Religion und Biografie stehen in einem bestimmten Zusammenhang, sie beeinflussen sich wechselseitig. Das heißt, aus Biografien lassen sich einerseits diverse Erkenntnisse über Religiöses gewinnen, andererseits geben Religiösitäten unter Umständen auch Aufschluss über den Biografen und damit über die Gesellschaft.
Diese Arbeit befasst sich mit der kommunikativen Thematisierung religiöser Elemente in biografischen Selbstbeschreibungen von Mitgliedern klinischer Ethikkomitees. Klinische Ethikkomitees sind in der Bundesrepublik noch ein Novum, werden aber seit 1997 an immer mehr Krankenhäusern zur Behandlung der im Klinikalltag ethisch problematischen Fallkonstellationen eingerichtet. Die vorliegende Studie stellt sich die Frage, welche Funktionen die religiöse Kommunikation in modernen Biografien übernimmt.
INHALTSVERZEICHNIS
Vorwort
1. EINLEITUNG
1.1. Einführung in die Thematik der Diplomarbeit
1.2. Beschreibung der Vorgehensweise
2. DIE METHODE: WAS IST UND LEISTET BIOGRAFIEFORSCHUNG? UND WAS NICHT?
2.1. Das narrative Interview
2.2. Die Analyse biografischer Interviews
2.3. Zur (nicht-) Homologie von Leben und Text
2.3.1. Schützes Homologieannahme
2.3.2. Die Homologieannahme in der Kritik
2.3.3. Biografie als soziales Konstrukt
2.4. Problem und Problemlösung: Biografie als Umgang mit Kontingenzen
2.5. Die Betonung religiöser und moralischer Aspekte
2.6. Was leistet Biografieforschung im allgemeinen und bei der Untersuchung Klinischer Ethik Komitees?
3. DAS KLINISCHE ETHIK KOMITEE – EIN KNAPPER ÜBERBLICK
3.1. Der Terminus Ethik
3.1.1. Grundtypen ethischer Konzepte
3.1.2. Ethik in der Systemtheorie
3.1.3. Die Klinische Medizinethik
3.2. Die Institution Klinisches Ethik Komitee
3.2.1. Begriffsabgrenzung: Ethik Kommission vs. Klinisches Ethik Komitee
3.2.2. Der Aufgabenbereich eines Klinischen Ethik Komitees im Detail
3.2.3. Die Zusammensetzung und Funktionsweise Klinischer Ethik Komitees
3.2.4. Zur moralischen Qualität Klinischer Ethik Komitees
3.3. Die Personen: von professionellen Ethikern und Ethik-Laien
3.3.1. Die Anforderungen an professionelle Ethik-Berater
3.3.2. Das Aufgabenfeld der Ethik Komiteemitglieder
3.3.3. Die Ethik Komiteemitglieder im Kontext von Religion und Moral
3.3.4. Der Bezug zur Biografie
4. DIE RELIGION IN ZWEIERLEI KONTEXT
4.1. Religion und Moral – Entkoppelt oder verknüpft?
4.1.1. Der Ansatz der Systemtheorie
4.1.2. Konsens und Kontra: aktuelle Empirie und Diskussion
4.2. Der Zusammenhang von Religion und Biografie
4.2.1. Die Funktion der Biografie für die Religion
4.2.2. Die Funktion der Religion für die Biografie
4.2.2.1. Die lebensgeschichtlich ordnende Funktion der Religion
4.2.2.2. Die reflexive Funktion der Religion
4.2.2.3. Religion zur Steigerung der Handlungsautonomie
4.2.2.4. Entlastung und Deutung durch Religiöses
4.2.2.5. Religion zur Hilfe bei lebenspraktischen Fragen
4.2.2.6. Zusammenfassung der Ergebnisse der Literaten
5. DIE MITGLIEDER KLINISCHER ETHIK KOMITEES: DIE THEMATISIERUNG VON KOMPETENZ ZUR REDUKTION VON KONTINGENZ
5.1. Das Datenmaterial
5.2. Die Akteure des Klinischen Ethik Komitees
5.3. Selbstbeschreibung als Problem: Die Unsicherheiten der Biografen in der asymmetrischen Kommunikation zwischen Interviewer und Befragtem und
deren Bewältigung
5.3.1 Die direkte und indirekte Kommunikation von Unsicherheiten
5.3.1.1. Die direkte Nachfrage
5.3.1.2. Die fiktive oder rhetorische Frage
5.3.1.3. Die ‘Bestätigungsfloskeln’
5.3.1.4. Die Verweigerungen
5.3.2. Die Konstruktion von Erwartbarkeiten zur Reduktion von Kontingenz
5.3.3. Das Herausstellen der eigenen Besonderheit
5.3.3.1. Die Thematisierung sozialer Kompetenzen
5.3.3.2. Die Thematisierung einer Selbsterfahrung
5.3.3.3. Die Thematisierung von Religion
6. DER REKURS AUF RELIGION UND MORAL
6.1. Die differenten Formen religiöser Kommunikation und deren Funktion n den Biografien der Mitglieder des Klinischen Ethik Komitees
6.1.1. Die Thematisierung gemeinsamer Glaubensüberzeugungen: Religion zur Steigerung der Handlungsautonomie
6.1.2 Die Thematisierung religiöser Riten: Lebensgeschichtliche Ordnung durch religiöse Kausalhandlungen
6.1.3 Die Thematisierung transzendenter Elemente: Religion zur Entlastung von Verantwortung
6.1.4. Die Thematisierung religiöser Quellen und Lehrsätze: Legitimation durch Wissen
6.1.5 Die Thematisierung religiöser Werte: Religion zur Hilfe bei lebenspraktischen Fragen
6.1.6. Auf einen Blick: Formen und Funktionen religiöser Kommunikation im Interviewmaterial
6.2. Drei Formen biografischer Selbstbeschreibung
6.2.1. ‘Religion für alle’: Die Atmosphäre des Glaubens und der Menschlichkeit als Weg zur Heilung
6.2.1.1. Die Bedeutung der Kategorie ‘Religion für alle’ für die Biografiekonstruktion
6.2.1.2. Rückschluss auf der Ebene ‘Klinisches Ethik Komitee’ und ‘Krankenhaus’: Helfen und Heilen durch eine Atmosphäre der Menschlichkeit
6.2.2 ‘Religion den Anderen’: Verarbeitung durch Reflexion
6.2.2.1. Die Bedeutung der Kategorie ‘Religion den Anderen’ für die Biografiekonstruktion
6.2.2.2. Rückschluss auf der Ebene ‘Klinisches Ethik Komitee’ und ‘Krankenhaus’: Helfen und Heilen durch Reflexion
6.2.3 ‘Die individuelle Religion’: Die Besonderheit des Einzelfalls
6.2.3.1. Die Bedeutung der Kategorie ‘Die individuelle Religion’ für die Biografiekonstruktion
6.2.3.2. Rückschluss auf der Ebene ‘Klinisches Ethik Komitee’ und ‘Krankenhaus’: Helfen und Heilen durch die Betonung des Einzelfalls
6.3. Zusammenfassung der Analyseergebnisse
7. DAS KLINISCHE ETHIK KOMITEE ALS ZIVILRELIGIÖSE INSTANZ DER GESELLSCHAFT
7.1. Die Forderung nach der ‘Übersetzung’ von Religiösem
7.2. Was ist eigentlich Zivilreligion?
7.3. Die Gründe für die Entwicklung des Klinischen Ethik Komitees zur
zivilreligiösen Instanz
8. RESUMÉE: BIOGRAFIE UND GESELLSCHAFT IN ZIVILRELIGIÖSEM KONTEXT
9. BIBLIOGRAFIE
Vorwort
Bei der vorliegenden Studie handelt es sich um eine freie wissenschaftliche Arbeit zur Erlangung des Grades eines Diplomsoziologen aus dem Jahr 2004, erstellt an der Ludwig-Maximilians-Universität München.
Sie befasst sich mit der kommunikativen Thematisierung religiöser Elemente in biografischen Selbstbeschreibungen von Mitgliedern klinischer Ethikkomitees. Klinische Ethikkomitees sind in der Bundesrepublik noch ein Novum, werden aber seit 1997 an immer mehr Krankenhäusern zur Behandlung der im Klinikalltag ethisch problematischen Fallkonstellationen eingerichtet. Die vorliegende Studie stellt sich die Frage, welche Funktionen die religiöse Kommunikation in modernen Biografien übernimmt. Zur Beantwortung dieser Fragestellung wurden die Protokolle biografischer Interviews, die aus der ethnografischen Beforschung klinischer Ethikkomitees hervorgegangen sind, qualitativ ausgewertet. Die Forschungsarbeit befasst sich dabei exemplarisch mit den biografischen Interviews aller Mitglieder eines Ethikkomitees eines Krankenhauses in der Bundesrepublik Deutschland.
Das empirische Material hierzu entstand im Rahmen des DFG-Forschungsprojekts „Ethik und Organisation“ unter der Leitung von Prof. Dr. Armin Nassehi (Soziologie, Ludwig-Maximilians-Universität München), Prof. Dr. Reiner Anselm (Theologie, Georg-August-Universität Göttingen) und Prof. Dr. Michael Schibilsky (†, ev. Theologie, Ludwig Maximilians-Universität).
Mein besonderer Dank gilt dem Lehrstuhl Nassehi des Instituts für Soziologie der Ludwig-Maximilians-Universität München für die Möglichkeit, auf das erhobene empirische Material zurückgreifen zu können. Der unkomplizierte Zugriff hat die Erstellung dieser Arbeit erst ermöglicht.
Zudem möchte ich mich sehr herzlich bei meiner Betreuerin Elke Wagner für ihre unermüdliche Unterstützung bedanken. Die zahlreichen Gespräche mit ihr, ihre hilfreichen Ratschläge und Literaturtipps trugen maßgeblich zum Ergebnis dieser Arbeit bei.
