Die Einteilung der Menschheit in Männer und Frauen, die Koppelung der
Geschlechtsrolle an das körperliche Geschlecht und die starre Dichotomie des
Geschlechtersystems haben starke Auswirkungen auf unsere Realität. Jedoch
ist auch die Sicht auf die biologische Geschlechtlichkeit komplex, wie die
wechselnden Definitionen im Laufe der Geschichte zeigen. Heute gelten andere Faktoren als „Beweis“ für das Geschlecht eines Menschen als noch vor einigen Jahrzehnten.
Die starre Festlegung von Menschen auf zwei Geschlechter mit all den daran
geknüpften Erwartungen führt oft zu einer Entwicklungsbeschränkung für die einzelnen Individuen, schlimmstenfalls – wie in dieser Arbeit berichtet - zu gravierenden Verletzungen und Traumatisierungen. Daher ist es für notwendig, sich gerade im sozialpädagogischen Feld kontinuierlich mit Normen und Zuschreibungen auseinanderzusetzen.
Aus den genannten Gründen setzt sich diese Arbeit mit Intersexualität
und den Auswirkungen der Geschlechterdichotomie auseinander und
untersucht sie anhand der These der Autorin, dass es sich bei ihr um ein
Normensystem und ein Dogma handelt.
Nach einer kurzen Einführung zu Definition und Häufigkeit von
Intersexualität wird die Ausprägung der Zweigeschlechtlichkeit als
politische, rechtliche, soziale und kulturelle Norm betrachtet.
Das dritte Kapitel beschäftigt sich mit den medizinischen und gesundheitlichen
Aspekten der Intersexualität. Die meisten intersexuellen Menschen haben Erfahrungen mit medizinischer Einordnung, Eingriffen und Behandlungen und
leiden teilweise massiv unter ihren körperlichen und seelischen Folgen. Die folgenreiche Zuweisung eines Geschlechts findet in den Kliniken statt und wird im Allgemeinen von ÄrztInnen vorgenommen. Daher richten sich Kritik und Forderungen der Betroffenen auch zunächst an diese.
Breiten Raum nehmen persönliche Erfahrungen erwachsener Intersexueller ein. Auch das Selbsthilfesystem und die aktuelle medizinische Situation werden betrachtet.
Im weiteren Kapiteln geht es um die psychosozialen Auswirkungen der
Zweigeschlechtlichkeitsnorm auf die Betroffenen und die Konsequenzen für die Sozialarbeit.
Zum Schluss wird die Frage betrachtet, inwiefern soziales und biologisches Geschlecht immer neu konstruiert werden und was hieraus folgt. Dabei wirft die Autorin einen polemischen Blick auf die Reproduktion von Rollenstereotypen in verbreiteten natur- und populärwissenschaftlichen Veröffentlichungen.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1. Intersexualität – das letzte Tabu?
1.1 Was ist Intersexualität?
1.2 Häufigkeit der Intersexualität
1.3 Intersexualität, Transsexualität und Transgender
2. Zweigeschlechtlichkeit als Norm
2.1 Entwicklung der Geschlechtstypisierung
2.2 Zweigeschlechtlichkeit als politische und rechtliche Norm
2.3 Zweigeschlechtlichkeit als soziale und kulturelle Norm
3. Intersexualität als medizinische „Störung“
3.1 Die geschlechtliche Entwicklung
3.1.1 Die embryonale Entwicklung
3.1.2 Die pubertäre Entwicklung
3.2 Medizinische Einordnung der Intersexualität
3.3 Medizinische Maßnahmen und ihre Folgen
3.4 Traumatisierung
3.5 Probleme und Kritik
3.6 Forderungen von Betroffenen
3.7 Aktuelle Ansätze in der Medizin
4. Psychosoziale Auswirkungen der Normung für die Betroffenen in einer „Zwei-Klassen-Gesellschaft“
4.1 Selbst- und Fremddefinitionen
4.2 Tabuisierung und „Outing“
4.3 Sexualität und Zweierbeziehung
5. Selbsthilfe und Interessenvereinigungen
5.1 Die Gruppe XY-Frauen
6. Konsequenzen für die soziale Arbeit
6.1 Soziale Arbeit mit Erwachsenen
6.2 Soziale Arbeit mit Eltern
6.3 Soziale Arbeit mit Kindern und Jugendlichen
7. Zweigeschlechtlichkeit als Dogma
7.1 Ist die Zweigeschlechtlichkeit des Menschen ein Dogma?
7.2 „Superegoistische Chromosomen“ oder die
naturwissenschaftliche Konstruktion von Zweigeschlechtlichkeit
7.3 Hat das System der Zweigeschlechtlichkeit ausgedient?
8. Zusammenfassung und Ausblick
Anhang
Quellenverzeichnis
Verzeichnis der Fachbegriffe
Abkürzungsverzeichnis
Einleitung
Als ich vor ca. drei Jahren zum ersten Mal den Begriff Intersexualität hörte, war ich zunächst erstaunt darüber, dass es offensichtlich weit mehr Menschen gibt, die körperlich zwischen den bekannten Geschlechtern stehen, als ich erwartet hätte – und später entsetzt, als ich von den körperlichen und psychischen Verletzungen erfuhr, die intersexuelle Menschen erleiden mussten und noch müssen. Damals reifte die Idee in mir, mich in meiner Diplomarbeit mit dem Thema zu beschäftigen, weil ich es für wichtig halte, dass SozialpädagogInnen sich mit Diskriminierungen jeder Art auseinandersetzen und sich Wissen über unsichtbare Minderheiten aneignen, um ihnen in ihrer Arbeit gerecht werden zu können.
