Für Schreibende war die Weimarer Republik als Zeitalter des rasanten Anstiegs von Massenmedien mit einer zwangsläufigen Anpassung, aber auch mit neuen Impulsen und Möglichkeiten verbunden. Joseph Roth gehört zu den Personen, bei denen Journalismus und Schriftstellerei eng miteinander verzahnt waren. Diese Arbeit untersucht die literarischen Reportagen Roths als eine Mischform, zu deren Meistern er gezählt wird. Sie analysiert Roth in seiner Doppelrolle als Journalist und Schriftsteller und fragt nach den Auswirkungen dieser Rolle auf seine Reportagen sowie den spezifischen Eigenheiten dieser Texte.
Inhaltsverzeichnis
1. Die Ausgangssituation: Literatur im Zeitalter der Medienkonkurrenz
2. Zum Leben von Joseph Roth
3. Ein „verträumte[r] Lyriker“ ergreift seine Chance
4. Entstehung neuer Formen
4.1. Joseph Roth und das Feuilleton
4.2. Die Reportage im Spannungsfeld zwischen Fakten und Fiktion
4.3. Annäherung: Sind Roths Reportagen wirklich welche?
4.4. Neue Impulse für die Literatur
5. „Die Aufgabe des Dichters in unserer Zeit“
6. Schlussbetrachtung
Literaturliste
Primärliteratur
Sekundärliteratur
1. Die Ausgangssituation: Literatur im Zeitalter der Medienkonkurrenz
Die Zeit der Weimarer Republik (1918-1933) war durch eine extreme Dichte tiefgreifender sozialer, ökonomischer und technologischer Veränderungen geprägt.[1]Zu denen, die am unmittelbarsten von den Umstrukturierungsprozessen betroffen waren, gehörte die literarische Intelligenz.[2]Mit Massenpresse, Rundfunk und Film traten neue Unterhaltungs- und Bildungsmittel in Konkurrenz zur traditionellen Bücherliteratur. Sie drohten deren Stellung als wichtigster Kulturträger zu schwächen. Presse und Journalismus wurden von den Autoren als größte Herausforderer begriffen. Mit der erstarkten Presse erhöhte sich „der Umsatz an Kultur erheblich, denn die Feuilletons mußten täglich neu gefüllt werden“, analysiert Erhard Schütz[3]. Er vermittelt einen Eindruck davon, wie entscheidend sich die Entfaltung der Massenmedien und die damit verbundene Entstehung einer Massenkultur auswirkten: Die Rolle der Presse werde insbesondere deutlich, „wenn man bedenkt, daß die großen Verlagshäuser Ullstein, Mosse und Scherl sich Belletristisches fast nur als Extravaganz leisteten – die Menge des Profits wurde mit Zeitungen und Illustrierten gemacht“[4].
Diese Situation stellte Autoren, die bisher ausschließlich mit Literatur ihren Lebensunterhalt verdient hatten, vor eine neue Herausforderung. Für viele wurde der Journalismus zur wichtigsten Einnahmequelle.[5]Die Grenzen zwischen Schriftsteller und Journalist begannen zu verschwimmen. Doch nicht allein die Sicherung der eigenen Existenz machte es notwendig, sich auf die Medien einzulassen. In seinem Buch„Literarische Reportage“ schreibt Schütz von einem „Ungenügen der Literatur an sich selbst angesichts der gesellschaftlichen Verhältnisse“[6], von einem „Versagen der konventionellen Literatur [...] vor der veränderten Wirklichkeit“[7]. Neue Techniken waren erforderlich, um die Realität in ihrer Komplexität künstlerisch darstellen zu können.
Eine Auseinandersetzung mit den Mitteln des Journalismus wurde nahezu unumgänglich – schließlich hatten gerade die von den Medien praktizierte „Schnelligkeit, Vielfalt, Kürze, Pointiertheit und Drastik“[8]sich als prägend für die neue Zeit erwiesen.