1. EINLEITUNG
Als eine der wichtigsten gesellschaftlichen Entwicklungen der letzten Jahrhunderte bezeichnet Knoblauch die Säkularisierung (vgl. Knoblauch 1999: 20). Generell gilt es, drei verschiedene, jedoch sinnverbundene Bedeutungen von Säkularisierung voneinander zu differenzieren: Zum einen beschreibt Säkularisation die Auflösung des Kirchengutes, zum zweiten „bezieht sie sich auf die ‘innere Säkularisierung’, die zunehmende Ablösung einer weltlichen Lebensführung von religiösen Ordnungssystemen und Vorlagen“ (Knoblauch 1999: 20) und zu guter Letzt wird damit „eine Umorientierung der Handelnden von religiösen auf andere Deutungssysteme [... ]“ (Knoblauch 1999: 21) bezeichnet. Knoblauch beschreibt, dass sich die Biografie von religiösen und moralischen Grundlagen loslöst, das „heißt, dass die Biografie des einzelnen aus den vorgegebenen gesellschaftlichen und religiösen Fixierungen herausgelöst wird: was traditionell festgelegt war, wird nun zu einer individuellen Entscheidung. [... ] Weil nämlich das Individuum an den verschiedensten Bereichen der ausdifferenzierten Gesellschaften teilnimmt und über das Ausmaß seiner Teilnahme [... ] frei entscheidet, wird es selbst [... ] zur letzten determinierenden Instanz der Biografie. Gerade die starke Betonung individueller religiöser Erfahrungen kann als Indiz für die Individualisierung verstanden werden. In ihrer stärksten Variante besagt die Individualisierungsthese, [... ] dass die Lebensläufe flexibel werden und dass sich der Zusammenhang zwischen religiösen Bindungen und individuellen Handlungsorientierungen aufgelöst hat“ (Knoblauch 1999: 201). Säkularisierung lässt sich auf individueller Ebene also auch als Individualisierung religiöser Orientierungen verstehen. Dabei spielt, so Wohlrab-Sahr, sowohl die individuelle Sinnsuche, als auch das Offenhalten von Perspektiven eine Rolle, „der Bewältigung von Unsicherheiten der Biografie steht heute ein Fundus spiritueller und religiöser Ausdrucksformen aus aller Welt zur Verfügung [... ]“ (Wohlrab-Sahr 1995: 21). Luhmann gibt dazu an, dass den Individualisierungsschwierigkeiten mehrere Möglichkeiten zur Bewältigung entgegenstehen. Eine dieser Optionen stelle die Religion dar: „Es dürfte für diese Funktion der Sinnfindung und Selbstverwirklichung wichtig sein, dass eine breite Palette von Möglichkeiten im Angebot ist. Man ist bei der Entscheidung für einen bestimmten Glauben als Entscheider sichtbar: als jemand der seine Identität gesucht und gefunden hat“ (Luhmann 1996: 313). An dieser Stelle kristallisiert sich bereits heraus , „dass der Ansatzpunkt für Religiöses zumindest in der Gegenwartsgesellschaft am [... ] Menschen, an der konkreten Person, am Individuum“ (Nassehi/Saake 2004a: 64) zu suchen ist. Folgt man der Argumentation von Wohlrab-Sahr, Knoblauch und Luhmann und bezieht auch Nassehis und Saakes Logik mit ein, so bieten sich biografische Selbstbeschreibungen als Gegenstand religionssoziologischer Untersuchungen ja geradezu an, um Erkenntnisse über die Bedeutung, die religiöse Kommunikation auch in der Moderne haben kann, zu erlangen.
1.1. Einführung in die Thematik der Diplomarbeit
Religion und Biografie stehen in einem bestimmten Zusammenhang, sie beeinflussen sich wechselseitig. Das heißt, aus Biografien lassen sich einerseits diverse Erkenntnisse über Religiöses gewinnen, andererseits geben Religiösitäten unter Umständen auch Aufschluss über den Biografen und damit über die Gesellschaft. Auf diesen Wechselwirkungsmechanismus weist auch Nassehi hin, er bezeichnet Religion und Biografie als zwei abstrakte Begriffe, „deren Korrelate auf ihrer Gegenstandsseite auf den ersten Blick eindeutige Referenten haben. Unter Religion verstehen wir üblicherweise einen Sinn- und Wirklichkeitsbereich, der die Welt im Hinblick auf einen verborgenen, sich aber bisweilen offenbarenden Gesamtsinn bestimmbar macht. Der Begriff Biografie steht zum einen für die Temporalisierung von Lebenslagen und zum anderen für eine Beobachtungs- und Beschreibungsleistung, die das ‘Material’ erlebten Lebens zu mehr oder weniger elaborierten innerpsychischen Identifikationsmustern bzw. alltagsweltlichen oder verschrifteten Texten kondensieren lässt. Dass Religion und religiöse Praxis auf Typen und Muster biografischer Prozesse und Texte einwirken ist genauso plausibel wie der umgekehrte Vorgang: Biografische Muster und Typen lebenslaufrelevanter Präskripte bestimmen die religiöse Praxis von Individuen von den denkbar möglichen Extremen einer nahezu vollständig religiös bestimmten Biografie bis zu Lebensverläufen und biografischen Texten ohne religiösen Bezug. Solche Wechselwirkungsprozesse bieten sich als Gegenstand empirischer soziologischer [... ] Forschung an und legen eine Fülle von Daten über die religiöse Bedeutung sowie die religiöse Dimension individueller Biografien [... ] frei“ (Nassehi 1995: 103f). Diese Datenfülle mache ich mir in meiner Auswertung zunutze, um die spezifischen Funktionen, die die Religion in den Biografien der Mitglieder des Klinischen Ethik Komitees erfüllt, herauszuarbeiten. Innerhalb dieser Fragestellung möchte ich folgendes klären: Wie inszenieren sich die Biografen in ihrer Selbstbeschreibung als kompetentes Mitglied eines Klinischen Ethik Komitees? Wie wird also in den Selbstbeschreibungen der Mitglieder eines Klinischen Ethik Komitees Kontingenz reduziert? Und übernimmt Religion dabei einen Problemlösemechanismus? Wenn ja, welche Form der Religion tut dies? Und was bedeuten meine Ergebnisse in gesellschaftstheoretischem Kontext? Daraus ergeben sich Fragen nach der Struktur der jeweiligen thematisierten Religiösität der Biografie und nach dem Verhältnis von Religion, Moral und Ethik sowie dessen Funktion für die biografischen Selbstthematisierungen. Dies alles noch einmal kurz und knapp ausgedrückt: Es soll in dieser Arbeit die Sinnstruktur der Biografien aufgezeigt werden, aus der sich die Funktion der jeweils thematisierten Form der Religiösität für die individuelle Biografie erschließen lässt. So kann man schließlich auch die allgemeine Funktion von Religion für Biografiekonstruktionen erkennen und verstehen und dieses Ergebnis vor dem Hintergrund ‘Klinisches Ethik Komitee’ und ‘Krankenhaus’ sowie in gesellschaftstheoretischer Hinsicht deuten.
1.2. Beschreibung der Vorgehensweise
Inhaltlich wurde der Rahmen ausreichend abgesteckt, es folgt nun ein Überblick über den Aufbau meiner Diplomarbeit. Zunächst werde ich mich der Thematik durch den Rückgriff auf verschiedenste Literaten nähern, um das dort Erarbeitete schließlich empirisch zu überprüfen bzw. in die empirische Analyse mit einzubeziehen. Das empirische Material stellen dabei narrative biografische Interviews, die im Rahmen eines laufenden Projekts der Deutschen Forschungsgesellschaft zu Ethik und Organisation erstellt wurden, dar.[1]
Im ersten Teil der Arbeit stelle ich die Methode, mit der ich meine Erkenntnisse zu gewinnen versuche, vor. Es wird dargestellt, welche spezifischen Leistungen die Biografieforschung zu erbringen vermag, jedoch auch wo deren Grenzen liegen. Es zeigt sich, dass sich die auszuwertenden biografischen Texte als Problemlösungsweisen für den Umgang mit Kontingenzen begreifen lassen, in dessen Kontext die Betonung religiöser und moralischer Aspekte eine Schlüsselfigur zur Beantwortung der zentralen Fragen meiner Arbeit darstellt. Das darauffolgende Kapitel der Diplomarbeit befasst sich mit Klinischen Ethik Komitees im allgemeinen. Um überhaupt einen Einblick in das weite Spektrum des Terminus ‘Ethik’ zu bekommen, werden zuerst diverse Grundtypen ethischer Konzepte vorgestellt, wobei die systemtheoretische Sichtweise aufgrund des systemtheoretischen Kontextes, in dem diese Arbeit steht, detaillierter dargestellt wird als andere Ethiken. Schließlich wird dem Leser noch knapp das Aufgabenfeld der Medizinethik präsentiert – es wird hierbei nicht ins Detail gegangen, da im folgenden die Aufgaben Klinischer Ethik Komitees detailliert dargestellt werden und in diesem Bereich zahlreiche Überschneidungen existieren. Der Arbeit in Klinischen Ethik Komitees wird nicht direkt einer der vorgestellten theoretischen Ansätze zu Ethik zugrunde gelegt, vielmehr wird die Wichtigkeit ethisch verantwortlichen Handelns in der Praxis, wie es auch die Medizinethik fordert, betont. Zu diesem Zeitpunkt wurde dann schon häufig von Moralfragen gesprochen, deshalb wird auch auf die moralische Qualität dieses Gremiums eingegangen. Bis dato war ausschließlich von den Aufgaben der Ethik, Medizinethik oder den Aufgaben eines Klinischen Ethik Komitees die Rede, die darin tätigen Personen hingegen wurden vernachlässigt. Dies soll nun nachgeholt werden. Es wird dem Leser der Unterschied der Aufgabenfelder von professionellen Ethik-Beratern, sogenannten Ethik-Experten und Mitgliedern Klinischer Ethik Komitees, sogenannten Ethik-Laien, vermittelt. Außerdem erfolgt zum einen die Darstellung des Bezuges zu religiösen und moralischen Aspekten sowie zur Biografie im allgemeinen. Die Erläuterung dieser beiden Bezüge führt dann schließlich zum dritten größeren Themenkomplex, in welchem die Religion in Hinblick auf zweierlei Kontexte vorgestellt wird. Zunächst werde ich aufzeigen, welche Verknüpfungen zwischen der Religion und der Moral auch in der Moderne bestehen. Dies darzustellen ist erforderlich, da der Thematisierung von Religiösem und Moralischem, wie schon erwähnt, eine Schlüsselrolle bei der Auswertung der narrativen biografischen Interviews zukommt. Deshalb wird im zweiten Abschnitt dieses Kapitels auch der Zusammenhang, in dem Religion und Biografie stehen, verdeutlicht.