Die Einteilung der Menschheit in Männer und Frauen, die Koppelung der Geschlechtsrolle an das körperliche Geschlecht und die starre Dichotomie des Geschlechtersystems haben starke Auswirkungen auf unsere Realität. Jedoch ist auch die Sicht auf die biologische Geschlechtlichkeit komplex, wie die wechselnden Definitionen im Lauf der Geschichte zeigen (vgl. Kap. 2.3 und 7.2). Heute gelten andere Faktoren als „Beweis“ für das Geschlecht eines Menschen als noch vor einigen Jahrzehnten. Fausto-Sterling beschreibt dies anhand der Geschlechtsüberprüfung bei Olympiateilnehmerinnen:
„Bis 1968 wurden Olympia-Teilnehmerinnen oft gebeten, sich nackt vor einem Untersuchungsgremium zur Schau zu stellen. Brüste und eine Vagina reichten aus, die eigene Weiblichkeit zu beweisen. Aber viele Frauen beschwerten sich, dass diese Methode entwürdigend war. Unter anderem, weil sich diese Beschwerden häuften, entschied das IOC, vom modernen, ‚wissenschaftlichen’ Chromosomentest Gebrauch zu machen.“[1]
Seit 1968 wird die Geschlechtszugehörigkeit mit einem Chromsomentest überprüft. Ein solcher Test führte auch bei der spanischen Hürdenläuferin Maria Patiño 1988 zum Ausschluss vom spanischen Olympiateam.[2] Weil Patiño Y-Chromosomen in ihren Zellen hatte, konnte sie nach Ansicht des IOC keine Frau sein, obwohl sie äußerlich weiblich aussah und auch ihr ganzes bisheriges Leben als Frau verbracht hatte. Weitergehende Untersuchungen wurden angestellt, und die ÄrztInnen teilten ihr mit, dass sie weder Eierstöcke noch Uterus hatte, dafür verbargen sich innerhalb ihrer Schamlippen Hoden. Eine Athletin, die keine Frau war, durfte nicht an den Wettkämpfen teilnehmen, obwohl sie mit der Kraft einer Frau ausgestattet war. Als sie trotz des Drucks spanischer Sportfunktionäre, das Ergebnis zu verheimlichen und eine Verletzung vorzutäuschen, an die Öffentlichkeit ging, „brach Patiños Leben zusammen“[3]. Sie musste ihre Wohnung im nationalen Athletik-Zentrum verlassen, frühere Titel wurden ihr aberkannt, ihr Freund verließ sie und ihr Stipendium wurde widerrufen. Es gelang ihr nach jahrelangem Kampf, wieder in das Olympiateam zu kommen. Die polnische Sprinterin Ewa Klobukowska hatte ihre Goldmedaille von Tokio zurückgeben müssen, weil bei ihr nachträglich ein XXY-Chromosomensatz festgestellt wurde.[4] Im Jahr 2000 wurden die olympischen Geschlechtstests nach jahrelanger Kritik abgeschafft, jedoch werden sie bei anderen Wettkämpfen weiterhin durchgeführt, z. B. 2002 bei der Volleyball-Weltmeisterschaft in Deutschland.[5] Seit 2004 sind transsexuelle SportlerInnen bei der Olympiade zugelassen, allerdings nur, wenn sie besondere Voraussetzungen erfüllen: die Entfernung der Eierstöcke bzw. Hoden und mindestens zweijährige Hormongaben. Aktuell ist es also vor allem der Hormonstatus, der über das olympische Geschlecht entscheidet.[6] Auch dies könnte sich wieder ändern, mehr sich die Androgynität von Menschen offenbart. Intersexuelle Menschen sind weiterhin von einer Karriere im Spitzensport ausgeschlossen – vermutlich deshalb, weil es keine Untersu-chungsmethode gibt, die alle Menschen eindeutig einem Geschlecht zuweisen kann.
Wie man an dieser Entwicklung sehen kann, besteht noch nicht einmal Einigkeit darüber, wie das körperliche Geschlecht (sex) zweifelsfrei bestimmt werden kann - die Indikatoren wechseln. Umso schwieriger dürfte es sein, eine Person bereits nach ihrer Geburt auf ein rechtliches und soziales Geschlecht (gender) festzulegen. Der US-amerikanische Psychologe und Sexualforscher John Money und die Psychiaterin Anke A. Ehrhardt waren davon überzeugt, dass gender unabhängig vom körperlichen Geschlecht besteht und ausschließlich sozialisationsbedingt ist[7] - eine These, die schnell aufgenommen wurde und sich vor allem in der Frauenbewegung verbreitete.
Money sah eine Möglichkeit, sie zu beweisen, als sich die Eltern eines kleinen Jungen an ihn wandten, dessen Penis bei einem Eingriff wegen einer Vorhautverengung durch die Verwendung eines defekten Gerätes zerstört worden war. Da Money davon überzeugt war, dass eine Sozialisation zum anderen Geschlecht bis zum Alter von 18 Monaten möglich ist, empfahl er ihnen, das Kind als Tochter aufzuziehen und ihm sein eigentliches Geschlecht zu verheimlichen. Brenda Reimer, wie die neue Tochter genannt wurde, bekam weibliche Hormone und wuchs als Mädchen auf. Sie fügte sich jedoch nicht in ihre Rolle, benahm sich „wie ein Junge“, wurde eine Außenseiterin und hatte Probleme in der Schule. Money sah das Experiment dennoch als Erfolg. Auch ihre Familie litt unter der Situation. Als der Vater Brenda mit 14 Jahren aufklärte, nahm sie den Namen David an und ließ sich operativ einen Penis herstellen. David Reimer hat sein Trauma jedoch nie überwunden und sich mit 38 Jahren das Leben genommen.[8]
Ob diese schrecklichen Folgen einer unfreiwilligen „Geschlechtsumwandlung“[9] auch beweisen, dass geschlechtstypisches Verhalten und Geschlechtsidentität vor allem oder auch biologisch determiniert sind, wie einige AutorInnen meinen[10], kann meiner Ansicht nach nicht geklärt werden. Die Eltern wussten ja, dass sie einen Sohn geboren hatten, und könnten dies dem Kind unfreiwillig gespiegelt haben.[11] (Auf die Entwicklung der Geschlechtstypisierung, die Unterteilung der Geschlechtlichkeit in sex und gender und die Frage, ob Geschlecht konstruiert ist, werde ich in dieser Arbeit noch ausführlicher eingehen.) Zudem wurde Brenda mit Hormonen behandelt, ohne über die Ursachen aufgeklärt zu sein, und hatte keine Vagina wie andere Mädchen.
