Obwohl Weiblichkeitsbilder in der Literatur der Weimarer Republik eine besondere Rolle spielen, ist eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Frauenfiguren in Vicki Baums wohl bekanntestem Roman „Menschen im Hotel“ (1929) bisher weitgehend unterblieben.
Diese Arbeit analysiert die Darstellung der beiden wichtigsten Protagonistinnen, der Ballerina Grusinskaja und der Gelegenheitssekretärin Flämmchen, und fragt nach deren Funktionen. Sie zeigt, inwiefern die Autorin mit dem zeitgenössischen Frauenbild operiert und was sie diesem entgegen setzt. Ein kontrollierter Bruch mit Stereotypen ist feststellbar.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Figurenensemble
3. Frauenbilder in „Menschen im Hotel“ – Flämmchen und Grusinskaja
3.1. Flämmchen als Entwurf der Neuen Frau
3.2. Bruch mit dem Stereotyp
3.3. Grusinskaja – Eine außer Mode gekommene Diva
4. Die Funktion der Frauenfiguren
5. Schlussbetrachtung
Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
1. Einleitung
Rückblickend auf den Roman„Menschen im Hotel“[1]schreibt Vicki Baum in ihren„Erinnerungen“, sie habe „die abgedroschensten Figuren“ benutzt, in jede „ein Lichtlein“ gesteckt, „das sie von innen erhellt, durchsichtig macht, zu einem Menschen macht“[2]. Lynda J. King erläutert, was die Schriftstellerin mit den „abgedroschensten Figuren“ meinen könnte. Baum habe die Charaktere bewusst mit stereotypen Eigenschaften ausgestattet. „[S]he meant the figures to be stereotypes“, hält King fest.[3]
Diese Betrachtung wird sich mit den Frauenfiguren in„Menschen im Hotel“befassen. Die Typisierung ist ein Aspekt, der in der Arbeit berücksichtigt werden soll. Renny Harrigan analysiert, dass die meisten Frauendarstellungen in den Romanen der Weimarer Republik stereotype Züge aufweisen.[4]Dies gilt es für„Menschen im Hotel“(1929) zu überprüfen.
In dieser Hausarbeit soll aber auch nach der Funktion der Frauenfiguren gefragt werden. Wie stellt Vicki Baum Frauen im Roman dar? Warum zeichnet sie die weiblichen Charaktere gerade in der Weise, wie sie es tut? Mit der Ballerina Grusinskaja und der Gelegenheitssekretärin Flämmchen sind zwei von sechs Hauptfiguren weiblich. In diesem Punkt unterscheidet sich„Menschen im Hotel“von etlichen anderen Romanen der Weimarer Republik, in denen es nur eine zentrale Figur gibt. In der amerikanischen Kategorisierung wird von der „group novel“ gesprochen.[5]Nicole Nottelmann bezeichnet Vicki Baum sogar als „Wegbereiterin“[6]dieser Gattung.
Es wird danach zu fragen sein, welche Rolle Frauen, die in zahlreichen anderen Werken von Autorinnen der Weimarer Republik im Zentrum stehen[7], in dieser speziellen Form des Romans übernehmen. Die Beziehungen der weiblichen zu den männlichen Hauptfiguren sind in diesem Kontext zu beleuchten.
Die Untersuchung der Frauenfiguren soll auch unter dem Aspekt des Zeitbezuges erfolgen. Der Roman spielt im März 1928 – am Ende eines Jahrzehnts, das für die Gesellschaft mit einem steten Umbruch verbunden war und in dem sich ein neuer Typus von Frauen herausgebildet hatte. Vicki Baum reagiert in ihrem Roman darauf. Nicole Nottelmann zufolge repräsentieren die Figuren in„Menschen im Hotel“einen Teil „der (realen) zeitgenössischen Weimarer Gesellschaft“[8]. Das Hotel selbst, in dem sich diese Charaktere hauptsächlich bewegen, symbolisiere das Leben[9], erklärt die Autorin selbst. Wie Baum das zeitgenössische Frauenbild in ihr Werk einbringt und was sie diesem entgegen setzt, soll im Folgenden herausgearbeitet werden.