An dieser Stelle muss man die Frage stellen, ob sich das bis hierhin theoretisch an Literaten Erarbeitete auch in der empirischen Analyse wiederfinden und verwenden lässt, genauer gesagt, ob der Religion in den Selbstbeschreibungen der Mitglieder des Klinischen Ethik Komitees ähnliche Funktionen zukommen wie die bereits theoretisch herausgestellten. Um dies festzustellen, analysierte ich die biografischen Interviews der Mitglieder des Klinischen Ethik Komitees eines Krankenhauses. Die Details zum Datenmaterial werden zu Beginn dieses Kapitels vorgestellt. In den weiteren Teilen wird dann gezeigt, dass bereits theoretisch formulierte Probleme der Interviewten bei der Formulierung einer plausiblen Biografie auch in der Praxis Bestand haben. Dies wird anhand des biografischen Textmaterials veranschaulicht. Nachdem die Probleme und Kontingenzen, die bei der Formulierung einer schlüssigen Biografie eines kompetenten Mitglieds des Klinischen Ethik Komitees bestehen, sichtbar gemacht wurden, stellt sich einem natürlich die Frage nach den Strategien zu ihrer Bewältigung. Diese werden in Kapitel fünf und sechs aufgezeigt. Innerhalb dieser Bewältigungsstrategien findet sich eine zentrale Gemeinsamkeit: Es wird in allen Selbstbeschreibungen das Thema Religion und/oder Moral kommuniziert. Dies wirft für den Sozialforscher natürlich die Frage auf, warum dies der Fall ist und welche Formen sich hinsichtlich der Thematisierung von Religion differenzieren lassen. Diese Differenzierung wird dem Leser mit Hilfe zahlreicher Textbeispiele veranschaulicht. Zudem wird die Funktion, die die Thematisierung spezifischer Formen der Religion jeweils auf der Ebene der Biografiekonstruktion, aber auch vor dem Hintergrund ‘Klinisches Ethik Komitee’ bzw. ‘Krankenhaus’ erfüllt, herausgestellt. Während bisher hauptsächlich die Differenzen bezüglich des Rekurses auf Religion im Blickpunkt des Interesses stand, soll später im Text der Fokus auf die Gemeinsamkeiten, die diesbezüglich bestehen, gelegt werden. Sieht man dort dann etwas genauer hin, so gelangt man zu der Erkenntnis, dass auch in der heutigen Gesellschaft eine Form der Religion existiert, die auf moderne Weise Anschlussfähiges kommuniziert. Zum Abschluss meiner Arbeit werden dann Biografie und Gesellschaft noch einmal in Kontext gesetzt und damit gezeigt, dass man, wenn man Biografien erforscht, gleichzeitig auch Forschungen über die Gesellschaft anstellt, denn in biografischen Konstruktionen finden sich stets auch Konstruktionen der Welt (vgl. Saake 2004a: 3).
2. DIE METHODE: WAS IST UND LEISTET BIOGRAFIEFORSCHUNG? UND WAS NICHT?
Die Wissenschaft, so Wilson, lebt von Kontroversen (vgl. Wilson 1981). Eine dieser Kontroversen stellt sicherlich die Debatte um die Verwendung quantitativer oder qualitativer Verfahren in den Forschungen der Sozialwissenschaften dar. Da in der Fachliteratur ja bereits ausgiebig darüber diskutiert wurde, weshalb quantitative Methoden den qualitativen Verfahren vorzuziehen sind bzw. über welche entscheidenden Vorzüge qualitative Zugangsweisen im Gegensatz zu quantitativen Verfahren verfügen, möchte ich in diesen Diskurs nicht tiefer einsteigen. Nachgelesen werden können Details zur Diskussion und zu Vor- und Nachteilen der jeweiligen Methode in diversen Werken wie beispielsweise Esser 1987, Wilson 1981 oder Rudinger 1985 – um nur einige wenige zu nennen.
Detlef Garz und Klaus Kraimer weisen in ihrem Aufsatz „Qualitativ-empirische Sozialforschung im Aufbruch“ darauf hin, dass qualitative Verfahren sich zwar generell von quantitativ-statistischen Vorgehensweisen differenzieren, jedoch über keine homogene Konzeption verfügen. „Diese Heterogenität spiegelt sich auch in den zahlreichen Fremd- und Eigenetikettierungen wie etwa kommunikative, verstehende, narrative, interpretative oder hermeneutische Sozialforschung“ (Garz/Kraimer 1991: 1) wieder. Fest steht jedenfalls, dass sich qualitative Forschungstechniken üblicherweise auf natürliche Lebenszusammenhänge beziehen: „The researcher must get close to the people whom he studies [... ] in the natural, ongoing environment where they live and work“ (Schatzmann/Strauss: 1973: 5).[2] Bei der Narrations- oder Biografieanalyse, die ich in dieser Arbeit durchführen werde, handelt es sich ebenfalls um ein qualitatives Verfahren. „Biografieforschung bezeichnet die Arbeitsrichtung in der Soziologie, [... ], die versucht, durch die Analyse der in einer [. ] Biografie (als Interview oder anders erhoben) abgebildeten und gedeuteten Handlungen und Ereignisse zu Auskünften über soziale Prozesse zu gelangen“ (Son 1997: 19). Als Ziele der Analyse biografisch narrativer Interviews sind die sozialwissenschaftliche Typenbildung, die Herausarbeitung von Mustern sowie die Explikation von Strukturelementen zu nennen (vgl. Haupert 1991: 215). Thompson fordert, die unsichtbare Struktur sozialer Realität zu durchdringen (vgl. Thompson 1980), um die Teile der sozialen Wirklichkeit sichtbar werden zu lassen, die auf den ersten Blick verborgen bleiben. Knapp zusammengefasst stellen erzählte Lebensgeschichten das Ausgangsmaterial für die „Rekonstruktion bestimmter sozialer Milieus und sozialen Handelns“ (Fischer-Rosenthal/ Rosenthal 1997: 135) dar, denn Biografieforschung zielt trotz ihres induktiven Vorgehens „auf Verallgemeinerung, d.h. Muster, generelle Strukturen, Abläufe, Regeln, Normen und Lösungen“ (Mandl-Schmidt 2003: 21) herauszuarbeiten.
Diese oben formulierten Ziele verfolge auch ich in meiner Arbeit, ich stelle die Muster, die sich in den unterschiedlichen Biografien erkennen lassen, heraus und bilde daraus unterschiedliche Formen der Thematisierung von Religion, die sowohl auf der Ebene der Biografie als auch auf der Ebene des Klinischen Ethik Komitees und des Krankenhauses eine spezielle Funktion erfüllen. Folgt man Luhmanns These funktionaler Differenzierung als Merkmal der gesellschaftlichen Moderne, so lässt sich feststellen, dass das Individuum biografisch in Bezug zur Gesellschaft gesetzt wird (vgl. Luhmann 1989). Diesen Umstand mache ich mir in meiner Analyse zu nutze, um final eine gesellschaftstheoretische Deutung meiner Ergebnisse zu versuchen.
2.1. Das narrative Interview
Das narrative Interview wird vor allem im Rahmen biografischer Forschung verwendet.[3] Flick beschreibt, dass sich das Verfahren vor allem zur Generierung von Theorien eignet, wobei ein Ziel der Forschung auch die Typologie von biografischen Verläufen darstellen kann (vgl. Flick 1995: 123). Der Interviewte wird durch eine erzählgenerative Anfangsfrage gebeten, in einer Stegreiferzählung beispielsweise seine Lebensgeschichte[4] zu erzählen. In den von mir analysierten biografischen Interviews lautete die Eingangsfrage folgendermaßen: „Wir interessieren uns für die persönlichen Hintergründe von Menschen, die in klinischen Ethik Komitees mitarbeiten. Ich möchte Sie als Mitglied in einem solchen Komitee bitten, mir Ihre Lebensgeschichte zu erzählen. Das betrifft all die Ereignisse und Erfahrungen, an die Sie sich erinnern können und die Ihnen wichtig sind.“ Es existieren unterschiedliche Möglichkeiten der Erzählaufforderung, es kann ein Rahmen vorgegeben werden oder aber das Thema völlig frei bleiben. Die in den von mir analysierten Interviews gestellte Frage stellt sozusagen eine Mischung dar. Einerseits wurde der Kontext, in welchem das Interview stattfindet, erwähnt und so sichergestellt, dass der Befragte darauf eingeht. Dennoch bleibt genug Offenheit, um andere biografische Stränge zu erzählen, es wurde auch explizit nicht nach einer Berufsbiografie oder ähnlichem gefragt. Der Befragte erzählt im Anschluss an die Eingangsfrage seine Lebensgeschichte, optimalerweise ohne vom Interviewer unterbrochen zu werden. Der Interviewer soll dabei verstehende Signale geben, der „Erzähler gewinnt dadurch Gewissheit, dass er den Wunsch des Interviewers richtig verstanden hat und dass sich zwischen beiden eine gelungene Interaktion entwickelt hat“ (Hermanns 1992: 120). Das, was hier von Hermanns eher beiläufig erwähnt wurde, wird mich später in meiner Arbeit noch genauer beschäftigen, da ja meine zentrale These exakt auf das Problem der Kontingenzreduktion in Biografien abzielt. „Dass diese Methode funktioniert und vor allem in der Haupterzählung reichhaltigere Versionen eines Geschehens oder von Erfahrungen liefert als andere Formen der Darstellung, wird damit begründet, dass sich der Erzähler in bestimmten Zwängen [... ] verstrickt, sobald er sich auf die Situation des narrativen Interviews insgesamt eingelassen und die Erzählung einmal begonnen hat. Diese Zwänge sind der Gestalterschließungs- der Kondensierungs- und der Detaillierungszwang. Der erste Zwang führt dazu, dass der Erzähler eine einmal begonnene Erzählung zu Ende bringt. Der zweite bewirkt, dass nur das für das Verständnis des Ablaufs notwendige in der Darstellung enthalten ist und schon aus Gründen der Zeit so verdichtet ist, dass der Zuhörer sie verstehen und nachvollziehen kann. Der Detaillierungszwang hat zur Folge, dass zum Verständnis notwendige Hintergrundinformationen und Zusammenhänge mitgeliefert werden“ (Flick 1995: 118). Diese Zwänge und auch die Unsicherheit, die bei den Biografen bezüglich der Erzählung einer ‘runden’ Geschichte auftreten können, zeigten sich auch bei der Analyse der biografischen Interviews der Mitglieder des Klinischen Ethik Komitees. Dies wird in Kapitel fünf noch ausführlich beschrieben. Sollte der Biograf während seiner Erzählung ins Stocken geraten, soll er durch den Interviewer ermutigt werden, weiterzuerzählen, jedoch ohne dabei aus dem Kontext gerissen zu werden. Der Interviewer soll den Erzählfluss also nicht unterbrechen und erst nach Beenden der Haupterzählung narrative Nachfragen stellen, die den Biografen dazu anregen, das Erzählpotential vollständig auszuschöpfen. Diese lauteten in den von mir untersuchten Interviews beispielsweise „Darf ich Sie noch einmal zurücklenken auf [... ] Ihre Kindheit [... ]. Erinnern Sie sich noch an das Leben bei Ihnen zuhause [... ]?“ oder „Gibt es Details, die Sie vielleicht erzählen wollen, aus Ihrer Kindheit [... ]?“ Erst wenn dies geschehen ist, sollen Aufforderungen zu Erklärungen oder Argumentationen folgen. Diesbezüglich wurde in den Interviews der Mitglieder des klinischen Ethik Komitees beispielsweise nach der Rolle der Religion oder nach Werten im Ethik Komitee gefragt.[5]