Für den intersexuellen Aktivisten Michel Reiter zeigt die Geschichte von David Reimer, dass es nicht möglich ist, einem Menschen ein Geschlecht zuzuweisen. Intersexuelle sind für ihn/sie ein eigenes Geschlecht, und eine Zwangszuweisung führt zu einer Zerstörung der Identität. „Eine Assimilation Intersexueller in eines der beiden Geschlechter funktioniert nicht“.[12]
Die Festlegung von Menschen auf zwei Geschlechter mit all den daran geknüpften Erwartungen führt meiner Meinung nach oft zu einer Entwicklungsbeschränkung für die einzelnen Individuen, schlimmstenfalls – wie in der Geschichte von David Reimer oder denen von intersexuellen Menschen, von denen ich in dieser Arbeit berichten will, zu gravierenden Verletzungen und Traumatisierungen. Daher halte ich es für notwendig, sich gerade im sozialpädagogischen Feld kontinuierlich mit Normen und Zuschreibungen auseinanderzusetzen und den eigenen Horizont zu erweitern. In vielen Bereichen, z. B. der Jugendarbeit, sind Methoden geschlechtssensibler Arbeit bereits eingeführt. Die Theorien der geschlechtsspezifischen Sozialisation bringen jedoch auch Annahmen hervor, die u. U. weiter verfestigt werden[13], und geschlechtstypisches Verhalten wird verallgemeinert (vgl. Kap. 7).
Aus den genannten Gründen setze ich mich in dieser Arbeit mit Intersexualität und den Auswirkungen der Geschlechterdichotomie auseinander und untersuche sie anhand meiner These, dass es sich bei ihr um ein Normensystem und ein Dogma handelt.
Zur Struktur der Arbeit
Im ersten Kapitel gebe ich eine kurze Einführung, was und wie häufig Intersexualität ist (1.1 und 1.2), und inwiefern sie sich von Transsexualität und Transgender abgrenzt (1.3).
Im zweiten Kapitel untersuche ich nach einem Blick auf die Geschlechtstypisierung (2.1) die Ausprägung der Zweigeschlechtlichkeit als politische, rechtliche, soziale und kulturelle Norm (2.2 und 2.3).
Das dritte Kapitel beschäftigt sich mit den medizinischen und gesundheitlichen Aspekten der Intersexualität. Ich habe mich diesen Fragen trotz der meiner Ansicht nach berechtigten Kritik an ihrer Einordnung als „Störung“ aus folgenden Gründen so ausführlich gewidmet:
1. Es ist nach wie vor kaum bekannt, was Intersexualität genau ist. Daher gehe ich in Kapitel 3.1 zunächst auf die geschlechtliche Entwicklung ein.
2. Die meisten intersexuellen Menschen haben Erfahrungen mit medizinischer Einordnung (Kap. 3.2), Eingriffen und Behandlungen und leiden massiv unter ihren körperlichen und seelischen Folgen (3.3 bis 3.5).
3. Die folgenreiche Zuweisung eines Geschlechts findet in den Kliniken statt und wird im Allgemeinen von ÄrztInnen vorgenommen. Daher richten sich Kritik und Forderungen der Betroffenen auch zunächst an diese (3.5 und 3.6).
4. In der Arbeit gehe ich auf Grund der Quellenlage hauptsächlich auf die Erfahrungen von erwachsenen Intersexuellen ein. Ich wollte daher wissen, ob sich für die heute geborenen Kinder etwas geändert hat und es neue Ansätze in der Medizin gibt (3.7).
Im Kapitel 4 geht es um die psychosozialen Auswirkungen der Zweigeschlechtlichkeitsnorm auf die Betroffenen. Hierbei gehe ich auf die Selbst- und Fremddefinitionen (4.1), die Folgen und den Bruch der Tabuisierung (4.2) sowie die Auswirkungen auf Sexualität und Partnerschaft ein (4.3).
Kapitel 5 beschäftigt sich mit den intersexuellen Selbsthilfe- und Interessen-gruppen. Die Gruppe der XY-Frauen stelle ich genauer vor (5.1).
Im sechsten Kapitel gehe ich der Frage nach, was diese Erkenntnisse für die Sozialarbeit mit Erwachsenen (6.1), Eltern von intersexuellen Kindern (6.2) und die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen (6.3) bedeuten.
Im letzten Kapitel bekräftige ich meine These, dass es sich bei den Normen der Zweigeschlechtlichkeit auch um Dogmen handelt (7.1) und beschäftige mich mit der Frage, inwiefern soziales und biologisches Geschlecht immer neu konstruiert werden und was aus dieser Frage folgt. Hierbei erlaube ich mir einen polemischen Blick auf die Reproduktion von Rollenstereotypen in verbreiteten natur- und populärwissenschaftlichen Veröffentlichungen (7.2). Schließlich stelle ich die Frage, ob das System der Zweigeschlechtlichkeit ausgedient hat (7.3).
Im Anhang befinden sich neben dem Quellenverzeichnis ein Abkürzungsverzeichnis und eine Liste der Fachbegriffe.
Zur Vorgehensweise
Es gibt nur wenig Literatur, die sich speziell mit Intersexualität beschäftigt, hiervon stammt der größte Teil aus den USA. Die Anzahl der wissenschaftlichen Veröffentlichungen und Untersuchungen, die die Erfahrungen Betroffener zum Thema haben, sind ebenso rar. Daher stand für mich außer Frage, dass ich persönliche Erfahrungen intersexueller Menschen in diese Arbeit integrieren wollte. Ich habe daher auch Artikel und Internetseiten verwendet, in denen Betroffene erzählen, wie sie sich selbst sehen und wie sie Geschlechtzuweisungen, Tabuisierung und medizinische Eingriffe erlebt haben. Ebenso interessierte mich, welche Wünsche und Forderungen sie formulieren und ob sie auch Chancen in ihrer Besonderheit sehen. Ich bedanke mich bei Freya Jung[14], einer Hamburger XY-Frau und Aktivistin, die sich zu einem Interview bereiterklärte, für ihre Bereitschaft und Offenheit. In den meisten Kapiteln finden sich Auszüge aus diesem Gespräch.
Aktuell läuft eine mehrjährige Studie zur Intersexualität an den Universitätskliniken Lübeck und Hamburg. In Lübeck widmen sich MedizinerInnen und BiowissenschaftlerInnen den Ursachen und Behandlungs-möglichkeiten von verschiedenen Formen der Intersexualität (diese Ansätze werden auch kritisiert - vgl. 3.7). In Hamburg untersucht ein Team von PsychologInnen unter Leitung von Hertha Richter-Appelt die Behandlungs-zufriedenheit und Lebensqualität von erwachsenen Intersexuellen.
Eine Psychologin aus diesem Team, Lisa Brinkmann, hat mir meine Fragen zur Studie beantwortet, wofür ich ihr herzlich danke. In einigen Kapiteln gebe ich ihre Aussagen wieder. Außerdem danke ich Britta Thege vom Institut für Frauenforschung und Gender-Studien an der Fachhochschule Kiel für ihre hilfreiche Beratung bei der Vorbereitung der Interviews.