Mit der literarischen Reportage[9]avancierte in den Zwanziger Jahren eine Mischform zur Mode, die eine objektive Wiedergabe der Realität anstrebte und gleichzeitig Anspruch auf eine künstlerische Gestaltung erhob. Programmatisch ist sie der Neuen Sachlichkeit zuzuordnen. Thomas Düllo bezeichnet sie sogar als „Herzstück“[10]dieser Richtung. In der Realismus-Debatte rund um die Neue Sachlichkeit spielte die Reportage eine besondere Rolle.[11]An ihr entfachten sich grundsätzliche Diskussionen um das Verhältnis zwischen Literatur und Journalismus. Einer, den literatur-theoretische Fragen wenig beschäftigten[12], der dafür aber bis heute als ein Meister der Reportage in der Weimarer Republik gilt, ist Joseph Roth. Er soll im Mittelpunkt dieser Hausarbeit stehen – als ein Journalist und Autor, der unter den Bedingungen der Weimarer Republik seine Begabungen entfalten konnte. Die Weimarer Republik war nicht nur eine Zeit der Anpassung, sondern auch eine Zeit neuer Impulse und Möglichkeiten. Das gilt für Schreibende in besonderem Maße und lässt sich am Beispiel von Joseph Roth nachweisen. Der literarischen Reportage soll dabei als ein neuer Impuls in der Publizistik besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden.
2. Zum Leben von Joseph Roth
Joseph Roth (1894-1939) hat einen Großteil seiner Arbeiten in der Weimarer Republik geschrieben. Neun Jahre lang war er Journalist und Korrespondent der Frankfurter Zeitung in Berlin und Paris. Zugleich veröffentlichte er zahlreiche Romane, Erzählungen und andere literarische Schriften. Deshalb eignet Roth sich in besonderem Maß für eine Untersuchung, die sich mit Literatur und Journalismus in diesem Zeitraum befasst.
Erste lyrische Versuche machte Roth in seiner frühen Jugend. Während der Dienstjahre beim Militär veröffentlichte er kleine Feuilletons und Gedichte in verschiedenen Zeitungen und Wochenschriften – unter anderem im„Prager Tagblatt“. Seine berufliche Laufbahn begann 1919 mit einer festen Anstellung bei der Wiener Tageszeitung„Der Neue Tag“. Ein Jahr später – das Blatt wurde eingestellt – siedelte der Österreicher nach Berlin über, wo er zum Beispiel im„Berliner Börsen-Courier“publizierte. Ab 1923 war Roth ständiger Mitarbeiter der angesehenen„Frankfurter Zeitung“, für die er sich – mit einer Unterbrechung – bis 1932 engagierte.
Roth entwickelte zunehmend schriftstellerische Aktivitäten. Zwischen 1922 und 1924 entstanden seine ersten Romane„Das Spinnennetz“,„Hotel Savoy“und„Die Rebellion“.[13]Die Profilierung als Romancier gelang ihm dem 1930 erschienenen Buch„Hiob“. Danach wollte er nur noch gelegentlich journalistisch arbeiten. In den Jahren 1931/1932 entstand der Roman„Radetzkymarsch“. Die Machtübernahme der Nationalsozialisten veranlasste den Juden schließlich dazu, sich wieder verstärkt zu Wort zu melden. Im Pariser Exil schrieb er überwiegend im Dienst der politischen Auseinandersetzung. Bis zu seinem Tod im Mai 1939 entstanden neben journalistischen Arbeiten weitere Romane, unter anderem„Die Kapuzinergruft“(1938) und„Die Geschichte von der 1002. Nacht“(1939).
3. Ein „verträumte[r] Lyriker“ ergreift seine Chance
In der Weimarer Republik gab es eine Vielfalt an Zeitungen wie nie zuvor und nie mehr danach.[14]In Berlin und anderen großen Städten erschienen Blätter oft dreimal täglich. Beilagen zu Literatur, Technik und Industrie und anderen Themen gehörten zum erweiterten Spektrum. Ständig wurde neuer Stoff benötigt – ideale Bedingungen für einen unbekannten Autor, der darauf bedacht war, zu veröffentlichen.