Als Probleme bei der Interviewführung bezeichnet Flick die Verletzung der Rollenerwartungen der Beteiligten, da dadurch, dass der Befragte nicht unmittelbar Feedback bekommt, Irritationen beim Interviewten entstehen (vgl. Flick 1995: 121). Dass das, was Flick hier als Problem bezeichnet, auch genau das Interessante in der systemtheoretisch gerichteten Auswertung biografischer Interviews sein kann, wird im Laufe meiner Arbeit noch deutlich werden.[6]
2.2. Die Analyse biografischer Interviews
Für meine Arbeit wichtig und daher im folgenden beschrieben, ist die Analyse des produzierten Textmaterials. Schütze gliedert die Untersuchung des Textmaterials in sechs Analyseschritte, diese sollen hier knapp erwähnt sein. Der erste Schritt, die ‘formale Textanalyse’ besteht darin, den Erzähltext von nicht-narrativen Teilen zu bereinigen und den Text in einzelne Segmente zu unterteilen. Im folgenden soll eine strukturelle inhaltliche Beschreibung erfolgen sowie eine inhaltliche Abstraktion, die die einzelnen Textfragmente zueinander in Beziehung setzt. So soll die Prozessstruktur herausgearbeitet werden. Den vierten Auswertungsschritt stellt eine Wissensanalyse dar, in der die Prozessstrukturen gedeutet und interpretiert werden. Hat man diese Analyseschritte in seinen Interviews durchgeführt, geht man von der Einzelfallanalyse zum kontrastiven Vergleich der unterschiedlichen Texte über. Es wird analysiert, ob sich zentrale Gemeinsamkeiten feststellen lassen oder aber ob extreme Differenzen auftreten (vgl. Schütze 1983: 287). In meiner Analyse stellte ich sowohl Differenzen als auch Gemeinsamkeiten bezüglich der religiösen Kommunikation fest, darauf wird in Teil sechs dieser Arbeit detailliert eingegangen. Im finalen Analyseschritt fordert Schütze die Konstruktion eines theoretischen Modells, in dem die erforschten Kategorien systematisch aufeinander bezogen werden (vgl. Schütze 1983: 287). Auch dies führte ich in meiner Analyse durch, wie sich in Teil sechs und sieben meiner Ausführungen zeigen wird.[7]
2.3. Zur (nicht-) Homologie von Leben und Text
Es bestehen derzeit unterschiedliche Konzeptionen zum Verhältnis von Biografie und Lebenslauf, einige werden im folgenden knapp erläutert, da sich daraus methodische Konsequenzen für meine Analyse der biografischen Interviews ergeben.[8]
2.3.1. Schützes Homologieannahme
Schütze formuliert, dass durch Biografieforschung nicht die persönlichen Schicksale des Biografen erfasst werden. Dennoch geht er davon aus, dass der Sozialwissenschaftler von der erzählten Biografie, genauer gesagt „den Prozessstrukturen des individuellen Lebenslaufs“ (Schütze 1983: 284) auf das schließen kann, was sich faktisch im Leben des Biografen ereignet hat. Deshalb ist es für Schütze elementar, die sequentielle Struktur der Biografie zu analysieren.[9] Auch Haupert sieht das biografische Interview als Verfahren zur Rekonstruktion subjektiver Erlebnisperspektiven und schließt somit ebenso wie Schütze von biografischen Daten auf faktisches Erleben: „Das narrative Interview ist der ‘Königsweg’ zu Erfassung subjektiver Perspektiven“ (Haupert 1991: 220).
Schütze stellt zudem die These auf, dass die Ordnung der formalen Aktivitäten des Erzählens Folgerungen über das Stattfinden und die zeitliche Abfolge der tatsächlichen, vergangenen Ereignisse zulässt. Dies führt zu seiner ‘Homologieannahme’: es existieren „Homologien des aktuellen Erzählstroms mit dem Strom der ehemaligen Erfahrungen im Lebenslauf [... ]“ (Schütze 1984: 78). Aus diesen Gründen ist für Schütze auch die Phasengliederung des Ablaufs der Biografie zentral, die einzelnen Segmente der Biografien entsprechen Schützes Logik zufolge auch der Phasengliederung der Lebensgeschichte, wie sie historisch erlebt wurde. Die Prozessstrukturen des Lebenslauf bezeichnet Schütze als Verlaufskurve (vgl. Schütze 1981: 76ff).
2.3.2. Die Homologieannahme in der Kritik
Ebenso wie Schütze thematisieren diverse andere Autoren die Frage nach Realität und Fiktion der Lebensgeschichte. Martin Osterland sieht die erzählte Lebensgeschichte nicht als zuverlässige Quelle zur Erfassung und Rekonstruktion der Historie und somit des faktischen Lebenslaufs, er bezeichnet dies als ‘retrospektive Illusion’ (vgl. Osterland 1983: 279ff). Auch Bourdieu unterstützte diese These, er nennt die erzählte Lebensgeschichte ein ‘perfektes soziales Artefakt’ (vgl. Bourdieu 1990: 80). Bude kritisierte Schützes Homologieannahme ebenfalls und machte deutlich, dass erzählter Text nicht mit tatsächlich erlebter Wirklichkeit gleichgesetzt werden darf (vgl. Bude 1985: 327ff). Fischer-Rosenthal/Rosenthal weisen ebenfalls darauf hin, die „empirisch rekonstruierte, prinzipielle Differenz zwischen der temporalen Struktur von erlebter und erzählter Lebensgeschichte zu berücksichtigen“ (Fischer-Rosenthal/Rosenthal 1997: 148). So plausibel das klingt, so schwierig ist die praktische Umsetzung. Denn woher soll der Forscher eben diesen Unterschied erfahren, wenn nicht vom Biografen und dessen Erzählung?! Die Lösung dieses Dilemmas wird von Weber et al. befriedigend gelöst, dies werden die folgenden Ausführungen zeigen. Weber et al.’s methodischem Vorgehen liegt zugrunde, dass man als Sozialforscher „ausschließlich biografische Texte, [...] also kommunikative Dokumente in den Blick nimmt und nicht das in diesen Texten kommunizierte, vergangene Geschehen.“ (Weber et al. 2002: 187). Dies bedeutet, dass von der biografischen Wahrheit, also dem, was die Interviewten erzählen, nicht automatisch auf historische Wahrheit geschlossen wird. Für Weber et al.’s und auch meine eigene Biografieforschung hat dies folgende Konsequenzen: „Aus Texten, die Geschichte erzählen [...] lassen sich letztlich nicht vergangene Gegenwarten sondern nur gegenwärtige Vergangenheiten ablesen. Sie enthalten nicht Gegenwarten, wie sie geschichtlich vergangen sind, sondern Vergangenheiten, wie sie uns aus heutiger Perspektive erscheinen“ (ebd.: 190f.). Freilich bedeutet dies nicht, dass der Biograf nicht die Wahrheit sagt, sondern eben lediglich, dass durch die Reflexion auf das Geschehen der Vergangenheit Differenzen entstehen (können) zwischen historischer und biografischer Wahrheit; vergangene Ereignisse werden in der Gegenwart unter Umständen anders gedeutet als in der Vergangenheit. Daraus folgt für den Biografieforscher, sich die Tatsache bewusst zu machen, dass niemals eine vergangene Realität vertextet wird, sondern lediglich die Realität des Momentes und der Situation. Der Untersuchungsgegenstand meiner Forschungsarbeit kann folglich gar nicht die Rekonstruktion des Lebensverlaufs[10] sein, sondern lediglich die Reflexion der Biografen auf lebensgeschichtliche Erfahrungen beispielsweise hinsichtlich der Berufswahl bzw. der Motivation des Beitritts in ein Klinisches Ethik Komitee. Es werden in Biografien Lebensläufe also nicht lediglich abgebildet, sondern reflektiert. Es entstehen so eigene Wahrheiten und Realitäten, die sich differenzieren von den eigentlichen, historischen Lebensprozessen. Für Weber et al. stellt die Tatsache, dass in vielen Biografieforschungsarbeiten nicht ausreichend zwischen Lebenslauf und biografischem Text unterschieden wird, eines der größten Probleme der qualitativen Biografieforschung dar (vgl. ebd.: 197). Deshalb wird in diesem Ansatz auch Schütze kritisiert, der „von einer Homologie von biografischer Erzählsequenz und Erfahrungssequenz“ (ebd.: 197) ausgeht.[11] Es ist doch lediglich die ‘Kommunikative Form’ von Biografien untersuchbar, also das Vertextete und nicht das faktisch Erlebte! Die nun für die Biografieforschung im allgemeinen und auch für meine Arbeit entscheidende Schlussfolgerung ist, dass durch die Biografie der Lebenslauf zwar genutzt, jedoch deshalb noch lange nicht erkennbar wird. Weber et al. folgern also: „Biografische Kommunikation kann die Abwesenheit des Lebenslaufs durch ihre Anwesenheit nicht überwinden, moderner ausgedrückt: Die Identität der Differenz von Biografie und Lebenslauf lässt sich nicht operativ herstellen, es sei denn um den Preis erkenntnistheoretischer Naivität [...] “ (Weber et al. 2002: 201). Unter erkenntnistheoretischer Naivität läuft dabei auch Schützes Homologieannahme, die Weber et al. folglich ziemlich erfolgreich widerlegt haben.
