Heinrich Heine hat die Poetik selbst immer wieder zum Thema des Dichtens gemacht. Gemäß Karl-Heinz Fingerhut finden sich vor allem in seinen lyrischen Zyklen in fast regelmäßiger Wiederkehr Lieder, „die die poetologische Konzeption, nach der Heine die sie umgebende Lyrik verstanden wissen möchte, selbst poetisch behandeln.“ Viele Gedichte beinhalten nicht nur ein poetisches Programm, sondern auch Selbstdarstellungen des Lyrikers und gehören damit in den Bereich der Stilisierung des lyrischen Ichs. Diese Arbeit beschäftigt sich speziell mit den poetologischen Gedichten im Buch der Lieder (1827). Neben den Figurationen des Dichters wird in einem zweiten Teil des Aufsatzes die Problematik der Autorschaft des Buches der Lieder behandelt. Die Analyse zeigt, dass Heines Gedichte offenbar bewusst in der Schwebe zwischen Kollektivität und Originalität, Tradiertem und Gemachtem, gehalten sind. Durch den starken Bezug auf das Volkstümliche wird eine kollektive Autorschaft evoziert. Zugleich betont Heine die Originalität seiner Dichtungen auf vielfache Weise.
Inhaltsverzeichnis
1. Untersuchungsgegenstand
2. Dichterbilder im Buch der Lieder
2.1. Der aus dem Erlebnis schaffende Dichter
2.2. Der an Liebes- und Weltschmerz leidende Dichter
2.3. Die ironische Selbstdarstellung des Poeten
3. Zur Ambivalenz von Originalität und Kollektivität im Buch der Lieder
3.1. Kollektivität
3.2. Originalität
3.3. Zur ästhetischen Strategie Heines
4. Fazit
Literaturverzeichnis
1. Untersuchungsgegenstand
Heinrich Heine hat die Poetik selbst immer wieder zum Thema des Dichtens gemacht. Gemäß Karl-Heinz Fingerhut finden sich vor allem in seinen lyrischen Zyklen in fast regelmäßiger Wiederkehr Lieder, „die die poetologische Konzeption, nach der Heine die sie umgebende Lyrik verstanden wissen möchte, selbst poetisch behandeln.“[1] Viele Gedichte beinhalten nicht nur ein poetisches Programm, sondern auch Selbstdarstellungen des Lyrikers und gehören damit in den Bereich der Stilisierung des lyrischen Ichs. In dieser Arbeit sollen speziell die poetologischen Gedichte im Buch der Lieder (1827) untersucht werden. Die Lyriksammlung enthält eine Reihe von Texten, die etwas über das Wesen des Schreibens und Dichtens, über das Wesen der Thematik und ihrer Beziehung zur Realität sowie über die Beschaffenheit der verwendeten Materialien und Stoffe aussagen.[2] Die Arbeit befasst sich primär mit den Figurationen des Dichters, bezieht die anderen poetologischen Aspekte aber zum Teil mit ein. Fingerhut unterscheidet nach den beiden wichtigsten Themenkreisen der Heineschen Lyrik zwei Gruppen von poetologischen Gedichten:
1. Gedichte zur Liebeslyrik
2. Gedichte zur engagierten „öffentlichen“ Lyrik.
Die poetologischen Gedichte im Buch der Lieder sind fast ausschließlich der ersten Gruppe zuzuordnen. Die Lyriksammlung ist durch eine eingeschränkte und einseitige thematische Fixierung geprägt. Der Großteil der Gedichte handelt von unglücklicher, unerwiderter oder hoffnungsloser Liebe.[3] Heine selbst schreibt in einem für seine Selbstauffassung wichtigen Brief an Immermann vom 10. Juni 1823, alle seine Dichtungen seien „nur Variazionen [sic!] desselben kleinen Themas“[4]. Zu beachten ist, dass das Buch der Liede r folglich nicht das ganze Spektrum von Heines poetologischen Gedichten und Figurationen des Dichters abdeckt. Die Dichterbilder, die hier vorgeführt werden, sind die des aus dem Erlebnis schaffenden Dichters, des Sängers, des Märtyrers, des an Welt- und Liebesschmerz leidenden Poeten und des Selbstkritikers und -ironikers.