Da ich durch das Interview mit Freya Jung und die ausführlichen Internetseiten viele Informationen über die Gruppe der XY-Frauen hatte, stehen diese sowohl in der Darstellung der Selbsthilfelandschaft als auch bei persönlichen Berichten im Mittelpunkt.
Aus dem sozialpädagogischen Bereich fand ich praktisch keine Literatur zum Thema Intersexualität. Ich versuche daher in Kapitel 6, eine eigene erste Annäherung zu entwickeln.
Einige Diagnosen wie Androgenitales Syndrom (AGS), Klinefelter- und Turner-Syndrom werden von einigen AutorInnen als intersexuell bezeichnet, von vielen nicht. Da sie allerdings in den meisten Veröffentlichungen zum Thema Intersexualität erwähnt werden, habe ich sie in dieser Arbeit berücksichtigt.
1. Intersexualität – das letzte Tabu?
1.1 Was ist Intersexualität?
Der Begriff Intersexualität, übersetzt mit Zwischengeschlechtlichkeit, wird auf eine große Bandbreite von körperlichen Merkmalen angewendet, die von der üblichen Norm der Zweigeschlechtlichkeit abweichen. Dies können z. B. uneindeutige äußere Genitalien und Geschlechtsmerkmale sein, die bereits nach der Geburt für Probleme bei der Zuordnung sorgen, oder eine „Verwandlung“ in das andere Geschlecht während der Pubertät oder sogar später.
Bis ins erste Drittel des 20. Jahrhunderts setzten sich Betroffene, ÄrztInnen und die Gesellschaft mit dem auseinander, was äußerlich zu sehen war – nicht selten kontrovers. In Zeiten der Mikrobiologie, der Hormon- und Chromosomenbestimmung und –zuweisung werden Diagnosen früher, häufiger und differenzierter gestellt. „Durch die Erforschung der Hormone und die seit den späten fünfziger Jahren möglichen Chromosomenanalysen erfasst der Begriff der Intersexualität ab dem 20. Jahrhundert auch Menschen, die zuvor nicht in diese Kategorie hätten fallen können“[15] (vgl. auch Kap. 2.2).
Über viele Jahrhunderte wurden Menschen mit ungewöhnlichen, nicht klar „männlichen“ oder „weiblichen“ äußeren Geschlechtsmerkmalen als Hermaphroditen[16] bezeichnet. Im frühen 19. Jahrhundert tauchte erstmals der medizinische Begriff „intersexuell“ auf[17], der sich später in der Literatur durchsetzte und bis heute verwendet wird. Dreger stellt fest, dass intersexuell wörtlich „zwischen den Geschlechtern“ bedeutet, hermaphroditisch jedoch das Vorhandensein sowohl weiblicher als auch männlicher Attribute beinhaltet[18].
Ob und wie auf die uneindeutige Geschlechtlichkeit reagiert wird und ob bzw. wann sie überhaupt erkannt wird, ist stark von der Umgebung abhängig, in die das Kind hineingeboren wird. Fausto-Sterling schildert eine Geschichte, die sich im heutigen Europa so wohl nicht mehr ereignen könnte[19]:
Im Italien des Jahres 1601 brachte der Soldat Daniel Burghammer zum Erstaunen seines Regiments und zum Entsetzen seiner Frau eine gesunde Tochter zur Welt, woraufhin er gezwungen war zuzugeben, dass er halb männlich, halb weiblich war. Der (andere?) Vater seines Kindes war ein spanischer Soldat. Nachdem Burghammer das Baby abgestillt hatte, rissen sich einige Städte förmlich darum, das Kind adoptieren zu können. Die Kirche deklarierte die Geburt als ein Wunder, gestand jedoch Burghammers Frau eine Scheidung zu, da ihr Mann seinen Ehepflichten wohl nicht mehr nachkommen könne.
Fausto-Sterling weist ferner darauf hin, dass im Frankreich des 17. Jahrhunderts die Existenz uneindeutiger Geschlechter rechtlich dadurch „anerkannt“ wurde, dass strenge Regeln aufgestellt wurden. Hermaphroditen (so die damals übliche Benennung) hatten durchaus das Recht zu heiraten und andere rechtliche Möglichkeiten, solange sie sich für eine Rolle entschieden und diese beibehielten. In England hingegen gab es noch im 18. Jahrhundert keinerlei rechtliche Regelungen[20]. Dass Menschen mit uneindeutigen Genitalien in England noch bis zum Ende des 19. Jahrhunderts weniger auffielen, habe vielleicht auch etwas mit der dortigen Scheu vor allem Sexuellen zu tun, mutmaßt Dreger. Ärzte beklagten 1885 im British Medical Journal
„the complete ignorance regarding the sexual organs and the sexual functions which is permitted, and, indeed, sedulously fostered, by the ordinary education which boys and girls receive in this country“[21].
Zeitlich, aber auch regional gibt es in der Sicht auf die geschlechtliche Ordnung der menschlichen Gesellschaften also große Unterschiede (hierauf gehe ich ausführlich in Kapitel 2 ein).
Daher wird auch die Frage, was intersexuell bzw. nicht eindeutig weiblich oder männlich ist, von verschiedenen Kulturen und in unterschiedlichen Zeiten unterschiedliche Antworten hervorbringen – zumal eine solche Kategorie nur in Abhängigkeit der Kategorien „männlich“ und weiblich“ existieren kann. Von deren Variabilität bzw. Starrheit hängt der Umgang mit Menschen ab, die sich nicht in vorgegebene Schemata einfügen.