2. Figurenensemble
„Menschen im Hotel“verfügt über ein umfangreiches Figurenensemble. So umfangreich, dass die Autorin das Werk zunächst als für die Bühne nicht inszenierbar hielt und letztlich besonders die Umsetzung des Anfangs Schwierigkeiten bereitete.[10]Wie erwähnt hat Vicki Baum sechs Hauptcharaktere entworfen, die gemäß der „group novel“ für einen bestimmten Zeitraum an einem Ort – in diesem Fall dem Berliner „Grand Hôtel“ – zusammentreffen und deren Lebensstränge sich zumeist vorübergehend miteinander verknüpfen.[11]
Da gibt es die auf dem Abstieg befindliche, alternde Tänzerin Elisaweta Grusinskaja, die während der Auftritte in Berlin in ihrem Stammhotel weilt und sich in den Hochstapler Baron Gaigern verliebt. Dieser will zunächst ihre Perlen stehlen, entwickelt dann aber Gefühle für sie. Die zweite weibliche Hauptfigur ist Fräulein Flamm, auch Flämmchen genannt, die als Gelegenheitssekretärin und Reisebegleiterin ihr Geld verdient. Sie verkauft sich an den Generaldirektor Preysing, entwickelt gleichzeitig Zuneigung für Gaigern, um dann – als dieser von Preysing bei einem Diebstahl erschlagen wird – zum todkranken Buchhalter Otto Kringelein zu flüchten. Mit ihm reist sie nach London ab. Die sechste Hauptfigur neben Grusinskaja, Flämmchen, Gaigern, Preysing und Kringelein ist der Arzt Dr. Otternschlag, ein saisonaler Dauergast im Grand Hôtel.
Zudem gibt es viele Nebencharaktere – unterteilbar in Hotelpersonal und Assistenzfiguren der Protagonisten. Zu Grusinskaja gehört das Ballett-Ensemble (Ballettmeister Pimenoff, Kapellmeister Witte, Impressario Meyerheim, Tänzer Michael und die Erste Tänzerin Lucille) und das Dienstmädchen Suzette. Flämmchen hat eine Schwester, im Roman als Flamm I bezeichnet, die auch als Sekretärin arbeitet, ihr ansonsten aber sehr unähnlich ist. Gaigern verfügt über einen Chauffeur, der in Wahrheit sein Komplize ist. Zu den Geschäftskontakten von Preysing gehören Rothenburger, der Anwalt Dr. Zinnowitz, Schweimann, der Syndikus Dr. Waitz, Gerstenkorn, Brösemann und Burleigh. Gleichzeitig kommt auch seine Familie (Ehefrau Mulle, Töchter Pepsin und Babe und der verhasste Schwiegervater) im Roman vor. Auch Kringelein ist eine Ehefrau zugeordnet.
Trotzdem vieler weiblicher Figuren soll sich diese Betrachtung auf die Protagonistinnen Grusinskaja und Flämmchen beschränken. Auffällig ist, dass beide im Roman nie zusammentreffen oder namentlich von der Existenz der jeweils Anderen erfahren, auch wenn sie Zuneigung für denselben Mann – Baron Gaigern – empfinden. Mit Preysing und Kringelein kommt ausschließlich Flämmchen direkt in Kontakt. Die Grusinskaja hat nur eine flüchtige Begegnung mit Kringelein im Fahrstuhl.[12]Über seine Anwesenheit und Bewunderung bei einer Tanz-Vorführung erlangt sie keinerlei Kenntnis. Otternschlag nehmen beide Frauenfiguren zu keinem Zeitpunkt wahr. Er wiederum bemerkt beide Frauen, interessiert sich aber nicht für sie. Warum Vicki Baum die Konstellationen bewusst so gewählt hat, erklärt sich, wenn man die Frauenfiguren auf ihre Funktion untersucht. Zunächst soll aber gezeigt werden, wie die Autorin Frauen darstellt.
3. Frauenbilder in „Menschen im Hotel“ – Flämmchen und Grusinskaja
3. 1. Flämmchen als Entwurf der Neuen Frau
Ein Stereotyp ist – so die Definition von Renny Harrigan – „ein Bild oder ein Image, dessen Charakteristika als typisch für eine Gruppe von Personen gelten sollen“[13]. Flämmchen verkörpert den Stereotyp der Neuen Frau in der Weimarer Republik. Gleichzeitig werden ihr darüber hinaus Eigenarten zugesprochen, die zu einer Vermenschlichung der Figur beitragen.[14]Ein kontrollierter Bruch mit dem Stereotyp vollzieht sich.