Nach den Figurationen des Dichters wird in einem zweiten Teil der Arbeit die Problematik der Autorschaft des Buches der Lieder behandelt. Heines Gedichte sind offenbar bewusst in der Schwebe zwischen Kollektivität und Originalität, Tradiertem und Gemachtem, gehalten. Durch den starken Bezug auf das Volkstümliche wird eine kollektive Autorschaft evoziert. Zugleich betont Heine die Originalität seiner Dichtungen auf vielfache Weise. Die Aspekte werden zunächst in zwei einzelnen Kapiteln getrennt voneinander untersucht. Dann folgt die Analyse von Heines ästhetischer Strategie zur Verbindung von Kollektivität und Originalität in den Gedichten. Weil die Dichterbilder und die Autorschaftsproblematik eng in Verbindung stehen, sind inhaltliche Überschneidungen nicht ausgeschlossen.
Es ist anzumerken, dass zu den Figurationen des Poeten und zur Problematik der Originalität und Kollektivität im Buch der Lieder kaum Sekundärliteratur existiert. Diese Thematiken werden meist nur am Rande von Untersuchungen zu anderen Aspekten in Heines Lyrik erwähnt. Lediglich in Karl Heinz Fingerhuts Aufsatz zu Heines poetologischen Gedichten und der dahinter stehenden Ästhetik kommen die Figurationen etwas ausführlicher zur Sprache. Zudem ist die Forschungsliteratur, in der sich etwas über den hier behandelten Gegenstand findet, oft mehrere Jahrzehnte alt.
2. Dichterbilder im Buch der Lieder
2.1. Der aus dem Erlebnis schaffende Dichter
In der neueren Heine-Forschung wird davon ausgegangen, dass das Buch der Lieder im Wesentlichen Rollenlyrik enthält. Heine spielt mit fiktiven Erlebnissen, Visionen, Phantasien oder Wunschträumen, wobei sich das Spiel als solches zu erkennen gibt.[5] Die biographischen Erklärungsansätze der älteren Heine-Forschung haben wohl auch darin ihren Grund, dass Heine mit der Figuration eines aus dem Erlebnis schaffenden Dichters arbeitet und biographische Rückbezüge durchaus zu fördern scheint. In mehreren poetologischen Gedichten erklärt das lyrische Ich „authentische“ Erlebnisse zum Ursprung seiner Liebes- und Leidenslyrik: „Aus meinen großen Schmerzen / Mach ich die kleinen Lieder“[6]. „Aus meinen Tränen sprießen / Viel blühende Blumen hervor“[7]. Die Zueignung im Lyrischen Intermezzo legt sogar eine direkte Verbindung zur empirischen Person Heinrich Heine und ihrem Onkel nahe. Unter der Überschrift An Salomon Heine gesteht das lyrische Ich: „Meine Qual und meine Klagen / Hab ich in dies Buch gegossen, / Und wenn Du es aufgeschlagen, / Hat sich dir mein Herz erschlossen“[8]. In Heimkehr XIII klagt das Ich seiner ehemaligen Geliebten:
„Ich bin ein deutscher Dichter,
Bekannt im deutschen Land;
Nennt man die besten Namen,
So wird auch der meine genannt.
[...]
Nennt man die schlimmsten Schmerzen,
so wird auch der meine genannt.“[9]
Fingerhut schreibt von einem „reizvollen Spannungsverhältnis zwischen biographischem Ich und dem „Bild“, das er [Heine] als Autor von sich selbst für seine Leserschaft entwirft.“[10] Es fällt auf, dass die Gedichtproduktion immer wieder mit Schmerz verbunden wird. Der Schmerz ist als tatsächlich erlebter ausgewiesen, der dann in Lieder transformiert wurde.