2.3.3. Biografie als soziales Konstrukt
Für das Verhältnis von Biografie und Person kann man unter Verwendung des systemtheoretischen Personenbegriffs, in welchem Personen das Resultat biografischer Kommunikationen darstellen (vgl. Luhmann 1987: 158ff), daraus schließen, dass weder das gelebte Leben der Biografen, noch deren psychische Befindlichkeit beobachtbar werden, sondern lediglich biografischer Text. Dies ist der Grund, warum nicht der Interviewte den Text konstruiert, sondern Umgekehrtes stattfindet: der Text konstruiert die Person des Sprechers (vgl. Weber et al. 2002: 202). Mit diesen Erläuterungen wird deutlich, dass sich Biografie und Biograf als soziale Konstrukte bestimmen lassen.
Für meine Forschungsarbeit folgt aus diesen theoretischen Vorüberlegungen, dass es nicht um die eigentlichen, historischen Ereignisse und Erfahrungen in den Selbstbeschreibungen der Mitglieder Klinischer Ethik Komitees geht, sondern darum, wie diese Ereignisse im biografischen Text kommuniziert werden und welche Funktion sich daraus ableiten lässt. Im Rahmen meiner Fragestellung spielen daher historische Wahrheiten eine eher untergeordnete Rolle (damit schließe ich mich Weber et al.’s Methode an), erforschen möchte ich hingegen folgende Fragen: Wie wird in den Selbstbeschreibungen klinischer Ethikberater Kontingenz reduziert? Wie inszeniert man sich also als kompetenter ethischer Berater? Und übernimmt Religion dabei einen Problemlösemechanismus? Während die Distanz zwischen erzähltem Text und faktischem Lebenslauf von diversen Theoretikern als ‘Krise der Repräsentation’ (vgl. Denzin et al. 1994) empfunden wird, ergibt sich aus systemtheoretischer Sicht durch die Einhaltung dieser ‘Sparsamkeitsregel’ erst ein komplexeres Verständnis von wissenschaftlicher Begriffsarbeit. Sparsamkeitsregel bedeutet dabei, es soll nicht die tatsächliche Bedeutung des Textes erforscht werden, der Biografieforscher soll vielmehr „die Selbstkonstitution von Inhalten, von Bedeutung, von Sinn nachzuvollziehen und nach den sozialen Erwartungs- und Darstellungsformen [. ] fragen, unter denen sich forschungsrelevante Topoi darstellen lassen“ (Nassehi/Saake 2002: 82). Man muss sich folglich als Sozialforscher fragen, welche Funktion die Präsentation aber auch die Nicht-Präsentation bestimmter Themen für die Biografie und den Biografen hat; auf meine Arbeit bezogen also, welche Funktion der Thematisierung und auch Negierung religiöser Kommunikation in den Biografien der Mitglieder des Klinischen Ethik Komitees zukommt.
2.4. Problem und Problemlösung: Biografie als Umgang mit Kontingenzen
In meiner Arbeit steht Kontingenz im Fokus der Auswertung – insofern ist hier von Interesse, wie Daten die Realitäten die sie abbilden, selbst erzeugen. Denn wenn „es stimmt, dass Sinngebrauch [13] in sozialen Systemen immer auch auf Unbekanntes, Ununterscheidendes, auf Unbeobachtbares verweist, dann müsste die Logik der Forschung sich exakt dieser Logik der Unterscheidung widmen. Der forschende Blick bekommt dann nicht nur zu sehen, was der Fall ist, sondern vor allem, was nicht der Fall ist. Gegenstand der Sozialforschung [... ] ist dann die Frage nach der Kontingenz ihres Gegenstandes“ (Nassehi/Saake 2002: 70). Beim sichtbar machen von Kontingenz handelt es sich um ein funktionales Verfahren, „das auf strikte Kausalannahmen ebenso verzichtet, wie auf die innere Unendlichkeit subjektiven Sinn generierender Handelnder. Die funktionale Analyse dient vielmehr dazu, jene Problem- und Problemlösungskontexte – Kontexturen beschreibbar zu machen, die von Interviewtexten selbst entfaltet werden“ (ebd.: 83). In der funktionalen Analyse[14] geht es darum, alternative, unterschiedliche, jedoch gleichzeitig äquivalente Problemlösungen für ein und dasselbe Problem zu finden. Macht man also die Kontingenz zum Forschungsthema, so bedeutet dies, dass man nach den differenten Strukturen zu ihrer Bewältigung forschen muss. Um die Frage beantworten zu können, wie die Mitglieder des Klinischen Ethik Komitees in ihren Selbstbeschreibungen Kontingenz reduzieren, ist es nötig, einige theoretische Grundlagen zu Adressat und Erwartungshorizont zu beantworten. Während der Durchführung des Interviews besteht eine asymmetrische Kommunikationssituation: während in alltäglichen Gesprächen und Erzählungen der Sprecher stets eine direkte Reaktion auf das Gesagte feststellen kann, bekommt der Biograf in der künstlichen Interviewsituation kein unmittelbares Feedback. „Es gibt dann letztlich keine dialogische Verstehenskontrolle, vielmehr müssen die sinnhaften Anschlüsse auf einer Seite gesichert werden. Anders ausgedrückt: Die Situation doppelter Kontingenz wird auf eine Seite abgewälzt“ (Weber et al. 2002: 208). Folgt man nun systemtheoretischer Logik, so lässt sich sagen, dass in Interviews die Kommunikation dafür sorgt, dass Erwartungen generiert werden. Mit anderen Worten ausgedrückt: „Die aus der Interviewkommunikation resultierenden Texte enthalten folgerichtig die Erwartungshorizonte, auf die sie selbst reagieren. Sie reagieren damit auf ein je selbst erzeugtes Publikum“ (ebd.: 209). Dadurch werden Strukturen ersichtlich, die dazu dienen, Bestimmbarkeiten zu sichern. Diese Strukturen gilt es in biografischen Forschungsarbeiten und damit auch innerhalb dieser Diplomarbeit zu analysieren.[12]
Schütze bezeichnet das Ergebnis als Erzähltext, „der den sozialen Prozess einer Entwicklung und Wandlung einer biografischen Identität kontinuierlich, d.h. ohne exmanente, aus dem Methodenzugriff oder den theoretischen Vorraussetzungen des Forschers motivierte Interventionen und Ausblendungen darstellt und expliziert“ (Schütze 1983: 286). An dieser Stelle sei Kritik geübt: der Interviewte wird seine Biografie stets vor einem bestimmten Kontext erzählen und deshalb auch nur einen bestimmten Ausschnitt seines Lebens präsentieren – doch wie wir sehen werden, stellt dies für Biografieforschung im systemtheoretischen Kontext kein Problem dar, sondern weckt ganz im Gegenteil gerade das Interesse des Forschers. Denn warum thematisiert der Biograf bestimmte Dinge und vernachlässigt andere? Das ‘Zauberwort’ lautet hier Kontingenz: In einer kontingenten Situation, wo sich Biograf und Interviewer (beispielsweise Sozialforscher und Mitglied des Klinischen Ethik Komitees) gegenübersitzen und der Biograf eine biografische Großerzählung, die in sich stimmig ist, präsentieren soll, steht der Befragte vor einem Problem: Was soll er dem Interviewer erzählen, der seine Eingangsfrage wie oben dargelegt, stellt? Es tritt Unsicherheit darüber auf, was der Interviewer wohl hören möchte, Kontingenz muss bewältigt werden. Daher interessiere auch ich mich in meiner Arbeit weniger für die Motive, die die Biografen und Biografinnen zu einer Mitgliedschaft im Klinischen Ethik Komitee bewegten, sondern dafür, wie und in Rückgriff auf welche Strukturelemente sie ihre Kompetenzen und Qualifikationen für das Ethik Komitee in der Kommunikation der Biografie plausibilisieren. Eine weitere wichtige Frage, die sich also in meiner Arbeit stellt, ist, wie kommunikative Verläufe (beispielsweise narrative biografische Erzählungen) die Strukturen, in denen sie verlaufen, unmittelbar durch ihre Prozesse selbst hervorbringen.
Biografische Texte lassen sich als Problemlösungsweisen für den Umgang mit Kontingenz begreifen (vgl. Saake 2004: 13). Ihre Biografie zu erzählen stellt für die Befragten in der Interviewsituation ein Problem dar, das genau dort anknüpft: Die kontingente Situation in der der Interviewte unsicher darüber ist, was der Interviewer hören möchte, muss überwunden werden. Diese generelle Unsicherheit aufgrund der Offenheit der Interviewsituation führt dazu, dass Kontexte gesucht werden, innerhalb derer sich das geschilderte Problem lösen lässt. Diesen Kontext stellt in meinem Falle das Klinische Ethik Komitee dar, es werden deshalb eher typische Berufsbiografien als private Lebensgeschichten erzählt – obwohl die Eingangsfrage explizit danach gestellt wurde. Hierbei spielen komplexe Begriffe und Konstrukte wie Moral und Religion eine zentrale Rolle, in deren Kontext man ebenfalls auf das von Luhmann ausführlich beschriebene Paradigma der Kontingenz und damit auch auf das Problem der Kontingenzbewältigung stößt. Auf diesen Aspekt wird in Kapitel vier, fünf und sechs jeweils besonderes Augenmerk gerichtet. Das im Interview mit den Mitgliedern des Klinischen Ethik Komitees erhobene Material könnte einem als Biografieforscher zunächst als unbrauchbar erscheinen, da sozusagen eine Art ‘Themaverfehlung’ vorliegt, da nicht wirkliche Lebensgeschichten sondern eher Berufsbiografien erzählt wurden. Wenn man aber biografische Texte als differente Formen der Problemlösung betrachtet, ergibt sich die erwähnte Problematik der Unbrauchbarkeit gar nicht. Biografien werden also situationsabhängig, das heißt abhängig von der Kontextur[15] unterschiedlich erzählt und tragen gleichzeitig zur Herstellung dieser Kontextur bei. Die befragten Mitglieder des Klinischen Ethik Komitees beantworten die Frage nach ihrer Lebensgeschichte vor dem Hintergrund ihrer Tätigkeit in klinischen Ethik Komitees. Sie verfassen also nicht eine Lebensgeschichte die sie in jeder Situation genau so erzählen würden, sondern diejenige eines Mitgliedes des Ethik Komitees, das sich mit ethischen Fragen auseinandersetzt.