Dabei ist die Bandbreite sehr groß:
„Medizinisch entspricht ein Mensch der Norm, wenn er auf dem 23. Chromosomenpaar die Chromosomen X und X oder X und Y trägt und bei der Geburt eine Klitoris kleiner als 1 cm oder einem Penis über 2,5 cm hat. Dabei existieren alle Längen des Lustorgans dazwischen sowie verschiedene Ausprägungen von einer doppelten bis zu keiner Vagina; gleich verhält es sich hinsichtlich der Uterusstruktur; Gonaden (Eierstöcke oder Hoden) können sehr komplex und gemischt angelegt sein; hormonelle Werte verursachen verschiedene Behaarungsausprägungen.“[22]
Es gibt XXX-Frauen (die dann gleich „super female“ genannt werden!) und XYY-Männer („super males“), es gibt „Mosaike“, d. h. dass in unterschiedlichen Zellen des Körpers unterschiedliche genetische Zelllinien vorhanden sind. Dass Frauen meist XX und Männer meist XY haben, bedeutet nicht, dass diese Chromosomenform das Geschlecht macht.[23]
Viele AktivistInnen[24] fordern daher die Gesellschaft und ihre Eliten auf, sich von dieser Aufteilung der Menschen und damit ihrer Normierung zu verabschieden. Die Entdeckung des und der „Anderen“ dient auch dazu, sich selbst überhaupt erst als „normal“ definieren zu können, was nur durch Normierung und Abgrenzung gelingt. Dreger schreibt:
„[T]he discovery of the hermaphroditic body raises doubts not just about the particular body in question, but about all bodies. (…) [W]e tend to assume that the normal (in this case the ‘normal’ sexual anatomy) existed before we encountered the abnormal, but it is really only when we are faced with something that we think is ‘abnormal’ that we find ourselves struggling to articulate what ‘normal’ is”.[25]
Intersexuelle Menschen bezeichnen sich selbst unterschiedlich[26]. Im Berliner Sonntagsclub findet wöchentlich ein „Cafétreff für Intersex/Hermaphroditen/ Zwitter“ statt. Die Bezeichnung macht deutlich, dass hier keine Einigkeit besteht. Viele Intersexuelle betrachten den Ausdruck Hermaphrodit als diskriminierend, während andere sich offenbar selbst so bezeichnen. Die Intersex Society of North America verneint auf ihrer Homepage die Frage, ob eine intersexuelle Person ein Hermaphrodit sei, da dieser der Definition nach beide Geschlechter vollständig in sich vereine, was unmöglich sei[27]. Birgit Michel Reiter versuchte vergeblich, gerichtlich durchzusetzen, dass in seinem/ihren Papieren Zwitter als Geschlecht eingetragen wird[28]. Auch andere haben beschlossen, sich Zwitter zu nennen, um eine ursprünglich diskriminierend gebrauchte Bezeichnung (ähnlich wie Nigger, Lesben und Schwule oder Krüppel) selbstbewusst in Besitz zu nehmen und als politischen Begriff zu nutzen. Freya Jung bezeichnet sich seit kurzem als weiblichen Zwitter: „Das wäre im Grunde genommen politisch korrekt“[29]. XY-Frau sei „der kleinste gemeinsame Nenner“, aber ganz korrekt sei der Ausdruck nicht. „Wir sind keine Frauen“. Den Begriff intersexuell findet sie irreführend, „das hat was mit Orientierung zu tun (...), dass passt überhaupt nicht.“
Die Mitglieder ihrer Selbsthilfegruppe nennen sich XY-Frauen. „Damit sind wir eine Familie im großen Clan der Menschen zwischen den Geschlechtern, den Intersexuellen, von denen es viele, viele verschiedene gibt, die vielfach öffentlich unbekannt sind und zum Teil auch voneinander gar nicht wissen“[30].
1.2 Häufigkeit der Intersexualität
Intersexualität ist nicht so selten, wie oft angenommen wird. Die Schätzungen gehen weit auseinander. Nach Richter-Appelt ist „die Häufigkeit der verschiedenen Formen von Intersexualität wegen der großen klinischen Heterogenität, der Vielfalt ätiologischer Faktoren und der Betreuung durch verschiedene Fachdisziplinen, die kaum Austausch pflegen, nicht zu präzisieren.“[31] Die Bandbreite der Angaben in der Literatur variiert von 1:5000 bis zu 1,728 % weltweit bei Fausto-Sterling, wovon allein fast 1,5 % auf das Androgenitale Syndrom (AGS – vgl. Kap. 3.2) entfallen.[32],[33]. Zwei Studien zu Beginn der 90er Jahre nennen die Zahl 1:500[34], neueste Schätzungen gehen von 1:3000 bis 1:5000 Geburten in Deutschland aus.[35] Diagnosen wie AGS, Turner- und Klinefelter-Syndrom (vgl. Kap. 3.2) werden meistens nicht als Intersexualität im engeren Sinne bezeichnet.
Wenn man davon ausgeht, dass jedeR zweitausendste BundesbürgerIn intersexuell ist, käme man auf ca. 40.000 Personen. Bei einem Tausendstel wären es 80.000. Bei dieser Anzahl ist es sehr unwahrscheinlich, dass nicht jedeR schon einmal zumindest einen intersexuellen Menschen getroffen hat – meistens ohne davon zu wissen. (Zum Vergleich: in der Bundesrepublik leben ca. 97.000 US-AmerikanerInnen und 100.000 kleinwüchsige Menschen.)
Das Auftreten von Intersexualität variiert stark in verschiedenen Ethnien. So haben 3 bis 5 von 1000 Neugeborenen bei den Yupik Inuit ein AGS, hingegen nur 0,005 von 1000 NeuseeländerInnen.
In einigen Dörfern in der Dominikanischen Republik und bei den Samba im Hochland von Papua Neuguinea tritt eine Form der Zweigeschlechtlichkeit so häufig auf, dass es spezielle Bezeichnungen für dieses dritte Geschlecht gibt[36]. Es handelt sich um einen Mangel am Enzym 5-a-Reduktase, der durch eine Genmutation entstand. Ohne dieses Enzym kann der Körper das Hormon Testosteron nicht in Dihydrotestosteron umwandeln, das für die Ausbildung der äußeren männlichen Genitalien benötigt wird. Die Kinder (mit XY-Chromosomen) werden mit einer großen Klitoris bzw. einem kleinen Penis, innenliegenden Hoden und Vaginallippen/geteilten Hodensäcken geboren. Die Säuglinge werden teilweise für Mädchen gehalten, in anderen Fällen fällt die Uneindeutigkeit bereits nach der Geburt auf. Sie wachsen zunächst als Mädchen auf. In der Pubertät verursacht das Testosteron im Körper die Bildung von 5-a-Reduktase, die Hoden treten hervor, die Vaginallippen wachsen zu einem Hodensack zusammen und Körperhaar- und Bartwuchs sowie verstärkte Ausbildung von Muskeln treten auf. In der Dominikanischen Republik werden diese Kinder Guevedoche, „Penis mit zwölf“ genannt, in Papua-Neuguinea Kwolu-Aatmwol, was die Verwandlung einer Person „in ein männliches Ding“ bedeutet. Meistens entscheiden die Jugendlichen sich dann für die Männerrolle, was am höheren Prestige dieser Rolle liegen könnte. Es gibt jedoch auch Berichte, nach denen der Wechsel in die Männerolle wegen sozialer Probleme wie Verhöhnungen und Ausgrenzungen lange herausgezögert worden ist[37].