Auch wenn die Gedichte vom Bezugsmuster Erlebnis ausgehen, sind sie nicht als Erlebnislyrik im Goethischen Sinn zu verstehen, wie Literaturwissenschaftler mehrfach nachgewiesen haben.[11] Die Goethische Erlebnislyrik ist dem Inhalt nach im Wesentlichen ein positives Bekenntnis zur Liebe in all ihren Erscheinungsformen, wobei sinnliches wie geistig-seelisches Empfinden harmonisch übereinstimmen. Sie ist auf Erfüllung angelegt; statt tragischem Scheitern findet sich allenfalls milde Entsagung.[12] Heine, dessen Verhältnis zu Goethes Lyrik durch Ambivalenz geprägt war, bedient sich zwar der poetischen Muster der Erlebnislyrik. Gleichzeitig hebt er sich aber davon ab und durchbricht sie. Heine zerstört die idealistische Sicht auf eine erlebnisbegründete Liebesbeziehung durch Kontrastierung. In Heimkehr LXII heißt es:
„Du hast Diamanten und Perlen,
Hast alles, was Menschenbegehr,
Und hast die schönsten Augen –
Mein Liebchen, was willst du mehr?“
[...]
Auf deine schönen Augen
Hab` ich ein ganzes Heer
Von ewigen Liedern gedichtet –
Mein Liebchen, was willst du mehr?
Mit deinen schönen Augen
Hast du mich gequält so sehr,
Und hast mich zugrunde gerichtet –
Mein Liebchen, was willst du mehr?“[13]
Der anklagende höhnische Ton des an Goethes „Nachtgesang“ angelehnten Gedichtes ist unverkennbar. Das Motiv – Schönheit lebt durch den Dichter – wurde von Heine stark umgestaltet. Eine triviale Leidensgeschichte ist entstanden: ein Mädchen aus reichem Haus weist den liebenden Dichter zurück. Sie hat Freude daran, den Poeten, der ein „ganzes Heer von ewigen Liedern“ zu ihrem Lob gedichtet hat, zu quälen.
Die Natur-Erlebnis-Korrespondenz der Goethischen Lyrikkonzeption trägt bei Heine nicht mehr. Bei Goethes „Nachtgesang“ war es noch der „Sterne Heer“ gewesen, das die „ewigen Gefühle“ der Liebe „segnete“. Bei Heine ist die Rede von den „ewigen Liedern“ offenbar eine selbstironische Übertreibung. Ein Authentizitätsanspruch kann damit kaum verbunden werden. Die Sprache der Äußerung widerspricht der Ernsthaftigkeit des Inhalts. Auch herrscht in der Liebesbeziehung ein witziges Kalkül: Das „Heer“ der „ewigen Lieder“ fordert Liebeslohn.[14] Weil dieser ausbleibt, kommt es zur Klage in Gedichtform.
Heine treibt ein künstlerisches Spiel mit dem Goethischen Muster. Der aus dem Erlebnis schaffende Dichter ist keiner. Immer wieder wird im Buch der Lieder der Abstand deutlich, der das Herz und die Tränen des lyrischen Ichs von denjenigen des empirischen Autors trennt. George F. Peters schreibt von einem „vorgetäuschten Erlebnis“. Heine wolle durch die Anwendung der von Goethe übernommenen Formeln der Erlebnislyrik dem Leser die Lektüre des Gedichts als Erlebnisgedicht vortäuschen.[15] Er will den Leser offenbar zu der Rezeptionshaltung motivieren, die dieser Goethischer und romantischer Liebes- und Empfindungslyrik gegenüber einnehmen würde.[16] Heine spielt mit den Empfindungen des Lesers, setzt aber darauf, dass sein artistisches Spiel durchschaut wird.