Für die Sozialforschung ergibt sich aus dem bisher Erläuterten, dass man bei der Auswertung narrativer Interviews nicht fragen sollte, warum der Befragte genau so antwortet, sondern dass man jede Form der Thematisierung als Versuch des Befragten begreift, Kontingenz zu reduzieren. Man bekommt damit zwar keine wahrere Information, jedoch aber einen „Einblick in die Strategie des Interviewpartners, mit insistierenden, bohrenden und anbiedernden Fragestellern umzugehen“ (Nassehi/Saake: 2002: 80).
Biografien stellen, knapp zusammengefasst, also ein Beispiel für den Umgang mit Kontingenz dar, sie dienen als Problemlösemechanismen: das Problem stellt dabei die Anfertigung einer biografischen Großerzählung dar, das der spezifischen Kontexte der Interviewsituation individuell gelöst wird (vgl. Saake 2004a:13ff). Auch meine Forschungsperspektive liest die Interviewtexte der Ethik Komiteemitglieder als Resultat von Kontingenzreduktionen. Es lassen sich dabei unterschiedliche Formen erkennen, die in Kapitel fünf und sechs dargestellt werden.
2.5. Die Betonung religiöser und moralischer Aspekte
Die Formen der Problemlösung, sich Kompetenz als Mitglied des Klinischen Ethik Komitees zuzuschreiben, differieren insofern, als soziale Qualifikationen entweder auf moralische oder aber religiöse Grundlagen oder eine Kombination beider zurückgeführt werden. Schütze stellt heraus, dass in zentralen gesellschaftlichen Bereichen wie beispielsweise Familie und Beruf institutionelle Ablaufmuster besonders ausgeprägt sind und die Darstellung der eigenen Lebensgeschichte innerhalb dieser Ablaufmuster dem Biografen die Plausibilitätssicherung wesentlich erleichtert, im Gegensatz zu sogenannten Randkarrieren. Dort sind die Muster weit weniger vorgeprägt und müssen vom Biografen selbst erarbeitet, ausformuliert und plausibilisiert werden – dies stellt einen der Gründe für die Betonung religiöser und moralischer Aspekte durch die Mitglieder des Klinischen Ethik Komitees in deren Biografie dar. Denn im Gegensatz zu den bereits existierenden ‘Normalbiografien’ von Ärzten und anderen klassischen Professionen, in denen Erwartbarkeiten zur Kontingenzreduktion bereits generiert wurden, sind kaum Muster für eine Biografie eines Mitglieds des Klinischen Ethik Komitees vorhanden. Diese Leistung muss also vom Biografien selbst erbracht werden. Hermanns stellt heraus, dass Argumentationen in der Biografie eine legitimatorische Funktion erfüllen können (vgl. Hermanns 1992: 123), für was legitimiert also der Rekurs auf Moral und Religion? Exakt dieses wird dem Leser im weiteren Verlauf meiner Arbeit noch vermittelt werden. Im folgenden Abschnitt soll zunächst jedoch die eigentliche Leistung, die Biografieforschung auch für meine Arbeit erbringt, dargestellt werden.
2.6. Was leistet Biografieforschung im allgemeinen und bei der Untersuchung Klinischer Ethik Komitees?
Nach Weber et al. besitzen Biografien an den Stellen, an denen Lebensläufe kontingent werden bzw. die Kontingenz deutlich wird, höheren Informationswert als in der üblichen Darstellungsweise (vgl. Weber et al 2002: 186). Von daher ist es auch nicht überraschend, dass besonders Brüche der Lebensgeschichten, die häufig Veränderungen mit sich bringen, soziologisch interessant erscheinen, wenn man Biografien als Resultate von Kontingenzbewältigungen liest. Denn der Biograf löst in seiner Selbstbeschreibung generell zweierlei Probleme: Probleme, die sich durch das Erzählen selbst ergeben und Probleme, die er als vergangene Probleme empfindet und dem Interviewer verdeutlichen will. Er leistet somit doppelte Problemlösearbeit.
Mit diesen Erklärungen ist jedoch immer noch nicht die Frage beantwortet, was Biografieforschung eigentlich leistet, oder, anders formuliert, welche soziologischen Fragen die Narrationsanalyse biografischer Selbstdarstellungen beantwortet. Es geht, so Fischer-Rosenthal/Rosenthal, „sowohl um die Frage nach der gesellschaftlichen Funktion von Biografien, als auch um die sozialen Prozesse ihrer Konstitution. [... ] Die Konzeption der Biografie als soziales Gebilde [... ] bietet die Chance, den Antworten auf eine der Grundfragen der Soziologie, nämlich dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft näher zu kommen“ (Fischer-Rosenthal/Rosenthal 1997: 138f). Um dies zu erreichen, befasst sich eine der zentralen Fragen der qualitativen Sozialforschung mit der Konstitution von Bedeutungen. Häufig werden diese mit dem Bestehen von bestimmten Ordnungsstrukturen begründet – doch wie entstehen wiederum diese Ordnungsstrukturen? Und vor allem: Was haben die Ordnungsstrukturen der Gesellschaft mit den Biografien von Individuen zu tun? „Der soziologische Blick besteht [... ] in der Frage, wie sich Einzelbeobachtungen in den Horizont von Strukturen des Gesellschaftssystems stellen lassen, wie sie sich letztlich als Folgen und Folgeprobleme gesellschaftlicher Kontexte, oder besser Kontexturen darstellen lassen“ (Nassehi/Saake 2002: 80). In meiner Arbeit befasse ich mich mit Interviewtranskripten, an denen sich exakt dieser Zusammenhang aufzeigen lässt. Es wird zunächst danach geforscht, welche kommunikativen Strategien bewirken, dass die Dinge so formuliert und dargestellt werden, wie der Befragte es tut[16]. Eine solche Analyse der Biografien bringt den Vorteil, dass sich diese als Versuch der Reduktion von Kontingenz lesen lassen. Dies ist für den Biografen eine Möglichkeit, Ordnung zu generieren und für den Sozialforscher, die Strukturen eben dieser Generierung sichtbar zu machen. Die Ordnungsstrukturen der Biografien finden sich ebenfalls innerhalb unseres Gesellschaftssystems. So wie sich Biografien als Problemlösungsmechanismen für den Umgang mit Kontingenz begreifen lassen, lassen sich Klinische Ethik Komitees als Lösungsweisen für kontingente Probleme der Organisation Krankenhaus und der Gesellschaft verstehen. Mit Hilfe der Biografieforschung wird es in meiner Arbeit also zum einen möglich, die Kontingenz der Biografien sichtbar zu machen, zum anderen zeigt sich, dass auch gesellschaftliche, kontingente Probleme bestehen, die mit Hilfe des Klinischen Ethik Komitees und des Rekurses auf religiöse Strukturen und Begriffe gelöst werden können, schlicht: wie soziale Ordnung entsteht und aufrechterhalten werden kann.
Bevor jedoch zum Auswertungsteil meiner Arbeit, in der das theoretisch Erläuterte anhand der Empirie aufgezeigt wird, übergegangen wird, sollten wir uns erst einmal ansehen, was ein Klinisches Ethik Komitee eigentlich ist und mit welchen Themen und Personen wir es zu tun haben.
3. DAS KLINISCHE ETHIK KOMITEE –
EIN KNAPPER ÜBERBLICK
Das folgende Kapitel wird einen knappen Überblick über ein Klinisches Ethik Komitee und dessen Entwicklung geben. „Der Fortschritt der Medizin und der Biowissenschaften führt zu Entscheidungslagen, die sich herkömmlichen Wissensroutinen entziehen und neue Formen der Entscheidungsfindung generieren. Interdisziplinäre Gremien fungieren häufig als Lösung des Problems riskanter Entscheidungsfindung. [... ] Die zu entscheidenden Fragen erscheinen dabei weniger als Probleme professionellen Wissens und Handelns, sondern als mit Moralfragen infizierte Probleme“ (Wagner 2003: Programm zur Übung ‘Ethik und Organisation’). In Deutschland etablierten sich daher in letzter Zeit unterschiedlichste ethische Beratungsgremien, die sich mit diesen Fragen auseinandersetzen. Beispiele wären der Nationale Ethik Rat, Ethik Kommissionen, die zu bestimmten Themen tagen und Stellung nehmen, Enquete Kommissionen oder Ethik-Komitees (z.B. in Krankenhäusern). Dass ethische Fragestellungen in Krankenhäusern eine zunehmend wichtige Rolle spielen, wird im folgenden Text deutlich werden, ebenso kristallisiert sich heraus, dass auch das persönliche Wertesystem der Mitglieder der Komitees die dort getroffenen Entscheidungen beeinflusst. In meiner Arbeit befasse ich mich, wie schon erklärt, mit den Biografien der Mitglieder eines Klinischen Ethik Komitees, um die Frage danach zu klären, welche Funktion die unterschiedlichen Formen religiöser Kommunikation innerhalb dieser Biografien übernimmt. Bevor jedoch empirisch gearbeitet werden kann, muss eine theoretische Basis geschaffen werden, auf deren Grundlage dann eine Analyse der biografischen Interviews erfolgen kann. Es wird deshalb in den folgenden Teilen zunächst auf den Begriff der Ethik und das Klinische Ethik Komitee, seine Aufgaben, seine Struktur, seine Ziele sowie seine Mitglieder und deren Anforderungen eingegangen, um einen Einblick in die Tätigkeiten von Mitgliedern Klinischer Ethik Komitees und über den Hintergrund dieser zu bekommen. Die Kontexte in denen das Ethik Komitee steht, sind die Religion und die Moral, ich werde deshalb in Kapitel vier auch den Zusammenhang von Religion und Moral darstellen.
3.1. Der Terminus Ethik
Der Begriff Ethik wird häufig als bekannt vorausgesetzt und meist mit christlicher Ethik, Nächstenliebe und Moral in Verbindung gebracht. Doch was leistet Ethik tatsächlich? Ethik stellt eine autonome Disziplin, genauer gesagt eine Integrationswissenschaft dar. Dies bedeutet, sie übernimmt eine ganzheitliche Perspektive und integriert durch ihre Unbestimmtheit so verschiedene soziale Systeme und Ergebnisse anderer Wissenschaften. Sie vertritt einen eigenen, von den Interessen anderer unabhängigen Standpunkt und ist universalisierbar. Nassehi beschreibt in seinen Ausführungen zur Geschlossenheit und Offenheit von Gesellschaftssystemen, dass die Ethik vielleicht die einzige Disziplin der Wissenschaft ist, der man Eindeutigkeit und Widerspruchsfreiheit abfordern kann (vgl. Nassehi 2003: 277). Ob diese Eindeutigkeit jedoch eventuell durch den Aspekt der Unbestimmtheit zu ergänzen ist, wird der folgende Abschnitt zeigen.
