997, S.39.
[3] Vgl. Silbermann, S. 75.
[4] Vgl. Söller 2001, S. 91ff., universitäre Filmphilologie ( Kanzog, Buchloh), historische Vermittlung (Hickethier, Paech), medienpädagogische/didaktische Ansätze (Gast, Wolff, Heinrichs), semitotisch-strukturalistische Ansätze (Barthes, Metz, Eco), Nutzung der Lothmannschen Theorie (Renner). Vgl. auch Albersmeier, S. 22ff.
[5] Albersmeier 1989, S. 15.
[6] Albert Einstein in: Wagenschein, S. 135.
[7] Hier im Sinne von direkt nachahmend.
[8] Kanzog 1997, S. 18.
[9] Vgl. Kanzog 1997, S. 19.
[10] Vgl. Söller 2001, S. 71.
[11] Albersmeier 1989, S. 15.
[12] Monaco 2000, S. 45.
[13] Gast 1993, S. 29.
[14] „ In aller Regel hat der Film mit der Romanvorlage außer stofflichen Ähnlichkeiten und dem bloßen Anschein von Identität, wie er durch eine ähnliche Handlung oder dieselben Personennamen nahegelegt wird, – ziemlich wenig zu tun.“ Faulstich 1988, S. 46.
- Citar trabajo
- Helmut Wagenpfeil (Autor), 2003, Modelle der Literaturverfilmung im neuen deutschen Film: Fassbinders "Fontane Effi Briest" und Schlöndorffs "Homo Faber", Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/64780
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