Im Zentrum des Beispiel-Gedichtes scheint gar nicht die Erlebnisfiktion einer unerwiderten, unglücklichen Liebe zu stehen, die Heine biographisch durch deutliche Hinweise auf seine reiche Cousine Amalie stützte, sondern der Poet und seine ewigen Gedichte, in die der Liebesschmerz „umgegossen“ wird. Fingerhut zufolge zeigt sich Heines Modernität „in einem, dem Goethischen Liebeserleben und dem biographischen ‘Liebchen’ gegenüber gleichermaßen unernsten, der eigenen Poesie gegenüber aber sehr wohl ernsten Schreiben“.[17]
[...]
[1] Vgl. Fingerhut, Karl-Heinz: Standortbestimmungen. Vier Untersuchungen zu Heinrich Heine. Heidenheim 1971, S. 9.
[2] Vgl. Lüdi, Rolf: Heinrich Heines Buch der Lieder. Poetische Strategien und deren Bedeutung. Bern/Frankfurt am Main/Las Vegas 1979, S. 54.
[3] Gerhard Höhn zufolge trifft diese Fixierung auf rund 140 von 237 Gedichten zu, wenn nicht sogar mehr. Vgl. Höhn, Gerhard: Heine-Handbuch. Zeit, Person, Werk. Stuttgart 2004, S. 60.
[4] Heinrich Heine. Werke, Briefwechsel, Lebenszeugnisse. Säkularausgabe. Hrsg. von den Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar und dem Centre de la Recherche Scientifique in Paris. Bd. 20: Briefe 1815-1831. Berlin/Paris 1970ff, S. 91.
[5] Vgl. Brummack, Jürgen: Lyrik nach der Romantik. Das „Buch der Lieder“. In: Ders. (Hrsg.): Heinrich Heine. Epoche - Werk - Wirkung. München 1980, S. 80-112. Vgl. Lüdi: Heines Buch der Lieder. Vgl. Sammons, Jeffrey L.: Heinrich Heine. The Elusive Poet. New Haven/London 1969. Vgl. Windfuhr, Manfred: Heine und der Petrarkismus. In: Koopmann, Helmut (Hrsg.): Heinrich Heine. Darmstadt 1975, S. 207-231.
[6] Heinrich Heine. Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke (Düsseldorfer Ausgabe). Hrsg. von Manfred Windfuhr. Bd. 1: Buch der Lieder. Hamburg 1973 ff, S. 167.
[7] DHA, Bd. 1, S. 135.
[8] DHA, Bd. 1, S. 460f.
[9] Ebd., S. 223.
[10] Fingerhut: Standortbestimmungen, S. 9f.
[11] Vgl. Fingerhut, Karl-Heinz: „Auf den Flügeln der Reflexion in der Mitte schweben.“ – Desillusionierung und Dekonstruktion. Heines ironische Brechung der klassisch-romantischen Erlebnislyrik und eine postmoderne „doppelte Lektüre“. In: Der Deutschunterricht 1995. Jg. 47, H. 6, S. 40-55. Vgl. Peters, George F.: „Der große Heide Nr. 2“. Heinrich Heine and the Levels of his Goethe Reception. New York 1989. Vgl. Peters, George F.: Heines Spiel mit dem Erlebnismuster. Liebeslyrik im Schatten Goethes. In: Neophilologus 1984. Bd. 68, S. 232-264.
[12] Vgl. Giese, Peter Christian: Heinrich Heine. „Buch der Lieder“. 3. Auflage. Stuttgart/Dresden 1994, S. 21.
[13] DHA, Bd. 1, S. 275.
[14] Vgl. Fingerhut: Auf den Flügeln, S. 42-45.
[15] Peters: Heines Spiel, S. 239.
[16] Vgl. Fingerhut: Standortbestimmungen, S. 16.
[17] Fingerhut: Auf den Flügeln, S. 43.
- Citar trabajo
- Janine Wergin (Autor), 2006, Figurationen des Dichters und Autorschaft in Heinrich Heines 'Buch der Lieder', Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/64281
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