3.1.1. Grundtypen ethischer Konzepte
Auch in der Ethik lässt sich, ähnlich wie in diversen anderen wissenschaftlichen Disziplinen, eine Vielfalt an unterschiedlichen theoretischen Ansätzen erkennen, einige seien hier knapp erläutert.[17] Zudem gibt es diverse Gliederungsversuche, die die unterschiedlichen Ansätze in bestimmte Typen aufzuteilen versuchen. Brudermüller beispielsweise differenziert Ethiken danach, „ob nach individualrationalen Interessen eine ‘Minimalmoral’ formuliert wird oder eher eine prozedurale, konsensualistische Legitimation im Vordergrund steht oder eine prinzipielle, ausdifferenzierte, inhaltliche Entscheidung für ein ethisches Konzept getroffen wird“ (Brudermüller 1999: 107). Diese Typisierung soll zur Einführung in die Thematik im folgenden knapp dargestellt werden.
Im Rahmen der zuerst genannten individualrationalen Interessentheorie geht es vor allem darum, was für das Individuum langfristig gesehen am Besten ist (vgl. Hoerster 1983) – das was kurzfristig als vorteilig erscheint ist dazu nicht zwingend äquivalent. Die von Brudermüller erwähnte ‘Minimalmoral’ besteht darin, dass unterstellt wird, es läge stets im langfristigen Interesse des Individuums, im Konsens mit anderen zu agieren während gleichzeitig die eigenen Interessen gewahrt werden.
Die prozeduralen Ethiken untergliedert Brudermüller in Konsenstheorien und Theorien, die eine Legitimation durch Verfahren proklamieren. Wie der Name Konsenstheorien schon vermuten lässt, ist in der Diskurs- und Konsensethik zentral, dass ein Konsens aller oder zumindest der Mehrheit darüber erlangt werden kann, welche Prinzipien oder Handlungen grundsätzlich als richtig oder falsch gelten (vgl. Habermas 1983: 86ff). In der Verfahrensethik, einem Ansatz zu einer Legitimation durch Verfahren (vgl. Luhmann 1969/1983: 27ff), wird dargestellt, dass weder moralische noch ethische Begründungen zwingend notwendig sind, um eine Entscheidung zu legitimieren. Es werden in einem Verfahren Instanzen geschaffen, die dazu führen, dass eine Entscheidung getroffen und akzeptiert wird. Die Wahrheit wird nicht, wie früher, durch Gottheiten, die Natur oder ähnliches vorgegeben sondern letztendlich per Beschluss festgelegt. Wahrheit ist demnach das, was als Wahrheit anschlussfähig ist (vgl. Luhmann 1969/1983: 27ff). Das Verfahren selbst dient also als Legitimationsquelle, da durch dessen ritualisierten Ablauf das Ergebnis stets als Wahrheit und damit als moralisch und ethisch korrekt erscheint. Die Zeit als knappe Ressource spielt hier eine wichtige Rolle, da die Verfahren Komplexität reduzieren müssen, wird gewissermaßen gerade durch die Knappheit der Zeit und die daraus resultierende Kanalisation der Kommunikation rasch ein Konsens erzeugt (vgl. Luhmann 1968: 6ff). Brudermüller bezweifelt jedoch, dass sich die von Luhmann entwickelte Theorie zur Legitimation durch Verfahren empirisch einwandfrei belegen lässt, er gesteht jedoch zu, dass durch die Ritualisierung des Ablaufs von Verfahren die Akzeptanz der Entscheidung gefördert wird.
Inhaltlich ausdifferenzierte Ethiken untergliedert Brudermüller in Utilitarismus, Deontologische Ethiken und Metaphysische Ethiken. Für den Utilitarismus zentral ist das rationale Nutzenkalkül: eine Handlung gilt als ethisch gut, wenn sie möglichst viel Nutzen bringt (vgl. Birnbacher 1989). Es geht also um Wertmaximierung, für das Individuum soll die Konsequenz einer Handlung möglichst positiv sein. Es werden in Analogie zur Rational Choice Theorie (vgl. Scheule 2004: 9ff) negative und positive Folgen gegeneinander aufgewogen, das Gemeinwohl steht in diesem Ansatz nicht generell über den Eigeninteressen. Die Schwäche des Utilitarismus liegt nach Brudermüller „vor allem darin, dass er keine Letztbegründung für das Gute zu geben vermag. Der Ansatz bleibt zudem subjektivistisch, denn jedes Individuum hat seine je eigene Ziel- und Glücksvorstellung“ (Brudermüller 1999: 109). Eine Vergleichbarkeit, ein Wertekonsens oder ein Maßstab des Glücks ist hierbei nur sehr bedingt und schwierig herstellbar. „Für den Deontologen (wie für den ‘Gesinnungsethiker’ im Sinne Max Webers) kommt es vor allem auf die moralische Qualität der Handlung selbst und die Motive an, die ihr zugrunde liegen; aus teleologischer Sicht (des ‘Verantwortungsethikers’) gelten die Mittel als insoweit durch den Zweck geheiligt, als er eine Handlung deren absehbare Folgen langfristig besser sind als die absehbaren Gesamtfolgen einer anderen möglichen Handlung, auch dann zur Pflicht macht (‘verantwortet’), wenn die Handlung nach deontologischen Kriterien, gemessen an der Qualität der Handlung selbst, als moralisch bedenklich oder verwerflich erscheinen muss“ (Brudermüller 1999: 110). Diese Form der Ethik beruht auf den Maximen, die Kant entwickelte: Die obersten Prinzipien sind die unantastbare Menschenwürde, die praktische Vernunft und die Autonomie des Willens. Die Menschen sind einer höheren Instanz (z.B. Gott, dem eigenen Gewissen) gegenüber verpflichtet, sittlich und verantwortungsvoll zu handeln. Im Rahmen der metaphysischen Ethik orientieren sich deren Vertreter an von den Menschen nicht zu beeinflussende Gegebenheiten, wie beispielsweise der Natur. Metaphysische Ethiken waren vor allem in der Antike populär und erleben derzeit einen Wiederaufschwung – sie ermöglichen Begründungen, die über die Logiken der bisher erläuterten Konzepte hinausgehen. Gerade in einer Moderne, in der gängige Begründungs- und Entscheidungsstrukturen keine eindeutigen Lösungsansätze mehr bieten, erscheint diese Form der Ethik durchaus interessant. Dennoch lassen sich nach Brudermüller auch gravierende Schwächen feststellen, der Begriff der Verantwortung beispielsweise wird nicht ausreichend formuliert und integriert.
Was diese knappe und sicherlich nicht ganz vollständige Ansatzübersicht zeigt, ist, dass eine große Vielfalt und vor allem Unbestimmtheit ethischer Theorieansätze besteht. Diese Unbestimmtheit und das Umgehen damit spielt bei der Auswertung des Interviewmaterials eine entscheidende Rolle.
3.1.2. Ethik in der Systemtheorie
Nach Luhmann entwickelte sich die Beurteilung moralischen Verhaltens von naturalen über religiös-transzendenten zu transzendentalen Begründungslogiken. Die gesellschaftliche Entwicklung erfordert eine „neuartige Reflexion auf die Rationalitätsgrundlagen moralischer Urteile“ (Luhmann 1990: 13): so entwickelte sich die Ethik zu einer Reflexionstheorie der Moral. Reflexionstheorie der Moral bedeutet, „jede kognitive Beschreibung, die sich auf die Probleme der Moral einlässt und sie zu reflektieren versucht. Die Funktion der Ethik wäre es demnach, der Moral eine Theorie der Moral zu liefern – und genau hier liegt das Problem!“ (Luhmann 1998: 371). Luhmann erläutert zwei unterschiedliche Ausgangspunkte, die die Transformation der Ethik in eine Reflexionstheorie der Moral bedingt haben: „Der eine ist die Paradoxie der Moral wenn man sie auf Absichten und Folgen hin betrachtet. Der andere ist das Problem der Selbstreferenz des Sozialen gesehen als [... ] Problem der doppelten Kontingenz“ (Luhmann 1998: 408). Der Unterschied zu den bisherigen Theorien zur Ethik besteht nach Luhmann darin, „dass erstmals die alte Einheit von Moral und Manieren aufgegeben wird“ (Luhmann 1990: 14). Die Ethik hat Luhmann zufolge bisher die eigentliche Problematik der Moral ignoriert und lediglich als Begründungstheorie gedient. Deshalb entwickelt Luhmann weitere Probleme und Aufgaben, die die Ethik in der Zukunft lösen soll. Luhmann sieht die Rolle der Ethik in einer Vermittlungsfunktion, in welcher die Ethik einerseits die Anforderungen der Moral an die Gesellschaft und andererseits die Forderungen der Gesellschaft an die Moral weiterleitet und vermittelt. Er beschreibt, dass Moral ihre außersoziale Absicherung durch Religion verliert und so Begründungsprobleme entstehen. „Die Begründungsprobleme einer Moral, die das Soziale in Form bringen will und dabei auf das Problem der Selbstreferenz stößt, stellen neue Anforderungen an das, was jetzt in einem neuen Sinne Ethik heißt“ (Luhmann 1998: 407). Grundlage für Luhmanns Theorie ist, dass Moral keine Integration in die Gesellschaft mehr garantiert, da ihre binäre Codierung nicht auf andere Funktionssysteme anzuwenden ist. „Jeder binäre Code, auch der der Moral, führt bei einer Anwendung auf sich selbst zu Paradoxien. Man kann nicht entscheiden, ob die Unterscheidung von gut und schlecht ihrerseits gut oder vielmehr schlecht ist“ (Luhmann 1990: 27). Luhmann beschreibt anhand einiger Beispiele, dass ethische Reflexion in ihrer alten Form nicht mehr funktionsfähig ist, Begründungen für das Existieren von Moral gibt es ausreichend viele und auch ausreichend gute. „Wenn die Ethik eine Reflexionstheorie der Moral sein und bleiben soll [... ] muss sie sich selbst dem binären Schematismus von gut und schlecht unterwerfen [... ]. Es gibt viele Möglichkeiten des moralischen Kommunizierens, und es fehlt nicht an Worten und guten Gründen, auf die man sich dabei berufen kann. Von einer Ethik sollte man aber verlangen können, dass sie die Strukturen des Gesellschaftssystems mitreflektiert, wenn sie der Moral ein Gütezeugnis oder auch nur eine Unbedenklichkeitsbescheinigung ausstellt. Wenn nun die Annahme zutrifft, dass die moderne Gesellschaft nicht mehr über Moral integriert sein kann und auch nicht mehr den Menschen über Moral ihre Plätze anweisen kann, dann muss die Ethik in der Lage sein, den Anwendungsbereich der Moral zu limitieren“ (Luhmann 1990: 37ff). Folgt man dieser Definition, so bestände die Hauptaufgabe der Ethik darin, Moral zu begrenzen und deren Defizite sichtbar zu machen – auch dies stellt jedoch keine wirklich eindeutig umsetzbare Anforderung dar. Zusammengefasst lässt sich also sagen, dass der Begriff der Ethik auch in diesem Ansatz höchst unbestimmt ist. Diese Unbestimmtheit spielt auch in den Biografien der Mitglieder des Klinischen Ethik Komitees eine Rolle, wie Kapitel fünf, sechs und sieben zeigen werden.