1.3 Intersexualität, Transsexualität und Transgender
Neben Intersexualität wird auch Transsexualität – der Gegensatz zwischen körperlichem Geschlecht und Geschlechtsidentität - innerhalb der Medizin als zu behandelnde Störung begriffen[38], seitdem Transsexuelle das Recht auf eine Operation zur Angleichung ihrer körperlichen Merkmale an ihr „wirkliches“ Geschlecht erkämpft haben. Bislang ist eine medizinische Behandlung (und Kostenübernahme) durch Krankenkassen nur möglich, wenn eine Krankheit vorliegt – daher ist mit einem Abrücken vom Krankheitsbegriff innerhalb des medizinischen Systems vorerst nicht zu rechnen. Dieser wird jedoch von Seiten Intersexueller kritisiert. Die Forschergruppe Intersexualität am Hamburger Universitätsklinikum sieht in dem Begriff „Krankheit“ kein Problem, „solange er nicht negativ besetzt ist, abwertet, diskriminiert oder aber mit "Heilungskonzepten" verbunden ist, die nicht im Sinne der Betroffenen sind“.[39]. Fraglich ist meiner Ansicht nach, wie eine positive, nicht diskriminierende, nicht mit Heilungskonzepten verbundene Definition von Krankheit aussehen könnte - zumal Krankheit in unserer Gesellschaft im Allgemeinen als ein negativer Zustand gewertet wird, der korrigiert werden muss.
Die Transgender-Bewegung ist eine politische Bewegung, die das starre System der Zweigeschlechtlichkeit aufbrechen will. Ein Teil der intersexuellen und transsexuellen Personen fühlt sich ihr zugehörig, andere weisen das Etikett Transgender für sich zurück[40]. Ebenso gibt es viele Transgender Personen, die den Begriff transsexuell für sich nicht verwenden, u. a. weil der Wortteil
„-sexuell“ einen Anklang an die althergebrachte Einheit von sex und gender enthält.
Viele Menschen, die sich als Transgender bezeichnen, wollen sich nicht auf ein Geschlecht mit all seinen Zuschreibungen festlegen (lassen) und fordern das Recht auf Selbstdefinition ein. Zum Beispiel leben einige „biologische Frauen“ als Transmann/XX-Mann, ohne durch Operationen oder Hormoneinnahme eine körperliche Angleichung vornehmen zu lassen. Andere nehmen vielleicht männliche Hormone, möchten aber nicht auf ihre angeborenen Genitalien verzichten. In der Überschreitung der Geschlechtergrenzen sehen manche ein Potential, sich selbst und auch die Gesellschaft von Einengung und Diskriminierung zu befreien. Leslie Feinberg, Schriftsteller und bekannter Transgender-Aktivist, schreibt:
„Echte Solidarität kann zwischen Menschen geschaffen werden, die ihre Unterschiedlichkeiten gegenseitig respektieren und bereit sind, ihren Feind gemeinsam zu bekämpfen. Wir sind die Klasse, die die Arbeit der Welt macht, wir können diese Welt auch revolutionieren“[41].
Einige intersexuelle Personen betonen, dass sie nicht Transgender sind. Wie Freya Jung sagt, ist es der noch jungen Intersexuellenbewegung wichtig, sich erst einmal zu formieren, bevor eine Zusammenarbeit mit Transsexuellen möglich sei. Die Interessen seien unterschiedlich. „Wir sind niemals trans, wir sind immer zwangsangeglichen. Du kannst einen Intersexuellen nicht zum Mann oder zur Frau operieren. (...) Du kannst ihn nur verstümmeln“. Es gibt jedoch auch intersexuelle Menschen, die sich der Transgenderbewegung zugehörig fühlen.[42]
2. Zweigeschlechtlichkeit als Norm
3.1 Entwicklung der Geschlechtstypisierung
Da die Geschlechtszugehörigkeit eines Menschen von so zentraler Bedeutung ist, soll hier zunächst auf die Entwicklung der damit verbundenen Identität, Rollen und Verhaltensmuster eingegangen werden.
Als geschlechtstypisch werden Merkmale bezeichnet, „wenn sie relativ häufiger oder intensiver bei einem Geschlecht angetroffen werden“, d. h. statistisch „zwischen den Geschlechtern deutlich stärker variieren als innerhalb eines Geschlechts“[43] - im Gegensatz zu geschlechtsspezifischen Eigenschaften, die nur bei einem Geschlecht vorkommen und sich „auf die wenigen direkt mit der Fortpflanzungsfunktion verbundenen Merkmale“ beschränken.[44]
Trautner unterscheidet zwischen der Entwicklung der Geschlechtsidentität, von Konzepten der Geschlechterdifferenzierung (Ausbildung von Geschlechtsrollen-Stereotypen), Geschlechtsrollen-Präferenzen (Bewertung oder Bevorzugung weiblicher oder männlicher Merkmale) und der Entwicklung des geschlechts-typischen Verhaltens.[45]
Geschlechtsidentität definiert er als die „überdauernde Selbstwahrnehmung als männlich oder weiblich“,[46] die sich in einen globalen (Selbstkategorisierung als männlich oder weiblich) und einen inhaltlichen Aspekt (die Selbstzuschreibung weiblicher und männlicher Merkmale) teilt. Sie bildet sich am frühesten aus, meist im Laufe des 3. Lebensjahres. Eine Selbstkategorisierung - auch des Geschlechts - findet zwar schon ab dem Ende des ersten Lebensjahres statt, jedoch werden „männlich und weiblich wie Namen gebraucht, sie werden nicht als erschöpfende Klassen erkannt, in die alle Menschen eingeordnet werden können (...) Es fehlt in diesem Alter noch das Verständnis der Konstanz des Geschlechts.“ Die Geschlechterdifferenzierung wird an Äußerlichkeiten wie Kleidung und Stimme festgemacht.[47] „Aufgrund der Dichotomie, der Invarianz und der sozialen Bedeutung der Geschlechtszugehörigkeit ist es nicht verwunderlich, daß Geschlechtsrollen-Stereotype sich bereits im Alter von etwa zwei bis drei Jahren auszubilden beginnen“,[48] die im Vorschulalter zunächst rigider und in der Adoleszenz flexibler werden. Auch die Inhalte der Geschlechtsrolle verschieben sich, je nach gesellschaftlicher Situation, z. B. bei einer weiblichen Jugendlichen weg von einem Zukunftsbild als Mutter und Hausfrau hin zu einer beruflichen Karriere. Die Genitalien als Bestandteil des biologischen Geschlechts werden erst im Grundschulalter in die Geschlechtsidentität integriert.