Dieses Kapitel befasst sich mit den stereotypen Eigenschaften. Von ihrem äußeren Erscheinungsbild entspricht Flämmchen dem Image der Neuen Frau. Sie ist geschminkt und parfümiert, hat eine „auffallend schmale Mitte“, blondierte lockige Haare, trägt Seidenkleidchen und raucht Zigaretten.[15]Ihr Äußeres ist gleichzeitig ihr Kapital. Flämmchen ist ausgestattet mit den „Requisiten einer karrierebeflissenen Eleganz“[16]. Als Stenotypistin gehört sie zur Berufsgruppe der weiblichen Angestellten, die in den Zwanziger Jahren als Inbegriff der Neuen Frau gelten[17]. Gerade für die Angestellten hatte „die Verbindung von körperlicher Attraktivität mit geistiger und beruflicher Leistung“ einen entscheidenden Stellenwert. Denn „die berufliche Stellung der Angestellten“, so Maren Dörner und Katrin Völkner, „hing oft von ihrer korrekten, jugendlichen und attraktiven Erscheinung ab.“[18]
[...]
[1] Vicki Baum: Menschen im Hotel, Gütersloh 1957 (Lizenzausgabe für den Bertelsmann Lesering; Erstveröffentlichung Berlin 1929).
[2] Vicki Baum: Es war alles ganz anders, Erinnerungen, Köln 1987 (Erstveröffentlichung Berlin/Frankfurt am Main, Wien 1962), S. 375.
[3]Lynda J. King: Best-sellers by Design, Vicki Baum and the House of Ullstein, Detroit 1988, S. 159. Auch im Duden wird das Wort abgedroschen als Synonym wird stereotyp angegeben. Dudenredaktion (Hg.): Duden, Bd. 1: Die deutsche Rechtschreibung, 22. völlig neu bearbeitete und erweiterte Auflage, Mannheim u.a. 2000, S. 927.
[4]Vgl. Renny Harrigan: Die emanzipierte Frau im deutschen Roman der Weimarer Republik, in: James Elliott u.a.: Stereotyp und Vorurteil in der Literatur, Untersuchungen zu Autoren des 20. Jahrhunderts, Göttingen 1978 (=Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, Beiheft 9), S. 65-83, hier S. 70.
[5] Vgl. Jörg Thune>
[6] Vgl. Nicole Nottelmann: Strategien des Erfolgs, Narratologische Analysen exemplarischer Romane Vicki Baums, Würzburg 2002 (= Epistemata, Reihe Literaturwissenschaft 405), S. 168.
[7] Zu nennen sind hier beispielsweise „Stud. chem. Helene Willfüer“ von Vicki Baum (Vicki Baum: Stud. chem. Helene Willfüer, Berlin 1928.) und „Das kunstseidene Mädchen“ von Irmgard Keun (Irmgard Keun: Das kunstseidene Mädchen, Berlin 1932.).
[8] Nottelmann, Strategien des Erfolgs, S. 168.
[9] Vgl. Baum, Es war alles ganz anders, S. 375. „Ich wollte das Hotel zu einem Symbol des Lebens machen.“
[10] Ebd., S. 378ff.
[11] Vgl. Nottelmann, Strategien des Erfolgs, S. 168.
[12] Baum, Menschen im Hotel, S. 44.
[13] Harrigan, Die emanzipierte Frau im deutschen Roman der Weimarer Republik, S. 67.
[14] Vgl. Nottelmann, Strategien des Erfolgs, S. 159.
[15] Baum, Menschen im Hotel, S. 64ff, 175.
[16] Ebd., S. 175.
[17] Vgl. Maren Dorner/Kathrin Völkner: Lebenswelten der weiblichen Angestellten, Kontor, Kino und Konsum?, in: Petra Bock/Katja Koblitz (Hgg.): Neue Frauen zwischen den Zeiten, Ein studentisches Projekt an der FU Berlin in Zusammenarbeit mit der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Berlin 1995, S. 84-111, hier S. 84.
[18] Ebd., S. 104.
- Arbeit zitieren
- Janine Wergin (Autor:in), 2003, Darstellung und Funktion der Frauenfiguren in Vicki Baums Roman "Menschen im Hotel", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/64344
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