Joseph Roth hat sich als schon früh als Dichter verstanden. In einem Brief an seine Cousine Paula Grübel beschrieb sich der Student als „verträumte[n] deutsche[n] Lyriker, [...] Kunstenthusiast und Germanist im 6. Semester“[15]Die Presse sollte ihm ermöglichen, seine Versuche einem Publikum zugänglich zu machen. Am 17. Oktober 1915 veröffentlichte„Österreichs Illustrierter Zeitung“sein erstes Gedicht „Welträtsel“. Zwei Wochen zuvor hatte Roth dem Redakteur in einem flehentlichen Schreiben einige Gedichte angeboten: „Es ist nicht die Sehnsucht nach Druckerschwärze, die mich Ihnen schreiben heißt, sondern die Not“[16], notierte der 21-Jährige, dem es offenbar an Geld mangelte. Klaus Westermann behauptet dementgegen, der damals sehr selbstbewusste Roth habe seine Armut übertrieben. Es sei gerade die „Sehnsucht nach Druckerschwärze“ gewesen, die den Studenten zu diesem „naiv-dreisten“ Brief motiviert habe.[17]In anderen Darstellungen wird wiederum von einer frappierenden Not berichtet. Letztlich dürften beide Gründe eine Rolle gespielt haben.
Roth arbeitete nach Kriegsende verstärkt daran, seinen Namen bekannt zu machen. „Als Journalist“, so analysiert Idalina Aquiar de Melo, „versucht[e] der deutschsprachige Ostjude, sich einen Platz im journalistischen, wenn auch noch literarischen Milieu Wiens und später Berlins zu sichern“[18]. Die Konstellationen der Weimarer Republik sollten sich als chancenreich für Roth erweisen.
In Berlin, dem kulturellen Zentrum des frühen 20. Jahrhunderts, war die Bereitschaft zu neuen Gedanken und Experimenten größer als in Wien. Berlin war die Stadt des Bauhauses, der Philharmonie, des Theaters, des Film, der Literatur und der Presse.[19]Für Roth bestand die Möglichkeit, sich als Journalist sein Lebensunterhalt zu verdienen und gleichzeitig an einer Karriere als Autor zu arbeiten. Als Mitarbeiter der „Frankfurter Zeitung“ entwickelte er sich zu einem der angesehensten deutschen Feuilletonisten. Den Bekanntheitsgrad nutzte er, um sich als Romancier zu versuchen.
[...]
[1] Vgl. Helmut Kreuzer: Kultur und und Gesellschaft in der Weimarer Republik, Ein Vortrag, in: Theo Elm/Gerd Hemmerich (Hgg.): Zur Geschichtlichkeit der Moderne, Der Begriff der literarischen Moderne in Theorie und Deutung, Ulrich Fülleborn zum 60. Geburtstag, München 1982, S. 271 ff.
[2] Vgl. Erhard Schütz/Jochen Vogt (Hgg.): Einführung in die deutsche Literatur des 20. Jahrhunderts, Bd. 2: Weimarer Republik, Faschismus und Exil, Opladen 1977, S. 11.
[3] Ebd., S. 18.
[4] Ebd.
[5] Erhard Schütz weist beispielsweise darauf hin, dass ein Engagement beim Rundfunk einer größeren Zahl von literarischen Intellektuellen überhaupt erst die Existenz als Autor ermöglicht hat. Erhard Schütz: Romane der Weimarer Republik, München 1986, S. 38 f.
[6] Erhard Schütz (Hg.): Literarische Reportage, Frankfurt am Main 1979, S. 21.
[7] Ebd., S. 18.
[8] Vgl. Schütz, Romane der Weimarer Republik, S. 150.