Auf welche Weise geschlechtstypisches Verhalten und geschlechtstypische Eigenschaften von biologischen und sozialen Faktoren abhängen, ist strittig und bislang nicht eindeutig belegt.[49] Studien, die bestimmte geschlechtstypische Verhaltensweisen belegen, lassen keine eindeutigen Schlüsse zu. „Es ist schwer zu entscheiden, ob die aufgefundenen Unterschiede auf überdauernde Dispositionen hinweisen oder nur als Reaktionen auf spezifische Anforderungen der jeweiligen Versuchssituation anzusehen sind. So variiert das Ausmaß der Geschlechtsunterschiede z. B. mit dem Geschlecht des Versuchsleiters, der Vertrautheit der Versuchsperson mit der Situation, dem Interesse der Versuchsperson am Untersuchungsgegenstand und der Geschlechtsange-messenheit des untersuchten Verhaltens“.[50] Auch Studien zur Wirkung der Hormone, „die im Mittelpunkt biologischer Theorien der Geschlechter-differenzierung“ stehen, sind nach Trautner bislang nur unzureichend zur Erklärung geschlechtstypischen Verhaltens geeignet, da eine Abgrenzung zu sozialen Faktoren kaum möglich ist. Als Beispiel nennt er die dramatische Veränderung des Hormonspiegels in der Pubertät, während der Level von Sexualhormonen in der Kindheit relativ niedrig und bei beiden Geschlechtern ähnlich sei. Die starken körperlichen Veränderungen seien untrennbar mit Veränderungen des sozialen Status verbunden, so dass es kaum möglich sei, die unmittelbare Wirkung der Sexualhormone auf die Geschlechterdifferenzierung in dieser Zeit einzuschätzen.[51]
Im Erwachsenenalter sieht Trautner den Verhaltensspielraum noch stärker festgelegt. Die noch immer große Rollendivergenz in Beruf und Familie führe dazu, „daß die Geschlechtsvariable erneut eine besondere Bedeutung für die Persönlichkeit erhält, und zwar relativ unabhängig von psychischen Gegebenheiten der Beteiligten“.[52] Bei Frauen käme es häufig zu einem „Konflikt zwischen der globalen Geschlechtsidentität und dem Selbstkonzept eigener Maskulinität – Feminität, das an gesellschaftlichen Standards orientiert ist (die als teilweise unangemessen, weil benachteiligend, angesehen werden) und den individuellen Präferenzen und Lebenszielen (oft in Richtung einer Höherbewer-tung traditionell männlicher Rollenmerkmale)“.[53]
Trautner kommt zu dem Ergebnis, dass die Geschlechtstypisierung von folgenden Gesetzmäßigkeiten gekennzeichnet ist:[54]
1. Die Geschlechtstypisierung entwickelt sich analog zur allgemeinen kognitiven Entwicklung.
2. Die Geschlechtstypisierung wird gefördert durch die soziale Umwelt
(z. B. Bekräftigungen und Sanktionen, Beobachtung von Menschen und
Rollen in Büchern und Filmen).
3. Eine ausgeprägte Geschlechterdifferenzierung in der Umwelt ist eine eher entwicklungsfördernde Bedingung, dürfte „die spätere Entwicklung aber eher behindern. Umgekehrt wird eine Verwischung der Geschlechterdifferenzierung die Anfangsentwicklung eher verzögern, aber für die weitere Entwicklung förderlich sein.“[55]
Meiner Ansicht nach verwundert es nicht, wenn in Tests[56] und persönlichen Erinnerungen Mädchen eher auch als männlich definiertes Spielverhalten zeigen oder anderweitig aus der Rolle fallen als umgekehrt, da sie die Höherbewertung des Männlichen täglich mitbekommen. Ein Junge, der mit Puppen spielt, ist vermutlich größerem Spott und Abwertung ausgesetzt als ein Mädchen, das gern Fußball spielt und vielleicht dafür bewundert wird.
Zudem widersprechen sich die Ergebnisse verschiedener Untersuchungen. In zwei Studien aus den Jahren 1969 -1975 untersuchten Ehrhardt und Baker das Spielverhalten von Mädchen mit Androgenitalem Syndrom (AGS). Beim AGS produzieren die Nebennierenrinden statt Cortison Androgene, die die äußeren Organe maskulinisieren, so dass Mädchen/XX-Kinder bei der Geburt u. U. als männlich eingeordnet werden (vgl. Kap. 3.2). Sie fanden heraus, dass Mädchen mit AGS (die als Mädchen aufgezogen wurden) im Vergleich zu einer Kontrollgruppe mehr physische Aktivität zeigten, weniger Interesse an typischem Mädchenspielzeug und Mädchenkleidung hatten und männliche Spielkameraden vorzogen. „Die Abweichungen waren jedoch nicht so groß, dass sie von der Umwelt der Mädchen als abnorm angesehen wurden, sondern bewegten sich noch im Spektrum des in unserer Kultur von Mädchen erwarteten Verhaltens“.[57] Menschen mit XY-Chromosomen, die aufgrund einer Androgenresistenz äußerlich weibliche Geschlechtsmerkmale haben und als Mädchen aufgewachsen sind (vgl. Kap. 3.2), zeigten nach Money und Ehrhardt mädchentypisches Verhalten. Das Ergebnis war hier, dass „chromosomales Geschlecht und Differenzierung der Gonaden keinen unmittelbaren Effekt auf psychologische Merkmale haben, wenn die fetalen Hormone wirkungslos bleiben.“[58]
Richter-Appelt kommt in einer neueren Studie zu anderen Ergebnissen. Sie hat intersexuelle Erwachsene nach ihren Spielerinnerungen befragt, um den Einfluss vorgeburtlicher Hormone auf geschlechtstypisches Spielverhalten herauszufinden. Außerdem hat sie die Geschlechtsidentität der TeilnehmerIn-nen untersucht. „Entgegen den Erwartungen aus anderen Studien gaben Frauen mit androgenitalem Syndrom in dieser Studie nicht an, sich vermehrt männlich verhalten zu haben. Einige Personen mit kompletter Androgen-resistenz hingegen zeigten im Gegensatz zu bislang vorliegenden Studien kein eindeutig weibliches Spielverhalten und keine eindeutig weibliche Geschlechtsidentität.“[59] Die Hälfte einer Gruppe von befragten XY-Frauen „has developed a low female gender identity.“[60]
Richter-Appelt unterscheidet zwischen Geschlechtsidentität (gender identity) und Geschlechtsrollenidentität (gender role identity). Geschlechtsidentität ist hierbei das subjektive Empfinden einer Person, sich als weiblich, männlich oder als etwas dazwischen zu erleben, Geschlechtsrollenidentität beschreibt die öffentliche Manifestation der Geschlechtsidentität eines bestimmten Individuums in einem gewissen Rollenverhalten.[61]
[...]