[...]
[1] Das Projekt befasst sich mit der Struktur und Funktionsweise Klinischer Ethik Komitees. Es werden in diesem interdisziplinären Forschungsprojekt (beteiligt sind die Soziologie, die Diakoniewissenschaft und die evangelische Ethik) ethische Entscheidungsfindungen in der Praxis Klinischer Ethikkomitees untersucht. Dabei wird unter anderem versucht, zu analysieren, wie persönliche Einstellungen, kulturelle Prägungen sowie die beruflichen Hintergründe der beteiligten Berufsgruppen das Engagement in einem solchen Gremium prägen.
[2] Es lassen sich diverse qualitative Methoden auch hinsichtlich ihrer Datenerhebungstechnik und Auswertungstechnik differenzieren, Beispiele wären die Teilnehmende Beobachtung (vgl. Adler& Adler 1994, Flick 1995, Aster, Merkens&Repp 1989, Merkens 1992) und das explorative, fokussierte oder narrative Interview (vgl. Honer 1994, Hopf 1991, Flick 1995, Hermanns 1991) hinsichtlich der Produktion von Daten sowie die objektive Hermeneutik (vgl. Oevermann u.a. 1979, Suttner 1994, Bohnsack 1991, Reichertz 1997) und wissenssoziologische Hermeneutik (vgl. Schroer 1992, Hitzler&Honer 1994, Soeffner 1992), die Deutungsmusteranalyse (vgl. Schütze, Y. 1992, Lüders&Meuser 1997), die Diskursanalyse (vgl. Hirseland&Schneider 2001, Keller 1997) Auch die Ethnografie stellt einen wichtigen Ansatz der qualitativen Sozialforschung dar (vgl dazu Hirschauer 2001).
Lüders und Reichertz nennen fünf Schwierigkeiten, die bei der qualitativen Analyse sozialwissenschaftlicher Daten auftreten können, das Problem der Beliebigkeit, der Generalisierbarkeit, der Ökonomisierung, der Darstellbarkeit sowie des Selbst- und Wissenschaftverständnisses (vgl Lüders/ Reichertz 1986).
[3] Das narrative Interview ist ein Erhebungsverfahren, das hauptsächlich von Fritz Schütze entwickelt wurde (vgl Schütze 1983). Im Rahmen dieses Interviews soll der Befragte zur Erzählung seiner Lebensgeschichte motiviert werden. (Eine Tonbandaufnahme, die die spätere Transkription sowie die anschließende Analyse erst ermöglicht, wird im Konsens mit den Interviewten vereinbart. Der Umgang mit dem Material erfolgt selbstverständlich entsprechend den datenrechtlichen Bestimmungen)
[4] Bei dieser Art der Erzählung handelt es sich nicht um standardisierte Versionen die bereits häufig, beispielsweise im Alltag erzählt wurden, sondern um spontane biografische Großerzählungen, die aufgrund eines bestimmten Anlasses ad hoc erzählt werden.
[5] Das Nachfragen im Anschluss an das Interview differenzieren Fischer-Rosenthal/ Rosenthal in drei Grundtypen: Das Nachfragen über das Ansteuern einer Lebensphase, das Ansteuern einer benannten Situation und das Ansteuern einer Beleg-Erzählung zu einem Argument (vgl. Fischer-Rosenthal/ Rosenthal 1997). In den biografischen Selbstbeschreibungen der Mitglieder des Klinischen Ethik Komitees fanden sich alle drei Formen der Nachfrage.
[6] Weitere Schwierigkeiten stellen, so Flick, der Einfluss der Situation auf das Erzählte, die Wirksamkeit von Erzählzwängen sowie der große Textumfang der Transkripte in der Forschungspraxis dar (vgl. Flick 1995: 123f).
[7] Nach Schütze werden biografische Handlungsschemata dazu verwendet, die Ordnungsstruktur des lebensgeschichtlichen Ablaufs zu stabilisieren. Sie verfügen über einen Interaktionsbezug, eine Ankündigungsstruktur und eine Durchführungsstruktur (vgl. Schütze 1984: 77). Kohli schließt sich diesbezüglich Schütze an, auch seiner Logik zufolge wird Biografie nicht als ein reines „Aufeinanderfolgen von Daten und Ereignissen verstanden“ (Kohli 1978: 23) sondern integriert den Aspekt der Subjektivität und damit den Bezug zu ‘Sinn’. Das von Schütze entwickelte Modell zur Rekonstruktion von Lebensgeschichten wurde in unterschiedlichen Forschungsrichtungen weiterentwickelt und variiert, stellt mittlerweile eine etablierte Methode in der Soziologie dar und wurde auch in meiner Analyse der biografischen Selbstbeschreibungen verwendet.
[8] Eine knappe aber gute Zusammenfassung der derzeitigen Konzeptionen von ‘Biografie’, genauer gesagt zum Verhältnis von Biografie und Lebenslauf, findet sich in Ruth Siebers Arbeit mit dem Titel „Zwischen Normalbiografie und Individualisierungsuche“ auf den Seiten 39-47.
[9] Nach Schütze können biografische Interviews die Analysen in drei unterschiedliche Richtungen lenken: „Erstens kann es um die Herausarbeitung elementarer Prozessstrukturen des Lebenslaufs gehen [... ]. Zweitens kann ein spezieller sozialer Prozess in seiner Auswirkung auf den Lebenslauf im Zentrum des sozialwissenschaftlichen Interesses stehen. [... ] Drittens kann schließlich auf der Grundlage der Erhebung, Transkription und Analyse einer autobiografischen Stegreiferzählung [... ] eine biografische Beratung mit dem Betroffenen stattfinden [... ]“ (Schütze 1983: 293). In allen drei Vorschlägen Schützes erfolgt der Schluss von produziertem Text auf das Leben, wie es sich tatsächlich zugetragen haben soll.
[10] Nach Weber et al. haben biografische Selbst- und auch Fremdthematisierungen zum Ziel, Sinnkontinuität angesichts von Veränderung herzustellen (vgl. ebd.: 193). Es besteht jedoch ein Unterschied zwischen einem Lebensprozess, der aus unzähligen einzelnen Elementen wie Erfahrungen, Ereignissen und Emotionen besteht und einer Biografie, die für Interviewten und Interviewer den Lebenslauf zum Thema macht (vgl. Hahn 1988: 91ff). Weber et al. Beschreiben diesbezüglich drei Unterscheidungskriterien: „Der Lebenslauf ist zunächst ein Insgesamt von Ereignissen, die in einer zeitlichen Abfolge stehen. [...] Zugleich ist unter Lebenslauf auch ein standardisiertes Muster zu verstehen [...]. Die Biografie schließlich resultiert aus der Beobachtung des Lebenslaufs als Insgesamt von Ereignissen bzw. als Ablaufmuster. Entscheidend ist, dass die erkenntnistheoretische Differenz zwischen Lebenslauf und Biografie niemals einzusehen ist“ (Weber et al. 2002: 194).
[11] „Schütze sieht in biografischen Erzählungen Texte, die „den sozialen Prozess der Entwicklung und Wandlung einer biografischen Identität kontinuierlich, d.h. ohne exmanente, aus dem Methodenzugriff oder theoretischen Voraussetzungen des Forschers motivierte Interventioren und Ausblendungen“ (Schütze 1983: 286) darstellt.
[12] Zur exakten Erläuterung des Kontingenzbegriffs siehe Luhmann 1989: S.148ff.
[13] Siehe dazu Luhmanns Differenzierung von Sinn: Luhmann 1987: S. 92ff
[14] Zur funktionalen Analyse vgl. Schneider 1991 und Luhmann 1991.
[15] Dies sind diejenigen Wirklichkeiten, in deren Perspektive Verweisungen auf die Welt als Kontexte erscheinen, deren kontextureller Ursprung der Beobachter selbst ist (vgl. Gotthard Günther 1979).
[16] Hirschauer und Bergmann kritisieren in ihrem Artikel in der Zeitschrift für Soziologie, dass sich das für die Biografieforschung überzeugende Argument nicht ohne weiteres auf die Ethnomethodologie oder die qualitative Sozialforschung insgesamt ausdehnen lasse. Sie erläutern zudem, dass Interviews schon per se Kontingenz determinieren und stellen die Vorzüge, die die Ethnografie diesbezüglich bietet, heraus (vgl. Hirschauer/Bergmann 2002). Natürlich existiert wiederum Kritik an dieser Kritik, darauf soll jedoch nicht detaillierter eingegangen werden. Trotz ihrer Differenzen besteht zwischen Hirschauer/Bergmann und Nassehi/Saake jedoch Einigkeit darüber, dass die formulierte Argumentation zur Erforschung der Strukturen der Kontingenzreduktion für die Biografieforschung brauchbar ist – methodisch gesehen gibt es also keine Bedenken gegen dieses Vorgehen.
[17] siehe hierzu auch von Manz 1982
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- Dipl.-Soziologin Andrea Wagner (Author), 2004, Religiöse Kommunikation in modernen Biografien, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/64450
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