[9] Es stellt sich die Frage, ob die literarische Reportage mit dem, was in den Zwanziger Jahren allgemein als Reportage verstanden wurde, gleichzusetzen ist. Siegfried Kracauer hat 1929 beispielsweise von der „Reportage als Mode“ geschrieben, nicht von der literarischen im Besonderen. (Siegfried Kracauer: Reportage als Mode, in: Schütz, Literarische Reportage, S. 40) Erhard Schütz versucht mit Hilfe von Handbüchern eine Klärung: Von der Reportage, die im vagsten Verständnis als Gattungsbegriff für Tatsachenberichte in den verschiedensten Medien gebraucht wird, unterscheidet sich die literarische Reportage demnach durch eine noch stärkere Aufmerksamkeit für das Detail, ihren zumeist ästhetischen Charakter sowie die betont subjektive Perspektive des Autors bei gleichzeitiger Nachprüfbarkeit der berichteten Fakten. (siehe Anm. 2, S. 199). Eine beispielhafte Untersuchung zeigt, dass diese Merkmale in vielen Reportagen der Weimarer Republik auszumachen sind. Schütz spricht auch von einem Ursprung der Reportage als literarische Reportage in den Zwanziger Jahren (Schütz, Literarische Reportage, S. 4). Es darf also angenommen werden, dass Reportage und literarische Reportage in der Weimarer Republik identisch sind.
[10] Thomas Düllo: Zufall und Melancholie, Untersuchungen zur Kontingenzsemantik in Texten von Joseph Roth, Münster/Hamburg 1994, S. 126.
[11] Ende der Zwanziger Jahre formierte sich verstärkt Kritik an der Reportage. Zentral war die Frage, ob die Reportage überhaupt in der Lage sei, Wirklichkeit abzubilden. Die Thematik kann in dieser Arbeit nur gestreift werden.
[12] Idalina Aquiar de Melo stellt fest, dass Roth sehr wenige Essays verfasste und keinen einzigen über Fragen der Dichtung oder der Journalistik. Roth sei sein Leben lang jeder Theorie abhold gewesen, so dass man vergeblich nach irgendeinem literaturwissenschaftlichen Denken in seinem Werk suche. Idalina Aquiar de Melo: Joseph Roths Selbstverständnis als Dichter und Journalist, in: Germanistische Mitteilungen, Zeitschrift für deutsche Sprache, Literatur und Kultur in Wissenschaft und Praxis, 1990, H. 32, S. 41.
[13] Helmuth Nürnberger weist darauf hin, dass Roth möglicherweise schon 1920 mit dem Schreiben von Romanen begonnen hat. Einen Brief, den Roth an Stefan Zweig verfasst hat, sieht er als Indiz dafür an. Vgl. Helmuth Nürnberger: Joseph Roth, dargestellt in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek 1981 (rororo Bildmonograpie Nr. 301), S. 61.
[14] Vgl. Schütz, Romane der Weimarer Republik, S. 35. (siehe Anm. 5)
[15] Aus einem Brief an Paula Grübel von 1916 (genauer Tag unbekannt). Joseph Roth: Briefe 1911-1939, herausgegeben und eingeleitet von Hermann Kesten, Köln/Berlin 1970, S. 33.
[16] David Bronsen: Joseph Roth, Eine Biographie, Köln 1974, S. 142 ff. Bronsen hat der Brief von Roth, den er zitiert, offenbar vorgelegen. Zumindest macht er keine Literaturangabe, sondern erwähnt lediglich, dass der Brief bis kurz vor der Entstehung der Biographie von einer fernen Verwandten Roths in Israel aufbewahrt wurde.
[17] Vgl. Klaus Westermann: Joseph Roth, Journalist, Eine Karriere 1915-1939, Bonn 1987, S. 14 f.
[18] Idalina Aquiar de Melo, Joseph Roths Selbstverständnis als Dichter und Journalist, S. 44. (siehe Anm. 12)
[19] Vgl. Westermann, Joseph Roth, S. 30.
- Citar trabajo
- Janine Wergin (Autor), 2003, Die Weimarer Republik als Zeit neuer Impulse und Chancen, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/64347
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