[1] Fausto-Sterling (2002), S. 19
[2] ebd., S. 17 f.
[3] ebd., S. 17
[4] Tolmein (2004b)
[5] Müller
[6] Tolmein (2004b)
[7] vgl. Kap. 3.3
[8] Colanego
[9] Die keine vollständige Umwandlung war, weil auf Brendas Weigerung hin keine künstliche Vagina operiert wurde
[10] z. B. Lakotta, Diamond (nach Holmes), Bosinski (2000), Reiter (2000)
[11] vgl. Rosen in Kap. 6.2
[12] Reiter (2000)
[13] Dausien, vgl. Kap. 7.3
[14] Pseudonym. Der richtige Name ist mir bekannt.
[15] Helmbrecht, S. 12
[16] Nach dem griechischen Mythos um Hermaphroditos, Sohn des Hermes und der Aphrodite. Die Nymphe Salmakis war von dessen Schönheit so angetan, dass sie die Götter anflehte, seinen und ihren Körper miteinander verschmelzen zu lassen. In einer anderen Version vereinte das Kind von Hermes und Aphrodite beider Schönheit so stark, dass es unmöglich war, sein Geschlecht zu bestimmen, worauf es einen Namen bekam, der die Namen seiner Eltern vereint.
[17] Dreger (1998a), S. 4
[18] ebd., S. 31
[19] Fausto-Sterling (2000), S. 35
[20] ebd., S. 35 f.
[21] zitiert nach Dreger (1998a), S. 81
[22] Reiter (1997), S. 48
[23] Maurer, S. 79
[24] Neben intersexuellen auch transsexuelle und Transgender Personen. vgl. auch Kap. 3.5
[25] Dreger (1998a), S. 6
[26] vgl. z. B.: Dreger (1998a), S. 30; Forum auf www.netzwerk-is.de; Homepage der Intersex Society of North America (http://www.isna.org/faq/ hermaphrodite)
[27] Homepage der Intersex Society of North America (http://www.isna.org/faq/hermaphrodite
[28] LG München I 30.6.2003 – 16 T 19449/02. Als weitere Möglichkeiten hatte Reiter Hermaphrodit und intersexuell angegeben.
[29] Interview mit Freya Jung am 21.2.2006
[30] Informationsblatt der XY-Frauen
[31] Richter-Appelt (2004), S. 241. Für ihren Bereich (Hamburg/Lübeck) nennt sie eine Prävalenz von 0,018 % für Intersexualität beim Vorliegen eines 46,XY-Chromosomensatzes.
[32] Fausto-Sterling (2000), S. 53 f. Die Autorin rechnet u. a. folgende Ursachen dazu: Turnersyndrom, Klinefelder-Syndrom, AIS, „echte“ Hermaphroditen, weder XX noch XY, Vaginale Agenesis und unbekannte Ursachen (letztere bei einer von 1 Mio. Geburten)
[33] Fröhling gibt die Zahl intersexueller Menschen in der BRD mit geschätzten 80.000 bis 100.000, evtl. mehr an (S. 15), das wären ca. 1 o/oo der Bevölkerung. Von Hypospadie betroffen sind zusätzlich ca. 100.000 Jungen in Deutschland (S. 91). Nach Huber beträgt die Prävalenz des Turner-Syndroms jede 2000. bis 2500. Geburt (S. 61), Pseudohermaphroditismus masculinus jede 10.000. Geburt (S. 72).
[34] vgl. Dreger (1998a), S. 42 und dazu S. 211, Anm. 76
[35] Bosinski (2005), S. 31. Die neueste Schätzung des Universitätsklinikums Lübeck ist nach Lisa Brinkmann (Interview am 21.2.2006) 2 von 10.000 Geburten.
[36] vgl. Fausto-Sterling (2000), S. 109
[37] Bosinski (2005), S. 46
[38] In der ICD 9 galt Transsexualität als „sexuelle Verhaltensabweichung und Störung“, nach ICD 10 als „Persönlichkeits- und Verhaltensstörung“. Intersexualität ist klassifiziert unter „Angeborene Fehlbildungen der Genitalorgane“.
[39] Fragen und Antworten
[40] Äußerung von Freya Jung im Interview mit Ulla Fröhling: „Wir sind nicht transgender“; ebenso mündliche Mitteilung einer intersexuellen Person auf der Tagung männlich – weiblich - menschlich? Trans- und Intergeschlechtlichkeit, Berlin 18.11.2004
[41] vgl. Feinberg
[42] mündliche Mitteilung eineR TeilnehmerIn auf der Tagung weiblich - männlich – menschlich am 19.11.2004 in Berlin
[43] Trautner, S. 326
[44] ebd.
[45] ebd., S. 335 ff.
[46] ebd., S. 335
[47] ebd., S. 402
[48] ebd., S. 339
[49] vgl. Kap. 4 und 8
[50] Trautner, S. 329
[51] ebd., S. 363
[52] ebd., S. 405
[53] ebd.
[54] ebd., S. 405 f.
[55] ebd., S. 406
[56] vgl. ebd., S. 353 ff.
[57] Tratuner, S. 362
[58] Merz, S. 67, zitiert nach Trautner
[59] Richter-Appelt (2005), S. 242
[60] ebd., S. 249
[61] ebd., S. 243
- Citar trabajo
- Mary Jirsak (Autor), 2006, Zweigeschlechtlichkeit als Norm? Das Dogma der Zweigeschlechtlichkeit und seine gesellschaftlichen und individuellen Auswirkungen am Beispiel der Intersexualität, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/64187
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